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Darauf, nach den ersten vierundzwanzig Stunden, infolge des Wechsels von Tag und Nacht, von Müdigkeit und Erholung, gewöhnte er sich ein wenig daran; der Spannungsschmerz verdummte, die Not wurde erträglicher, das betäubte Bewußtsein der Gefahr unempfindlicher; nur noch ein gründliches Unbehagen meldete von drohendem Unheil, etwa so, wie wenn sich einer fragt: «Bekomm' ich den Typhus, oder ist es nur so ein Gefühl?»
Die nächsten drei Tage brachten denn auch nichts Besorgliches. Im Gegenteil, er hatte mit dem Statthalter, der ihn unterwegs abfing und ins Bierhaus schleppte, ganz sachlich und gelassen, als ginge es ihn nichts an, über den Unterschied der antiken Liebe von der neuzeitlichen, empfindsamen abhandeln können und über die Ursachen dieses Unterschiedes. Nein, wer das kann, ist nicht liebeskrank. Und lächelnd erinnerte er sich, wie dem Statthalter im Eifer des Gesprächs der Satz entschlüpft war: «Tatsache ist, das kann ich Ihnen zugeben, daß mit dem Besitz, also zum Beispiel mit der Ehe, die eigentliche, echte Liebe in poetischem Sinn ein Ende nimmt.» Ei! ei! Statthalter! – schon mehr ein kostverächterischer sofasatter Pascha! Freilich hatte der, sich besinnend, ängstlich den unbedachten Spruch zurückzuholen versucht. «Das heißt, wohlverstanden», verbesserte er sich, «nur die unechte Liebe; die echte, wahre Liebe im poetischen Sinn dagegen, die bleibt in der Ehe bestehen; im Gegenteil, sie fängt mit der Ehe erst eigentlich an.» Wie ihm das übrigens jetzt merkwürdig gleichgültig war, wie, was oder wen der Statthalter liebte oder nicht liebte! Entschieden, der Verstand hatte ihn ganz ohne Grund und Ursache geschreckt. Nur schade, daß er bei diesem Anlaß dem Statthalter hatte versprechen müssen, am Freitagabend zum Nachtessen zu kommen. Allein, wie man so in der Bedrängnis Einladungen annimmt: zu drei Vierteln genötigt und zum letzten Viertel gezwungen.
In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag aber, ohne daß etwas Besonderes vorgefallen wäre – er hatte tagsüber gearbeitet und war dann nach dem Abendessen ein wenig ausgegangen –, verriet ihn ein Traum.
Ihm träumte, Pseuda hüpfe in seinem Schlafzimmer herum, das eine Bein im Strumpf, das andere barfuß. «Wo ist denn mein Strumpf?» rief sie ärgerlich, «so hilf mir doch suchen, Faulpelz! Ah bah! weg mit! Der Johann soll den Jakob holen.» Setzte sich auf den Fußboden, zog den Strumpf aus und warf ihn in die Höhe. Da flügelten beide Strümpfe wirblings unter der Decke wie eine Windmühle. Dann war es eine Zeitlang verworren. Plötzlich stand sie neben seinem Bett, in einem kurzen Kinderhemdchen. «Platz da! Dilldapp!» befahl sie, stieß ihn gegen die Wand und lag neben ihm. Verwundert, mit großen Augen fragte er: «Ja, bist du denn nicht mit dem Statthalter verheiratet?» – «Ich? mit dem Statthalter? wie kommst du auf diesen wunderlichen Einfall? Das wäre mir eine saubere Geschichte! da müßte ich mich ja zu ihm ins Bett legen! äh! uäh!» Da tat er aus tiefstem Herzen einen Seufzer, wie ein auf dem Wege zum Schafott Begnadigter. «So wäre es möglich? du wärest wirklich, wahrhaftig meine Frau und nicht dem Statthalter seine? O Gott, ich wage es noch immer nicht recht zu glauben. Wenn es am Ende bloß ein Traum wäre?» – «Was hast du nur heute?» schalt sie unwillig. «Wenn es bloß ein Traum wäre, so schliefe doch nicht unser Kind dort in der Wiege, sondern dem Statthalter seins. Das ist doch klar!» – «O Pseuda, Pseuda, wenn du wüßtest, wie unsäglich, wie namenlos unglücklich ich war, als mir träumte, du wärest dem Statthalter seine Frau!» – «Wie kann man aber auch so einfältig träumen!» schmälte sie, «und noch so unanständig dazu! pfui, schäme dich!» Und stieß ihn mit dem Bein und patschte ihm mit der Hand auf den Mund.
Wie er dann aufwachte und, mit dem Finger die Tapete betastend, erfuhr, daß alles gerade umgekehrt war: er einsam im Bette liegend und Pseuda drüben beim Statthalter, wurde er inne, wie es um ihn stand; denn dieser Traum, das spürte er an seiner Traurigkeit, war ihm nicht von ungefähr gekommen; den hatte seiner Seele Sehnsucht gedichtet. Nicht mehr wegzutäuschen: er war liebeskrank, und zwar durch und durch, bis in die innersten Fasern. Und wen mußte er lieben! – o Schimpf der Demütigung! eine Frau, die er von oben herab zu behandeln pflegte, eine ihm gleichgültige Fremde, namens Ix, eine Frau, die ihn haßte. Er, der Bräutigam der hehren Imago. Jetzt konnte er an sich selber keine Freude mehr haben; am liebsten hätte er überhaupt nicht mehr leben mögen. Trübsinnig drehte er den Kopf gegen die Wand und versuchte, Gefühl und Bewußtsein zu verlernen. Und sooft ein Gedanke ihn berührte, drückte ihn die Schmach von neuem nieder, als ob eine mit Bausteinen geladene Wolke auf ihm lastete. Schließlich mußte er halt doch leben; und da ihm seines Körpers Ungeduld Gesundheit meldete, blieb ihm nichts übrig, als ihn aus dem Bett zu heben und auf die Beine zu stellen. Meinetwegen; es tut denselben Dienst, sich aufrecht zu schämen als liegend.
Da saß er nun den langen Tag, mut- und willenlos, mit stumpfem Geist seiner Erniedrigung nachstarrend. Plötzlich, gegen Abend, überfiel ihn eine garstige Erinnerung: Freitag ist heute; und er, der dem Statthalter versprochen hatte, Freitagabend zum Nachtessen zu kommen! Jetzt, in diesem Zustande, dorthin! zu ihr! Verhaßter Gedanke. Allein sein Versprechen stupfte ihn unablässig mit der Schnauze wie der Metzgerhund das Kalb; es half nichts, und so zwang er sich denn zu Direktors.
War das ein trostloser, von allen guten Geistern verlassener Abend! Er war gar nicht erwartet worden, das merkte er gleich bei seinem Eintritt, er störte bloß.
Er wieder, in seiner Grabesstimmung, wäre lieber überall anders gewesen als gerade hier. Das spürten ihrerseits die andern, was ebenfalls nicht zur Erheiterung beitrug. Zu allem mußte er ihnen obendrein noch das Musikspiel verleiden; eigentlich ganz gegen seinen Willen, denn er war heute nichts weniger als angriffslustig; allein jetzt in seiner Schwermut irgend etwas Aufdringliches, was irgend jemand belieben würde, über sich ergehen zu lassen, nein, dazu fehlte ihm die Kraft.
Wie er dann freilich Pseuda trostlos vor sich hin starren sah, ihrem zerstörten Musikabend nachsinnend, so trostlos, daß sie sogar vergaß, ihm deswegen zu zürnen, tat ihm der Anblick weh; tief schnitt ihn das Mitleid. «Weißt du, arme Pseuda», gelobte er sich im stillen, «ich spare dir's auf; aber heute, nicht wahr, das begreifst du, mußt du mir's verzeihen; denn ich bin wirklich zu traurig.»
Vorzeitig trennte man sich, enttäuscht und übel zufrieden.
Viktor hatte seinen Regenschirm vergessen und kehrte zurück, um ihn zu holen. «Warten Sie», mahnte das Dienstmädchen, nachdem es den Schirm behändigt hatte, «das Gas ist bereits ausgedreht; ich komme gleich mit dem Licht.»
«Unnötig», wehrte er ab und war auch schon im Hausflur angelangt.
Da warnte ihn von oben Pseudas Stimme: «Geben Sie acht; vor der Haustür kommen noch drei Stufen.»
Die Warnung traf ihn, als blitzte am Himmel ein Fenster auf und ein Sonnenstrahl flöge in sein Herz, mit tausend lachenden Engeln besetzt, die gleichzeitig links und rechts absprangen. Wie! ihn, den sie haßte, und zwar mit vollem Rechte, ihn, der sie unaufhörlich belästigte, reizte, verfolgte, ihn, der ihr soeben noch ihren armen gastlichen Abend schnöde verdorben hatte, ihn warnte sie, damit ihm kein Leid zustoße! O Adel der Großmut, o unermeßliche Herzensgüte! Und du blinder, blöder Tropf, du hast es vermocht, dieses hohe Weib geringzuachten. Wenn denn hier einer verächtlich ist, wer ist es, du oder sie? Du bist es, Elender, denn du bist boshaft, sie aber ist gut. «Geben Sie acht», hast du gehört? Das hat sie dir gesagt, dir, mit ihrer Stimme. Wie Harfenpsalm und Glockenchor läutete der Spruch in seinem Herzen; trunken vor Bewunderung stürzte er von dannen, fieberisch, in taumelndem Lauf
Daheim, vor der Haustür, kehrte er sich um, nach der Richtung ihrer Wohnung, und breitete die Arme aus: «Imago», rief er ihren Namen. «Nein, mehr als Imago, denn deine Hoheit ist mit dem Pathos der Leiblichkeit geadelt. Theuda und Imago vereint in einer einzigen Person.» Dann, in sein Zimmer stürmend, versammelte er alle Völker seiner Seele. «Kinder! eine köstliche Nachricht. Ihr dürft sie lieben; lieben ohne Bedingung noch Vorbehalt, ohne Maß und ohne Schranken, je stärker, je inniger, desto besser. Denn sie ist edel, und sie ist gut.»
Ein tosender Freudenjubel jauchzte der Erlaubnis Dank; die ganze Arche Noah umtanzte ihn. Und immer neue Scharen, von deren Dasein er gar nichts gewußt hatte, jauchzten aus dem Hintergrunde herbei; Fackeln schwangen sie in den Händen, und Kränze trugen sie auf dem Scheitel. Lächelnd schaute er dem Feste zu, selber selig ob seiner Erlaubnis; gleich einem König, der nach jahrelangem, heftigem Widerstreben endlich eine Verfassung gewährt hat und den des Volkes ungeahnter Dank überwältigt. Da wallte durch die Menge würdigen Schrittes eine Gesandtschaft, angeführt von dem stolzen Ritter im weißen Friedensgewande, den Löwen an der Leine. «Gestatten Eure Majestät, Sie im Namen des gesamten Ritterstandes zu der gnädigen Gewährung zu beglückwünschen; wir haben diese Lösung von jeher für notwendig und billig erachtet.»
«Ja, warum hast du mir denn das nicht vorher gesagt?»
«Wie sollte ich mich erdreisten, Euer Majestät strengem Befehl zu widersprechen?»
Also die stolze Ritterschaft hatte gegen seine Liebe auch nichts einzuwenden? Nun stand er gänzlich sicher und fest, und sein Mut genas frei und froh. O Heil der Erlösung: lieben zu dürfen, wen man lieben muß.