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Das unverhoffte Zusammentreffen der vier Freunde würde ein hübsches Bild oder einen wackern Auftritt in einem Lustspiele abgegeben haben. Die Figuren waren ergötzlich: Raphael, der ungeduldig hin und her trippelte, voll Begierde, zu berichten, auf welche Weise er an den Jonathas gerathen; Friedrich, der mit allen Zeichen sanguinischer Freude dem gleichsam wieder aufgelebten Moritz um den Hals fiel, ihn mit Fragen bestürmend; dieser Moritz selber, der bocksteif dastand, als wie vor den Kopf geschlagen; endlich der weise Alfred, der sich – o Wunder! – kaum zu fassen wußte und keine Worte fand! –
Eine Viertelstunde später war's jedoch schon anders geworden. Der Kriegslärm hatte aufgehört, ohne daß die Freunde es wahrgenommen hätten. Der gastliche Alfred hatte für Speise und Trank gesorgt, deren sie alle höchst benöthigt waren, und von ein paar Tropfen Wein erquickt, hatte Moritz erzählt, wie es auf dem Schlosse Milzheim und auf dem Zuge nach Waldshut, woselbst er seinen Freund Gallus zurückgelassen, ergan [25]gen war. Nachdem er noch ein Gläschen getrunken, folgte er der allgemeinen Aufforderung nach, in der Meldung seiner Abenteuer also fortfahrend:
»Voll von Hoffnung demnach, mit meinem Banner recht bald in Freiburg einzuziehen, und meine Vereinigung mit Euch zu bewerkstelligen, hatte ich wohlgemuth sammt meinen Genossen meine Schritte beschleunigt und nicht auf Wind und Wetter, Regen und Schnee geachtet, immerdar das ersehnte Ziel im Auge. Dieselbe Herzensfreudigkeit belebte uns Alle; wir hätten noch stärkere Strapatzen mit Leichtigkeit überwunden. Aber – in Schönau, wenn ich nicht irre – kam uns die betrübte Nachricht von dem Ausgang des Gefechts bei Kandern zu: ein Blitzschlag aus dem heitern Himmel! Wer von uns hätte dazumal gedacht, daß die bewaffnete Macht ihre Bajonette gegen das Volksheer richten würde? Was mich jedoch ganz besonders bekümmerte, war der Befehl, der uns ertheilt wurde, augenblicklich nach Zell im Wiesenthal umzukehren; die Aussicht aus Freiburg war mir ja auf's Neue dadurch getrübt! Da war indessen keine Widerrede: wir kehrten richtig um, und von jenem Tag begann ein Wirrwarr von Hin- und Hermärschen, den ich in seinen Einzelheiten gar nicht mehr wiedergeben kann, namentlich nicht heute, wo mir der Kopf brennt von all den Erlebnissen, die sich gestern und heute gedrängt und gejagt. Ihr mögt daher nur wissen, daß ich vorgestern mit meiner Truppe in Todtnau angekommen war, und gestern, nachdem sich noch mehrere Zuzüge mit uns vereinigt, die Straße nach Horben eingeschlagen habe, woselbst wir auch am Nachmittag eintrafen. Erinnert Ihr Euch noch des wonnevollen Tages, den wir einmal, [26] da wir noch hier zusammen studirten, in Horben und auf der Halde zugebracht haben? Ach, mir wurde ganz kurios um's Herz, da ich in jenem Bergnest einrückte, und bereits der Donner der Geschütze, der das gestrige Gefecht bei Güntersthal begleitete, an mein Ohr schlug! Dennoch war die Freude in meiner Seele Meister, weil ich hoffte, noch am Abend die liebe Stadt zu betreten. – Es sollte nicht seyn. Wir waren schon bereit, unsern fechtenden Brüdern zu Hülfe zu eilen, als leider die ersten Flüchtlinge bei uns eintrafen, denen eine Unglückspost nach der andern, ein zersprengter Trupp nach dem andern auf dem Fuße folgte. Das Gefecht war unglücklich abgelaufen, das Militär hatte unsere Vorhut zurückgeschlagen. Wie denn aber die Hoffnung keinen Deutschen verläßt, so war sie auch, trotz des Unglücks, in uns allmächtig und lebendig. ›Morgen wollen wir's einbringen!‹ Das konnte man hören aus Aller Munde: ›Morgen nehmen wir die Schlacht wieder auf, und Herwegh, der mit seinen Franzosen auf dem Marsche, wird uns trefflich unterstützen, und gewiß nicht sitzen lassen!‹ – Ha, könnte ich Euch die Unruhe beschreiben, die in der verwichenen Nacht, da ich in Horben auf dem Stroh lag, und keinen Schlummer fand, sich meiner bemächtigt hatte! Mehr als einmal wollte ich geradezu aufspringen, und mutterseelenallein den Weg nach Freiburg suchen, mich durch die Vorposten der Feinde stehlen, in die Stadt dringen, um Euch aufzusuchen, wär' es noch so spät in der Nacht, wär' es noch so früh am Morgen! In der That stand ich so gegen die Mitternachtstunde auf dem Punkt, den tollen Vorsatz auszuführen ... Aber siehe: da war, als wie hergehext, der Herr Lehrer Wurstinger, den Ihr bereits [27] kennt, bei der Hand, und sagte mir ganz frank und frei: ›Sobald Sie Miene machen, Bürger, zu entlaufen, und zu den Aristokraten überzugehen, so schieße ich Sie zusammen, oder hetze meine Bursche auf Sie los, daß Ihnen in Ewigkeit aller Appetit zum Desertiren und zum Verrath vergehen soll!‹ Ich hätte dem falschen aufpasserischen Hund gern mit einem tüchtigen Säbelhieb geantwortet, aber sein Geschrei hatte bereits eine Menge von Schläfern geweckt, die nur auf eine verdächtige Bewegung von meiner Seite warteten, um mir den Garaus zu machen. Da nun der Vernünftigere nachgibt, so kuschte ich mich wieder in mein Stroh, verbiß meine Ungeduld, und getröstete mich des heutigen Tages, der uns Glück bringen sollte, indem die Stadt sich noch wacker hielt, und die Truppen sich in die Dörfer zurückgezogen hatten, wie die Boten, so in der Nacht bei uns ankamen, einstimmig behaupteten und betheuerten. Wer weiß auch, was noch geschehen wäre, wenn wir zur rechten Zeit heute vor Freiburg eingetroffen, und wenn die angesagten Schaaren vom Rheine her erschienen wären? Aber diese Schaaren kamen nicht,und wir versäumten in Horben die edle Zeit. Das Volksheer wollte sich, bevor es zum Treffen ging, mit Essen und Trinken den Leib brav stärken, und der Befehlshaber Sigel gab leider diesem Wunsche nach, ließ einen Ochsen schlachten, ließ abkochen, speisen nach Belieben, und darüber flogen die günstigen Stunden hin, und wir stiegen in's Feld von Güntersthal hernieder, just nachdem die Truppen den Angriff auf die Stadt begonnen, und sich abermals zwischen das Volksheer und die Thore geworfen hatten. So plänkelten wir denn ohne allen Erfolg, aber von der dringendsten Ge [28]fahr umringt, an der Dreisam hin und her, überschritten zwar hie und da das Flüßchen, konnten aber den Eingang in die Stadt nicht erzwingen, nicht gewinnen. Dagegen geschah Vielen von uns, was auch mir widerfuhr: wir wurden in kleinen Trupps von einander getrennt, und der Rückzug total abgeschnitten. Mit Mehreren meiner Feldgesellen, darunter auch zwei Führer, deren Namen ich billig verschweige, sah ich mich plötzlich eingekeilt, zwischen der Dreisam und den Stadtmauern; das Schwabenthor, in dessen Nähe wir uns befanden, und wo der beste Zuzug sich uns dargeboten hätte, war schon erobert ... Ueber das Wasser konnten wir nicht mehr zurück ... von der neuen Vorstadt her flogen die feindlichen Kugeln uns entgegen. So beschlossen wir, unser Leben theuer zu verkaufen, und drangen in das Euch wohlbekannte Reithaus ein, das am Fuße des Remparts und seiner Reben gelegen ist. Wir verrammelten uns darinnen so gut wir konnten, aber waren bald gezwungen, uns hinter den dort aufgehäuften Baumstämmen zu verbergen, da sich auf dem Rempart hessische Soldaten zeigten, die mit gespannten Musketen nach allen Seiten hin argwöhnisch lauerten. So lagen wir, fünf bis sechs kerngesunde, wohlbewaffnete Leute, auf dem Boden darniedergestreckt, und harrten mit wenig Lustigkeit dem Ausgang der Dinge entgegen. Von der Dreisam her drohte uns, da alles still blieb, keine unmittelbare Gefahr, aber wir durften darauf rechnen, wenn wir je unsern Versteckwinkel verlassen würden, alle Uebergangspunkte besetzt und verwehrt zu finden. Von der Stadtmauer her war das Verderben nahe und unvermeidlich. Wir konnten nicht lange unentdeckt bleiben ... was war demnach zu thun? – [29] Wie so oft jedoch im Leben, so half uns auch heute eben nur die unverschämteste Keckheit aus der mehr als mißlichen Lage. Einer von uns, der frechste Geselle, den man sich denken mag, wagte es, seinen Schlupfwinkel zu verlassen, und gegen die Stadt hinaus zu spioniren; mit den Augen nämlich, wie Ihr wohl begreifen werdet. Nach ein paar Sekunden kam er zu uns heran gekrochen, und rapportirte, daß in diesem Augenblick die Hessen von der Mauer verschwunden, die Luft dort rein, und nichts besser anzurathen sey, als geraden Wegs kühn und tapfer den Rempart zu erklimmen, und uns in die Stadt zu werfen, gleichsam in die Hände der Feinde, um den Feinden zu entrinnen. Der gute Rath wurde wahrhaftig befolgt!! Unsre Anführer, deren Köpfe natürlich weit weniger sicher, als die der untergeordneten Wehrmänner, gingen unerschrocken voraus mit dem Beispiel, kletterten, ihre Waffen zurücklassend, durch das Rebgelände empor, schwangen sich über das niedrige Gemäuer, und liefen was sie konnten, wie wir deutlich sahen, dem Innern der Stadt zu. Der kecke Rathgeber folgte alsbald dem Exempel; auch er kam gut davon. Ich war ihm der Nächste; nach den paar andern Gefährten, die noch unentschlossen am Boden lagen, sah ich mich nicht mehr um, folgte blindlings der Spur meiner Vorgänger, und war baldigst oben angekommen, wie sie. Die Zeit war kostbar. Noch war, wunderbar genug, jene Strecke des alten Stadtwalls leer und unbesetzt ... Ein einziger Mensch kam von dem Platz, wo der Viehmarkt gehalten wird, mit schnellen Schritten mir entgegen. Ich durfte hoffen, im Fall eines Angriffs mit ihm fertig zu werden, denn, wenn ich schon Säbel und Büchse von mir ge [30]worfen, so trug ich doch noch dieses scharf geschliffene Dolchmesser gut verborgen und handgerecht auf dem Leibe. Indessen ... wer malt mein Erstaunen, mein Entzücken, da ich in dem besagten Menschen, gerade wie mir zur Hülfe hergezaubert, einen Freund erkenne? einen Freund, den ich wahrhaftig dort nicht gesucht hätte, den ich auf Ehre mir eher tausend Meilen weit entfernt gedacht hätte?«
Und dieser Freund, platzte Raphael mit großem Triumph heraus. dieser Freund, potz Hagel, bin ich gewesen, mein Ich in Lebensgröße, ich, der Rentier und Künstler Raphael, genannt auch »Stulpenstiefel!«
Bravo! bravo! schrie der »schöne Fritz« und küßte den Schauspieler lustig ab: das hast du brav gemacht, Freund Stulpenstiefel! – Mit der kalten Neugier eines Verhörrichters setzte Alfred hinzu: »Ganz gut; aber was führte dich auf jene Stelle? Was hattest du an jenem Fleck zu thun? Womit kannst du beweisen die Nothwendigkeit deiner Anwesenheit in dort?«
Worauf der »Stulpenstiefel« fröhlich und lebendig, weil ihm nun endlich den Schnabel aufzuthun erlaubt: Das kann ich perfekt, und es soll mit nicht gar zu vielen Worten bald gethan seyn, da mein Gedächtniß, mein bester Soufleur, mich nicht im Stich lassen wird, wie den Jonathas da, obgleich auch mir der Kopf brummt, als ob ein Mühlrad darinnen umginge, von dem, was ich gesehen, was ich gehört, was ich erleben mußte am denkwürdigsten Vormittage meines Daseyns. Mein Elend ging schon am frühen Morgen an, da ich mich aufmachte, dem »Poppele«, der uns durchgebrannt war, heftig nachzustellen, während Alfred ihm in anderweitigen Quartieren nachjagte. Ueberall fragte ich ver [31]gebens, überall war mir schnöde Antwort geworden ... da begegnete ich dem Doktor Faust, der mir ein guter Engel schien, aber sich bald erwies als das böse Prinzip in Person. Umsonst meine Bitten, mir über den bösen Fritze da Bescheid zu geben; er wollte nichts wissen, er wollte nichts hören. Und als ich ihn endlich mit heißer Freundschaft umschlungen, regalirte mich der gelehrte Gaukler mit der beleidigendsten Ansprache, die ich je gehört. O stürzt zusammen, ihr Felsgebirge und Alpenhörner! Der Kerl hat mich einen »Hanswurst« genannt!
Der »schöne Fritz« lachte hell und unmäßig auf, und selbst Alfred konnte sich nicht enthalten, beifällig zu schmunzeln, während Moritz, trübselig in sich selber versunken, kein Zeichen von sich gab.
Raphael loderte wie eine Pulvertonne auf, fuhr in die Höhe, und geberdete sich, wie auf einer Rednerbühne vor einer rebellischen Volksversammlung: »Lacht nur immerhin!« zürnte er sehr komisch seine Freunde an: »lacht Euch meinetwegen das Zwerchfell in Stücke! Die Wahrheit ist, daß mich noch kein Schlingel in dieser Welt so giftig beleidigt hat, als der geschwollene Pflanzensimpel, der mechanische Kopf unter dem altväterischen Doktorhut! Und wenn ich hiemit einen theuern Eid ablege, sothane Injurie im Blut des Käfer- und Schneckenjägers zu rächen, so ist es eine theure Schuld ... ich will sie zahlen!!!«
Friedrich lachte noch toller als zuvor, und Alfred rief schalkhaft: Recht gut, Meister Tell: Schiller konnte das nicht besser sagen!
Raphael setzte sich gleichsam beruhigt wieder auf seinen Stuhl, ging nach künstlerischem Brauch, den [32] Effekt verdoppelnd, von dem hohen Pathos in die gewöhnliche Conversation über, und fuhr erzählend fort: »Ich hätte auf der Stelle das Verbrechen dieser Doktorbestie grimmig bestraft, wenn nicht das strenge Schicksal selbst in's Mittel getreten wäre: und zwar in der Gestalt eines wüthigen Pöbelhaufens, der uns Beide in den Staub schmetterte, und über unsere Leichname hinausstolperte. Weiß nicht, wie es kam, daß der unbeholfene Doktor dießmal gelenker und springfertiger war, denn ich, der ich doch im Laufen und Springen etwas gethan habe ... doch ist es ein Faktum, daß ich den Insektenfänger mit keinem Auge mehr gesehen, da ich wiederum auf meinen Beinen stand. Sah ich nichts, so hörte ich um desto mehr: die Kanonen fingen an zu schießen, und der Teufel hätte sich länger in der Straße aufgehalten. Ich kann mich nicht mehr besinnen, wie ich in die Fischerau, und vor das Haus der Wittwe Wenzel gerathen bin, bei der ich einst, zur hungrigen Studentenzeit einen recht schmackhaften Freitisch gehabt habe. Genug: ich stand vor dem Häuslein, ein Fensterladen klaffte ... das Gesicht der alten Wenzel schielte heraus. Ich faltete die Hände; die Wenzel, die brave Frau, hat mich alten Studio noch erkannt, und flugs war ich drinnen, in dem Stübchen, wo ich so manch liebesmal meinen Gaumen erfrischt, meinen Magen beruhigt habe. Ich saß da wie in Abrahams Schooße. Die Soldaten und die Volkskämpfer hatten an den Stadtthoren genug und übergenug zu thun, und dazwischen lag die Fischerau, wie ein neutrales Revier. Das Häuschen wackelte zwar nicht wenig von dem Dröhnen der Geschütze; doch fürchteten wir uns nicht sonderlich, und fanden sogar Muße, von den alten Zeiten [33] und von dem jungen Wenzel zu reden, der, wie seine Mutter mit Wehmuth sagte, nach Amerika gegangen, und in Baltimore, oder so wo, am gelben Fieber verstorben ist. Die gute Wenzel meinte, das sey freilich ein Unglück, aber lieber wolle sie das ertragen, als ihren Sohn unter den Freischaaren wissen. Dabei zeigte sie mir einige abgetragene Kleidungsstücke, die der Jungwenzel zurückgelassen, und die sie bewahrte, als wie ein Heiligthum. – So gingen denn die bösen Stunden herum, und als der Jubel der Soldaten, und das »Vivat« der Bürger den Sieg der Uebermacht verkündeten, beurlaubte ich mich schnell von meiner lieben Wenzel, und wollte harmlos dahin, wo ich hergekommen. Das war jedoch nicht so leicht. Von einem Streiftrupp der Sieger angehalten, mußte ich Rede und Antwort über meine Person geben. Dieser erste Trupp glaubte mir, und ließ mich laufen; ein zweiter, dem ich in die Hände fiel, war nicht so honett, nahm mich fest, stieß und knuffte mich unbarmherzig und sagte mir ... Schmach – auf den Kopf zu, ich müsse dem Zuchthaus entsprungen seyn, und so allerlei ehrenrührige Behauptungen, die mir jetzt nicht mehr beifallen. Einem Nassaueroffizier, der des Weges kam, verdankte ich meine Befreiung; doch stellte er mir die Bedingung, ihn schleunigst in die neue Vorstadt, in ein Hotel zu liefern, wohin sein Einquartierungszettel lautete. Nun war jenes Haus höchstens ein paar hundert Schritte entfernt, und meine Führerpflicht bald erfüllt. Da ich aber zurück wollte, kamen just von dem Rempart nächst dem Amtsgefängniß eine Menge von hessischen Streifern herab, die sich lärmend in der Vorstadt aufstellten und den Weg durch's Breisacher Thor schier ganz verlegten. [34] Da ich nicht Willens war, noch einmal von den Trabanten der Gewalt in's Verhör genommen zu werden, so huschte ich über den Viehmarkt just auf denselben Wallgang, den so eben die Soldaten verlassen; mich entsinnend, daß dort herum ein mir wohlbekannter Garten befindlich, dessen Hinterthüre auf den Wall geht, und leicht zu überspringen ist. Von dort hoffte ich dann, mich unbelästigt in die Stadt wieder einzuführen. – Beinahe hätte mich indessen gereut, daß ich jene Richtung genommen. Denn in vollem Lauf kamen mir zwei Männer entgegen, die auf und nieder aussahen, als kämen sie direkt aus dem Generalstab des Volksheers. Daß ich sie nicht aufhielt, läßt sich denken. Kaum waren sie jedoch vorüber, als schon ein Dritter dahersetzt wie ein gejagter Hirsch, und gleichsam vierbeinig an mir vorbeistäubt. Mir pocht das Herz, und ich denke: O weh, kommst du da in die Flucht der Landstürmer mitten hinein, und sind nicht etwa die hessischen Kugeln schon im Begriff, den Fliehenden in den Rücken, und dir, armer Schelm, in die Brust oder in's Hirn zu knallen? Derweilen mache ich wieder ein paar Schritte, und auf einmal – zu meinem Schrecken – springt, weiß Gott, noch ein Vierter über das Mäuerchen auf den Wall, und mir entgegen, wild, wie ein Blutvergießer, der er auch geworden wäre, wie Ihr schon an seinem fatalen Dolchmesser bemerkt habt, wenn ich ihn hätte arretiren wollen. Das ließ ich jedoch bleiben, weiche ihm sogar klüglich aus ... da da bleibt er, bei'm Blitz, plötzlich stehen ... spreitet die Arme auseinander ... thut den Mund auf und schreit: »Raphael« in demselben Moment, da auch ich den Burschen erkenne, und aufschreie: »Moritz!« gerade [35] wie in der Komödie, auf Ehre; der Kotzebue und der Schiller und Gutzkow sammt Laube haben's niemals besser gemacht! Nun ruft er zärtlicher: »Stulpenstiefel, mein Stulpenstiefel!« und ich antworte ihm noch zärtlicher: »mein Jonathas! woher? wohin?« und wie er mir sagt, daß er auf der Flucht und im Pech, so bin ich gleich gefaßt, reiße ihm den Schlapphut vom Kopfe, den der liebe dumme Teufel selber wegzuwerfen vergessen hatte, schleudre ihn in das Weltall hinaus, und spedire den Mann selbst mit Juck und Druck über die bewußte Gartenthüre, und bringe ihn im Sturmlauf nach dem ersten und wirklich besten Versteck: in die Hütte der guten Wenzel, ehe ein böswilliges Soldaten- oder Polizeiauge unsere Spur entdeckt. Was noch zu sagen, ist sehr kurz. Die alte Wenzel hat dem Freund da ein Stück von ihren Heiligthümern, von den Gewändern ihres Sohnes überlassen, und ich durfte somit beruhigter an der Seite dieses Jonathas durch die Stadt wandern, bis in dieses gastliche Gebäude, wo – so hoffe ich – Ihr, meine Freunde, Fritz und Alfred, an dem armen Moritz vollenden werdet, was ich begonnen habe.«
Hast brav gethan! belobte Alfred, sichtlich gerührt, den Schauspieler: Es mag dir viel vergeben werden, du komischer Rebell! weil du die Rolle des Samariters so lebendig dargestellt hast! – Der »schöne Fritz« pries jedoch die That des wackern »Stulpenstiefel«« noch feuriger, und sagte hierauf dem wiedergewonnenen Moritz noch einmal ein herzliches Willkommen. – Jonathas reichte ihm, und so dem Alfred, und so dem Raphael seine Hände dar, und ließ sich von den Freunden umarmen und liebkosen, aber das alles wollte die Traurig [36]keit nicht bewältigen, die aus allen Zügen und aus jeder Geberde des besiegten Flüchtlings sprach. Auch der Trinkspruch, den Alfred auf das Wohl der Frauen zu Freiburg ausbrachte, wollte keine Wirkung auf den niedergeschlagenen Moritz hervorbringen. Dagegen stimmten um so fröhlicher die beiden andern Freunde ein, als Alfred mit den Worten schloß: »Und so sollen denn, gesegnet in ihrem Bewußtseyn, und gepriesen von allen Menschen, denen ein Herz und eine Seele gegeben, hoch und in alle Ewigkeit leben die gute alte Frau Wenzel, die, unsern Freund Moritz zu retten, gleichsam einen Tropfen ihres Herzbluts hergeschenkt, und die treffliche junge Cymbeline, die zur rechten Zeit, und selbst der Gefahr trotzend, unsern Bruder Fritze in Sicherheit gebracht! Mit diesem Trunk wollen wir überhaupt die Gesundheit aller Freiburgerinnen ausbringen, die wir dann und wann in jugendlichem Uebermuth bewitzelt und bespöttelt haben mögen! Frauen, wie die alte Wenzel und die junge Cymbeline, heiligen und weihen ihr ganzes Geschlecht, und es wird ihnen an zahlreichen Nebenbuhlerinnen im Guten und Schönen nicht fehlen!«
Die Gläser klangen lustig zusammen, ein lauter Jubelruf ertönte, und diesem Ruf fügte in Gedanken Alfred ein »Heil dir, Mathilde!« bei, so wie der »schöne Fritz« in seinen Becher flüsterte: »Herzige Cymbeline!« und Raphael gleichfalls, die Augen gen Himmel verzückend, »Himmlische Cornelia!« stammelte. Moritz hatte zwar mit angestoßen, doch hatte er es nur mechanisch gethan, und seine Lippen hatten sich zu keinem Lebehoch verstanden. Für seine Seele schien die Freude nicht mehr vorhanden; zu seiner Erheiterung trug die edelste Rebe nichts bei.
[37] Alfred, weil selbst nicht gern in seinen Lebensäußerungen beeinträchtigt und behindert, unterließ meistens, den Nächsten in seinem Gedankengang und seiner Seelenstimmung zu stören. So auch mit Moritz. Raphael und Friedrich dagegen gingen dem wiedergefundenen Freunde um so dringlicher zu Leibe; der Erstere leichtsinnig erregt, weil die bösen Tage hinter ihm, der Zweite schwärmerisch erhitzt von Liebe und von Freundschaft.
Raphael stieß den Moritz an, und sprach: »So sitze doch nicht da, wie ein Häufchen Unglück! sei gutes Muths; bist ja bei treuen Brüdern und in Sicherheit. Wehe dem, der dich in unserer Mitte antasten wollte! Wir sitzen hier im traulichen Kreise, im wohlverschlossnen Stübchen, wo kein Lauscher hinhorcht, wo nur Eintracht und Verschwiegenheit. Munter, munter also, und freue dich des Lebens!«
Friedrich rief noch dringender: »Ich halte es mit Raphael und kann dich nicht länger in deiner Niedergeschlagenheit verharren sehen. Was hättest du denn noch zu grübeln, was denn noch zu fürchten? Wenn gerade jetzo die bewaffneten Vertreter des Gesetzes hier eintreten würden, um dich in Frage zu nehmen – wärst du nicht im nächsten Augenblicke frei, und deine Unschuld erhärtet und bewiesen? Was konntest du dafür, daß rebellische Haufen dich gezwungen, von Milzheim mit ihnen auszuziehen, und die schlechte Komödie bis zu Ende mitzuspielen? Hat nicht der Freiherr Gallus, seiner Ueberzeugung und seinen Wünschen zum Trotz, dasselbe thun müssen, und möchte deßhalb wohl der geringste Flecken an ihm haften?«
Dieser eifrigen Fragestellung folgte eine kurze Stille, [38] in welcher Moritz mit sich selber einen Kampf ausfocht, der schnell vorbei war. Mit offner Stirn und rüstigem Entschluß hob er an: »Pah, was thut's? Ich will nicht länger hinter'm Berge halten, und Ihr mögt in Gottesnamen erfahren, wie mir zu Sinne ist. Alfred, Fritze, Ihr seid aristokratisch gesinnt ... von dem ›Stulpenstiefel‹ da weiß ich's nicht so recht ... aber Ihr seid auch Menschen, meine Freunde, meine Brüder, und ich will Euch ehren durch ein freies Wort, welches Ihr mir verzeihen werdet. Meine Trauer, mein Schmerz, sie gelten dem Vaterlande und der verlorenen, niedergeschlagenen Freiheit. Heißt mich einen Schwärmer, einen Verblendeten ... was Ihr wollt, gleichviel. Ich gestehe, daß ich nicht ungern mit dem Volke ausgezogen bin; daß ich mit jedem Tage die Sache des Volks lieber gewonnen habe. O, Ihr wißt nicht, welche feste Bande die Feldgenossenschaft um jugendliche tapfre Herzen schlingt! Ihr wißt nicht, in wie kurzer Zeit Waffenbrüder einander lieber lernen! Denk' ich an meinen theuern Spiegler, und an so manche Andre, die zu meinem Banner zählten, und mit denen ich ein Bündniß machte auf Tod und Leben – denk' ich daran, wie freudig wir gehofft, wie unerschrocken wir unsern Weg gegangen, und wie ich nun nicht einmal weiß, welch' ein Loos jenen Braven gefallen ... ob sie stürzten auf dem Feld der Ehre, ob sie fielen in schmachvolle Gefangenschaft, ob sie entrinnen konnten in traurige Verbannung auf fremder Erde ...? da möchte mir die Brust zerspringen und das Gehirn auseinander geh'n! Mir ist das Leben verleidet; ich weine um mein Vaterland, um meine Kampfgefährten, um die verlorne Zukunft, von der wir so schön geträumt!«
[39] Nach dieser heftigen Rede stützte Moritz seinen Kopf in beide Hände, die Augen zu verbergen, die ihm wirklich feucht geworden waren. – Die stille Theilnahme der Zuhörer war ihm geworden, wenn auch der fürstlich gesinnte Fritze etwas zusammen fuhr, und ängstlich zu Raphael hinüber fragte: Der arme Jonathas wird doch nicht Ernst gemacht haben, wie die Horden, denen er beigegeben war? Er wird doch nicht seine Waffen gegen die Truppen seines Landesherrn gebraucht haben? – Worauf ihm Raphael achselzuckend und leise erwiederte: Freilich hat er's gethan; er hatte noch ein schwarzes Maul und schwarze Hände, Pulverspuren überall, da ich ihm begegnete, und mußte bei der Wenzel lange an sich herumputzen und waschen, bis er sich unter Leuten sehen lassen konnte. –
Da nahm Alfred mit gewohnter Würde das Wort: So lebt denn auch nicht Einer auf Erden, der da sagen könnte: Ich bin fest und wanke nicht? – So ist denn wahr, was irgendwo die Bibel, oder auch meinetwegen Altmeister Göthe, spricht: »Wer da steht, sehe zu, daß er nicht falle!«? Da wir studirten, wer als Moritz von uns Allen, stand immerdar auf der Linie des Rechts, der Gesetze und der Ordnung? Wer verdammte unerbittlicher als Er, jeden Uebergriff der rohen Gewalt, jeden kecken Schritt über die Gränze bürgerlichen Gehorsams? Und nun – wie verändert sitzt er heute vor uns! Er hat Theil genommen an dem Aufruhr, hat die Waffen gebraucht gegen den Fürsten und das Gesetz des Landes! – Doch wollen wir den Stein nicht auf ihn werfen; wir wollen ihn wieder aufrichten, den Gefallenen, der da ist unser Bruder, und sogar als Fremder ein Recht auf unser [40] Mitleid hätte, weil er unglücklich geworden! Ja, noch ein größeres Recht hat er anzusprechen, weil er und seine Genossen nicht allein gethan haben, was sich leider vor unsern Augen zugetragen hat. Denn die Menschen sind es nicht, welche die Zeit machen; sind nur die Werkzeuge einer höhern Macht, jenes mathematischen Gesetzes, so die Welt regiert. Was geschieht und geschehen wird, ist daher nur unausbleibliche Folge dessen, was bereits geschehen ist. Was wir ernten, haben wir gesäet; die Ruthe, die uns schlägt, haben wir uns jedenfalls selbst gebunden. Darum ist auch nicht Alles vom Uebel, was die sogenannten Freiheitsmänner predigen, und erfüllen wird sich einst von ihren Lehren alles das, was gut, was praktisch, was nothwendig. Nach unabweislichen Regeln gebiert sich aus dem Jahr wiederum ein neues; so auch zeugt die That der Menschen wiederum der Menschen Handeln, und folgerichtig wird stets der Ausgang seyn. Sei also Moritz, was er sei… wenn nur sein Herz noch brav, seine Seele noch wacker ... wir wollen nicht von ihm lassen, und ihm freundlich und brüderlich seyn immerdar. Ist's so recht, lieber Moritz? kann diese Versicherung deiner anhänglichsten Gesellen die schwere Last, welche dich schier erdrückt, von dir nehmen?
Raphael und Friedrich machten Chorus zu dem biedern Vortrag ihres Alfred. Moritz konnte den Zeichen und Beweisen ächter Kameradschaft nicht widerstehen. Er richtete sein Haupt auf, über sein Gesicht flog ein milder Schimmer – den guten Freunden drückte er dankbar die Hände, und sprach etwas gelassener und heiterer, denn zuvor: »Eure Reden thun mir wohl, machen mir das Auge heller, ermuntern mein Gemüth ... [41] aber ich kann nicht lachen über dem Grabe meiner Hoffnungen. Mir ist, wie schon gesagt, das Leben gründlich verleidet. Ich könnt' es aufgeben zu jeder Minute. Pah, was thut's auch? wäre der Tod nicht besser als ein ruhmloses Leben? Wahrlich: wenn mir nicht eckelhaft vorkäme, mich auf dem Richtplatz von ein paar Hessen oder Nassauern, wie einen Hund, todtschießen zu lassen, ich stellte mich heute noch zu Kerker und Gericht ...«
Bei diesen Worten nickten die Zuhörer einander bedeutsam zu: ein Jeder von ihnen gedachte des wunderlichen Traums, den er von dem Sprecher gehabt, und aufmerksamer wo möglich, als zuvor, folgten die Freunde der Rede, welche Moritz also fortsetzte: »Ich muß aber bekennen, daß ich die Kugeln aus Büchsen und Musketen nicht wohl leiden mag, wenn sie nicht im offnen Felde und in ehrlicher Schlacht, wo man sich wehrt bis auf's Letzte, daher säuseln. Darum will ich mich nicht ausliefern; Ihr werdet Euern Benjamin eben auch nicht verkaufen und verrathen ... und so muß ich denn schon einstweilen am Leben bleiben. Ja, wenn ich ein alter Römer wäre, ein Römer aus jener Zeit der römischen Größe, der römischen Siegesherrlichkeit! aus jener Zeit, da ein solcher Römer, wenn ihm, wie mir, das Leben verleidet war, eines schönen Morgens, etwa nach dem Kaffee, seine Familie und seine Freunde um sein Ruhebett versammelte, und ihnen einfach sagte:»Des Lebens müde will ich damit fertig werden, und mich nach Bequemlichkeit aushungern und verdursten lassen, bis der letzte Faden bricht! Nehmt kein Aergerniß daran, setzt mir einen schönen Leichenstein, und behüt' Euch Gott, bis auf ein dereinstig [42] Wiedersehen in den elysäischen Feldern!« – Wenn ich ein solcher Römer wäre ... doch weg mit solchen Gedanken, und billig mögt ihr mich auslachen! Es gibt ja keine alten Republikaner mehr, und die jungen Republikaner ... weiß Gott, woran es liegt, daß sie hier zu Lande nicht gedeihen wollen! ...«
Mit großer Heiterkeit jubelten die Hörer diesem letzten Theil der Moritz'schen Anrede ihren Beifall zu. »Gott sei Dank! der Jonathas wird wieder vernünftig!« lachte der Eine; – der Andere sagte fröhlich: Wenn du einmal wieder in solchen Humor hinein geräthst, so ist Polen lange nicht verloren! – Alfred aber, still vergnügt über die, wenn auch noch kargen Strahlen, die aus dem schwarzumwölkten Gemüth seines Moritz brachen, sagte, die Schelle handhabend: »So trete also der Kaffee auf, obschon kein altrömischer zu finden seyn wird.« –
Der braune Trank erschien, und seinen Einzug begleiteten die lustigen Fanfaren der Trompeten und Hörner, so wie der muntere Trommelschlag der in die Stadt heimkehrenden Truppen, die nirgends einen Feind gesehen. – Zugleich meldete sich im Vorgemach Alfreds Diener seinem Gebieter, respektvoll flüsternd: Alles besorgt; der Herr ist glücklich aus dem Thore, und hat den Weg in's Gebirge nach Sankt Peter eingeschlagen. Kein Mensch hat uns angehalten, und wer ein gut Gewissen hat, darf völlig ruhig sein! – Alfred antwortete hierauf nur: Schon gut, schon gut, mein Sohn; und wer ein bischen Verstand hat, wird fein verschwiegen seyn, und weder sich selber noch seinem Herrn Verdruß bereiten. Begriffen? – Der Bediente, der nicht von gestern auf der Welt, und seinem Herrn treu ergeben, [43] legte bedeutsam den Finger auf den Mund und empfahl sich zu Gnaden, nachdem Alfred ihm einen, oder vielleicht ein paar Silberlinge als Trinkgeld und Belohnung in die Hand gedrückt.
Indessen hatte der »schöne Fritz« die kurze Abwesenheit Alfreds benützt, um den übrigen Freunden mit Wärme zu berichten, wie großmüthig Alfred an dem unglücklichen Turner gehandelt, und Moritz war hierauf etwas frischer geworden, und selbst Raphael, der sich eben nicht bewogen fand, den Titus besonders zu lieben, hatte mit seinem Jonathas eingestimmt, Alfreds Handlung zu preisen; und diese Lobpreisungen und Danksagungen empfingen den stolzen Alfred, da er wieder hereintrat, seinen Platz einzunehmen
»O laßt mich doch in Frieden!« bat er kalt und ruhig: »Ich habe nur gethan, was die Nächstenliebe und das Gebot des himmlischen Meisters mir zur Pflicht machten. Der junge Mann ist auf dem Wege, sich zu retten, und die Grenze zu überschreiten, hinter welcher er sicher ist. Gott schütze ihn, und mache ihm das Leben im fremden Lande heiter! Hier gilt's aber jetzt, auch unserm Moritz den Frieden wiederzugeben. Er möge vergessen, was denn doch einmal nicht mehr zu ändern ist. Der dringendsten Gefahr entronnen, trete er wieder gelassen in's bürgerliche Leben ein, und halte von sich fern jeden Argwohn und Verdacht. Dazu müssen wir ihm verhelfen, ihn vor der Hand umgeben wie eine Leibwache, für ihn bürgen mit Gut und Blut. In unserer Aristokratengesellschaft – auch den Raphael zähle ich fast dazu, obschon er in den verflossenen Tagen ziemlich ansäuerlich geworden – in unserer Gesellschaft wird es keinem Menschen einfallen, einen Freischärler [44] zu suchen, und unser Moritz bedarf daher nur der nöthigen Unbefangenheit, um aufzutreten, als sei er frei von aller Schuld, von allem Fehl. Den Roman seiner letzten Tage wollen wir schon gehörig zustutzen, Friedrich und meine Wenigkeit. Um ihn jedoch plötzlich wieder zum fröhlichen Menschen zu machen, wollen wir ihn schnell in den Umgang mit Leuten bringen, die, so Gott will, jetzt auch wieder fröhlich geworden sind. Ich meine die Familie Hinterbein.«
Raphael und Friedrich, welche beide schon lange gern in jener Familie sich umgesehen hätten, nickten dem Vorschlag ihres weisen Bruders unbedingten Beifall. Moritz fragte träumerisch: Hinterbein? die Familie Hinterbein?
Worauf Alfred lächelnd: »Nun wahrhaftig, lieber Moritz, du fragst ja in die Welt hinein, als hättest du von jenen Leuten deiner Lebtage nichts gehört, oder den allerdings auffälligen Namen etwa vor Methusalems Zeiten und im Halbschlaf vernommen? und dennoch haben wir die angenehme Bekanntschaft vor wenig mehr als einem halben Jahre gemacht! und dennoch ist es, wenn ich nicht ganz irre, eben dieser Moritz gewesen, der den Vorschlag gemacht hat, das Haus Hinterbein zur Osterzeit zu überrumpeln, das Vaterherz zu erstürmen, und die schönen reichen Töchter mittelst eines kecken Handstreichs zu gewinnen, und als Gattinnen zu entführen?
Moritz sagte, wieder schläfrig genug: Ja ... das wird schon seyn ... ich entsinne mich ...
Die Freunde lachten hell auf, und Alfred fuhr fort: »Wer war es denn, o Moritz, der bei jeder Gelegenheit mich der Kälte und Unempfindlichkeit beschuldigte? [45] Kein Andrer als du. Und heute bist du unempfindlicher, als ich je gewesen; du, der Urheber der besagten Unternehmung, die vom fröhlichsten Muthwillen eingegeben war, und die wir auf deine Mahnung hin frisch und fröhlich angegriffen haben, obschon, wie leider uns bemerklich geworden, das mathematische Gesetz, so die Welt regiert, eben nicht vollkommen damit einverstanden ist?«
Nun, nun ... sei nicht böse; erwiederte Moritz und bemühte sich munter zu scheinen: Ich hatte eben vergessen ... das abenteuerliche Leben der letzten Woche hat mich völlig umgestürzt ... ich war so durch und durch Patriot geworden, daß mir beinahe entfallen ist, warum ich mich so eifrig nach Freiburg herein sehnte. Der Pulverdampf, wenn Ihr wollt, hat mich vollends verwirrt ... aber jetzo kehrt mir das Gedächtnis wieder ... Cornelia steht wieder vor mir, wie ein freundlicher Schatten ... aber nur wie ein Schatten ...!
Das ist gut, sehr gut; schmunzelte Raphael. Moritz fügte mit Gleichgültigkeit seinen Worten bei: War nicht Cornelia die Erwählte meines Herzens? War sie mir nicht zugeschieden durch das Loos, vom Schicksal selbst geworfen? – Nun denn: ich habe, denke ich, einmal für sie geschwärmt ... aber alle meine Schwärmereien, alle meine Liebe und meine Hoffnungen haben ihr Ende gefunden ... die Altäre der freundlichen Götter sind umgestürzt ... ich sehe nur offene Gräber ... die Leiche des theuern Vaterlandes, aus tausend Wunden blutend ...! «
Alfred sprang aus, und rief: »Steht auf, ihr Freunde und Brüder, und nehmt diesen traurigen Bur [46]schen unter Eure Arme, daß er den Nebeln des Irrisinns, von denen er umsponnen, kräftig entrückt werde. Er schnappt uns über, sage ich Euch, wenn wir ihn nicht schnell in ein anderes Klima versetzen. Er wäre, bei Gott, im Stande, wie der alte Römer, uns nach genossenem Kaffee anzuzeigen, daß er sich aushungern und ausdürsten wolle. Das darf nicht seyn; darum brecht auf, und Marsch zu Hinterbein, wo Papa und Tante, und Doktor und Kathrinchen schon ihr Möglichstes thun werden, um den Melancholikus wieder dem Leben zu gewinnen.«
Ich bin dabei; versetzte Moritz etwas träge: Ich möchte auch wohl gern dem Leben eine bessere Seite abgewinnen ... aber es wird schwer halten, es wird nicht gehen ... indessen geschehe Euer Wille. Wenn Ihr meint, daß ich glatt und untadelhaft genug aussehe, um mich vor Damen und reichen Spießbürgern zu präsentiren ...?
»Allons, Allons, nur nicht Mäuse gemacht!« unterbrach Alfred den Sprechenden: »Was noch an der Toilette fehlt, werd' ich schnell aus meinen Vorräthen ergänzen, und fort dann ohne längeres Säumen! Wir beide, lieber Raphael, haben obendrein, wie mir der Fritze da gemeldet, unsern Damen viel abzubitten, Mißverständnisse zu beseitigen, und uns möglichst wieder in Gnaden zu bringen!«
Das wird schnell gethan sein; prahlte der Schauspieler, der sich vor dem Spiegel gefällig musterte: Die herrliche Cornelia kann mir nicht lange grollen; ich erscheine nur, und auf der Stelle ist ihr Herz mir wieder zugewandt. Werde auch wohl der Einzige seyn von uns Allen, der im Hinterbeinischen Hause seine [47] Absichten durchsetzt. Gott bescheere mir nur bald eine leibliche Erbschaft, oder das große Loos in der Lotterie, oder ein paar Körbe voll Kalifornischen Goldes! Das Letztere wird wohl am ersten geschehen können: ich hole mir das Gold selber aus den Minen; denn, wie ich schon einmal gesagt, wenn Papa mit seiner Einwilligung zögern sollte, so fliehen wir, die Braut und ich, nach Amerika, wo die gesammte europäische Zukunft liegt.
Unglücklicherweise ist diese schöne Tirade des Mimen von seinen Freunden überhört worden, denn Alfred war beschäftigt, den Moritz in seinem Aeußern nach Kräften auszuschmücken, und der »schöne Fritz« hatte selbigen Jonathas im träumerischen Dahinbrüten abgelöst, phantasirend, nicht von Cornelia, nicht von Kathrinchens braunem Lockenkopf, aber wohl von Cymbelinens Engelherzen und Engelangesicht, und – von Mathildens vornehmen körperlichen Reizen, die auf einmal vor der Seele des Träumenden dergestalt mächtig aufdämmerten, daß der Rettungsengel Cymbeline davon beinahe in den Hintergrund gedrängt worden wäre. – Raphael war verdüstert worden, weil er bemerkt hatte, daß sein Publikum seinen Spruch leichtsinnig verpaßte. Der Schauspieler war solchen Mangels an Aufmerksamkeit nicht gewohnt. Um so tragischer lauteten die Worte, die er an Alfred, der mit dem herausgeputzten Moritz sich wieder einstellte, zu richten für gut fand: Es bleibt also dabei; wir gehen zu Hinterbein ... ja ja, wir geh'n hin, und mit den Damen wollen wir schon fertig werden. Doch behalte ich mir vor, mit dem gewissen Doktor Faust mein Hühnchen zu pflücken. Der »Hannswurst« sitzt mir glühend auf der Seele; den [48] »Hannswurst« kann ich jenem Käferdoktor nicht verzeihen. Was ich gelobt in jenes Augenblickes Höllenqualen ...
… »Ist eine heilige Schuld« und so weiter, wie es bei dem alten Schiller heißt; fiel Friedrich ein, den Raphaels schmetternde Deklamationen wieder zu sich selbst gebracht hatten. – Der Schauspieler donnerte ihm aber ein kräftiges »Stille schweigen!« zu, und fuhr in seiner Ansprache fort: Der Frevel des Doktors muß gerächt, oder wenigstens ehrlich ausgeglichen werden. Du, Alfred, bist vor Zeiten immer der manierlichste Mensch gewesen, wenn es darauf ankam, einen Beleidiger zu konstituiren. Niemand hat je galanter kontrahirt, als du. Thu' mir deshalb den Gefallen, und koramire mir gleich heute Abend den verwünschten Doktor. Mach' ihm die Hölle heiß mit Schlägern, krummen Säbeln und Pistolen. Wenn er nicht revocirt, so kostet es sein Blut, sein Leben!
»Du bist ein Narr, Raphael;« lachte ihn Alfred aus: »und ich selber wäre einer, wenn ich dir in der Tollheit sekundirte. Laß das bleiben, lieber Freund; es ist seit vorgestern, namentlich heute, allerlei geredet worden, hin und her, hüben und drüben, von dem sich die Leute keine Rechenschaft geben. Die Angst und Aufregung des Augenblicks hat in diesem Punkte viel verschuldet, und wer selbst nicht frei von Schuld, rechte nicht allzuschiefrig mit den Andern. Ueberdies bedürfen wir heute der Freundseligkeit und der Versöhnlichkeit, und ich werde nicht zugeben, daß du uns mit irgend einem Skandal den Aufenthalt in liebenswürdiger Gesellschaft verkümmerst!«
Die Lektion war ohne Leidenschaft und unwiderstehlich [49] vorgetragen, wie nur Alfred sie zu geben vermochte; darum wagte Raphael nicht, den Widerbeller zu machen, – behielt sich aber vor, seiner Neigung, sich wichtig zu machen, und den friedlichsten aller Doktoren in's Bockshorn zu jagen, bei der ersten besten Gelegenheit allen Vorschub zu leisten. »Bei dem Anlaß werde ich doch auch erfahren,« sagte er schlau zu sich selber, »ob nicht vielleicht dem Schneckenfänger etwas von meinem Stande bei der deutschen Bühne zugemunkelt worden ist? Der ›Hannswurst‹ scheint nicht wenig darauf hinzudeuten und fatal wäre immerhin, wenn fragliches Zugemunkel auch dem Papa Hinterbein verschwätzt worden seyn sollte! Der Spieß wäre, bei Gott, im Stande, mir, den er als Rentner in das Haus gelassen, als Bühnenkünstler die Thüre zu weisen, und aus meinem Ehebündniß mit Cornelia würde am Ende nichts, und vielleicht auch nichts aus der Flucht mit ihr, da ich noch nicht weiß, wie hoch meine gesinnungstüchtige Freundin die Tüchtigkeit eines Schauspielers überhaupt anzuschlagen pflegt!«
Mittlerweile hatten sich in der That die Freunde auf den Marsch gemacht, um in das Castell »Hinterbein« einzurücken, um die Freude und die Liebe bei den Schwingen zu fassen und sich einen möglichst fröhlichen Abend zu erobern.