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Die Übersiedelung aus Onkel Augusts Sommerwohnung in die Rosesche Apotheke verpflanzte Theodor Fontane von der Peripherie der Hauptstadt in deren Mitte, in den Bezirk, den die Fontanes und die Labrys von Geschlecht zu Geschlecht bewohnt hatten. Hier standen die gotischen Baudenkmale der Marienkirche und der Heiligengeistkapelle, jene noch mit ihrer grünen Haube ein Gewirr alter Gassen überragend, mit wenigen Schritten war die steinerne Gerichtslaube am alten Rathause erreicht, deren offene Halle die öffentliche Rechtsprechung noch nicht ferner Jahrhunderte verbildlichte. In der Königstraße, zwischen den prächtigen Kolonnaden und Schlüters Stadt und Fluß beherrschendem Monument des großen Wohltäters der Hugenotten, stand noch mehr als ein Palast des Barocks, und die Triumphstraße der Linden war durch Rauchs Standbilder mitten auf dem Forum Fridericianum zu einer Ehrenhalle auch der jüngsten preußischen Vergangenheit geworden. Noch schritt Karl Friedrich Schinkel durch die Residenz, deren westlichem Teil seine Kunst ein ganz neues Antlitz gegeben hatte, preußisches Hellenentum offenbarte sich in dem mächtigen Säulengange des Museums, in der einladenden Treppenfront des Schauspielhauses. Und allenthalben in dem neuen Geheimratsviertel zwischen dem Oranienplatz und dem im zweiten Jahr von Fontanes Lehrzeit eröffneten Potsdamer Bahnhofe erhoben sich die schlichten Bürgerhäuser mit den 19 geraden Simsen und den griechischen Giebelfeldern über den Fenstern. Dies Berlin war eine Stadt von geschlossenem Reiz, von bescheidenem Zuschnitt, von würdiger Schönheit und, alles in allem, von bürgerlichem Lebensgefühl und Lebensgefüge. Bürgerlich-patriarchalisch auch der Hof, dessen Haupt, den König Friedrich Wilhelm III., Fontane je mehr und mehr in seiner »wundervollen Einfachheit« verehren lernte. An der Spitze der Künstlerschaft der alte Schadow, patriarchalisch wie der König und zugleich berlinisch-witzig wie der Kronprinz, neben ihm der silberlockige Rauch und der elegante Reitersmann Franz Krüger. Das Haupt der Gelehrtenwelt, Alexander von Humboldt, in seinem großen Arbeitszimmer auf der Oranienburger Straße unermüdlich auf den Knien Briefe in die ganze Welt schreibend, und dann als Kammerherr und Exzellenz das gelehrte Preußen vor der Welt repräsentierend. Das Mendelssohn-Henselsche Haus, Leipziger Straße 3, immer noch ein Mittelpunkt künstlerischer Geselligkeit, bei Varnhagen in der Mauerstraße ein letzter Abglanz der alten Salons, bei Lutter und Wegner am Gendarmenmarkt inter pocula ein Nachklang Hoffmann-Devrientscher Tage, und die Konditoreien, Heureuse im alten Derfflinger-Palais am Köllnischen Fischmarkt, Stehely in der Charlottenstraße, Stätten erregter Leselust, literarischen Gesprächs.
Von alledem gewann auch der junge Fontane sein Teil; nichts bezeichnender als sein Rückweg von der ersten pharmazeutischen Prüfung. Er hat bestanden, aber er denkt nicht an die Meldung im Geschäft, obwohl er bänglich genug ins Examen gegangen ist; er kehrt bei Heureuse ein und greift, wie einst bei Anthieny, nach dem »Berliner Figaro«, um dann freilich – der zweite und fast größere Gewinn des Tages – eine eigene Novelle in den Spalten vorzufinden. Ein inneres Verhältnis zu seinem Berufe hat er nicht gefunden, er war, wie selbstverständlich, in ihn als den 20 des Vaters hineingeglitten und hatte zu lernen und zu üben, was eben gelernt und geübt werden mußte. Dem Bilde des Apothekers, wie es sich in der stets knapp malenden Volksphantasie herausgebildet hat, entsprach er so wenig wie Storm dem des Beamten. Als Emil Rittershaus den alten Fontane besucht, sprechen sie über Ibsen: »Haben Sie nicht bemerkt,« sagt Rittershaus, »daß Ibsen ganz wie ein Apotheker wirkt? Er ist den Apotheker nicht losgeworden, und das spukt nun in seinen Stücken, seinen Problemen und Tendenzen und auch in seiner Konversation. Er ist immer ein kleiner Apotheker, der abwartet und dribbelt und auf der Lauer liegt.« Fontane fügt dem Bericht über dieses Gespräch hinzu: »Es ist vollkommen richtig, und ich mußte laut lachen, schon, um hinter der großen Lache meine eigene Angst zu verbergen.«
Die Angst war, nicht nur Rittershaus gegenüber, unnötig. Das Kleid des Berufes nimmt nur an, wer innerlich mit ihm verwachsen ist, der andere trägt nur das Kostüm, und wenn wir die Apothekerjahre Theodor Fontanes verfolgen, fühlen wir deutlich: Laboratorium und Verkaufstisch waren für ihn viel mehr Lebens- als Berufslehrstätte. Vom Elternhause früh getrennt, war er des erwärmenden Zusammenhangs mit den Nächsten verlustig gegangen; diese Entbehrung schuf sich alsbald einen Ersatz im Brief, und auf sie ist zum guten Teil die bis an den letzten Tag unverminderte Schreibelust Fontanes und die reiche Entfaltung seines angeborenen Brieftalents zurückzuführen. Da er aber nicht gleich anderen täglich oder wöchentlich an den eigenen Familientisch zurückkehren konnte, so war er auf das Menschliche seiner Umgebung stärker angewiesen als auf das Berufliche; im Kreise der Arbeitsgenossen und darüber hinaus in der Stadt mußte der Ersatz für die fehlende Häuslichkeit gesucht werden. Ließ schon das eigenartige Verhältnis der Eltern eine 21 unbefangene familiäre Wärme nicht aufkommen, so arbeiteten diese Jahre die spürbare Kühle noch weiter heraus, mit der Fontane zeitlebens familiären Beziehungen gegenüberstand und von der die Wärme mancher Freundschaft zu Wahlverwandten deutlich absticht.
Die Rosesche Apotheke war, in Fontanes Ausdrucksweise zu sprechen, die Queckensuppenapotheke; wochenlang saß er, mit einem rudergroßen Löffel rührend, im Gewölbe am Zinnkessel und kochte den wie Marienbader Brunnen wirkenden Extrakt – die gedankenlose Tätigkeit forderte zum Ausspinnen poetischer Pläne geradezu auf; und für diese Planungen war wiederum das Gewese des alten Rose ein besonderer Ort. Denn Rose, obwohl ein Bourgeois nach der Schnur, wußte sich etwas mit seiner literarischen und künstlerischen Bildung, und der Lehrling durchschmökerte Band um Band des im Hause einkehrenden Bücher- und Journalzirkels. Die freien Abende aber verbrachte er in zwei von jugendlicher Schwärmerei durchklungenen Vereinen, deren Patrone Lenau und Platen waren. Es waren lauter junge Leute aus guten Häusern, die sich hier an fremden und zumal an eigenen Dichtungen berauschten. Der bedeutendste war Kolonist wie Fontane, fast genau gleichaltrig mit ihm und später auf ganz anderem Gebiet als dem dichterischen erfolgreich: der Politiker und Volkswirt Julius Faucher. Es war ein kleiner, freilich mit viel kritischer Bangsamkeit genossener Triumph, als diese Klubbeziehungen Fontane zu einer selbstgedichteten Polterabendrolle in eins der Mendelssohnschen Häuser führten; dem großen Geodäten Joseph Jakob Baeyer hat er es nie vergessen, daß er den scheuen Jungen an diesem Abend in dem glänzenden Kreise unter seinen militärischen Schutz nahm.
Weihnachten 1839 war die Lehre beendet, Fontane blieb noch drei Vierteljahre als »junger Herr« bei Rose und ging dann 22 nach Burg in die Kannenbergsche Apotheke. Es ist nicht ohne Reiz, seine Burger Zeit mit dem viel späteren Aufenthalt eines andern märkischen Dichters, Ernsts von Wildenbruch, in der kleinen Fabrikstadt zu vergleichen. Der begräbt sein leidenschaftliches Temperament, einer neuen Zukunft gewiß, in heißen Studien und schlürft zugleich so viel tragisches Leben ein, daß es noch viel später in einer seiner blutvollsten Novellen wieder ans Licht tritt – Fontane langweilt sich einfach so entsetzlich, daß er schon an seinem einundzwanzigsten Geburtstage der Stadt den Rücken kehrt und nichts mitbringt als ein satirisches, freilich sehr mildsatirisches Epos »Burg an der Ihle«. Er war für die Kleinstadt verdorben und erst wieder an seinem Platze, als er in raschem Entschluß den gerade in Berlin anwesenden Besitzer der Leipziger Hofapotheke Zum weißen Adler um eine Stellung angegangen und angenommen worden war. Ein Typhus verzögerte die Reise, so kam er erst im Frühjahr an die Pleiße und empfand die Schönheit der alten Innenstadt um das Rathaus bis zur Ungerechtigkeit gegen Berlin. Dies war nun die Doktorenapotheke, in der eine Art Ärztebörse stattfand und anregende Bekanntschaften vermittelt wurden. Die wichtigsten fanden sich auch hier freilich außerhalb der ganz nah am laubenumrahmten Markt belegenen Offizin, vor allem in einem Dichterklub, der nicht mehr auf Lenau oder Platen, sondern, gemäß der veränderten Zeit, auf Herwegh getauft war. Die Herweghsche oder besser die zeitgemäße Tonart schlug in vielen flüssigen Versen, vor allem in einem Gedicht durch, das der Leipziger Neuling in der gelesensten städtischen Zeitung veröffentlichte. Der Leipziger Schillerverein hatte damals dem Gohliser Schillerhause eine Weste des Dichters unter Glas und Rahmen stiften können, und Fontane verspottete den allzu großen Aufwand von Begeisterung in einem Gedicht »Shakespeares Strumpf«: 23
Hoch gesprungen, laut gesungen,
Wenn verschimmelt auch und dumpf,
Sei's! Wir haben ihn errungen,
William Shakespeares wollnen Strumpf.
Sieg! Wir haben jetzt die Strümpfe,
Haben jetzt das heilge Paar,
Drinnen er durch Moor und Sümpfe
Sicher vor Erkältung war.
Sieg! Wir huldgen jetzt dem Strumpfe,
Der der Strümpfe Shakespeare ist,
Denn er reicht uns bis zum Rumpfe,
Weil er fast zwei Ellen mißt.
Sieg! Wir haben jetzt die Strümpfe,
Dran er putzte, wischte, rieb
Manches Mal die Federstümpfe,
Als er seinen Hamlet schrieb.
Drum, wer je ein Lied geleiert,
Wenn er sich nicht lumpen läßt,
Singt Oktaven er und feiert
Unser nächstes Shakespeare-Fest.
Unsern Enkeln wird man melden:
Euer Ahn, daß ihr es wißt,
War auch einer von den Helden,
Die den Shakespeare-Strumpf geküßt.
Drum herbei, was Arm und Beine,
Unsrer harret schon Triumph,
Und dem »Shakespeare-Strumpfvereine«
Helfen so wir auf den Strumpf. 24
Diese Verse, Unmut bei den Einen, heitere Zustimmung bei den Anderen erregend, waren Fontanes Eintrittskarte zum literarischen Leben der Stadt, vor allem aber eben zum Herwegh-Klub, in dem Fontane zwei ungewöhnliche Männer begegneten: Max Müller, damals noch durchaus der Sohn seines Vaters, des Griechenliederdichters, später als Indologe weltberühmt, und Wilhelm Wolfsohn. Dieser, aus Odessa gebürtig, vermochte zwar dem sprachunbegabten jüngeren Freunde das Russische so wenig beizubringen, wie dieser vordem und nachher richtig Italienisch oder Dänisch gelernt hat, aber er führte ihn in die russische Literatur ein, er suchte Fontane literarisch zu fördern, und diese Leipziger Beziehung erhielt sich noch lange Jahre.
Es waren schöne Tage mit Morgengängen durchs Rosenthal und langen Sonntagswanderungen über das Leipziger Schlachtfeld. Nach knapp einem Jahr aber flackerte das Fieber wieder auf und führte zu einer langwierigen Erkrankung, in der sich Onkel August und sein Haus als hilfreich erwiesen und so frühere Versäumnis in etwas gutmachen konnten. Der Ohm war wieder ganz »auf der Höhe«, und so erlebte Theodor Fontane unter Tante Pinchens Pflege heitere Genesungstage, bis er in die Offizin des Doktors Struve in Dresden eintrat. Diese war damals, 1842, nicht nur die erste Apotheke Deutschlands, Struve war auch der Hersteller der überall ausgeschenkten Mineralwässer, und so war sein Haus für Fontane die Mineralwasserapotheke, ein in jenem heißen Sommer besonders erquicklicher Arbeitsort. Die bescheidenen Leipziger Erfolge und Verbindungen führten ihn aber schon ein Jahr darauf dorthin zurück, er wollte sich mit seiner geringen literarischen Habe als Schriftsteller niederlassen, doch schon der erste Versuch bei einem der Leipziger Verleger zeigte die Unmöglichkeit. Wie sehr der fast Vierundzwanzigjährige noch tastete, wie wenig der Beruf ihn 25 ausfüllte, erweist ein plötzlich mit Eifer ergriffener und im Elternhause mit bald wieder nachlassender Hast verfolgter Plan: er setzt sich daheim, zu Letschin im Oderbruch, wo die Eltern jetzt ansässig sind, noch einmal hinter die Schulbücher, will die Reifeprüfung nachholen und dann Geschichte studieren. Aus so in tieferem Sinne für ihn unfruchtbarem Tun riß ihn die Einberufung zum Militärdienst; am 1. April 1844 tritt er, ein nicht mehr junger Rekrut, beim zweiten Bataillon des Kaiser-Franz-Garde-Grenadierregiments in der Neuen Friedrichstraße zu Berlin in das preußische Heer. Von militärischer Haltung und Neigung, mit den Überlieferungen der Armee von klein auf vertraut, war Fontane ein guter Soldat, der zur rechten Zeit die Tressen des Unteroffiziers an den Kragen nähen durfte. Und er hatte das Glück, einen Urlaub zu einer Reise nach England zu erlangen, auf der er der Gast eines Ruppiner Schulfreundes, Hermann Scherz, war. Ein braunes Röckchen über der rotbiesigen Kommißhose, zog Theodor Fontane in London ein, und eine in einer englischen Familie gemachte Bleistiftskizze zeigt wenigstens etwas von der edlen Form des Kopfes, der Klarheit des reinen Profils, während ein etwas früheres Bild des Dresdeners Kersting auch die Schlankheit der Gestalt und den jugendlich-gütigen vollen Blick der großen, strahlend blauen Augen vermittelt. Zwei Dinge ergriffen in der britischen Hauptstadt den Einjährigen auf Urlaub am stärksten: ein kleines Bildnis der Maria Stuart in Hampton Court, dem Lieblingsschlosse Heinrichs VIII., und der Tower.
Theodor Fontane hatte auch von dem Besuch eines damals viel berufenen technischen Wunderwerks, dem Tunnel unter der Themse, einen besonderen Eindruck erwartet – er blieb aus. Die Erinnerung an diesen Gang unter dem Strom aber kam ihm wieder, als er am 29. September 1844 als ordentliches 26 Mitglied in den Berliner Sonntagsverein aufgenommen wurde, der sich mit einem berlinischen Witz
Der Tunnel über der Spree
nannte. Dieser Tag machte in Fontanes Leben Epoche, denn in dem ihm nun eröffneten Kreise ist er als Dichter zu sich selbst gekommen.
Der Sonntagsverein verdankte seine Gründung im Jahre 1827 dem sogenannten Humoristen M. G. Saphir, der sich in ihm eine Art Leibgarde für sein mit Recht viel angefochtenes literarisches Treiben schaffen wollte. Unter den Mitgliedern des ersten Jahrzehnts überwogen die Dilettanten, die denn auch an den gesucht witzigen Formen der Verbindung ihr besonderes Gefallen haben mochten. Da wurden die Mitglieder »im Namen Till Eulenspiegels Wohlgeboren« aufgenommen und diplomiert, und der Vorstand unterzeichnete »mit ungeheurer Ironie und unendlicher Wehmut«. Vor dem Vorsitzenden, dem »Angebeteten Haupte«, lag das zwei Meter hohe Eulenszepter und daneben ein Stiefelknecht als Symbol des Weltschmerzes. Zwei Bestimmungen aber waren wichtig und segensreich: politische und religiöse Angelegenheiten waren laut § 2 der Satzung von der Erörterung ausgeschlossen, und jedes neue Mitglied empfing beim Eintritt einen im Tunnel fortan ausschließlich zu gebrauchenden Übernamen. Dieses letzte Gesetz ermöglichte allein einen freien Verkehr scheuloser Kritik zwischen den an Alter und Rang denkbar verschiedenen Genossen. Gleich für Fontane, der aus Gründen des Anklangs den Namen Lafontaine empfing, war die Bedeutung dieses Brauches augenscheinlich, denn sein Einführer war sein unmittelbarer Vorgesetzter bei Kaiser Franz, der Sekondeleutnant Bernhard von Lepel, und jede dienstliche 27 Befangenheit durfte schwinden, wenn nicht der Unteroffizier zum Offizier, sondern bei der sonntäglichen Kaffeetasse in einem Gartensaal der Leipziger Straße Lafontaine zu Schenkendorf sprach. Bernhard von Lepel, gütig, ritterlich, als Dichter im letzten ohne Erfolg, ist länger als ein Menschenalter neben dem ein Jahr jüngeren Fontane durchs Leben gegangen, und Fontane hat bekannt, wieviel er ihm menschlich danke. Ihre Zusammengehörigkeit wurde so stark empfunden, daß der Benjamin des Tunnels, Paul Heyse, ihnen gemeinsam einen Novellenband widmete.
Lepels Mitgliedschaft datierte noch aus der dilettantischen Zeit des Vereins, neben ihm und Heinrich von Mühler mochten nur Felix Eberty, der forsche Seegeschichtenerzähler Heinrich Smidt und Louis Schneider, wenn nicht dichterisch, so wenigstens schriftstellerisch für voll zählen. Schneider, einst Schauspieler, nun Königlicher Vorleser und Herausgeber des »Soldatenfreunds«, sorgte vor allem für vollgültigen Nachwuchs, und so war bei Fontanes Eintritt der Verein bereits eine wirkliche Künstlergesellschaft geworden, und die »Klassiker«, die niemals Eigenes beibrachten, waren zum guten Teil Männer von feinem Urteil und gereiftem Kunstverstand. Durch einen dieser Mithörer, Heinrich Friedberg (später, wie Mühler, Staatsminister), war der Graf Moritz Strachwitz dem Tunnel zugeführt worden, und alsbald nach seinem Ausscheiden rückte, von Schneider mitgebracht, Christian Friedrich Scherenberg in die Stellung des allgemeinen Tunnellieblings ein. Wohl schwoll die Zahl wirklicher Dichter in diesen glücklichen Jahren hoch an, die Erzähler Wilhelm von Merckel und George Hesekiel, der Kinderliederdichter und Kladderadatschpoet Rudolf Löwenstein, der Meisterübersetzer Otto Gildemeister, die plattdeutschen Lyriker Karl und Friedrich Eggers, von denen der zweite auch im hochdeutschen Vers zu guter Stunde Unvergängliches gab, der Balladendichter Hugo 28 von Blomberg, Franz Kugler und der philosophische Romandichter Adolf Widmann – sie alle sind lebhafte und produktive Tunnelmitglieder gewesen. Dennoch sind die Namen Strachwitz und Scherenberg für den literarhistorischen Anspruch des Tunnels wie für Theodor Fontanes nunmehrige Entwicklung am bezeichnendsten und wichtigsten gewesen. Daneben aber war es für den Kreis und für Fontane von Bedeutung, daß zur Seite des ausgesprochenen berlinischen Genremalers Theodor Hosemann unter dem Namen Rubens der preußische Künstler Tunnelmitglied war, der Kuglers Friedrich-Werk mit genialer Hand schmückte: Adolf Menzel.
Fontane war im Platenverein gewesen. August Kopisch, damals in Potsdam ansässig, und Bernhard von Lepel waren Platens eigentliche Schildhalter, und ihnen gesellte sich ein nicht oft erscheinendes Tunnelmitglied, Emanuel Geibel. Aber wie Geibels Lyrik hier nicht den rechten Widerhall fand, so wirkte auch Lepel nicht durch seine Oden und Hymnen, sondern durch Balladen wie die »Dänenbrüder«. Und von Kopisch lernten die Tunneldichter den knappen märkischen Ton, der knappsprachige Menschen, etwa den Alten Fritzen, mit wenigen scharf aufgesetzten Strichen charakterisiert. Hier wurde in berlinischem Umkreise das Erbe Chamissos angetreten, der seinen neuen Mitbürgern aufs Maul gesehen hatte und in schmuckloser Verdichtung mit realistischem Balladenton die Frau Base mit dem klugen Rat oder die alte Waschfrau gestaltet hatte.
Und Fontane war im Leipziger Herwegh-Klub gewesen. Das politische Pathos der deutschen Lyrik etwa seit der Julirevolution lebte auch in den stürmischen Strophen des Grafen Strachwitz, wenn auch aus einer entgegengesetzten politischen Stellung heraus. Aber es war hier mit einer unter den Zeitgenossen einzigen balladischen Begabung versetzt, und diese führte den Frühverstorbenen 29 bis zu Meisterstücken wie »Das Herz von Douglas«; da ward bei innewohnender Melodie in der Sparsamkeit der Bilder, der dramatischen Absetzung ein von falschem Prunk freier Realismus erreicht. Aus beiden Quellen, der märkisch-genrehaften, der preußisch-balladischen, floß dann die Kunst des Mannes, der auf lange hin im Mittelgrunde des Tunnels stand, und um den herum nachmals Fontane sein Tunnelbild gruppierte: es war der Sohn jenes Swinemünder Hauses, Christian Friedrich Scherenberg. Auf dieser Doppellinie errang auch Theodor Fontane seine größten Tunnelerfolge.
Mit der Kraft eines Magneten zog der Tunnel alle jungen poetischen Kräfte an, die als Gäste oder als neue Bürger der preußischen Hauptstadt zuwanderten; auch wer nicht Mitglied war, nahm gleich Julius Rodenberg wenigstens an diesem oder jenem Vereinsfeste teil. Und jeder gewann gerade von Theodor Fontanes Erscheinung und Art den besonderen Eindruck. Otto Roquette, dem im Tunnel nicht wohl ward, bekennt, daß Fontane »wie in seiner stattlichen Erscheinung, so in seinem inneren Wesen eine großartig zugeschnittene Natur« gewesen sei. Adolf Wilbrandt fügt hinzu, daß die französische Rasse Fontane »ins Gesicht geschrieben« stand und sich auch in der Art zeigte, wie sein Körper lebte. Und Paul Heyse, über ein Jahrzehnt jünger denn Fontane, rückt innerhalb seiner ein wenig ironischen Schilderung des Tunnelwesens Theodor Fontane stracks in die Mitte. Man sieht in Heyses später Abmalung den dicken Smidt mit wiegendem Seemannstritt vorüberschwanken, streift an dem fetten, blonden Hesekiel und dem lange schweigsamen Scherenberg vorbei, grüßt nebeneinander Lepel und Menzel, aber der Dichter läßt uns die etwas dünne Stimmung einer unbelebten Sitzung wohl empfinden, um dann mit vollem Akkord die den Bann der Stunde lösende Gestalt einzuführen: 30
Da ging die Tür, und in die Halle
Mit schwebendem Gang wie ein junger Gott
Trat ein Verspäteter, frei und flott,
Grüßt in die Runde mit Feuerblick,
Warf in den Nacken das Haupt zurück,
Reichte diesem und dem die Hand
Und musterte mich jungen Fant
Ein bißchen gnädig von oben herab,
Daß es einen Stich ins Herz mir gab.
Doch: Der ist ein Dichter! wußt ich sofort.
Silentium! Lafontaine hat's Wort.
Diese, wohl absichtlich an Wielands Stettener Goethe-Huldigung anklingenden Verse bedeuten um so mehr, als ihr Verfasser zu der von Fontane Kugler-Gruppe getauften Schar gehörte, die ihr geistiges Heim im Hause Franz Kuglers fand. Diese Gruppe stand der Romantik näher als die Mehrzahl der Freunde, und es war symbolisch, daß der Ministerialrat Kugler zu Ehren seines Amtsvorgängers Joseph von Eichendorff ein Fest gab, bei dem Heyse die Versansprache halten mußte. Und auch zu Platen, zu Arnim, vor allem zu Grillparzer hatten sie, die Kugler, Geibel, Eggers, Heyse, ein innigeres Verhältnis; was sich später im Münchner Dichterkreis, im »Heiligen Krokodil« an der Isar unter doch zumeist norddeutschen Genossen entfaltete, war im Kugler-Kreise bereits vorgebildet. Aber auch Fontane wohnte jenem Eichendorff-Feste bei und fand durch lange, gute Jahre bei Franz Kugler Wohlwollen, Zuspruch, Förderung, am »ewigen Herd« Freundschaft und Neigung. Er fand auch berlinische Überlieferung. Denn Kugler teilte das bescheidene Haus in der südlichen Friedrichstraße mit seinem Schwiegervater Julius Eduard Hitzig, dem Freunde und Biographen 31 Chamissos und Hoffmanns; und auch die Schwester der schönen, anmutigen und oft besungenen Frau Clara Kugler wohnte mit ihrem Gatten Joseph Jakob Baeyer unter dem gleichen Dache. Schon wuchs um Kugler als Mittelpunkt ein begabtes jüngeres Geschlecht in reiner und geistig belebter Luft empor: Hans Kugler, Eduard Baeyer, Margarete Kugler, alsbald Heyses Braut. Es ist mehr als Scherz, wenn Fontane in einem Geburtstagstoast in Kugler den Priester und Diener am göttlichen Elemente feiert und mit der Verheißung schließt:
Und die Tage der Zukunft, ob Frieden, ob Krieg
Sie unserm Lande geben,
Sie geben uns doch den letzten Sieg,
Wenn viele Kuglers leben.
Im Rütli vereinigten sich um Kugler und Heyse die Rütlionen, lauter Tunnelgenossen, darunter der Philosoph Moritz Lazarus, und zu dieser kleinern Runde zählte Fontane ebenso treu wie zu den späteren »Elloristen«, unter denen uns wiederum Friedrich Eggers begegnet. Dazu traten der Kunsthistoriker Wilhelm Lübke, der Jurist Karl Zöllner, der Baumeister Richard Lucae, Roquette und Fontane. Als Eggers einst, arbeitsüberhäuft, mit den fünf Freunden in seinem Zimmer saß, rief er verzweifelt: »Wenn mir nur einer von euch den Artikel Ellora für Brockhaus abnehmen könnte!« Zöllner war sofort bereit, nahm Papier und Feder und heischte dann, schon am Schreibtisch sitzend: »Nur eine Vorfrage: Was ist Ellora?« Dieser Erkundigung nach dem indischen Tempel verdankte diese Runde ihren Namen. Sie wie das Rütli, dem auch Menzel beitrat, führte nicht bloß die Männer, sondern auch ihre Frauen zu einem in der Fremde oft vermißten geistigen Austausch zusammen, der mehr als ein Menschenalter hindurch fortgesetzt ward. 32
Es war ein Glückstag, der den Gardisten in den Tunnel geleitet hatte, dessen Angebetetes Haupt er von 1849 auf 1850 war. Alles in ihm gewann, der Poet durch neues Vorbild und anspruchsvollen Hörerkreis, der Kritiker, wenn er selbst zu hören und zu urteilen hatte, der Plauderer, dem sich geistreiche Menschen eröffneten, der anschlußbedürftige Mann, der vom Vorlesetische her den Weg in gesellige Behaglichkeit und wärmende Freundschaft fand. Und bei alledem kam dem »Apotheker Herrn Fontane«, wie er im Protokollbuch bei der Aufnahme hieß, und seinem unabhängigen Sinne die gesellschaftliche Unbefangenheit des ganzen Kreises zugute, der die ganze Stufenleiter vom Geheimen Rat bis zum Referendar und vom Professor bis zum Studenten außerhalb seiner vier Wände ließ.
Rang gab's nicht, den verlieh das Gedicht. –
Das Militärjahr war zu Ende und Fontane mußte wieder Stellung suchen. Er fand sie in der Polnischen Apotheke am Eck der Friedrich- und der Dorotheenstraße und hier zugleich in dem Lehrling Friedrich Witte, dem späteren liberalen Parlamentarier, den einzigen Freund aus dem gleichen Berufe, einen Lebensgenossen, mit dem die herzliche Verbundenheit bis in späteste Tage anhielt. Dasselbe Jahr 1845 aber brachte in Theodor Fontanes Leben noch eine andere Bereicherung und große Entscheidung. Neben jenem wüsten Hause in der Großen Hamburger Straße, darin der Schüler Fontane als Onkel Augusts Pensionär gewohnt hatte, lebte im dritten Stock des Nachbargebäudes die zehnjährige Emilie Rouanet, eine Waise, die seit ihrer Adoption durch einen Rat Kummer den Namen Emilie Kummer führte. Das »abruzzenhafte« Kind trug den Stempel seiner französischen Abkunft in den Zügen, stammte aber nicht aus der hugenottischen Kolonie, sondern von einem Toulouser namens 33 Rouanet, den ein merkwürdiger Lebenslauf unter Friedrich dem Großen zuerst in die Hände preußischer Werber und in die Potsdamer Garde, dann auf den Posten eines Stadtkämmerers von Beeskow geführt hatte. Seine Enkelin, die kleine Emilie, war seit Fontanes Scheiden von der Schule und der Hamburger Straße stattlich herangewachsen, das Abruzzentum war abgefallen, und als der Fünfundzwanzigjährige die Neunzehnjährige wiedersah, und zwar bei Onkel August, der wieder in Berlin lebte, regte sich alte Schülerneigung und verdichtete sich gegenüber diesem »Typus einer jungen Berlinerin, wie man sie sich damals vorstellte«, zu leidenschaftlicher Neigung, die am 8. Dezember 1845 zu einer sehr formlosen, aber im Augenblick der Trennung ausdrücklich bekräftigten Verlobung führte.
»Daß ich verlobt bin, weißt Du. In diesem Faktum liegt noch kein Grund der Gratulation, wohl aber darin, daß ich mich glücklich fühle in meiner Wahl und meiner Liebe,« so schreibt er an Wolfsohn. »Du hast,« fährt er fort, »das junge Mädchen bei Deinem Hiersein gesehen. Das Hervorstechende ihres Wesens ist, körperlich und geistig, das Interessante; sie wird mich auch da zu fesseln wissen, wo mir größere Schönheit, umfassenderes Wissen und selbst tieferes Gefühl auf meinem Lebenswege begegnen sollte. Mit einem Wort: Sie ist ›liebenswürdig‹, sie hat jenes unerklärbare Etwas, was allem einen Reiz verleiht; die Schwächen selbst werden so zu Tugenden gestempelt; Unkenntnis gibt sich als herzgewinnende Natürlichkeit, launenhafte Wünsche und Einfälle kleiden sich in das Gewand des Eigentümlichen.« Fontanes Mutter fand die Vereinigung solcher von dem Bräutigam mit bemerkenswerter Schärfe gezeichneten Eigenschaften in Emilie Kummer genau für den Sohn passend. Und allen Anzweiflungen seines auf unsichere Grundlage gebauten Glückes setzte Fontane ein innerstes Vertrauen entgegen. Auch der 34 »Höllensoff brennender verzweifelnder Eisersucht« konnte ihn nicht irre machen. »Unter allen diesen Stürmen hat sich meine Liebe bewährt,« schrieb er am Ende seines zweiten Verlobungsjahres, und wie er das neue Schicksal empfand, lehren die »in Hangen und Bangen« gewordenen Verse:
Träte jetzt die Todeskühle
An mein Herz, und riefe mich,
Wie ein Kind dann, unter Jammern
Würd' ich mich ans Leben klammern –
Um Dich. 35