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IX.

Wild stand noch immer regungslos auf derselben Stelle.

Wie sollte es nun geschehen?

Er hatte unterwegs daran gedacht, ob es sich nicht so einrichten ließe, daß es bis auf Weiteres den Anschein eines natürlichen Todes hätte: eines Gehirn- oder Herzschlages, der seinem Leben auf der Stelle ein Ende gemacht, während er, nach den Anstrengungen des Tages behaglich seine Cigarre rauchend, in der Sophaecke saß, oder am Fenster bei'm letzten Abendlicht, in einem Buche, in einer Zeitung blätternd, wie ihn die Damen in der Bel-Etage des Hauses gegenüber gewiß oft gesehen hatten.

Aber wie lange würde das Weitere auf sich warten lassen? wie lange der Schein vorhalten?

Ein paar Stunden vielleicht, wenn es hoch kam, ein paar Tage.

Dann würde sich langsam, aber unwiderstehlich, und dann schneller und schneller und zuletzt wie ein Lauffeuer über die Stadt ausbreiten: Doctor Wild hat sich mit Blausäure vergiftet, weil diesen letzten Ultimo zehntausend Thaler Wechsel auf ihn liefen, von denen er keinen Groschen bezahlen konnte.

Und darum! um elende zehntausend Thaler!

Nein! nicht darum! In einer Viertelstunde konnten sie da auf dem Schreibtisch liegen, wenn er wollte. Als er heute Morgen dem reichen Grafen Halder sagte, daß die Gefahr vorüber sei, daß Mutter und Kind leben bleiben würden, hatte sich der junge Mann schluchzend an seine Brust gestürzt, und gerufen: Sie haben auch mir das Leben gerettet! Wie soll ich es Ihnen danken? – Und Max Lombard! der gute Junge! ihm würde es nicht nur eine Freude sein – er würde es wie einen Orden tragen: das Bewußtsein, mich gerettet zu haben.

Gerettet? wovon?

Vom Tode. –

Wer da gerettet werden konnte! und was liegt an den paar Jahren, von denen wir thun, als gehörten sie uns und nicht dem schnöden Zufall, der mit ihnen umspringt wie der Wirbelwind mit dem Kehricht? Ja, ich will gerettet sein! von der Herrschaft des Zufalls, der Tyrannei des Lebens – ich habe es satt.

Ich habe es satt und übersatt. Das ist es – müde bin ich – todmüde – müd zum Tode.

Er sank in den Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch. Hier hatte er – wie viele Tage wohl, wenn er die Stunden zusammenrechnete! – gesessen und studirt und sein Gehirn zermartert, dem Geheimniß des Lebens auf die Spur zu kommen, dem Tode die sichere Beute streitig zu machen mit Menschenwitz und Menschenkunst. Es lag eine hohe Ironie darin, daß hier, gerade hier auf diesem Platze, das allzu geschäftige Hirn zur Ruhe kommen; daß er hier, gerade hier den so eifrig gesuchten Schlüssel zum Räthsel des Lebens finden sollte – den Tod: den Tod sans phrase – den ehrlichen, gründlichen Tod, der ordentlich aufräumt, gewissenhaft die Lichter ausmacht, und geduldig wartet, bis die letzten Funken in der Asche verglimmt sind.

Da glimmen sie noch und hasten sich, die armen Schelme, als wüßten sie, daß es mit Ihnen zu Ende geht. Und weshalb sollten sie's nicht müssen? der Todesgedanke kann's ihnen ja gesagt haben, als sie sich begegneten. Nun möchten sie sich retten. Wohin? ach wohin?

Er war aufgestanden, ohne daß er es gewollt, und saß jetzt an dem Flügel, ohne daß er zu sagen vermocht hätte, wie er dahin gekommen. Er hatte sich oft an dem Flügel die hämmernden Pulse beruhigt in der Stille der Nacht – ein paar leise Takte aus den Oratorien seines hochverehrten Händel, aus den Sonaten seines vielgeliebten Schubert – oft genug auch ein wenig nur von der kunstlosen und doch zauberkräftigen Musik, die er in sich selbst hatte – ein wilder und doch rhythmischer Reigen, ein Ariellied für die schwärmenden Lebensgeister –: dann war Alles gut gewesen – Alles!

Heute mußte der tiefsinnige Händel keine Auflösung zu finden; heute war Schubert's liederreicher Mund stumm, und von Ariel's Harfe erklangen ein paar schrille, disharmonische Töne, die wie Spott und Hohn durch die stille Seele gellten.

Er stand auf und schloß ganz leise das Instrument. Was sollten ihm jetzt diese Stimmen von Holz und Draht? was sollten ihm Geisterstimmen!

Eine Menschenstimme – eine sanfte, klare Menschenstimme, die ihm sagte: es giebt eine Seele die Dich versteht, die da weiß, daß Du nicht aus dem Leben fliehst wie ein Feigling aus der Schlacht; daß Du nicht aus dem Leben Dich wegstiehlst wie ein Dieb aus dem Hause, bevor die Wächter ihn greifen; wie ein Stutzer aus dem Salon, damit die Leute über sein plötzliches Verschwinden sprechen – daß Du gehst, weil Du nicht bleiben kannst, und nicht bleiben kannst, weil es sich nach Deinem besten Wissen, nach Deiner innigsten Ueberzeugung des Bleibens nicht verlohnt.

Eine sanfte, klare Menschenstimme!

Er stützte die brennende Stirn in beide Hände.

Und doch gab es einmal eine solche Stimme: klar und sanft, so lieblich sanft! es war das Schönste an ihr, die sanfte Stimme und die Augen, die großen, blauen treuen Augen!

Aber war die sanfte Stimme nicht ein Echo nur irgendwoher aus dem Walde, dem stillen Walde, in den der übermüthige Knabe hinein rief, was ihm eben auf die Lippen kam? Und waren die Augen nicht nur deshalb so blau, weil irgend wie ein Stück Himmel hinein schien? und nun brauchte nur eine Wolke vorüber zu ziehen, und die Augen wurden trüb und tropften sentimentale Thränen – wie damals, als wir uns hier wiedersahen – zum letzten Mal.

Und was kann sie heute so Dringendes bei mir gewollt haben, daß sie dreimal gekommen ist? Mir meine Briefe wieder bringen? sie mag sie gern verbrennen! ihre Briefe sich zurückgeben lassen? Freilich, es muß da ja Alles ordentlich zugehen, ordentlich und pedantisch; das Hauptbuch muß stimmen: Debet und Credit: heute Morgen dort, um sich den Wechsel discontiren zu lassen; hernach zu mir, sich von meinem Rechtlichkeitsgefühl eine Quittung darüber zu erbitten, das, wie die Dinge nun einmal lagen, sie wirklich und wahrhaftig, als gute Haushälterin, gar nicht anders gekonnt.

Nun wohl! sie soll nicht vergebens hier gewesen sein; sie soll die Quittung haben.

Er hatte nun doch noch einmal das Schlüsselbund von dem Kasten nehmen müssen, in welchen er die Lebensversicherungspolice gelegt und den Rest des Geldes – gerade so viel, wie für ein anständiges Begräbniß, und was damit zusammenhängt, reichte. Er konnte sie nicht gleich finden – sie lagen tief verschüttet unter anderen Papieren – aber endlich fand er sie doch: ihre Briefe.

Es waren nicht allzu viele in Anbetracht der langen Zeit, durch welche die Correspondenz gelaufen; einige mochten auch wohl fehlen, die auf der Reise und in den mancherlei wunderlichen Situationen seines Lebens abhanden gekommen; aber die meisten hatte er doch aufbewahrt als liebe Angedenken in den ersten Jahren und hernach – er wußte selbst nicht weshalb: aus Gewohnheit, aus Scheu, aus Trotz gegen sein Gewissen, das ihm sagte: jedes dieser leichten Blätter wiegt schwer und schwerer gegen dich. Und so hatte er einen zu den anderen gelegt: die letzten hatte er nicht mehr gelesen.

Weshalb auch! konnten es doch nur immer wieder dieselben Alltagsgedanken sein, dieselben dürftigen Empfindungen einer kleinen Seele, die in den engen Schranken des Hauses sich einzig wohl fühlt und an den Dornen der Gartenhecke schon die matten Schwingen zerreißt, wenn sie sich wirklich einmal zu einem kühnen Fluge aufraffen will. – Es hat mich toll gemacht, sagt der arme Hamlet; er hatte gewiß in der Tasche neben seiner Schreibtafel ein Packet solcher interessanten Ophelia-Briefe. Sie würde sicher auch den alten Polonius nicht verlassen haben und mit ihrem Hamlet nach Paris gegangen sein, wenn er sie auf diese Probe gestellt hätte; die Ophelien haben immer einen Grund, nicht nach Paris zu gehen; dafür gehen sie dann schließlich in's Wasser.

In der romantischen Zeit; jetzt sind auch sie praktisch geworden; jetzt schicken sie den Vater Polonius und erbitten sich ein Accept über ihre Auslagen, und gehen dann mit Polonius oder auch allein – sie kennen das ja – zu irgend einem Güldenstern, und lassen sich klingende Münze dafür geben.

Seine Augen liefen mechanisch über ein Blatt, das gerade oben lag. Es war aus der Zeit, als er, der junge Flüchtling, in Zürich den Entschluß gefaßt hatte, Medicin zu studiren.

»Ich soll Dir sagen, was ich von Deinem neuen Plane halte? liebster Conrad, was kann ich sagen, als das Eine, das heute in der Predigt vorkam: Der wahren Liebe müssen alle Dinge zum Besten dienen. – Ich weiß, liebster Conrad, Du magst die Pastoren und zumal unsern Pastor nicht, und er hat es gewiß nicht um Dich verdient; aber als er das heute sagte, da war mir's, als habe gar nicht er, als habe ein Anderer es gesprochen, der nur das Eine sagte, und sonst nichts weiter; ganz gewiß hörte ich nichts mehr, und kann Dir auch gar nicht beschreiben, wie es so über mich kam, daß ich den Kopf auf das Buch beugen und mich recht ausweinen mußte. Und dabei wurde es mir so leicht um's Herz, wie es mir alle die Zeit nicht gewesen ist, und noch immer, während ich dies schreibe, klingt es mir im Herzen wieder: Der wahren Liebe müssen alle Dinge zum Besten dienen. Behalte mich nur lieb, Conrad, wie ich Dich!«

Das Blatt entsank seiner Hand.

Es ist doch schade um sie; murmelte er, jammerschade. Und sie war wenigstens immer ehrlich, keine Spur von Comödienspiel; ehrlich und wahr. Das ist freilich nicht Alles, in Wissenschaft, Kunst und Leben; aber es ist viel, sehr viel und sehr – sehr selten. Und vielleicht, wenn ich sie von Anfang an zu meiner Kameradin gemacht, wenn ich sie hätte Theil nehmen lassen – aber würde sie es je gewollt haben!

Er hatte ein anderes Blatt ergriffen:

»Du nimmst nun einen so hohen Flug, ich bin ja so glücklich darüber und so stolz, und manchmal wird mir doch bange um's Herz – wo bleibe ich? was wird aus mir? und dann ist mir's wieder wie damals, als Du mir zuerst von Deinen Alpenwanderungen schriebst, und daß Du auf dem Pilatus gestanden, und viele tausend Fuß unter Dir habe der See gelegen, und drüben all die stillen Bergriesen mit den Eisstirnen und den lang herabwallenden Schneemänteln – ich wollte mir ein Bild davon machen, so recht groß und weit, und wenn ich dachte: jetzt! ja, da sah ich Dich oben auf einem unserer kleinen Berge stehen; unsere Schweiz war's; aber die große Schweiz, Deine Schweiz war's nicht. Da hätte ich oft weinen mögen und dann mußte ich mir doch sagen: Du bist eben nicht dagewesen. Wärst Du da, kein Berg sollte Dir zu hoch und zu steil sein, und dann stündest Du oben und wüßtest, wie groß und schön die Welt ist. Lache mich nicht aus, Conrad! und weshalb solltest Du es auch, wenn ich mit einem Stolz, der doch nicht ohne Demuth ist, bekenne: ich bin das blöde, junge Ding nicht mehr, als das Du mich zuletzt sahst. Ich habe mich redlich bemüht, Deiner immer würdiger zu werden. Nicht wahr: ich darf es sagen? ich zahle damit ja nur, was ich Dir schuldig bin, mein Held, meine Sonne, mein Leben!«

Er wandte das Blatt um und sah nach der Adresse.

War dieser Brief an ihn? und hatte er ihn je gelesen? oder, wenn er ihn, wie es schien, gelesen, was hatte er sich dabei gedacht? oder war er nicht von ihr? Selbst die Handschrift erschien anders – eine feste klare Hand mit einem eigenthümlich charakteristischen Ausdruck, kaum noch erkennbar als dieselbe, die einst so probeschriftsmäßig deutlich geschrieben, und dann wieder so kindisch gekritzelt hatte.

Ein trübes Lächeln zog über sein bleiches Gesicht.

Was soll das jetzt, wo es zu spät ist, wo es zu Ende geht und zu Ende ist mit dem Heldenthum und der Sonne und dem Leben?

Und im Hause ist's still und auf der Gasse – das ist eine gute Zeit, die rechte Zeit.

Er hatte die Briefe eingeschlagen und schrieb die Adresse; es war in der Tiefe des Zimmers, wo der Tisch stand, noch eben Licht genug. Er schob mit der Linken das Packet auf die Seite und nahm mit der Rechten das Fläschchen mit dem geschliffenen Glasstöpsel.

Still Alles, auf der Gasse, im Hause – seltsam still, so still, daß er das dumpfe Klopfen seines Herzens zu hören glaubte. Es war nicht Furcht, was es so klopfen machte – ganz gewiß nicht; und doch hing es ihm so schwer, so schwer in der Brust, daß er hätte weinen mögen. Still doch auch du, armes Herz! du sollst ja Ruhe haben; still!

Aber das war nicht sein Herz! Durch die lautlose Stille schallte es deutlich genug, wenn es auch nur ein leises, ganz leises Klopfen war – an seiner Stubenthür.

Wer konnte es sein? es war ja Niemand in der Wohnung außer ihm und die Saalthür hatte er vorhin, als Weikert ging, laut in's Schloß fallen hören.

Und abermals pochte es; sein Haar sträubte sich, und dann begann sein Herz, das sich zusammengekrampft, hoch zu schlagen von einer Lebenswelle, die übermächtig hervorgerauscht kam aus geheimnißvollem dunkelklaren Born. Wenn es ein Geist war – es war ein guter Geist – Christiane!

Es war aufgesprungen und ihr entgegen geflogen; sie standen sich gegenüber.

Christiane! rief er noch einmal.

Conrad!

Der letzte Abendschein fiel durch die Tiefe des Zimmers gerade in ihr Gesicht. Ja, das waren die Augen, die treuen, blauen Augen, die er vorhin im Geiste gesehen; das war die Stimme, die lieblich sanfte Stimme, die er vorhin gehört durch die geisterhafte Stille, die seine todesmüde Seele umfloß.

Liebe, geliebte – arme Christiane!

Er lag zu ihren Füßen und drückte sein weinendes Gesicht auf ihre Kniee; sie weinte auch und legte ihre Hände schüchtern auf sein Haupt, auf das dichte, weiche, kurzgewellte Haar, das sie so zum ersten Male berührte – und suchte ihn dann wieder zu sich auf das Sopha zu ziehen und sprach zwischendurch:

Ich bin nicht arm, wenn Du mich noch ein wenig liebst – ich bin ja dann so reich, so grenzenlos reich und glücklich. Aber Du darfst nicht so weinen, Conrad; dann weiß ich nicht, was ich sage, und nicht, was ich thue, und sage und thue vielleicht, was ich nicht sagen und thun will. Armer, armer Conrad! sie war so hold, so schön und konnte Dir das thun! Ich weiß Alles, Conrad, von dem guten Onkel Kreppelmann; und daß sich Herr Goldheimer die Uebereilung des Vaters so zu Nutze gemacht hat; aber Onkel Kreppelmann hat ihm, sobald er es erfahren, einen Absagebrief geschrieben und auf das Pult gelegt und ist gegangen, um nicht wieder zu kommen; der Vater ist ganz gebrochen und Du mußt dem alten Manne verzeihen, – er hat es so bös nicht gemeint, er hat es gar nicht bös gemeint; und als ich ihn nun endlich fand und ihm sagte, daß ich schon seit heute Morgen das elende Geld mit mir herumtrage und nicht loswerden kann, weil Du mich nicht annehmen wolltest und auch wohl nicht zu Hause warst – da ist er mir um den Hals gefallen und steht jetzt unten auf der Straße mit dem guten Onkel Kreppelmann; und ich mußte Deine Thür weit offen finden, und da bin ich nun – hier hast Du – hast Du es, und schüttle damit die schlechten Menschen von Dir ab wie Staub – erbärmlichen Staub, der auf Deine Kleider gefallen – und nun leb wohl, Conrad, leb tausendmal wohl!

Sie hatte das Geldpacket, das sie aus dem Ledertäschchen genommen, neben sich auf das Sopha gelegt und wollte sich erheben; Conrad hielt sie zurück.

Christiane, weißt Du, daß, wenn Du von mir gehst, um nicht wieder zu kommen – nein! Das nicht – das wäre feig; ich will Dich nicht zwingen, keinen leisesten Zwang auf Dich ausüben und das würde einer sein – aber Christiane, das darf ich sagen: ich sehe jetzt, als hätte es mir ein Gott offenbart, was ich an Dir gesündigt und gefrevelt habe, und wenn Du der gute Engel bist, als der Du mir eben erschienen, gieb nicht zu, daß ich in thatloser Reue mich verzehre und aushöhle; halte die Hand über mir, wie Du es eben gethan!

Er beugte wieder sein Haupt auf ihre Kniee; sie suchte ängstlicher als vorhin ihn aufzurichten.

Conrad, Du darfst nicht länger so vor mir knieen; ich kann Dich nicht so knieen sehen, vor mir knieen sehen – ich kann es nicht. Du mußt mein Stern bleiben, oder die Nacht bricht für mich herein. Weil eine dunkle Wolke über Dir hinzog – wolltest Du Deine himmlische Abkunft vergessen? Wenn Du das thätest, Conrad, siehe, dann dürfte auch ich Dir zürnen, dann hättest Du mich wirklich verrathen; was Andere Dir sein können, ich kann es auch, und kann mehr; ich weiß es jetzt, wenn ich es früher in meinen muthigsten Stunden kaum zu hoffen gewagt. Aber Du sollst nicht ihr, Du sollst nicht mir, Du sollst keiner Anderen, Du sollst Niemand gehören, als Dir selbst, als Deinem Genius, als Deiner Menschenliebe – Deiner großherzigen, göttermächtigen Menschenliebe – ich habe es von Onkel Kreppelmann, der Dir oft und oft gefolgt ist, wo Du allein zu sein glaubtest, und Dich gesehen hat, wo Du Deine Linke nicht merken ließest, was Deine Rechte that – ich weiß es, wie groß, wie mächtig Du die Menschen liebst, die Armen, die Elenden – und so, mein Geliebter, mein Alles, bleibe Dir nur selbst treu und Du wirst ewig groß und gut sein.

Sie hatte ihre Lippen auf seine Stirn gedrückt und sich dann erhoben. Er hatte sie nicht länger gehalten. Er stand ein paar Schritte vom Sopha, gesenkten Hauptes, ihr mit den Augen folgend, wie sie jetzt nach der Thüre ging und dann sich umwandte und im nächsten Momente in seinen Armen lag, den mächtigen Armen, die sie emporhoben, als wäre sie ein Kind, und sie wieder losließen und wieder umfingen, während eine Stimme an ihrem Ohr flüsterte: Mit Dir, mit Dir!

Und dann standen sie am Fenster im letzten Abendscheine, der röthlich durch die Wolken fiel, die den Tag umdüstert, und winkten und grüßten hinab zu ein paar alten Männern, die seit zehn Minuten drüben auf dem Trottoir gingen, von Zeit zu Zeit ein paar besorgte Worte wechselnd und dann zum Fenster aufschauend, an dem jetzt die Beiden standen, sich umschlungen haltend, und wieder grüßten und winkten. Und die beiden alten Männer fielen einander in die Arme, zur nicht geringen Verwunderung von ein paar Vorübergehenden, die sich umwandten und nicht anders glaubten, als die guten Leute seien ein wenig närrisch geworden.

Jetzo ist Alles in Ordnung, Gevatter, schluchzte Herr Thomas Kempe; jetzo ist Alles reguliret.

Nicht mehr als billig, Gevatter, nicht mehr als billig, murmelte Kreppelmännchen, sich lächelnd die grauen Wimpern trocknend; wir haben ja heute Ultimo.



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