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Anhang.
Gedächtnisrede auf Berthold Auerbach

(bei der vom Berliner Literarischen Klub
veranstalteten Feier).

(1882.)

316

317

Die feierlichen Klänge sind verhallt; – durch die andachtsvolle Stille ertönt ein Menschenwort – es kommt aus einer zagenden, ja schier verzagenden Brust. Und was mir jetzt das sonst nicht mutlose Herz banger schlagen läßt – es ist nicht Beklemmung, die nur dem Ueberkecken erspart bleiben mag, der in einer so großen, so auserwählten Versammlung als Sprecher aufsteht – es ist der Zweifel, ob Sie, deren Blicke jetzt auf mir ruhen, nicht mehr von mir erwarten, als ich, und setzte ich, wie es sich ziemt, meine beste Kraft ein, irgend zu leisten imstande bin. Zwar, das weiß ich ja: niemand von Ihnen verlangt und erwartet, ich werde jetzt aus dem Grabe, das sich eben erst geschlossen, um das des ersten bitteren Schmerzes millionenstimmige Klage seines trauernden Volkes noch nicht verhallt ist, das Bild des großen Mannes hervortreten lassen, wie es dereinst stehen wird, umflossen vom Strahlenglanze voller Erkenntnis, in dem Pantheon deutscher Nation – an diesem Bilde werden noch Hunderte berufener Hände zu meißeln und zu feilen, werden noch Generationen dankbarer Nachkommen zu schmücken und zu kränzen haben – Sie verlangen nichts von mir, als daß ich Zeugnis ablegen soll für den teuren Toten; und meinen, daß gerade mein Zeugnis, der ich ihm als Freund, als Kunstgenoß lange Jahre so nahe gestanden, von besonderer Wichtigkeit; daß ich, wie der Jurist es ausdrückt, ein klassischer Zeuge sei.

Das meinen Sie, müssen Sie meinen, und eben das ist es, was mich bedrückt.

Ja, ich war sein Freund; und der vertraute Verkehr mit ihm 318 war mir ein Hochgewinn meines Lebens; aber sollte der wehmütige Nachklang unvergeßlicher Stunden nicht allzu parteiisch in mein Zeugnis hinein tönen, das Wahrheit sein soll und nichts als Wahrheit? – Ja, ich war sein Kunstgenoß; aber pflegen sich die Urteile des Kunstgenossen über den Kunstgenossen, besonders wenn ihre Ateliers sehr benachbart sind, durch kühle Objektivität auszuzeichnen?

Kühle Objektivität!

Wohl mag die der litterarhistorische Offizier haben, der hoch zu Roß hinter der Plänklerkette reitet; aber stehst du in der Kette selbst, feuernd, ladend, wieder feuernd, für einen Moment Deckung suchend, die du im nächsten wieder aufgeben mußt, weil das Signal zum Avancieren erschallt; und wieder im nächsten bläst's: zur Attaque, Gewehr rechts! Marsch, marsch – hurrah! ja, da gewinne du, da bewahre du den kühlen objektiven Ueberblick! da erzähle du dem Wißbegierigen, wie's mit dem Kameraden war, dem guten Kameraden! Was ist da vielen erzählen? Wir marschierten eben zwanzig Jahre lang in gleichem Schritt und Tritt. Als er die letzten seiner Dorfgeschichten: »Edelweiß«, »Josef im Schnee« dichtete, schrieb ich meine »Problematischen Naturen«; gleichzeitig arbeiteten wir – er an »Auf der Höhe«, ich an »In Reih und Glied«, zu welchem Roman er, der große Titelfinder, mir den Titel fand; und schrieb »Hammer und Amboß«, während er sein »Landhaus am Rhein«; und so ging's weiter, gingen wir weiter, Schulter an Schulter, Schritt für Schritt – seine »Brigitta« und mein »Quisisana« erschienen fast an demselben Tage, und dann:

Eine Kugel kam geflogen!

und:

Er liegt mir vor den Füßen,
Als wär's ein Stück von mir!

Wollen Sie mein Zeugnis noch?

Gut! ich gebe ihm das höchste, das ich zu geben habe; und kann es so kurz machen wie das, welches Hamlet über seinen Vater sprach: Er war ein Dichter, nehmt alles nur in allem!

In der That! du mußtest kommen, uns das zu sagen! das weiß die Welt!

O freilich, was man denn, mit leiser Veränderung jenes ironischen Faust-Wortes, so wissen heißt! wie man denn wissen kann, daß jemand etwas sei, wenn man so recht eigentlich nicht weiß, es wenigstens gar mancherlei Deutung fähig: was jenes Etwas ist. Oder wäre es wirklich nur ein Problema müßiger Spitzfindigkeit und sonst ein Abgemachtes unter anderen ehrlichen Leuten: was und wer ein Dichter? War's nicht Schiller, der den Romanschreiber einen Halbbruder des Dichters nannte? so wäre denn unser Freund, der nur Romane und Novellen geschrieben, ein halber Dichter! – Oder sollt's ein wahres Wort unseres großen Aesthetikers Friedrich Vischer sein: »Keller wird nie sehr populär werden, einfach, weil er wirklich ein Dichter ist«, so wäre der sehr populäre Verfasser der Schwarzwälder Dorfgeschichten mindestens kein wirklicher Dichter; – und hat es nicht romantische Stimmen gegeben, die untereinander munkelten und raunten: der Friedrich Schiller ist im Vergleich zu dem Wolfgang Goethe gar kein Dichter? Scheint es danach nicht, daß es halbe und ganze, wirkliche und nicht wirkliche, nur vergleichsweise so oder auch nicht so zu nennende Dichter giebt? mithin die Fragen: was ist ein Dichter? wer ist ein Dichter? denn doch nicht ganz so müßig sind? und derjenige, welcher einen anderen mit diesem schönen Titel schmückt, ein wenig die Verpflichtung hat, über die eigentliche Bedeutung desselben im Klaren zu sein oder möglichst rasch ins Klare zu kommen?

Also: wer ist Dichter? vielmehr – denn der Dichter ist ja auch wohl Künstler – wer ist Künstler?

Der, welcher, um seine innere Welt zu äußern, d. h. um die 320 Eindrücke, die Empfindungen und Gedanken, welche der Kontakt mit der Welt in ihm erweckt und entstehen läßt, wieder zu geben, des Gleichnisses bedarf; der also niemals jene Eindrücke, Empfindungen, Gedanken abstrakt giebt, sondern immer gebunden an einen bestimmten Fall, an ein Konkretes, welches denn freilich so geläutert und verklärt sein muß, daß das gedankliche Resultat ganz in ihm vorhanden und enthalten, aber niemals ganz von ihm entbunden und abstrahiert werden kann.

In diesem tiefsten Grunde sind alle Künste untereinander gleich. Wenn man die Phantasie des großen Bildhauers, Malers, Musikers, Dichters, die in ihren Aeußerungen so unendlich weit auseinander liegen, bis auf ihre ersten Formen verfolgen könnte, würden sie, wie die Embryonen der verschiedenen Lebewesen, nur von der tiefsten Einsicht kaum noch zu unterscheiden sein; und ewig wird es ein Problem bleiben, was denn nun die ursprünglich unterschiedslose Phantasiebegabung hier zur Dichtkunst oder Musik, dort zur Malerei, Plastik oder Baukunst treibt.

Wir aber müssen festhalten: in Gleichnissen sprechen sie alle: die Baumeister mit ihren sich aufeinander türmenden, zum Himmel ragenden, zum Himmel deutenden Steinen; die Musiker mit ihren durcheinander wogenden, einander suchenden und fliehenden, endlich in seligem Zusammenklang sich vereinenden Tönen; und Rafaels heilige Cäcilia, wenn ihr seliger Mund reden könnte, würde sagen: Was naht ihr mit Zimbeln und Geigen, mir, die bereits die Harmonie der Sphären hört, ja deren Seele schon nichts mehr ist als ein Ton dieser göttlichen Musik!

»Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis« – das ist doch nur halb richtig: es wird ein volles Gleichnis erst unter des Künstlers Hand, der das Verglichene – die göttliche Idee – durch die ihm innewohnende, gottbegnadigte Kraft dergestalt in das Unzulänglich-Vergängliche zu legen vermag, daß es, seiner Bedürftigkeit, soweit Menschenkraft reicht, enthoben, mit der 321 reinen und starken Hand des Säemanns, der ausging zu säen, aus der Endlichkeit hinüber in das Ewige weist.

So deckt denn unser Freund selbst den mütterlichen Urgrund auf, in welchem alle Künste wurzeln, und läßt zugleich aus demselben klar und rein das Sonderwesen der Dichtkunst hervor wachsen, wenn er tief und scharfsinnig, wie es seine Weise war, gelegentlich sagt:

»Das Material der Dichtkunst ist wohl das geprägte Wort, aber näher und tiefer gefaßt: der Ausdruck des individuellen Empfindens, der persönliche Atem.«

Damit haben wir die Antwort auf unsere Frage: wer ist Dichter? Der, dessen individuelles Empfinden mit dem persönlichen Atem ausströmt, so voll, so ganz, so unmittelbar, daß jeder Versuch, es in ein anderes Material – in Töne, die erst im Zusammenklang wirken, in Farben, die sich erst mit Linien vermählen müssen, in formspröden Stein und zähes Erz – zu übersetzen, ein Aufschub und Aufenthalt und schließlich doch ein Unzulängliches wäre. Und für den es deshalb nur ein Uebersetzen giebt, welches im Grunde kein Uebersetzen ist, selbst insofern nicht, als das Wort in dem Moment, in welchem sich die Empfindung voll und ganz darein ergießt, seine Prägung empfängt. Nur wenn wir uns das völlig klar machen, verstehen wir Zusammenhang und Differenz der Dichtkunst mit den anderen, von den anderen Künsten; verstehen und begreifen wir auch erst, warum wieder die Dichtkunst sich in verschiedene Arten teilen kann und muß. Das geprägte Wort ist allen ihren Arten das gemeinsame Material, aber doch mit Unterschied. Der dramatische Dichter muß das Wort abgeben an den Schauspieler, der die von ihm erdichtete Handlung darstellt; der Lyriker kann es freilich nicht abgeben, aber er wird ihm in den höheren Lagen der Empfindung nicht mehr voll genügen und zum Gesang werden, wenn nicht gar versagen. Es ist nur einer, der es nicht abgeben kann, weil, 322 was er zu sagen hat, niemand weiß als er, dem die Muse es gab; und dem es auch voll genügt, weil er sicher ist, daß die Fülle der Gesichte, die er zu offenbaren hat, ihn davor schützt, in irgend einem Augenblick von der Empfindung bewältigt zu werden; – und der sich darum, weil er zugleich des Wortes Leib- und Seeleneigner und souveräner Gebieter ist, nach dem Worte nennt: der epische Dichter.

Indem nun so das Thun und Walten des epischen Dichters ganz persönlich und ganz gegenwärtig, ganz direktes Ausatmen der Empfindung im Worte ist, das sich im Ausatmen von selbst prägt, scheint es ja freilich, als ob es das Höchste der Dichtkunst darstelle; der epische Dichter auf der Rangliste der Poeten zu oberst stehe. Ich weiß es nicht; – eines aber weiß ich sicher: jeder Dichter wird dreimal selig die Glücklichen schätzen, denen es vergönnt war, in tönender Halle oder lieber noch unter freiem Himmel, auf offenem Markte, angesichts des ewigen Meeres, vor ihrem andächtig lauschenden Volke ihren Atem ausströmend, zu singen und zu sagen. Glauben Sie mir, es kommt aus tiefster Dichterbrust, das Wort des Dichterfürsten: »Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.« – Und wenn es einen modernen Dichter gegeben, der zum Homeriden geboren war und nicht der letzte gewesen sein würde; wenn ein moderner Dichter den vollen epischen Atem hatte in der mächtigen, von überquellender Empfindung geschwellten Brust, und auch wahrlich die Stimme gehabt hätte, diesen Atem auszuströmen in klangvoll hallendem, glänzend geprägtem Wort: dann war es Berthold Auerbach.

Ich bin überzeugt, verehrte Anwesende, daß Sie diese persönliche Anwendung unserer theoretischen Sätze schon längst anticipiert und ebenso jede einzelne unserer Betrachtungen des Dichtergenius durch das Bild unseres genialen Freundes, wie es vor Ihrer Seele steht, illustriert haben. Und gäbe es eine charakte 323ristischere Illustration? Wer von Ihnen das Glück gehabt hat, auch nur eine Stunde mit Auerbach beisammen gewesen zu sein, weiß, wie ihm alles – in der Erörterung der Dinge des hausbackenen Lebens wie in der Analyse der abstraktesten Gedanken – sofort zur Vorstellung wurde, sich in ein Bild verwandelte, zu einem extemporierten und fast immer wunderbar treffenden Gleichnis formte, also die Grundbedingung alles künstlerischen Schaffens bei ihm die Grundstimmung der Seele war.

Keiner aber hat die Wonne seiner Unterhaltung gekostet, dem es nicht völlig klar geworden, daß dieser künstlerische Geist, um sich auszudrücken, nur die Sprache, das Wort zum Vehikel habe; nicht, weil er so quellend sprach wie selten ein Mensch, sondern weil in seinem Sprechen eine Gegenständlichkeit war, welche der Beihülfe der bildenden Künste entraten mochte; eine Weite des geistigen Horizontes, die sich eben mit nichts mehr decken ließ als mit dem weitgreifenden, ferntreffenden Wort; und nur hin und wieder vielleicht mit der Musik, der aber doch wieder die Möglichkeit abgeht, die Fülle des Details zu erschöpfen, die er in dem deduktorischen Aufbau seiner Phantasie- und Gedankengebilde gar nicht entbehren konnte.

Und wer nun wiederum eine Einsicht in das epische Wesen mitbrachte, welches ein- für allemal das betrachtende, auf dem breiten Untergrund der individuellen Selbstbeobachtung basierte ist, dem konnte gewiß nicht zweifelhaft bleiben, daß dieser Beobachter und Betrachter par excellence seine epische Souveränität niemals für die Wollust eines lyrischen Ergusses hingeben, niemals an einen dramatischen alter Ego abtreten würde; daß er nur in der epischen Dichtungsart das adäquate Organ seines überreichen Inneren hatte.

Und wenn schon dieser gottbegnadete Mensch, welcher unter uns zugeknöpften, naturentfremdeten, die Worte zählenden Mo 324dernen umwandelte wie ein lebendiges Stück frei-natürlichen, wortreichen homerischen Altertums, nicht unter südlicher Sonne in den Gassen, Märkten und Hallen einer ionischen Stadt sich zum Rhapsoden heranträumen, denken und bilden durfte, so war es vielleicht das ungünstigste Geschick noch nicht, das ihn auf einem Dorfe geboren werden ließ. Eines wenigstens hat der Dorfplatz mit dem Markte einer antiken Weltstadt gemein: es geht da manches unter freiem Himmel vor, was sich sonst innerhalb der verschwiegenen Häusermauern abspielt; es herrscht da eine Öffentlichkeit und Mündlichkeit, in der es für den, der Ohren hat zu hören und Augen zu sehen, sehr viel zu hören und zu sehen giebt; es ist da alles in allem ihm, dessen Haus einmal die große Welt und dessen erste und letzte Aufgabe sein wird: ein Weltbild zu geben, eine Welt in nuce, eine Abbreviatur der großen Welt dargeboten mit ihren mancherlei Licht- und schweren Schattenseiten: Haß, Liebe – Klugheit, Dummheit – Güte, Bosheit – nur alles handgreiflicher, sinnlicher, sinnenfälliger – so gerade die rechte Nahrung für ein episches Gemüt! Wenn man von Auerbach erzählt – und ich kann es ja bestätigen – daß er auf der Promenade durch Wald und Feld aus einem tiefernsten Gespräch heraus auf eine einzelne Vogelstimme lauschen, auf einen blühenden Busch, irgend ein kleinstes Naturphänomen achten und den Genossen darauf aufmerksam machen konnte; ja wenn es ihm ganz natürlich war, einen begegnenden Freund erst auf ein neues Kleidungsstück, das dieser etwa trug, anzusehen und anzureden, so war darin einmal immer der epische Dichter, in dessen großem, tiefklaren Auge sich eben alles zugleich spiegelt – und zweitens der Dorfknabe, der seine ersten Menschen nicht anders hat sprechen hören als in der diskreten Begleitung der Naturstimmen; der seine ersten Menschen nicht anders gesehen hat als auf dem Hintergrunde von Wald und Feld, von dem sie sich so klar abhoben, daß dem betrachtenden 325 Blicke keine Bewegung und keine Geste entging; und kein neuer Knopf an der alten Weste, geschweige denn die neue Weste selbst.

Nun aber sind bekanntlich diese ersten Menschen, auf die der staunende Blick des Kindesauges fällt, wenn sich der Dämmervorhang allmählich vor dem Weltschauspiel hebt, für jeden von uns die Flügelleute unabsehbarer Reihen, die hinterher kommen und sich gefallen lassen müssen, nach jenen rangiert zu werden; und für den Dichter speciell die paar Dutzend Acteurs und Actricen, die, je nach ihrem Charakter, abwechselnd alle seine Hauptrollen spielen müssen – die Nebenrollen holt er sich von der nächsten Straße, aus dem ersten besten Salon. Da mag denn wohl der Dichter von Glück sagen, erweisen sich diese seine paar Typen auch als typisch im eigentlichen Sinne: als wirkliche Originale und Charakterköpfe, wie sie eben vorzugsweise in einfachen Verhältnissen gedeihen, welche die Menschen nicht in sich zurückdrängen, von allen Seiten beengen und beschränken, sondern denselben verstauen, sich frei auszuwachsen mit allen Ecken und Kanten ihrer Kreatürlichkeit. – Dies Glück, solche Menschen als erste Menschen zu haben – es wurde unserem Auerbach; und seine Brust ist von diesem Glückesgefühl geschwellt, wenn er gelegentlich ausruft:

»In den dunklen Waldesgründen und an Bergeshängen giebt es noch Charaktere wie die wilden Rosen, einblätterig und offen bis in den Herzensgrund, und Weißdornblüten, die nur in einer Sturmnacht aufbrechen. Hier ist die Herrschaft der halben Zustände, der relativen Hingebung, die sich in der Reflexion einen Hinterhalt wahrt, noch spärlich. Hier ist noch Lachen und Weinen, Jauchzen und Klagen herzhaft und ohne Zurückhaltung. Die Leidenschaft hat hier noch ihren vollen Mut, man weicht ihr nicht aus; sie wird hier leicht zur absoluten; das ganze Sein brennt in ihr auf und verzehrt sich.«

Hätte ein so begnadeter Dichter nicht mit Fausts Worten 326 sprechen dürfen: »Erhabner Geist, du gabst mir alles!« Oder was gab er denn mehr und anderes jenen Sängern des Altertums, die den Sohn des Laertes zu begleiten hatten auf seiner gedankenvollen Wanderung zur Circe, vorbei an schroffen Bergeshängen durch den kühlen Waldesgrund, wo ihm Hermeias begegnet mit dem schützenden Kraute vorschauender Klugheit? die zu singen hatten die Leidenschaft, in der des großen Peliden göttliches Herz in einer Glut, die durch die Jahrtausende strahlt, aufbrennt und sich verzehrt?

Was er ihnen mehr und anderes gab? Weh dir, Berthold Auerbach! weh dir, armem modernen Epiker, daß du darauf nicht mit freudig erhobener Stirn antworten konntest: nichts anderes, nichts mehr! daß du darauf gesenkten Auges erwidern mußtest: ein unendlich kostbares, durch nichts anderes, durch keine noch so große dichterische individuelle Begabung, keine scheinbar noch so freundliche Gunst der ersten bleibenden und fortbildenden Eindrücke zu ersetzendes: eine einheitliche, übersichtlich schöne Welt, in der jedem Wesen – von dem Vater der leichtlebigen Götter durch die Reihen der kampfesfrohen Heroen bis zu dem letzten der mühsalbehafteten Sterblichen, ja hinab bis zu des Hades klagevollen Schemen – seine bestimmte unverrückbare Stelle angewiesen war; und weiter: eine durch die Tradition geheiligte, durch unendliche Uebung erprobte Methode des Gesanges; und weiter: ein hörbegieriges Publikum, nicht in sich geschieden durch die Unduldsamkeit der religiösen Bekenntnisse, durch die tiefe Kluft der Stände und Vermögensverhältnisse, die noch tiefere der Bildung und der Kenntnisse; und zuletzt und vor allem – als Stoff ihres Gesanges – ein für diesmal zu einer nationalen Großthat geeintes Vaterland.

Ein Vaterland! mein Vaterland! wo bist du? was bist du? ein politisch unbestimmtes Etwas, ein geographischer Komplex, durch den eine breite Mainlinie von Ost nach West und ein Ge 327wirr von anderen Fluß- und Berglinien von Süd nach Nord und auch wieder nach Ost und West läuft und es in so und so viele schwarzweiße, blauweiße, grüngelbe und durch alle Kombinationen der Farbenscala nuancierte Vaterländer und -Ländchen teilt; und ach! auch die Herzen teilt, die alle nur einen patriotisch-centripetalen Schlag haben sollten und nun centrifugal nach allen Himmelsrichtungen der Heimat und – wer weiß – über den Bannkreis der gemeinsamen Abstammung und Sprache hinaus und hinüber schlagen nach dem verlockenden Idol fremdländischer und fremdsprachiger Kultur und Sitte – und wärs auch übertünchte Barbarei und Sittenlosigkeit!

Meine Verehrten! das sind leider keine rhetorischen Phrasen, das ist der wahre Ausdruck der bangen Klage, die sich aus dem Herzen des deutschen Epikers ringen mußte, der sich Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre zu dem bekennen und das in Angriff nehmen wollte, was denn doch auf der weiten Gotteswelt einzig und allein sein Beruf war. Nur des Epikers, fragen Sie? Ich möchte das nicht so ohne weiteres bejahen; ich gebe vielmehr gern zu: auch die Saiten der Lyra mögen höher tönen, wenn sie zu Gesängen von Atreus' Söhnen und Kadmos' Ruhme erklingen; aber zu alter und neuer Zeit strahlten und schimmerten Liebeslust und Liebesleid wie Sonnen- und Mondenschein über Berg und Thale und fanden überall empfindsame Herzen. Und die bunten Schlagbäume hemmten auch damals nicht den patriotischen Schmerz, im Gegenteil, sie waren wie unbarmherzige Hämmer auf so manches weiche deutsche Dichterherz, bis es hart wurde wie Stahl und erglühte und aufsprühte in helllodernden Trotz- und satirische Brandfunken stiebenden Spottliedern. Und auch er, dem ein paar Quadratfuß Bretter die Welt bedeuten, mochte unter noch weit schlimmeren Verhältnissen freiheitstrunkene Jünglinge ihre Ketten zerreißen und in die Wälder fliehen lassen; in der Jungfrau zarter Hand die Oriflamme ge 328gen den Erbfeind erheben; zeigen, wie feindliche Brüder am Hassesstahl verbluten; mit den todesblassen Lippen des sterbenden Patrioten feierlich zur Einigkeit mahnen. Oder ein anderer, dem sich des Lebens Rätsel und des Vaterlandes Schmach nur mit leichten Zügen auf die glatte Stirn schrieben, holte wohlgemut die alten erprobten Gliedermänner aus dem Kasten, setzte ein paar neue Flicken auf die abgeschabten Kleider und – da hat man doch wieder einmal lachen können! sagten die Leute, wenn sie abends nach Hause gingen.

Aber der Epiker! dem zur Aufgabe ward, darzustellen das, was ist, in dem Bilde einer begebenheitenreichen Handlung – einem Bilde, das wie jedes gute und bedeutende Bild von einem einheitlichen und bedeutenden Standpunkte gesehen und gemalt sein will; und der jener Tendenz, die seiner Phantasie eingeboren, folgen muß: sich nie mit dem niedrigeren Standpunkt zu begnügen, sobald er den höheren erklimmen kann, den möglichst hohen, damit sein Bild größere und die größten Dimensionen gewinne und ein Abbild werde der Welt, die er in seinem Busen trägt, und die doch nichts ist als ein verklärtes Abbild der sinnenfälligen Welt – ja, der Reiche-Arme ist übel daran, wenn diese Welt ein in politischen oder socialen Krämpfen und Kämpfen zuckendes Chaos ist, oder auch ein stagnierender Sumpf, in dem sich nichts begiebt, was des Singens und Sagens wert wäre. »O, du glücklicher Jüngling«, läßt die Sage den großen Alexander an dem Grabhügel des Achill klagen: »o, du glücklicher Jüngling, der du als Herold deiner Thaten den Homer gefunden hast.« Wir von der Gilde müssen das Wort umkehren: O, du glücklicher Homer, der du zum Gegenstand deines Gesanges die Thaten eines Achill fandest! Nie hat es ein Volksepos gegeben außer in einem Volke, das auf große Thaten zurücksehen konnte, während es selbst noch in frohester Thatkraft stand; nie hat es einen guten, im höheren Sinne volkstümlichen Roman gegeben und kann keinen geben 329 außer in einer Nation, die im wohligen Gefühl seiner sich dehnenden Kraft thatenfroh und thatenbereit in sich hinein und um sich her auf die anderen Nationen blicken darf, und wo selbst »der kleine Kahn der Familie auf der reichen bewegten Woge des öffentlichen Lebens schwimmt.«

Und Goethes – von dem ja dieses Wort ist – eigene Romane? Wo bewegte sich, als er sie schrieb, reich die Woge?

Aber hat er, der jenes Wort – als leise Klage für sich, den Dichter, als laute Anklage für seine Nation, die keine war – sprach, sie nicht vermißt, diese reiche Woge? – und Hand aufs Herz! – vermissen wir sie nicht? Und wenn wir auch deshalb um alles in der Welt jene Wunderwerke des Geisterkönigs nicht missen möchten, wer von uns wagte, und wäre er ein Zaubermächtiger, heute Prosperos Stab in seine Hand zu nehmen, die von Leidenschaft freilich nicht zittern soll und darf, in der aber der Puls des aktuellen öffentlichen Lebens schlagen soll und muß? Nein, wir, wie wir nun einmal sind, wir können nicht mehr in Zauberpalästen auf stillen Geisterinseln mit Wesen wohnen, deren verklärte oder halbverklärte Leiber keine staatlich-politischen Kleider und Falten umgeben. Wir müssen unsere Menschen, die vom Baum der politischen Erkenntnis gegessen haben, bekleiden. Das mag unbequem sein und uns große Mühen und Kosten verursachen und alles in allem die betreffenden Herren und Damen nicht schöner machen, aber – wir müssen es. – Und wir können auch nicht mehr aus einer Titanhöhe, von der man »die äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern und Gewitterableitern von weitem unter seinen Füßen wie ein zusammengeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht«, in eben dieses Gärtchen hinab fallen; mit einem Schulmeisterlein Wuz »uns in die Ackerfurche einnisten und in jeder Aehre, die über uns nickt, einen Baum- und Regenschirm haben.« Dazu geht heutzutage der Wind zu rauh, und es regnet und hagelt auch gelegentlich allzu dicht und 330 scharf. – Und »historische Romane« zu schreiben, ist auch nicht jedermanns Sache; ist nur die Sache derer, die wohlgemut drei Reiter über die nebelverhüllte Heide traben und an einem Kreuzwege still halten lassen, nur daß sie um Gotteswillen nicht wissen, was die Kerle da eigentlich wollen; oder auch nur zu genau wissen, was sie – ich meine jetzt nicht die drei Kerle, sondern die Herren selbst – wollen, und auch voll des Glaubens sind, zu können, was sie wollen, nämlich: den erhabenen Geist der Zeiten, die vergangen sind, heraufbeschwören in das helle Licht der Gegenwart. Und nur vergessen, daß die Geister im allgemeinen etwas lichtscheu sind und, wenn sie dann allzu heftig bedräut und mit heiliger, aus tausend Büchern mühsam zusammengelesener Lohe schier versengt werden, als – Scholast hinter dem Ofen hervortreten, so daß ein unbefangenes, ungeweihtes Auge des Herrn Beschwörers allereigenste geistreiche Person zu sehen glaubt.

Ich würde nicht gewagt haben, hier mein Ihnen überdies hinlänglich bekanntes ästhetisches Glaubensbekenntnis auch nur in diesen notgedrungen kurzen Andeutungen zu geben, wenn es nicht Zug für Zug und Punkt für Punkt ebendasselbe wäre – und hier kann ich wahrlich als klassischer Zeuge gelten –, zu welchem sich Berthold Auerbach von dem Moment, da er sich in ästhetischen Dingen zur Klarheit durchgekämpft, theoretisch stets und energisch bekannt hat und von dessen Vorschriften und Pflichten er auch praktisch seitdem niemals abgewichen ist. Dieser Gleichklang von Theorie und Praxis bei ihm wird wahrlich nicht gestört, sondern eher erhöht durch das Faktum, daß er sich noch in späteren Jahren mit der Idee eines großen historischen Romans trug, den er – niemals auch nur in Angriff nahm und den er, hätte er es gethan – ich nehme es auf meinen Zeugeneid – niemals ausgeführt haben würde. Er, der wie nur je ein Grieche zur Zeit des Perikles in der Gegenwart lebte; er, der in seiner breiten Brust nicht Atem genug hatte, seine individuelle 331 Empfindung auszuströmen, die Empfindung eben der Gegenwart: der geliebten Sonne zu seinem Haupte, der geliebten Erde zu seinen Füßen, der Scharen der Lebendigen, die da zwischen Himmel und Erde an ihm vorüberzogen und die er alle, alle an sein großes Herz hätte ziehen und drücken mögen; er, der wieder und immer wieder betont und einschärft, daß nur der ein Dichter ist, der es wagt, sein Empfinden ohne Rest und Abzug einzusetzen! Ich könnte Ihnen dafür tausend Belegstellen aus seinen Schriften anführen; hier eine für tausend: »Es ließe sich darthun, daß die Zurückziehung der Persönlichkeit aus den öffentlichen Darlegungen weit mehr Eitelkeit als Bescheidenheit ist. Man will sich in seinem eigenen Wesen für sich bewahren und sich nicht ganz und gar ausgeben. Die Vorenthaltung der persönlichen öffentlichen Beteiligung hat uns jene Scheu vor persönlicher Hingabe eingeflößt. Wir verdenken es keinem Lyriker, ja wir finden es schön und notwendig, wenn er sein eigenes Leben preisgiebt. Ist die höhere geschlossene Form hier allein deckender Schild, und soll nicht auch der Prosaiker sich ganz geben?«

Wohl! sagen Sie; aber wenn er jener Zeit keine große Welt zu schildern fand, keine Nation mit großen Zielen und damit also keine großen, nicht einmal größere epische Aufgaben zu lösen – Eines blieb ihm doch – und du selbst hast uns ja gesagt, daß es ein Herrliches darum war gerade für den epischen Dichter: die kleine Welt seiner bergumschlossenen, tannendurchrauschten Heimat mit den prächtigen Charakterköpfen. Freilich, und wir werden alsbald darauf zu sprechen kommen. Hier muß zuvor gesagt werden, daß der Mensch, wie im bürgerlichen Leben, so auch im dichterischen, sein Erbe nicht vor der Mündigkeit antreten darf; und das mit Fug, weil, thäte ers früher, er es aller Wahrscheinlichkeit nach vergeuden und verwüsten würde.

Was aber nenne ich dichterische Mündigkeit?

Wir hörten eben aus berufenstem Munde: der Dichter solle 332 sich ganz geben; gewiß! aber wir müssen auch verlangen, daß er ein Ganzes zu geben habe, d. h. da er sich selbst geben soll, daß er selbst ein Ganzes sei. Müssen es doppelt und dreifach verlangen von dem epischen Dichter, dessen Standpunkt, wie wir ausmachten, ein einheitlich fester und zugleich hoher sein muß, weil er anders nicht ein gut komponiertes, bedeutendes Bild schaffen kann. Und nicht einmal eines in bescheidenen Dimensionen. Auch um das Kleine gut und scharf und richtig zu sehen – und vielleicht gerade dazu vorzugsweise – muß man hoch stehen, wie der Geier, dem schärfsten Auge entrückt, in der Aetherhöhe schwebt, um in der Wüstenbreite und -Weite die spärlichkümmerliche Beute sicher zu entdecken. Und konnte Berthold Auerbach diesen sicheren, hohen Standpunkt haben? von vornherein haben? Nun, dann hätte es ihm wahrlich von Apollo im Traum geschenkt werden müssen. Der giebt zwar seinen Söhnen viel, und gar diesem geliebten hatte er sehr viel gegeben. Dies konnte ihm kein Gott über Nacht geben: daß der Schwabe in dem Märker und Pommer seine leiblichen Brüder sah; daß der Dörfler den Städter auch als ein Geschöpf Gottes gelten ließ; daß der Sohn der Armut den Kindern des Reichtums nur wünschte, es möchte ihnen nicht allzu schwer werden, in das Himmelreich zu kommen; daß das Kind des Juden, der Talmudschüler, von ganzer Seele auf ein Himmelreich verzichtete, in dem nicht Platz gewesen wäre für alle, die – es in sich tragen: Reich und Arm, Christ und Jud und Mohammedaner; und sich überzeugt hielt wie vom eigenen Dasein, daß keiner es in sich trägt, dem es nicht genügt, ein Mensch zu sein.

Zwei Momente also sind es – die politisch-mißliche Lage, in welcher der Dichter seine Heimat, und der von physischen, ökonomischen, moralischen Mauern eingezwängte und beschränkte Gesichtskreis, in welchem er sich selber fand –, aus welchen für ihn zwei Aufgaben erwuchsen, von denen er die eine nur lösen 333 zu können hoffen durfte mit Hülfe aller, während er die andere nur ganz allein in die Hand nehmen, fördern und vollenden mußte: die Schaffung eines großen einigen freien Vaterlandes, die Befreiung und Läuterung seiner selbst – Aufgaben, die ich gleichsam Nebenaufgaben zur Hauptaufgabe seines Lebens nennen möchte, wie es Hülfswissenschaften zu der Haupt- und Berufswissenschaft giebt. Im Verfolg der einen mußte der Dichter zum Politiker werden, zur Absolvierung der anderen zum Philosophen.

Oder will man für Politiker lieber »glühender Patriot« und für Philosoph »sich mit philosophischen Dingen eifrigst Beschäftigender« sagen, so würde damit vielleicht eine Thatsache angedeutet werden, die ich hier offen darzulegen kein Bedenken trage: die Thatsache, daß Auerbach zum Berufspolitiker oder -Philosophen keineswegs auserwählt und berufen war. Zu dem ersteren fehlte ihm der rasche Ueberblick und das kecke Zugreifen, auch wohl die Menschenverachtung, will sagen: Schätzung des Menschen je nach seinem politischen Tageswert; zu dem anderen die Konzentration des Denkens auf den springenden Punkt des Untersuchungsobjektes und die Ruhe zum glatten Abwickeln eines groß angelegten Gedankengespinstes. Daß er darum nichtsdestoweniger einen tiefen Einblick hatte in politische Dinge und daß er diese Einsicht auch zu formulieren verstand; daß er reich und überreich war an genialen philosophischen Aperçus – nun, das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Viel eher muß mit der Wahrhaftigkeit eines Zeugen bemerkt werden, wie es dem alten Meister nicht immer gelang, zur rechten Stunde am rechten Ort das Zauberwort zu finden, welches den philosophischen Besen und die politische Schaufel in die Ecke bannte, und es dann manchmal bei ihm auf Flur und Treppe – im poetischen Sinne – ein wenig unwohnlich wird. Ich für mein Teil möchte deshalb die philosophisch-politischen Falten auf seiner schönen Dichterstirn nicht missen; mir deucht, sie stehen ihm gut, wie dem Schweizer seine Narben, und 334 er hat sie sich nicht in Banditenkämpfen erworben, sondern im offen-ehrlichen Kampfe, um als ein in sich selbst freier Mann mit freiem Volke auf vaterländischem Boden stehen und dichten zu können.

Und wem sie nicht gefallen und wer etwa sprechen möchte: er war eben ein Grübler, der alles in der Poesie schwer nahm, in dessen Hand alles Poetische schwer, ja wohl schwerfällig wurde, ihm erwidere ich: ja, wie ihr von dem Manne des gewöhnlichen Lebens, der von frühester Jugend auf schwer hat arbeiten müssen, um zu dem Seinigen zu kommen: zu seinem täglichen Brot am häuslichen Herd, – nicht verlangen könnt, daß die Hand, die er euch zum Willkomm bietet, keine Schwielen habe. Aber Gefallen oder Nichtgefallen – es ist einmal so, konnte nicht anders sein. Wer Auerbach nicht unter diesem Gesichtswinkel zu sehen vermag, der wird niemals verstehen, weshalb dieser gottbegnadete Dichter in einer Zeit des Lebens, wo tausendmal Mindere als geborene Ritter vom Geiste sich schämen würden, anders als mit lyrischem Sporengeklirr oder mit dramatischem Panzergerassel durch die hochaufhorchende Welt zu stürmen, erst einmal sich seinen, des Juden, Platz in der Litteratur erkämpfen mußte mit einem scharfkantigen publizistischen Kiesel, den er dem kritischen Goliath Wolfgang Menzel an die unverschämte Stirn schleuderte. Und würde niemals verstehen, weshalb er sich um eben diese kostbare Zeit in das Studium der Philosophen versenkte und sich unter allen als Heiligen für sein ganzes Leben bis zu seinem letzten Atemzuge den Spinoza erkor – ganz gewiß nicht aus Zufall, sondern aus tiefstem Herzens- und Geistesbedürfniß; denn der Mann, der uns lehrte, die menschlichen Handlungen weder zu beklagen noch zu verlachen, sondern zu begreifen, ist so gewiß der Philosoph des epischen Dichters, wie der Prophet des kategorischen Imperativs der Pflicht der Philosoph für die Dramatiker ist. – Und würde weiter nicht verstehen, wie der Jüngling, der 335 keinen Blutstropfen eines Verschwörers in seinen Adern hatte und dem man kein Geheimnis abzufragen brauchte, weil er's von selbst mitteilte, zu seinem »Hohenasperg« kam. Und wie der schon geklärte Mann, der erfolgreiche Dichter, der alles andere war, nur kein Revolutionär und Barrikadenkämpfer, unweigerlich mit den Wiener Studenten von 1848 fraternisieren mußte. Und auf der Schwelle des Greisenalters vor Straßburg von den Belagerungsschanzen um sein geliebtes Münster und die armen bombardierten Brüder und Schwestern langte und bangte, bis sich die ausgestandene Pein des Harrens in einem »Wieder unser!« Luft machen konnte, dessen grenzenlosen Jubel nur der belächeln mag, der die Wunde nicht gefühlt wie er. – Und abermals nicht verstehen, warum der arbeitsamste der Menschen nicht gern auf einem Sänger- oder Schützenfeste fehlen mochte, das ihm erreichbar war; und ebensowenig auf einem Gedenkfeste, wo es galt, den Ruhm deutschen Geistes und deutscher Kunst zu mehren in frommer Huldigung des Genius. Und da war denn wahrlich keiner, der dieser Huldigung einen flammenderen, ergreifenderen Ausdruck zu geben verstand als der Mann, der in solchen Momenten erst wahrhaft seinen wahren Beruf zu erfüllen schien: »ausströmend seine Empfindung in seinem persönlichen Atem.« Es ist ein schönes, tiefsinniges Wort unseres Freundes: »In einem Strome sind auch Quellen.« Er hat es ursprünglich auf die dichterische Erfindung gemünzt, welcher während des Schaffens aus dem Schaffen selbst immer neue Nahrung erwächst; es sei mir erlaubt, es hier umzudeuten auf die Quellen glühender Vaterlandsliebe und heißen Ringens nach Selbstläuterung und Selbsterkenntnis, die unsichtbar in dem tiefen Strombett seines dichterischen Schaffens aufwallen und hier und da vielleicht die ästhetische Reinheit der poetischen Wasser trüben, um ihnen dafür eine wunderbar anmutende und erquickende Herzwärme zu verleihen.

336 Aber nun der dichterische Strom selbst, hast du uns von dem nicht noch gar vieles zu sagen? von seinem Ursprung, seinem Lauf: wie er sich hier durch kritische Engpässe zu winden hatte, dort im breiten Bett der Volksgunst behaglich ergehen konnte? wo die Wasserscheide lag zwischen ihm und den konkurrierenden poetischen Nachbarflüssen? und was denn sonst daran merkwürdig und wissenswert ist? Darüber müssen sich doch Bücher schreiben lassen!

Gewiß! und sie werden auch geschrieben werden. Wir Deutschen sind ja ein schreiblustiges Volk, und er verdient vor vielen anderen, daß man sich in sein Wesen versenke, seine Art eifrig studiere und seinem reichen Wirken bis in die letzten Spuren nachgehe. Aber sollte ich mir wirklich nicht schmeicheln dürfen, daß wir, indem wir uns liebevoll in dies sein Wesen und seine Art zu versenken suchten, ein helleres Licht der Erkenntnis desselben in unsern Seelen entzündet und uns so zum tieferen Verständnis seiner Werke vorbereitet haben? Denn auch von den Werken eines Dichters – und von denen besonders – gilt Wallensteins Wort von den Thaten und Gedanken des Menschen:

Die innre Welt, sein Mikrokosmos, ist
Der tiefe Schacht, aus dem sie ewig quellen.
Sie sind notwendig wie des Baumes Frucht,
Sie kann der Zufall gaukelnd nicht verwandeln,
Hab ich des Menschen Kern erst untersucht,
So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.

Und da erscheinen mir denn Auerbachs Werke so notwendig im einzelnen und einzelsten, selbst in ihrer chronologischen Folge; die Entwickelung seines Genius geht so normal vor sich; die diversen Phasen sind so scharf voneinander gegliedert und in sich selbst wieder so ausgeprägt, fügen sich zu dem Ganzen seiner dichterischen Existenz so harmonisch zusammen, daß man diese seine individuelle Entwickelung als typisch für die Entwickelung eins Dichters seiner Gattung ansprechen kann.

337Ja, er repräsentiert die Gattung in einer Reinheit und Ganzheit, welche auch für das nur mäßige Gedeihen der anderen Dichtungsarten in seinem Wirken keinen Raum läßt. Wer deshalb, weil er kaum je ein lyrisches Gedicht gemacht und weil seine Theaterstücke als solche verfehlt, ihm die lyrische und dramatische Ader absprechen wollte, der hat eben das wahre epische Wesen noch nicht gefaßt und begriffen, daß es die Elemente der beiden anderen Dichtungsarten in sich gebunden hat und hält wie die Luft Sauerstoff und Stickstoff, von denen man keines aus ihr herausnehmen kann, ohne daß sie aufhörte, atembar zu sein. Wer leugnen möchte, daß Auerbach die süßesten lyrischen Töne anschlagen konnte, der hat nicht sein Barfüßele, wer verneinen wollte, daß er den tragischen Donner zu entfesseln wußte, der hat seinen Diethelm – was sage ich, der hat ihn nie mit Herz und Phantasie gelesen. Ja, so wunderlich es klingt, wer Auerbach liest, ohne sich über dem Lesen bewußt zu werden, daß das alles eigentlich gar nicht, das heißt im tieferen Sinne geschrieben, sondern gesprochen ist, der versteht ihn überhaupt nicht zu lesen; und der versteht auch nicht, was der Dichter aus seiner Seele Grund gelegentlich äußert: »Es giebt viele köstliche Geschichten, die nicht bloß ihres Inhaltes wegen, sondern weil ihre Wirkung vornehmlich im lebendigen Ton liegt, nicht aufgezeichnet werden können.« Wer ihn aber einmal eine dieser köstlichen Geschichten hat erzählen hören mit jenem schalkhaft drolligen Ton, den man nicht hören konnte, ohne daß einem das Herz im Leibe lachte, – und den man sich jetzt nicht in der Seele zurückrufen darf, ohne daß einem die Augen übergehen – ja, der weiß, daß dieser Dichtermensch in gerader Linie von jenen schriftlosen ihr individuelles Empfinden im persönlichen Atem ausgebenden Sängern einer seligen epischen Vorzeit abstammte.

Und er war voll von diesen köstlichen Geschichten. Es fällt mir nicht gleich ein, wer gesagt hat: »Um eine gute Geschichte 338 zu erzählen, muß man drei im Kopfe haben« – er hatte tausend; er war ein unerschöpflicher Brunnen von Geschichten; und er glich auch darin dem Vater Homer, daß er die Genealogien und Verschwägerungen und Freundschaften hinüber und herüber von Hunderten von Familien in seinem wunderbaren Gedächtnis aufgespeichert und bei jeder passenden Gelegenheit zur Verfügung hatte. So lebte er denn stets, wenn andere Dichter nach Stoffen schreien wie die jungen Raben nach Speise, in einem behäbigen Wohlstand, ja in einem embarras de richesse, der ihm beim Komponieren zu einem wirklichen Hindernis wurde, da er nur immer abzuwehren hatte und, gutmütig wie er war, selbst den aufdringlichen Besucher schwer von sich zu weisen vermochte. Daraus – und aus dem schon erwähnten analogen Umstande, daß durch sein geschäftiges Gehirn stets so viele Gedanken zuckten wie Sternschnuppen durch eine klare Laurentiusnacht – ergab sich denn ein wunderliches Phänomen für den, welcher in der glücklichen Lage war, sein dichterisches Schaffen durch alle Stadien begleiten zu können. Die ursprüngliche Conception war stets sonnenklar, die erste Skizzierung herrlich leicht und keck und vollkommen übersichtlich. Las man nun das ausgeformte Werk, so wollte es einem manchmal – nicht als etwas anderes – das wäre ja unmöglich – aber als etwas von der ersten Conception und Skizze mehr oder weniger weit Abweichendes erscheinen, bis dann, nachdem man den ersten Eindruck der Lektüre in sich hatte verkühlen lassen, die rekonstruierende Rückerinnerung wieder den Grundplan mit überzeugender Deutlichkeit klarlegte. Es war wahr und wahrhaftig die Villa, die uns der Baumeister im Grundriß gezeigt und in den Fanden dargestellt, nur daß er noch ein paar Neben- und Hinterhäuser, die gar nicht im Kontrakt ausbedungen waren, hinzugefügt und auf seinen sauberen Zeichnungen die Schlingpflanzen und die Rosen vergessen hatte, welche die Wände, Simse und Gebälke zur fröhlichen Sommer 339zeit überspinnen und übernicken würden. Da sagen denn Leute, die da glauben, mehr von der Kunst zu verstehen wie der Meister, und nicht wert gewesen wären, seine Schuhriemen zu lösen: er wußte nicht zu komponieren! Ich aber, der ich in ihn immer, mit Herz und Mund, meinen Meister verehrt habe, ich sage: er wußte zu komponieren, nicht bloß seine kleineren Sachen, wo ja seine herrliche Kunst selbst dem Laien aufgehen muß, sondern auch seine großen. »Auf der Höhe« ist ein Meisterwerk der Komposition und ein glänzender Beweis absoluter Beherrschung des vorsichtig gewählten Stoffes; im »Landhaus« wird allerdings der volle, bis dahin durchweg regulierte Strom zuletzt gezwungen, in Wasserfällen und Kaskaden zu zersplittern und zu zerstäuben, wie er in »Waldfried« nach allen Seiten überquillt und kaum in der mit sicherer Ueberlegung angewandten, höchst dehnbaren Form des Ich-Romans zusammengehalten werden mag. Aber diese aus der Ueberfülle geborenen Mängel sind charakteristisch für alles epische Wesen, das immer die ganze Welt umschweifen und umfassen möchte, und die nur in der modernen Epik schärfer hervortreten als in der antiken, wo man ja von einzelnen Dichtern gar nicht reden kann, weil alle einen gemeinsamen Stoff vorfanden; einer dem anderen, so zu sagen, in die Hände arbeitete; einer den Faden, den der andere hatte fallen lassen, wieder aufnahm und fortspann, bis derselbe dann endlich ein Ende nahm, das heißt alle Variationen des Themas gründlich erschöpft waren. Das ist bei uns in vielen und gerade in den bedeutendsten Fällen unmöglich. So kann z. B. das Thema »Sonnenkamp« – der moderne Conquistadore, dem die Menschen Ware sind, aus denen man Geld macht, mit welchem Gelde man alles, was auf Erden köstlich ist, kaufen darf: Haus und Hof, Weib und Kind, willfährige Freunde, gefällige Maitressen, Rang und Titel – alles, alles, nur keine Ehre, die dem Frechling wenigstens von der poetischen Gerechtigkeit abgeschnitten wird, 340 sollte sie ihm auch in Wirklichkeit das Laissez-faire, laissez-aller einer frivolen Gesellschaft gewähren – ich sage: dies Thema kann von einem einzelnen Dichter gar nicht erschöpft werden, es hat zu viele Variationen: für den einen »Sonnenkamp«, den der Dichter nach Amerika und in einen nebenbei viel zu rühmlichen Tod schickt, erstehen Hunderte unter uns, laufen unter uns herum, mit dem Golde in ihren Taschen klimpernd, den ehrlichsten Menschen mit der frech-stummen Frage anstierend: Lieber Mann, was kostest du?

Ich wiederhole: Auerbachs scheinbar individuelle Fehler sind im Grunde die dem epischen Wesen inhärierenden. Sie treten bei ihm nur deshalb so scharf hervor, weil er in seiner dichterischen Individualität die Gattung so rein repräsentiert, und dürfen uns mithin indirekt als ebenso viele vollgültige Beweise seiner großen epischen Kraft und Tugend gelten.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch eine andere, scheinbar individuelle, im Grunde wieder echt epische Eigentümlichkeit Auerbachs hervorheben, auf die ich bereits hindeutete, als ich Sonnenkamps Tod einen allzu rühmlichen nannte. Wie die epische Natur, trotzdem sie das dramatische Element in sich schließt, dem rein tragischen und auch dem rein komischen Fall aus dem Wege geht, weil dieselben ihre streng gemessenen Kreise stören, so will sie auch von der abgrundtiefen Bosheit und der bodenlosen Lächerlichkeit nicht gern etwas wissen und kennt oder will keine Ungeheuer und keine Fratzen kennen. Es ist tief charakteristisch für den epischen Goethe, wenn er von sich behauptet, daß die dramatische Darstellung eines rein tragischen Falles ihn zerstören würde; und ein anderes Mal, daß der Humor zuletzt, das heißt in der komischen Konsequenz der Karikatur, die Kunst zerstöre. So ist es auch bedeutsam für ihn, daß in seinen Romanen kein einziger grundschlechter oder grundlächerlicher Mensch vorkommt. Läßt sich nicht dasselbe von den homerischen Gedich 341ten behaupten? Selbst der Cyklop, das gesetzlose Scheusal, ist allerdings für die Menschen, die ihm ungerufen ins Gehege kommen, ein etwas unbequemer Wirt, findet aber in all seinem Jammer für den Lieblingswidder, sein Böckchen, seinen Freund die gemütlichsten Worte; und Thersites ist ein Rabulist und Schwätzer, aber Vater Homer liebt alle seine Kinder und läßt selbst das ungezogenste mit einer Tracht wohlverdienter Prügel davonkommen. So ist es auch mit Auerbach: er liebt sie alle, alle; Totschläger oder Mörder, wie Landolin und Diethelm, haben sich in ihrem tiefsten Falle noch immer eine ganz respektable Portion Ehrlichkeit und Gewissen bewahrt, sind trotz ihrer Verbrechen alles andere eher als das, was man im eigentlichen Sinne Verbrechernaturen nennt. Und, was ganz hierher gehört: so fällt es Auerbach schwer, ja unmöglich, die völlige Gemütsleere eines modernen Blasierten darzustellen. Sein »Pranken« im Landhaus, sein »Bruder Irmas« in »Auf der Höhe« sind, welche Allüren des ausgehöhlten Wüstlings sie sich auch geben, im Grunde wahre Dilettanten der Gemütlosigkeit; Auerbach kennt so wenig eine völlig öde Seele wie der Physiker einen völlig leeren Raum; und wie jener gute König dem ärmsten Bauer ein sonntägliches Huhn in den Topf wünschte, so hat der leerste Tropf bei ihm noch immer ein sonntäglich Stück Gemüt in dem kümmerlichen Alltagsherzen.

Aber wohin gerate ich, wenn ich so fortfahren will, mich auf dem schmalen Gange analytischer Betrachtungen zwischen den Demanten, Smaragden und Rubinen der wunderreichen Schatzkammer zu ergehen, die Berthold Auerbach heißt! Wie viel ich auch von den Kleinodien mit eifrigen Händen faßte, es würde mit mir sein wie mit Chamissos Abdallah:

Und was er fortzutragen die Kraft hat, minder ihn freut,
Als was er liegen muß lassen, ihn heimlich wurmt und reut.

So verstatten Sie mir denn nur noch einen und den ande 342ren Blick, nicht des gierigen Schatzgräbers, sondern des bescheidenen Wanderers, der sehr wohl weiß, daß er das Bild der bedeutenden Landschaft, auf welcher sein trunkenes Auge ruht, nicht in allen zauberischen Einzelheiten erschöpfen kann, aber es sich doch gern in seinen großen Zügen für immer einprägen möchte.

Ich habe bereits vorhin gesagt, daß die dichterische Entwickelung Auerbachs typisch sei für die Entwickelung eines Dichters seiner Gattung. Für mich steht es fest, daß der epische Dichter zwar auch keine andere Aufgabe hat wie der antike, dies ist: ein verklärtes Bild der Welt, so weit sie sein Blick überschauen kann, zu geben, daß ihm aber nicht wie jenem, infolge des prästabilierten Einklangs seiner individuellen Seele mit der Volksseele, der Standpunkt für dies Bild von vornherein gegeben ist, sondern daß er denselben erst suchen muß und ihn nirgend anderswo als in seiner Seele, bei sich selbst, in seinem Ich finden kann.

Er muß, er mag wollen oder nicht, sich selbst als einheitlichen Punkt, das heißt als Helden dieses Bildes, das heißt der Erzählung, setzen; aber er thut es selten, fast nie, direkt, offen, sondern indirekt, heimlich, indem er sein Ich in eine fremdartige Maske hüllt – je fremdartiger, je besser – und den so ausstaffierten Helden in Lagen bringt, in denen er selbst nie gewesen ist, in die er sich eben nur hineinträumt, aber in der Folgerichtigkeit der mit seinem Ich vorgenommenen Veränderungen.

Das ist der Auerbach des »Spinoza«, des »Dichter und Kaufmann«. Er ist der Baruch nicht, den sie als Benedikt in den Bann thaten, und ist es auch wieder und fragt sich: wird an dein Sterbelager trotz alledem, trotzdem du nichts willst, als dich empordenken und läutern zum »freien Menschen«, die Hohngestalt des ewigen Juden treten? – Er ist Ephraim Kuh nicht und ist es auch wieder und fragt sich: wird die Misere einer nicht bürgerlich voll anerkannten und gesicherten Existenz auch in 343 dir ein fröhliches Talent im Keime knicken, ja zu einem Fluch deines Lebens machen?

Dann, wenn der Dichter seine Hand durch diese Vorübungen geschmeidigt und gefestigt, seine historisch-epischen Maskenscherze absolviert, seine von egoistischen Träumen und Aspirationen geläuterte Seele mit der Bildung seiner Zeit erfüllt hat, dann erst kann er an seine wirkliche Arbeit gehen: mit freiem, objektivem Blick und sicherer Kunst zu schildern das, was ist.

Das ist der Auerbach der Dorfgeschichten. Er ist der Tolpatsch, der Ivo nicht, der Buchmaier, der Bachmüller nicht, der Lucian nicht, der Diethelm nicht – aber er kennt sie alle, alle, schaut ihnen bis in den tiefsten Herzensgrund, deckt diesen tiefsten Herzensgrund auf, den Zuschauer, ich meine den Leser, bis in den tiefsten Herzensgrund erschütternd.

Das, was ist! ihm ist! für ihn ist! was er am besten, was er bis jetzt vielleicht – vielmehr gewiß – allein wahrhaft kennt – sein angestammtes väterliches Erbe, auf dem er, als auf seinem Eigen, steht, das edle Gut verwaltend, es nutzend, ganz ausnutzend, aber wie ein betriebsamer, fleißiger Wirt; nicht wie einer, der auf den Raub baut.

So sitzt er, so waltet er, umrauscht von dem Beifall seiner Nation, die sich eben jetzt eifrig rüstete, in ihr politisches Erbe einzutreten, wie er in sein dichterisches eingetreten war; und der er in seinem Schaffen sinnbildlich zeigte, wie man, um in sein Erbe zu kommen, um seines Erbes froh zu werden, mit dem Anfang beginnen, mit dem Grundpflug pflügen müsse, damit die alte eingeborene Kraft des Bodens sich bewähre und den Fleiß des Säemanns lohne hundert- und tausendfältig – so waltet er, sage ich, jahrelang, schier zwanzig Jahre auf seinen Hufen; es ist zuletzt kaum eine Scholle noch, die er nicht umgewandt, kein Fruchtbaum, von dem er nicht gepflückt, kein wilder Rosenstrauch, der ihm nicht einmal seine offenen Blüten erschlossen.

344 Dann kommt ein Tag, wo über seiner Thür nicht mehr steht: »Dies Haus ist meine Welt!« wo die alte Inschrift einer neuen hat Platz machen müssen: »Die Welt ist mein Haus!«

Was ist geschehen?

Ist ein wetterwendischer Sinn in den bedächtigen Mann gefahren? ist er des kostbaren Erbes, des trauten Heims überdrüssig geworden? Lüstet ihn nach reicherem Gewinn?

Mit nichten!

Er folgt nur einfach dem eingeborenen Gesetz der epischen Phantasie, der kühnen Seglerin, welcher jeder Wind recht ist, der ihr die Linnen schwellt; die – wie der Bach vom Walde die Gier hat, zum Strom in der Ebene zu kommen, und der Strom in der Ebene die Sehnsucht, im Meere zu verfließen – weiter will, weiter muß, neu Land erobern, neue Menschen, neue Verhältnisse; aus dem Dorf in die Kreisstadt eilt, wenn sie die Kreisstadt, aus der Kreisstadt in die Hauptstadt, wenn sie die Hauptstadt haben kann.

Nun kommt, ihr Hauptstädter! kommt, Herr König und Frau Königin! kommt, ihr Herren und Frauen vom Hofe! kommt, ihr Lakaien und ihr Zofen! kommt, ihr Großen und ihr Kleinen! steht mir Red' und Antwort, just wie meine Voll- und Halbbauern, meine Knechte und Mägde es mußten! Komm, du große Welt, und laß dich schildern! Ich hätt's schon längst gethan: du warst die Sehnsucht meiner jungen Seele; du bist die Erfüllung meines dichterischen Berufes! Nur daß du leider nicht existiertest! nur daß du erst geschaffen werden mußtest im heißen Ringen deines Volkes, in dem ich mitgerungen nach meinen besten Kräften! Meine Kräfte sind vielleicht nicht mehr so frisch als an dem Tage, da ich mit dem Buchmaier die Axt mitten durch das schwarze Bureaukratenbrett und die alberne Verordnung hieb – nur die Götter altern nicht – gleichviel! es ist nicht meine Schuld, daß ich so spät gekommen. Laß sehen, ob's zu spät ist!

345 Das ist der Auerbach von »Auf der Höhe«, vom »Landhaus am Rhein«, von »Waldfried«. Es war noch nicht zu spät: der lange heiße Sommer nicht mehr der Schwarzwälder Dorfgeschichten mit seinem mächtigen Tannenrauschen und segenspendenden Gewittern – ein milder Herbst mit anmutigem Säuseln in den Zweigen und klarblauem Himmel und mit Früchten – Früchten die Hülle und Fülle, die von den edlen wohlgepflegten Bäumen hernieder schauern, so sie der wundersame Mann nur berührt – und durch die stille sonnige Luft hier und da einmal ein weißer Sommerfaden, leise daran mahnend, daß die schönste Sonne einmal untergehen muß.

Die Früchte sind eingebracht; der alte Landmann fühlt denn doch des Sommers Arbeit und des Herbstes Last. Verwalte und baue weiter die große Staatsdomäne, wer will; ich weiß, es ist auch die Hauptdomäne des epischen Dichters, aber – ich ziehe mich auf mein Altenteil zurück; da kenne ich ein paar gute Stellen, die müssen mir noch daran und sollen mir eine wackere Nachernte geben, bevor der Winter kommt.

Das ist der Auerbach von »Nach dreißig Jahren«, vom »Landolin«, »Forstmeister« und »Brigitta«.

Dann kam – nicht der Winter – gelobt sei Gott! – dann kam der milde Tod und sprach: Du frommer und getreuer Knecht! komm mit mir! du bist über wenigem getreu gewesen und bist deshalb über vieles gesetzt; und bist über dem vielen getreu gewesen wie über dem wenigen! für dich habe ich keine Schrecken; komm! – du wendest dich von mir? schüttelst das greise Haupt? hast noch so viel, so viel zu thun? die Geschichte deines Lebens? … Nun, die Werke eines Dichters sind die Geschichte seines Lebens! auch Shakespeare, dein tragischer Genoß, hat keine andere hinterlassen. Laß sie von anderen schreiben – mußt du denn alles, alles auf deine breiten Schultern nehmen? – Das Leben ist so süß, du magst nicht sterben? – Sterben! du! – Nun denn, neige mir dein Ohr, ich will dir ein Wörtlein sagen; ich weiß, du hörst es gern!

Und er hat's gern gehört, des Zeuge war der heilige Frieden, die schier stolze Ruhe auf seinem schönen Totenangesicht.

Er hat's gern gehört! ich weiß es. Er war – als ein echter Dichter, das heißt ein echter Mensch – ein Menschenmensch, wie er sich wohl im Scherze nannte, weil er seine geliebten Menschen keinen Augenblick entbehren konnte – nicht unempfindlich gegen den Ruhm, solange er lebte. – Ruhm aber und Liebe und Preis und Lob und Dank, die sein Volk dem Genius zollte, solange er unter ihnen wandelte – wenn er von ihm geschieden, dann faßt es die duftigen Blumen alle zusammen in einen unverwelklichen Kranz und nennt ihn: Unsterblichkeit.


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