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Sozialismus als Lebensform

Untergang des Abendlandes, 3. Aufl., Kap. V.

8.

Sechstausend Jahre höherer Menschengeschichte liegen vor uns.

Aus der Masse, die sich über den ganzen Planeten verbreitet hat, sondert sich, Geschichte im tiefern Sinne, das Schauspiel und Schicksal der großen Kulturen ab. Sie liegen vor dem Auge des Betrachters als Formenwelten von gleichartigem Bau, mächtiges Seelentum, das sichtbare Gestalt gewinnt, innerstes Geheimnis, das sich in lebendig fortschreitender Wirklichkeit ausdrückt.

Ein unveränderliches Ethos wirkt in ihnen. Es prägt nicht nur je eine ganz bestimmte Art von Glauben, Denken, Fühlen, Tun, von Staat, Kunst und Lebensordnung, sondern auch einen antiken, indischen, chinesischen, abendländischen Typus »Mensch« von vollkommen eigner Haltung des Leibes und der Seele, einheitlich in Instinkt und Bewußtsein, Rasse in geistigem Sinne, aus.

Jedes dieser Gebilde ist in sich selbst vollendet und unabhängig. Historische Einwirkungen, über deren dichtem Gewebe die landläufige Geschichtsschreibung alles andre vergißt, haften am Äußerlichsten; innerlich bleiben Kulturen, was sie sind. So blühen sie am Nil und Euphrat, Ganges, Hoangho und ägäischen Meer, in der semitischen Wüste und der nordischen stromreichen Ebene auf, die Menschen ihrer Landschaft zu Völkern heranzüchtend, die nicht Schöpfer, sondern Schöpfungen dieser Kulturen sind, untereinander an Geist und Sinn verschieden und sich leidenschaftlich widerstrebend: Dorer und Jonier, Hellenen und Etrusko-Römer – die Völker der altchinesischen Welt – Germanen und Romanen, Deutsche und Engländer, nach außen aber und einer fremden Kultur gegenüber sofort als Einheit wirkend: der antike, der chinesische, der abendländische Mensch.

Eine Idee ruht in der Tiefe jeder Kultur, die sich in bedeutungsschweren Urworten ankündet: das Tao und Li der Chinesen, der Logos und das »Seiende« der apollinische Griechen, Wille, Kraft, Raum in den Sprachen des faustischen Menschen, der sich vor allen andern durch seinen unersättlichen Willen nach Unendlichkeit auszeichnet, der mit dem Fernrohr die Dimensionen des Weltraums, mit Schienen und Drähten die der Erdoberfläche besiegt, mit seinen Maschinen die Natur, mit seinem historischen Denken die Vergangenheit, die er seinem eignen Dasein als »Weltgeschichte« einordnet, mit seinen Fernwaffen den ganzen Planeten samt den Resten aller älteren Kulturen unterwirft, denen er heute seine eignen Daseinsformen aufzwingt – wie lange?

Denn zuletzt, nach einer abgemessenen Reihe von Jahrhunderten, verwandelt sich jede Kultur in Zivilisation. Was lebendig war, wird starr und kalt. Innere Weiten, Seelenräume werden ersetzt durch Ausdehnung im körperhaft Wirklichen, das Leben im Sinne des Meisters Eckart wird zum Leben im Sinne der Nationalökonomie, Gewalt der Ideen wird Imperialismus. Letzte, sehr irdische Ideale breiten sich aus, reife Stimmungen mit der vollen Erfahrung des Alters: von Sokrates, Laotse, Rousseau, Buddha an wendet der Weg sich jedesmal abwärts. Sie sind alle innerlich verwandt, ohne echte Metaphysik, Wortführer praktischer abschließender Weltanschauung und Lebenshaltung, für die wir umfassende Namen wie Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus besitzen.

9.

Und so bezeichnet Sozialismus in diesem späten Sinne, nicht als dunkler Urtrieb, wie er sich im Stil gotischer Dome, im Herrscherwillen großer Kaiser und Päpste, in spanischer und englischer Gründung von Reichen ausspricht, in denen die Sonne nicht untergeht, sondern als politischer, sozialer, wirtschaftlicher Instinkt realistisch angelegter Völker eine Stufe unserer Zivilisation, nicht mehr unsrer Kultur, die um 1800 zu Ende ging.

Aber in diesem nun ganz nach außen gewandten Instinkt lebt der alte faustische Wille zur Macht, zum Unendlichen weiter in dem furchtbaren Willen zur unbedingten Weltherrschaft im militärischen, wirtschaftlichen, intellektuellen Sinne, in der Tatsache des Weltkrieges und der Idee der Weltrevolution, in der Entschlossenheit, durch die Mittel faustischer Technik und Erfindung das Gewimmel der Menschheit zu einem Ganzen zu schweißen. Und so ist der moderne Imperialismus auf den ganzen Planeten gerichtet. Der babylonische hatte sich auf Vorderasien, der indische auf Indien beschränkt, der antike fand seine Grenzen in Britannien, Mesopotamien und der Sahara, der chinesische am kaspischen Meer. Wir kennen keine Grenze. Wir haben Amerika durch eine neue Völkerwanderung zu einem Teil Westeuropas gemacht; wir haben alle Erdteile mit Städten unsres Typus besetzt, unsrem Denken, unsren Lebensformen unterworfen. Es ist der höchste überhaupt erreichbare Ausdruck unsres dynamischen Weltgefühls. Was wir glauben, sollen alle glauben. Was wir wollen, sollen alle wollen. Und da Leben für uns äußeres Leben, politisches, soziales, wirtschaftliches Leben geworden ist, so sollen alle sich unserm politischen, sozialen, wirtschaftlichen Ideal fügen oder zugrunde gehen.

Dies immer klarer werdende Bewußtsein habe ich modernen Sozialismus genannt. Es ist das Gemeinsame in uns. Es wirkt in jedem Menschen von Warschau bis San Franzisko, es zwingt jedes unsrer Völker in den Bann seiner Gestaltungskraft.

Aber auch nur uns. Antiken, chinesischen, russischen Sozialismus in diesem Sinne gibt es nicht.

Im Innern dieses mächtigen Gesamtbewußtseins aber herrschen Feindschaft und Widerspruch. Denn die Seele jeder einzelnen Kultur leidet an einem einzigen, aber unheilbaren Zwiespalt. Die Geschichte jeder Kultur ist ein nie beendeter Kampf zwischen Völkern, zwischen Klassen, zwischen Einzelnen, zwischen den Eigenschaften eines einzelnen – immer um ein und dieselbe schwere Frage. Ein Gegensinn regt sich, sobald eine Schöpfung ans Licht tritt. Seit Nietzsche kennen wir den großen, in immer neuer Gestalt fortwirkenden Gegensatz im antiken Dasein: Apollo und Dionysos, Stoa und Epikur, Sparta und Athen, Senat und Plebs, Tribunat und Patriziat. Bei Cannä stand in Hannibal der epikuräische Hellenismus dem stoisch-senatorischen Rom gegenüber. Bei Philippi erlag dies spartanische Element Roms dem athenischen der Cäsaren. Und noch im Muttermorde Neros triumphierte der dionysische Geist des »panem et circenses« über die apollinische Strenge der römischen Matrone. In der chinesischen Welt knüpfen sich die Gegensätze aller Epochen, in Leben und Denken, Schlachten und Büchern an die Namen Konfuzius und Laotse und die unübersetzbaren Begriffe des Li und Tao. Und ebenso ist es ein und derselbe Zwist in der faustischen Seele, der in Gotik und Renaissance, Potsdam und Versailles, Kant und Rousseau, Sozialismus und Anarchismus unser Schicksal bestimmt und bis in die letzten Zeiten bestimmen wird.

Trotzdem ist dies Schicksal eine Einheit. Der Widerspruch und Gegensatz dient einer höhern Wirklichkeit. Epikur ist eine andere Form der Stoa, Äschylus hat Apollo und Dionysos, Cäsar hat Senat und Plebs zusammengeführt. Der Taoismus des Laotse hat das konfuzianische China mitgeschaffen. Die abendländischen Völker mit anarchischem Instinkt sind sozialistisch im größeren Sinne des Faustisch-Wirklichen.


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