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Die Revolution

1.

Die Geschichte kennt kein Volk, dessen Weg tragischer gestaltet wäre. In den großen Krisen kämpften alle andern um Sieg oder Verlust; wir haben immer um Sieg oder Vernichtung gekämpft: von Kolin und Hochkirch über Jena und die Freiheitskriege, wo noch auf französischem Boden versucht wurde, durch eine Aufteilung Preußens die Verständigung zwischen dessen Verbündeten und Napoleon zu erreichen, über jene verzweifelte Stunde von Nikolsburg, in der Bismarck an Selbstmord dachte, und Sedan, das die Kriegserklärung Italiens und damit eine allgemeine Offensive der Grenzmächte eben noch abwandte, bis zu dem Gewitter furchtbarer Kriege über den ganzen Planeten hin, dessen erste Schläge eben verhallt sind. Nur der Staat Friedrichs des Großen und Bismarcks durfte es wagen, an Widerstand überhaupt zu denken.

In all diesen Katastrophen haben Deutsche gegen Deutsche gestanden. Es gehört nur der Oberfläche der Geschichte an, daß es oft Stamm gegen Stamm oder Fürst gegen Fürst war; in der Tiefe ruhte jener Zwiespalt, den jede deutsche Seele birgt und der schon in gotischer Zeit, in den Gestalten Barbarossas und Heinrichs des Löwen zur Zeit von Legnano groß und düster hervortrat. Wer hat das verstanden? Und wer durchschaut jene Wiederkehr des Herzogs Widukind in Luther? Welcher dunkle Drang ließ all jene Deutschen für Napoleon kämpfen und fühlen, als er mit französischem Blute die englische Idee über den Kontinent trug? Was verbindet in der tiefsten Tiefe das Rätsel von Legnano mit dem von Leipzig? Weshalb empfand Napoleon die Vernichtung der kleinen fridericianischen Welt als seine ernsteste Aufgabe – und im Grunde seines Geistes als eine unlösbare?

Der Weltkrieg ist, am Abend der westlichen Kultur, die große Auseinandersetzung zwischen den beiden germanischen Ideen, Ideen, die wie alle echten nicht gesprochen, sondern gelebt wurden. Er trug seit seinem wirklichen Ausbruch, dem Vorpostengefecht auf dem Balkan 1912, zunächst die äußere Form des Kampfes zweier Großmächte, von denen die eine beinahe niemand, die andre Alle auf ihrer Seite hatte. Er endete zunächst im Stadium der Schützengräben und verrottenden Millionenheere. Aber schon in diesem wurde eine neue Formel des ungemilderten Gegensatzes gefunden, die augenblicklich mit den Schlagworten Sozialismus und Kapitalismus in einem sehr flachen Sinne und mit der vom vorigen Jahrhundert ererbten Überschätzung rein wirtschaftlicher Einzelheiten bezeichnet wird. Hinter ihnen tritt die letzte große Seelenfrage des faustischen Menschen zutage. In diesem Augenblick tauchte, den Deutschen selbst nicht bewußt, das napoleonische Rätsel wieder auf. Gegen dieses Meisterstück von Staat, unsre echteste und eigenste Schöpfung, so eigen, daß kein anderes Volk es zu verstehen und nachzuahmen vermochte, daß man es haßte wie alles Dämonisch-Unergründliche, rannte das englische Heer Deutschlands an.

2.

Denn das gibt es. Was hier zum tödlichen Streich ausholte, war nicht notwendig ein Verrat aus weltbürgerlichem Hange oder schlimmeren Gründen; es war ein beinahe metaphysisches Wollen, zäh und selbstlos, oft einfältig genug, oft begeistert und ehrlich patriotisch, aber in seinem bloßen Dasein eine stets bereite Waffe für jeden äußeren Feind von der praktischen Tiefe des Engländers; ein verhängnisvoller Inbegriff von politischen Wünschen, Gedanken, Formen, die in Wirklichkeit nur ein Engländer ausfüllen, meistern, nutzen kann, für Deutsche trotz aller schweren Leidenschaft und ernsten Opferwilligkeit nur ein Anlaß dilettantischer Betätigung, in seiner staatsfeindlichen Wirkung vernichtend, vergiftend, selbstmörderisch. Es war die unsichtbare englische Armee, die Napoleon seit Jena auf deutschem Boden zurückgelassen hatte.

Das, der bis zur Wucht eines Schicksals herausgebildete Mangel an Tatsachensinn ist es, was von der Höhe der Stauferzeit an, wo diese prachtvollen Menschen sich über die Forderung des Tages erhaben fühlten, bis herab zur provinzialen Biedermännerei des 19. Jahrhunderts, die man auf den Namen des deutschen Michel getauft hat, jenem andern Instinkt entgegenarbeitete und ihm eine Entfaltung aufzwang, die seine äußere Geschichte zu einer dichten Folge verzweifelter Katastrophen gestaltet hat. Das Micheltum ist die Summe unsrer Unfähigkeiten, das grundsätzliche Mißvergnügen an überlegnen Wirklichkeiten, die Dienst und Achtung fordern, Kritik zur unrechten Zeit, Ruhebedürfnis zur unrechten Zeit, Jagd nach Idealen statt rascher Taten, rasche Taten statt vorsichtigen Abwägens, das »Volk« als Haufe von Nörglern, die Volksvertretung als Biertisch höherer Ordnung. Alles das ist englisches Wesen, aber in deutscher Karikatur. Und vor allem das Stückchen privater Freiheit und verbriefter Unabhängigkeit, das man genau dann aus der Tasche zieht, wenn John Bull es mit sicherm Instinkt beiseite legen würde.

Der 19. Juli 1917 ist der erste Akt der deutschen Revolution. Das war kein bloßer Wechsel der Führung, sondern wie die brutale Form namentlich dem Gegner verriet, der Staatsstreich des englischen Elements, das seine Gelegenheit wahrnahm. Es war die Auflehnung nicht gegen die Macht eines Unfähigen, sondern gegen die Macht überhaupt. Unfähigkeit der Staatsleitung? Hatten diese Gruppen, in denen nicht ein Staatsmann saß, nur den Splitter im Auge der Verantwortlichen gesehen? Hatten sie statt der Fähigkeiten, die sie nicht bieten konnten, in dieser Stunde etwas andres einzusetzen als ein Prinzip? Es war kein Aufstand des Volkes, das zusah, ängstlich, zweifelnd, obwohl nicht ohne jene michelhafte Sympathie mit allem, was gegen die da oben ging, es war eine Revolution in den Fraktionszimmern. Mehrheitsparteien ist bei uns ein Name für einen Verein von zweihundert Mitgliedern, nicht für den größeren Teil des Volkes. Erzberger als der taktisch begabteste Demagog unter ihnen, groß in Hinterhalten, Überfällen, Skandalen, ein Virtuose im Kinderspiel des Ministerstürzens, ohne die geringste staatsmännische Begabung englischer Parlamentarier, deren Kniffe er nur beherrschte, zog den Schwarm der Namenlosen nach sich, die auf eine öffentliche Rolle, gleichviel welche, erpicht waren. Es waren die Epigonen der Biedermeierrevolution von 1848, die Opposition als Weltanschauung betrachteten, und die Epigonen der Sozialdemokratie, denen die eiserne Hand Bebels fehlte, der mit seinem starken Wirklichkeitssinn dies schamlose Schauspiel nicht geduldet, der eine Diktatur, von rechts oder links, gefordert und erreicht hätte. Er hätte dies Parlament zum Teufel gejagt und die Pazifisten und Völkerbundsschwärmer erschießen lassen.

Das also war der Bastillesturm der deutschen Revolution.

Souveränität der Parteiführer ist ein englischer Gedanke. Um ihn zu verwirklichen, müßte man Engländer von Instinkt sein und den gesamten Stil des englischen öffentlichen Lebens hinter sich und in sich haben. Mirabeau dachte daran. »Die Zeit, in der wir leben, ist sehr groß; die Menschen aber sind sehr klein und noch sehe ich niemand, mit dem ich mich einschiffen möchte« – ihm dies stolze und resignierte Wort nachzusprechen, hatte 1917 niemand das Recht. Die Härte der Staatsgewalt brechen, nichts Entscheidendes mehr über sich dulden, ohne selbst Entscheidungen gewachsen zu sein, das war der rein negative Sinn dieses Staatsstreiches: Absetzung des Staates, Ersatz durch eine Oligarchie subalterner Parteihäupter, die nach wie vor Opposition als Beruf und Regieren als Anmaßung empfanden, vor dem lachenden Gegner, vor verzweifelnden Zuschauern im Innern Stück für Stück abtragen, anbohren, verrücken, die neue Allmacht an den wichtigsten Beamten erproben wie ein Negerkönig ein Gewehr an seinen Sklaven, das war der neue Geist, bis in der schwarzen Stunde des letzten Widerstandes dieser Staat verschwand.

3.

Dem Handstreich der englischen Staatsgegner folgte mit Notwendigkeit im November 1918 der Aufstand des marxistischen Proletariats. Der Schauplatz wurde aus dem Sitzungssaal auf die Straße verlegt. Gedeckt durch die Meuterei der »Heimatarmee« brachen die Leser der radikalen Presse los, von den klügeren Führern verlassen, die nur noch halb von ihrer Sache überzeugt waren. Auf die Revolution der Dummheit folgte die der Gemeinheit. Es war wieder nicht das Volk, nicht einmal die sozialistisch geschulte Masse; es war das Pack mit dem Literatengeschmeiß an der Spitze, das in Aktion trat. Der echte Sozialismus stand im letzten Ringen an der Front oder lag in den Massengräbern von halb Europa, der, welcher im August 1914 aufgestanden war und den man hier verriet.

Es war die sinnloseste Tat der deutschen Geschichte. Es wird schwer sein, in der Geschichte andrer Völker Ähnliches zu finden. Ein Franzose würde den Vergleich mit 1789 als eine Beleidigung seiner Nation mit Recht ablehnen.

War das die große deutsche Revolution?

Wie flach, wie flau, wie wenig überzeugt war das alles! Wo man Helden erwartete, fand man befreite Sträflinge, Literaten, Deserteure, die brüllend und stehlend, von ihrer Wichtigkeit und dem Mangel an Gefahr trunken, umherzogen, absetzten, regierten, prügelten, dichteten. Man sagt, diese Gestalten beschmutzen jede Revolution. Gewiß. Nur daß in den andern das gesamte Volk mit solcher Urgewalt hervorbrach, daß die Hefe verschwand. Hier handelte sie allein. Die ungeheure Masse, die ein Gedanke zur Einheit schmiedete, blieb aus.

In der Bebelpartei war etwas Soldatisches gewesen, das sie vor dem Sozialismus aller andern Länder auszeichnete, klirrender Schritt der Arbeiterbataillone, ruhige Entschlossenheit, Disziplin, der Mut, für etwas Jenseitiges zu sterben. Seit die intelligenteren Führer von gestern sich dem Feinde von gestern, der vormärzlichen Spießbürgerlichkeit in die Arme geworfen hatten, aus Angst vor dem Erfolg einer Sache, die sie seit 40 Jahren vertraten, aus Angst vor der Verantwortung, vor dem Augenblick, wo sie Wirklichkeiten nicht mehr angreifen, sondern schaffen sollten, erlosch die Seele der Partei. Hier trennten sich – zum ersten Male! – Marxismus und Sozialismus, die Klassentheorie und der Gesamtinstinkt. Beschränkte Ehrlichkeit war nur bei den Spartakisten. Die Klügeren hatten den Glauben an das Dogma verloren, den Mut zum Bruche mit ihm noch nicht gefunden. Und so hatten wir das Schauspiel einer Arbeiterschaft, die durch einige dem Gehirn eingehämmerte Sätze und Begriffe in ihrem Bewußtsein vom Volke abgespalten war, von Führern, die ihre Fahne verließen, Geführten, die nun führerlos vorwärts stolperten – am Horizont ein Buch, das sie nie gelesen und das jene in seiner Beschränktheit nie verstanden hatten. Sieger in einer Revolution ist nie eine einzelne Klasse – da hat man 1789 falsch verstanden; Bourgeoisie ist nur ein Wort –, sondern, es sei immer wieder gesagt, das Blut, die zum Leib, zum Geist gewordne Idee, die alle vorwärts treibt. Sie nannten sich 1789 die Bourgeoisie, aber jeder echte Franzose war und ist heute noch Bürger. Jeder echte Deutsche ist Arbeiter. Das gehört zum Stil seines Lebens. Die Marxisten hatten die Gewalt in Händen. Aber sie dankten freiwillig ab; der Aufstand kam für ihre Überzeugung zu spät. Er war eine Lüge.

4.

Verstehen wir überhaupt etwas von Revolution? Als Bakunin 1848 den Aufruhr in Dresden mit einer Niederbrennung aller öffentlichen Gebäude krönen wollte und auf Widerstand stieß, erklärte er »Die Deutschen sind zu dumm dazu« und ging seiner Wege. Die unbeschreibliche Häßlichkeit der Novembertage ist ohne Beispiel. Kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein großer Mann, kein bleibendes Wort, kein kühner Frevel, nur Kleinliches, Ekel, Albernheiten. Nein, wir sind keine Revolutionäre. Keine Not, keine Presse, keine Partei kann einen ordnungswidrigen Sturm mit der Gewalt von 1813, 1870, 1914 hervorrufen. Von ein paar Narren und Strebern abgesehen, wirkte die Revolution auf jeden wie ein einstürzendes Haus, am tiefsten vielleicht auf die Sozialistenführer selbst. Es ist ohne Beispiel: sie hatten plötzlich, was sie seit 40 Jahren erstrebten, die volle Gewalt, und empfanden sie als Unglück. Dieselben Soldaten, die unter der schwarz-weiß-roten Fahne vier Jahre lang als Helden gefochten hatten, haben unter der roten nichts gewollt, nichts gewagt, nichts geleistet. Diese Revolution hat ihren Anhängern den echten Mut nicht gegeben, sondern genommen.

Das klassische Land westeuropäischer Revolutionen ist Frankreich. Der Schall tönender Worte, die Blutströme auf dem Straßenpflaster, la sainte guillotine, die wüsten Brandnächte, der Paradetod auf der Barrikade, die Orgien rasender Massen – das alles entspricht dem sadistischen Geist dieser Rasse. Was an symbolischen Worten und Akten zu einer vollständigen Revolution gehört, kommt aus Paris und ist von uns nur schlecht nachgeahmt worden. Wie ein proletarischer Aufstand unter feindlichen Kanonen aussieht, haben sie uns schon 1871 vorgeführt. Es wird nicht das einzige Mal gewesen sein.

Der Engländer sucht den inneren Feind von der Schwäche seiner Position zu überzeugen. Gelingt es nicht, so greift er ruhig zu Schwert und Revolver und zwingt ihn, ohne revolutionäre Melodramatik. Er schlägt seinem König den Kopf ab, weil er dies Symbol instinktiv für notwendig hält; es ist für ihn eine Predigt ohne Worte. Der Franzose tut es – aus revanche, aus Freude an blutigen Szenen und mit dem geistreichen Kitzel, daß er gerade einen Königskopf daran wenden kann. Denn ohne Menschenköpfe auf Piken, Aristokraten an der Laterne, von Weibern geschlachtete Priester wäre er nicht zufrieden. Das Ergebnis der großen Tage kümmert ihn weniger. Der Engländer will den Zweck, der Franzose die Mittel.

Was wollten wir? Wir bringen es nur zu Karikaturen von beiderlei Art. Prinzipienreiter, Schulfüchse, Schwätzer in der Paulskirche und in Weimar, ein kleiner Spektakel auf der Gasse, ein Volk im Hintergrunde, das wenig beteiligt zusieht. Aber eine echte Revolution ist nur die eines ganzen Volkes, ein Aufschrei, ein eherner Griff, ein Zorn, ein Ziel.

Und das, diese deutsche sozialistische Revolution, fand 1914 statt. Sie vollzog sich in legitimen und militärischen Formen. Sie wird, in ihrer dem Durchschnitt kaum verständlichen Bedeutung, die Widerlichkeiten von 1918 langsam überwinden und als Faktor ihrer fortschreitenden Entwicklung einordnen.

Aber immerhin, im volkstümlichen Bilde der Geschichte wird nicht sie, sondern der Novemberaufstand künftig voranstehen. Man kann sich wohl ausmalen, wie im idealen Fall eine proletarische Revolution an dieser Stelle einzusetzen gehabt hätte. Und da enthüllt sich die überwältigende Feigheit und Minderwertigkeit des Elements, das der proletarische Gedanke zu seiner Verteidigung bereit fand. Auch die großen Revolutionen werden durch Blut und Eisen entschieden. Was hätten bedeutende Massenführer, was hätten die Independenten und Jakobiner in dieser Lage getan! Und die Marxisten? Sie hatten die Macht, sie hätten alles wagen dürfen. Ein großer Mann aus der Tiefe, und das ganze Volk wäre ihm gefolgt. Aber nie ist eine Massenbewegung durch die Erbärmlichkeit der Führer und Gefolgsleute elender in den Schmutz gezogen worden. Die Jakobiner waren bereit, alles andre zu opfern, weil sie sich selbst opferten: marcher volontiers, les pieds dans le sang et dans les larmes, wie es St. Just formulierte. Sie kämpften gegen die Mehrheit im Innern und gegen halb Europa an der Front. Sie rissen alles mit. Sie schufen Heere aus dem Nichts, sie siegten ohne Offiziere, ohne Waffen.

Hätten ihre Nachäffer von 1918 die rote Fahne an der Front entfaltet, den Kampf auf Leben und Tod gegen das Kapital erklärt; wären sie vorangegangen, um als die ersten zu fallen, sie hätten nicht nur das zu Tode erschöpfte Heer, die Offiziere vom ersten bis zum letzten, sie hätten auch den Westen mitgerissen. In solchen Augenblicken siegt man durch den eignen Tod. Aber sie verkrochen sich; statt an die Spitze roter Heere stellten sie sich an die Spitze gutbezahlter Arbeiterräte. Statt der Schlachten gegen den Kapitalismus gewannen sie die gegen Proviantlager, Fensterscheiben und Staatskassen. Statt ihr Leben verkauften sie ihre Uniformen. An der Feigheit ist diese Revolution gescheitert. Jetzt ist es zu spät. Was in den Tagen des Waffenstillstandes und der Friedensunterzeichnung versäumt wurde, ist niemals nachzuholen. So sank das Ideal der Masse zu einer Reihe schmutziger Lohnerpressungen ohne Gegenleistung herab; auf Kosten des übrigen Volkes, der Bauern, der Beamten, der Geistigen zu schmarotzen, die Worte Rätesystem, Diktatur, Republik so oft an Stelle mangelnder Taten hinauszuschreien, daß sie in zwei Jahren lächerlich geworden sein werden, so weit reichte ihr Mut. Als einzige »Tat« erscheint der Fürstensturz, obwohl gerade die republikanische Regierungsform mit dem Sozialismus nicht das geringste zu tun hat.

Dies alles beweist, daß der »vierte Stand« – im tiefsten Sinne eine Negation – im Gegensatze und als Gegensatz zum übrigen Volke nicht aufbauend wirken kann. Es beweist, wenn dies die sozialistische Revolution war, daß das Proletariat nicht ihr vornehmster Träger ist. Mag kommen, was da will, diese Frage ist unwiderruflich entschieden. Die Klasse, welche Bebel für die Entscheidung herangezüchtet hatte, hat als Einheit versagt. Für immer, denn die verlorne Schwungkraft läßt sich nicht wiedererwecken. Eine große Leidenschaft ist durch Erbitterung nicht zu ersetzen. Und die Verfechter des gestrigen Programms mögen sich nicht täuschen: sie werden den wertvollen Teil der Arbeiterschaft unwiderruflich verlieren und aus Führern einer großen Bewegung werden sie eines Tages zu wortreichen Helden von Vorstadtkrawallen gesunken sein. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt.

5.

Das also war die große, seit Generationen verkündete, besungene, angedichtete deutsche Revolution – ein Schauspiel von einer so fürchterlichen Ironie, daß es des Abstandes von Jahrzehnten bedarf, bevor sie dem Deutschen fühlbar wird, eine Revolution, die das umwarf, was sie wollte und nun will, ohne zu wissen was.

Betrachtet man von dieser künftigen Höhe aus die drei Revolutionen, die ehrwürdige, die großartige, die lächerliche, so läßt sich sagen: Die drei spätesten Völker des Abendlandes haben hier drei ideale Formen des Daseins angestrebt. Berühmte Schlagworte kennzeichnen sie: Freiheit, Gleichheit, Gemeinsamkeit. Sie erscheinen in den politischen Fassungen des liberalen Parlamentarismus, der gesellschaftlichen Demokratie, des autoritativen Sozialismus: scheinbar ein neuer Besitz, in Wahrheit nur die äußerste reine Gestaltung des unveränderlichen Lebensstils dieser Völker, jedem ganz und allein eigen und keinem andern mitteilbar. Antike Revolutionen stellen lediglich den Versuch dar, eine Lebenslage zu erreichen, in der ein in sich ruhendes Dasein überhaupt möglich und erträglich ist. Trotz der Leidenschaftlichkeit des äußeren Bildes sind sie sämtlich defensiver Natur. Von Kreon bis herab zu Spartacus hat niemand daran gedacht, über die eigne Not des Augenblicks hinaus sich für eine allgemeine Neuordnung der antiken Daseinsbedingungen einzusetzen. Die drei großen Revolutionen des Abendlandes aber entrollen eine Machtfrage: Ist der Wille des einzelnen dem Gesamtwillen zu unterwerfen oder umgekehrt? Und man ist entschlossen, die eigne Entscheidung der ganzen Welt aufzuzwingen.

Der englische Instinkt entschied: die Macht gehört dem einzelnen. Freier Kampf des einen gegen den andern; Triumph des Stärkeren: Liberalismus, Ungleichheit. Kein Staat mehr. Wenn jeder für sich kämpft, kommt es in letzter Linie allen zugute.

Der französische Instinkt: die Macht gehört niemand. Keine Unterordnung, also keine Ordnung. Kein Staat, sondern nichts: Gleichheit aller, idealer Anarchismus, in der Praxis immer wieder (1799, 1851, 1871, 1918) durch den Despotismus von Generalen oder Präsidenten lebensfähig erhalten.

Beides heißt Demokratie, aber in sehr verschiedener Bedeutung. Von einem Klassenkampf im marxistischen Sinne ist nicht die Rede. Die englische Revolution, die den Typus des unabhängigen, nur sich selbst verantwortlichen Privatmannes hervorbrachte, bezog sich überhaupt nicht auf Stände, sondern auf den Staat. Der Staat wurde, weltlich wie geistlich, abgeschafft und durch den Vorzug der Insellage ersetzt. Die Stände bestehen noch heute, allgemein geachtet, instinktiv auch von der Arbeiterschaft anerkannt. Die französische Revolution allein ist ein »Klassenkampf« aber von Rang-, nicht von Wirtschaftsklassen. Die wenig zahlreichen Privilegierten werden der gleichförmigen Volksmasse, der Bourgeoisie, einverleibt.

Die deutsche Revolution aber ist aus einer Theorie hervorgegangen. Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen. Der einzelne dient ihm. Das Ganze ist souverän. Der König ist nur der erste Diener seines Staates (Friedrich der Große). Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht. Dies ist, seit dem 18. Jahrhundert, autoritativer Sozialismus, dem Wesen nach illiberal und antidemokratisch, soweit es sich um englischen Liberalismus und französische Demokratie handelt. Es ist aber auch klar, daß der preußische Instinkt antirevolutionär ist. Den Organismus aus dem Geiste des 18. Jahrhunderts in den des 20. zu überführen – was man in einem ganz andern, spezifisch preußischen Sinne liberal und demokratisch nennen kann – war eine Aufgabe für Organisatoren. Die radikale Theorie aber machte aus einem Teil des Volkes einen vierten Stand zurecht – sinnlos in einem Lande der Bauern und Beamten. Sie gab dem überwiegenden, in zahllose Berufsstände gegliederten Teil den Namen »dritter Stand« und bezeichnete ihn damit als Objekt eines Klassenkampfes. Sie machte den sozialistischen Gedanken endlich zum Privilegium des vierten Standes. Im Banne dieser Konstruktionen zog man denn im November aus, um das zu erreichen, was im Grunde längst da war. Und da man es im Nebel der Schlagworte nicht erkannte, zerschlug man es. Nicht nur der Staat, auch die Partei Bebels, das Meisterwerk eines echt sozialistischen Tatsachenmenschen, durch und durch militärisch und autoritativ und eben damit die unvergleichliche Waffe der Arbeiterschaft, wenn sie dem Staat den Geist des neuen Jahrhunderts einimpfen wollte, ging in Trümmer. Das macht diese Revolution so verzweifelt lächerlich: sie brach auf, um ihr eignes Haus anzuzünden. Was 1914 das deutsche Volk sich selbst versprochen, was es bereits langsam, ohne Pathos zu verwirklichen begonnen hatte, wofür zwei Millionen Männer gefallen waren, wurde verleugnet und vernichtet. Und dann stand man ratlos, ohne zu wissen, was nun veranstaltet werden sollte, um sich selbst das Vorhandensein einer fortschreitenden Revolution zu beweisen. Es war sehr nötig, denn der Arbeiter, der etwas ganz andres erwartet hatte, schaute mißtrauisch auf, aber mit dem täglichen Ausrufen der Schlagworte in die leere Luft hinein war es nicht getan.

6.

Und so richtete der unentwegt liberale Michel den gestürzten Thron wieder auf und setzte sich darauf. Er war der gutmütige Erbe des Narrenstreichs, von ganzem Herzen antisozialistisch und deshalb den Konservativen wie den Spartakisten gleichmäßig abgeneigt, voller Angst, daß beide eines Tages ihr Gemeinsames entdecken möchten. Karl Moor im Klubsessel, der alle Interessenjäger, auch die fragwürdigsten, freisinnig duldete, vorausgesetzt, daß das republikanisch-parlamentarisch-demokratische Prinzip gewahrt blieb, daß man reich an Worten, maßvoll im Tun war, und daß Kühnheit, Entschlossenheit, disziplinierte Unterordnung und andre Zeichen von Autoritätsbewußtsein sorgfältig aus seiner Nähe entfernt blieben. Zu seinem Schutze berief er die einzige Entdeckung der Novembertage, bezeichnenderweise einen Soldaten von echtem Holze, und hegte nun wieder tiefes Mißtrauen gegen den militärischen Geist, ohne den die Farce von Weimar ein schnelles Ende erreicht haben würde.

Was aber hier geleistet wurde an Denken, Können, Haltung, Würde, genügt, um den Parlamentarismus in Deutschland für immer zu richten. Unter dem Symbol der schwarz-rot-gelben Fahne, die damit endgültig lächerlich geworden ist, wurden alle Torheiten der Paulskirche erneuert, wo die Politik ebenfalls keine Tat, sondern ein Geschwätz, ein Prinzip gewesen war. Der Mann von 1917 war auf dem Gipfel: sein Waffenstillstand, sein Völkerbund, sein Friede, seine Regierung. Michel lüftete lächelnd die Mütze in der Erwartung, daß John Bull großartig sein würde und unterschrieb, eine Träne im Augenwinkel, als er es wirklich war und das rasend gewordne Frankreich als seinen Geschäftsführer vorschickte.

Im Herzen des Volkes ist Weimar gerichtet. Man lacht nicht einmal. Der Abschluß der Verfassung stieß auf absolute Gleichgültigkeit. Sie hatten gemeint, der Parlamentarismus stehe am Anfang, während er selbst in England im raschen Niedergang begriffen ist. Da ihnen Opposition als das Zeichen parlamentarischer Hoheit erschien – obwohl allerdings das englische System starke Individualitäten voraussetzt, die sich auf zwei uralte, einander bedingende Gruppen verteilen, von starken Individualitäten bei uns aber keine Rede war –, so trieben sie unentwegt Opposition gegen eine Regierung, die gar nicht mehr vorhanden war: das Bild einer Schulklasse, wenn der Lehrer fehlt.

Diese Episode ist der tiefsten Verachtung der Zukunft gewiß. 1919 ist der Tiefpunkt deutscher Würde. In der Paulskirche saßen ehrliche Narren und Doktrinäre, weltfremd bis zum Komischen, Jean Paul-Naturen; hier aber fühlte man verschmitzte Interessen dahinter. Es macht keinen Unterschied, ob es sich um Düpierte oder Einverstandene handelt. Diese Parteien verwechselten das Vaterland allzuoft mit dem Vorteil. Wir erleben eine Direktorialzeit vor dem Thermidor. Wehe, wenn wir das übersprungene Stück nachholen müssen! Daß dies verlogene Schauspiel einer nicht geglückten und nicht beendeten Revolution ein Ende nimmt, ist sicher. Draußen bereitet sich ein neuer Akt des Weltkrieges vor. Man lebt heute schnell. Während die Nationalversammlung, ein verschlechterter Reichstag, aus den Trümmern des zerstörten Staates eine Hütte zusammenflickt, in der Schiebertum und Wucher mit Löhnen, mit Waren, mit Ämtern bald die einzige Beschäftigung sein werden, beginnen andre über das letzte Jahr anders zu denken. Sie vergleichen, was da gebaut wird, mit dem, was einmal da war. Sie ahnen, daß ein Volk in Wirklichkeit niemals zwischen verschiedenen Staatsformen zu wählen hat. Wählen läßt sich nur die Verkleidung, nicht der Geist, das Wesentliche, obwohl die öffentliche Meinung beständig beide verwechselt. Was man in eine Verfassung hineinschreibt, ist immer unwesentlich. Was der Gesamtinstinkt allmählich daraus macht, darauf kommt es an. Das englische Parlament regiert nach ungeschriebenen, aus einer alten Praxis entwickelten und oft sehr wenig demokratischen Gesetzen und eben deshalb mit so großem Erfolg.

7.

Aber man täusche sich nicht: die Revolution ist nicht zu Ende. Ob sinnlos oder nicht, ob gescheitert oder verheißungsvoll begonnen, ob der Auftakt einer Weltrevolution oder eine bloße Auflehnung des Mob in einem einzelnen Lande, es ist eine Krise im Gange, die wie alles Organische, wie eine Krankheit, einen mehr oder weniger typischen Verlauf nimmt, der sinnwidrige Eingriffe nicht duldet. Ethische Worte, wie gerechte Sache oder Verrat, sind der Tatsache selbst gegenüber wertlos. Man muß, als Revolutionär wie als Gegenrevolutionär, Menschenkenner sein, eiskalt und überlegen alle Faktoren des Augenblicks berechnen, das psychologische Feingefühl der alten Diplomatie statt auf Diplomaten- und Fürstenseelen auf die viel schwerer zu durchschauende, auf einen Taktfehler viel gereizter antwortende Massenseele anwenden. Volksführer mit geringer Intelligenz pflegen darin eine unfehlbare Sicherheit zu besitzen. Unsere Volksführer verdanken ihren Mangel an Instinkt vielleicht gerade ihrer echt deutschen Gründlichkeit der theoretischen Schulung. Man muß die Dauer, das Tempo, die Schwingung, das Crescendo oder Decrescendo jeder Phase unbedingt kennen. Wer sich einmal vergreift, hat die Entscheidung aus der Hand verloren. Aber man muß auch wissen, was man entscheiden kann und was man laufen lassen und erst im Verlauf aus größeren Gesichtspunkten ausnützen oder unmerklich in eine andre Richtung biegen muß. Revolutionäre großen Stils besaßen immer die Taktik großer Feldherrn. Die Stimmung einer Stunde entscheidet über den Sieg einer Armee. Der Doktrinär wird sich gern mit dem Anfang von Revolutionen beschäftigen, wo die Prinzipien klar und hart aufeinanderstoßen; der Skeptiker studiert ihr Ende. Es ist nicht nur wichtiger, es ist auch psychologisch lehrreicher. Die Verhältnisse lagen nie so kompliziert wie heute. Der Ausbruch der Revolution war gleichzeitig die Auslieferung des Landes an den Feind. Das hat, im Gegensatz zu allen andern Ländern, bei uns die gefühlsmäßige Stellung zum Marxismus von einem mächtigen Faktor ganz andrer Art abhängig gemacht. Vaterland und Revolution waren 1792 identisch, 1919 sind es Gegensätze. Jede neue Phase vollzieht sich unter dem Druck einer feindlichen Kombination. Die englische Revolution spielte sich auf einer Insel ab; die französische behielt dank ihrer Tapferkeit im Felde die Entscheidungen in der Hand. In der deutschen Revolution aber zählen Paris, London und Newyork mit, nicht mit ihren Arbeiterbewegungen, sondern mit Truppen, die sie marschieren lassen, wenn die deutsche Revolution eine ihnen nicht erwünschte Form annimmt. Die Marxisten haben es so gewollt und müssen nun damit rechnen. Außer den Handgranaten des Spartakusbundes und den Maschinengewehren der Reichswehr ist noch die französische Besatzungsarmee und die englische Flotte da. Das heroische Bolschewistengerede in den Zeitungen und die tägliche Niedermetzelung der westlichen Kapitalisten durch Leitartikel und Lügentelegramme ersetzen eine revolutionäre Front mit schwerer Artillerie noch lange nicht. Je mehr man die Weltrevolution predigt, desto ungefährlicher wird sie. Schon der Ton dieses Geredes verrät mehr Ärger als Zuversicht und schließlich hatten ja auch die russischen Revolutionäre nicht die Feigheit vor dem äußeren Feind an die Spitze ihres Programms gestellt. Und man vergesse doch auch nicht, daß die Beteiligung am Novemberaufstand bei vielen nicht aus Begeisterung für irgendein Programm, sondern aus Verzweiflung, aus Hunger, aus der nicht länger zu ertragenden Anspannung der Nerven hervorging. Die Versailler Beschlüsse lassen den Kriegszustand fortdauern, aber wie lange wird man seine seelische Wirkung für statt gegen die marxistischen Ziele einstellen dürfen? Die Waffe des Generalstreiks ist abgenutzt. Das verlorene erste Jahr einer jungen Bewegung ist nicht nachzuholen, und auch das Schauspiel der Nationalversammlung kann wohl gegen die Versammlung, aber nicht notwendig für die Sache ihrer kläglichen Schrittmacher einnehmen. Und endlich beachte man den rasch nahenden, jede Revolution innerlich abschließenden Zeitpunkt, wo das eigentliche Volk Ruhe und Ordnung um jeden Preis haben will und auch durch den stärksten Druck der revolutionären Minderheit nicht mehr zu bewegen ist, zu prinzipiellen Fragen Stellung zu nehmen. Diesen Zeitpunkt hinauszuschieben oder aufzuheben steht in niemandes Macht. Man vergleiche die in sozialistischen Schriften gern unterschlagenen Ziffern der Wählerbeteiligung bei den Jakobinerabstimmungen mit denen bei Einsetzung des Konsuls Bonaparte und man begreift: selbst das französische Volk hatte den revolutionären Zustand endlich satt. Die Geduld des deutschen Volkes wird schneller zu Ende sein.

Aber andrerseits: nicht nur die grundsätzlichen Anhänger, auch die grundsätzlichen Gegner jedes Umsturzes sind in Gefahr, sich zu irren. Eine tiefe, aber unbestimmte Enttäuschung ist von dem Entschluß der Verzichtleistung weit entfernt. Das Gefühl einer gescheiterten Erhebung, wie es heute in weiten Schichten besteht, ist wie eine offene Wunde, die keine Berührung erträgt. Was keine Anstrengung der Radikalen mehr vermag, würde der geringste Versuch der Gegengruppe, die Revolution gewaltsam zu beenden, sofort herbeiführen: eine wilde Erbitterung von ansteckender Kraft, die von entschlossenen Führern zu weittragenden Handlungen ausgenutzt werden kann. Der Gang der Ereignisse würde sich damit nicht dem Sinne und der Dauer, aber der Form und Stärke nach entscheidend ändern. Er könnte sehr blutig werden. Wir befinden uns heute in der Mitte der Bewegung mit jener unergründlichen Haltung der Massenseele, die auch in den andern großen Revolutionen den klügsten Kennern jähe Überraschungen bereitet hat. Verbirgt die gespannte Ruhe einen ungeschwächten Willen oder verrät der gereizte Lärm die Ahnung des endgültigen Mißerfolgs? Ist es für eine Aktion der Anhänger zu spät? Für eine Aktion der Gegner zu früh? Man weiß, daß Dinge, die zu einer gewissen Zeit nicht einmal berührt werden dürfen, zwei Jahre darauf von selbst fallen. Das galt 1918, das wird im umgekehrten Sinne aber auch in naher Zukunft gelten. Die Höflinge von gestern sind die Königsmörder von heute und die Königsmörder von heute die Herzöge von morgen. Niemand kann in solchen Zeiten für die Dauer seiner Überzeugung einstehen.

Aber mit welchen Zeiträumen ist hier zu rechnen? Sind es Monate oder Jahre? Der Kreislauf der deutschen Revolution steht, nachdem und wie sie einmal in Erscheinung getreten ist, in Hinsicht auf Tempo und Dauer fest. Mag niemand sie kennen, diese Faktoren sind trotzdem vorhanden in ihrer schicksalhaften Bestimmtheit. Wer sich in ihnen vergreift, geht zugrunde. Die Girondisten sind so zugrunde gegangen, weil sie den Gipfel der Revolution hinter sich, aber auch Babeuf, weil er ihn vor sich glaubte. Auch das Eingreifen neuer Kriege, auch das Erscheinen einer großen Persönlichkeit würden nichts ändern. Sie würden die welthistorische Erscheinung plötzlich und vollkommen umwandeln können – was für gewöhnliche Betrachter ja allerdings alles bedeutet –, den tiefern Sinn der deutschen Revolution würden sie in seiner Wesenheit nur bestätigen. Ein großer Mann ist derjenige, der den Geist seiner Zeit begreift, in dem dieser Geist lebendige Gestalt geworden ist. Er kommt, nicht um ihn aufzulösen, sondern zu erfüllen.

Woher dieser Geist des deutschen Sozialismus stammt, soll nun entwickelt werden.


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