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An einem Tage um Mitte September – der Vater war längst wieder zu Hause, hatte die Verwaltung seines Jungen gelobt und zu dessen Freude einige seiner Anordnungen dauernd übernommen – mußte Hinrich Lohmann ein ausgemästetes Kalb an die Bahn bringen, während er in langsamem Schritt die Straße dahinfuhr, wurde er kurz vor der Station von einem leichten Gefährt überholt, vorn saß Delmslohs August, der ein pfiffig-vergnügtes Gesicht machte, und hinten ein ältliches Frauenzimmer, das aussah wie ein gerupfter Vogel. Die spitze Nase, das scharfe Kinn, die welke Gesichtsfarbe, der altmodische Hut – kein Zweifel, das war der »Drache«. Der auf dem Bock befestigte Koffer ließ darauf schließen, daß er verreisen wollte. Gott sei Dank, dachte Hinrich, nun kriegt die kleine Nachbarin es für einige Tage oder Wochen besser.
Als der Zug mit dem ausgemästeten Kalb und dem ausgedörrten Drachen abgedampft war, trafen die beiden Wagenlenker sich in der Gaststube der nahen Wirtschaft. Der junge Bauer lud den Delmsloher Knecht, den er bei ähnlichen Gelegenheiten einigemal getroffen hatte, zu einem Glase Bier ein. Als sie Platz genommen hatten, fragte Hinrich: »Na, was wollten Sie denn heute an der Bahn?«
Augusts Gesicht, dem man's gleich ansah, daß es nicht in der Heide gewachsen war, verzog sich zu einem breiten Grinsen, und er sagte stolz: »Hab' den Drachen uff de Bahn jeliewert.«
»So? War er das wohl, der da hinten bei Ihnen auf dem Wagen saß?«
»Ja, det war er in seine janze Scheenheit,« grinste der Knecht.
»Und nun ist er verreist?«
»Ja, aber Retourbillet is nich! Den sind wir jlicklich los, und dadruff will ick mein Jlas mal leeren. Proscht!«
Sie stießen an, und Hinrich trank aus lauter Freude auch mit aus. »Noch 'n Paar!« rief er dem Wirt zu.
»Nun sagen Sie bloß, wie ist denn das gekommen, so außer der Zeit?« wandte er sich wieder an den Knecht.
»Dat will ick sie janz jenau verzählen, et is 'ne famose Jeschichte. Wissen Se, wat unser Freilein is, de is ja man noch jrin, und zuerst hat se viel in Bicher jelesen und jestickt und im Busch sick Blumen jejrapst, na, Se wissen ja wohl von selber, wie de Jöhren von vornehme Herrschaften ihre Zeit dodschlagen. Ooch uf de Drahtkommode klimperte se viel, wat se aus'n ff kann. Aber, soner drei Wochen is et her, da is det Kind wie ausjewechselt. Morjens immer die friehste bei de Arbeet und beim Zubettjehn de letzte. Dem Drachen war's jar nich recht, dat Freileinche sick for de Sache so bejeisterte, und wenn ihr wat schief jing – det kam nadierlich zuerst oft jenug vor – schimpfte er wie'n Koppral. Aber der kleine Racker – früher hatte er denn wohl geflennt, nu uff eenmal schittelte er det ab, wie de Ente det kihle Naß. Ick weeß nich, wie det jekommen is, aber det is jewiß, een janz anderer Jeist ist da hineinjefahren. Und nu heren Se zu, nu kommt de Jeschichte. Jestern mittag war's, da hatte der Drache uns wieder mal sone dinne jrine Erbsenbrihe jekocht, Fleisch war da for jeden nich mehr drin als die Spitze von meinem kleenen Finger. 'n Mensch, der dichtig arbeeten muß, kann da nadierlich nich mit hinlangen. Wie wer det so in'n Ojenblick runnerjemurkst haben, kimmt det kleene Freilein, kuckt uns so helle an – o, Se sollten se man kennen, janz verdeibelt kann se kucken – und fragt: ›Na, seid'r alle satt?‹ Da jrinst der zweete Knecht, wat'n janzen Hauptkerl is, ihr an: ›Jo satt as'n Löwe, de'n Mus upfräten hett.‹ Wir annern jrinsen ooch. Da fragt Freileinchen janz ernsthaft: ›Macht der Mann dumme Witze, oder seid ihr wirklich nicht satt?‹ Da sagt unsere Trina, die immer jut mit ihr jekonnt hat: ›Oh, Fräulein, 'n beten kunn dat woll noch lieden‹ ›,Na, denn wartet mal einen Augenblick,‹ und weck is se. Und jleich is se auch wieder da, und wat hatse in de Hand? Eine feine Mettwurst, ick lije nich, so lang und so dick als mein Arm. Und ratsch, ratsch, ratsch hat se die in so viel Sticke jeschnitten, als wir Leite am Tisch sitzen, und jeder kriegte een Stick so lang wie mein Daumen is. Jloben Se mir, de schmeckte aber ... Aber nun kimmt det Malör. Der olle Drache steckt seinen spitzen Jiebel in de Dir und will sehen, ob wir noch nich abjejessen haben. Wir Kerls machten uns ja nicht so ville aus ihr, aber de Frauenzimmer jagte se denn immer jleich wieder an de Arbeet. Da kriegt se zu sehen, wat passiert is ... Erst denke ick, se schlägt hin und haucht ihren Jeist aus, aber det jeht noch eben jut. Aber de Hände schlägt se iber den Kopp zusammen und schreit immer wieder: ›Oh, meine Mettwurst, meine scheene Mettwurst, die Leute essen meine allerscheenste Mettwurst!‹ Aber de wurde durch det Jebrill nich wieder heil, eins-zwei-drei war se runtergewirgt. Von det Jeschrei wird denn der Herr munter, der sich jerade uffs Ohr jelegt hatte, kimmt rein und sagt: ›Donnerwetter, Frau Wacker, wat is denn bloß mit Ihrer scheenen Mettwurst passiert?‹ ›Oh, Herr Riewitz,‹ heilt det Weib, ›denken Se bloß, Else hat unsere allerscheenste Mettwurst kaput jeschnitten und den Leuten jejeben. Und es war die allerbeste und sollte für janz feinen Besuch bleiben.‹ ›Aber Kind, wie kannst du denn so was machen?‹ fragte der Herr. ›Ich habe ihr heute morgen schon gesagt‹ sagte der junge Racker dreist, ›sie sollte mehr Fleisch in die Suppe tun, die Leute kennten damit nicht aus. Aber das wollte sie nicht. Und nun habe ick die Leute jefragt, ob sie satt wären, und da sagten sie nein. Aber hungern sollen die Leute in unserem Hause nicht, satt werden sollen sie, und wenn's nicht anders ist, von Frau Wacker ihrer allerscheensten Mettwurst!‹ ›Wart ihr nicht satt?‹ fragte der Herr nu uns. ›Nä, nä,‹ riefen wir alle aus einem Halse, weil's die pure Wahrheit war und w'r auch unserem Freileinchen unter de Arme jreifen mußten. ›Seid ihr öfter nicht satt jeworden?‹ fragte der Herr mir. ›Det war man oft hellschen knapp,‹ sagte ick. ›Na, Frau Wacker,‹ sagte er zu det Minsch, ›da heren Se's; unter diesen Umständen kann ich meiner Dochter nich so janz unrecht jeben. Aber, Else, die allerbeste Mettwurst brauchtest du ooch nich jrade zu nehmen!‹ ›Die anderen,‹ jibt die nu wieder, ›waren zu klein. Davon konnten die Leite nich satt werden. Überhaupt, Papa, wir missen diese Tage schlachten, damit wir wieder ordentliches Fleisch ins Haus kriejen. Und dichtig missen wir diesen Winter einschlachten, so jeht das nich weiter!‹ ›Wenn ick so behandelt werde,‹ sagte de olle Jans, jelb und jrin vor Ärjer, ›und wenn dat dumme Jöhr im Haushalt kummandieren soll, bin ick ja iberflissig. Denn kann ick heute nachmittag ja man packen und morgen abreisen. Undank ist der Welt Lohn!‹ Da wollte unser Herr schon jute Worte jeben, aber da springt det Freilein zwischen de beiden und sagt: ›Papa, ich bitte dich um Gottes willen, laß sie ruhig reisen! So lange det Mensch hier im Hause herumwitet, kennen wir niemals gute Dienstboten halten, und eine Niedertracht und Jemeinheit is et, Leite, die sich for einen quälen, hungern zu lassen. Wenn sie bleibt, jehe ick. Ick will diese Wirtschaft nicht länger mit ansehen. Vater, versuch's mal, ob ich dir nicht schon den Haushalt führen kann! Vor einem Vierteljahre war ich noch ein dummer Backfisch, heute bin ich's nicht mehr. Frau Wacker,‹ und dabei trapste se mit ihr Fießchen uf de Fliesen, ›ick bin keen dummet Jöhr mehr; ick verbitte mir det von Sie!‹
Oh, Lohmann, Se hätten se sehen müssen, wie se so dastand, nix als Füer und Fett, wie de Leite hier sagen, wie 'ne Kenigin stand se da, wie 'ne junge Lewin. Det jlaube ick jewiß, wenn det so'n seiner Herr, 'n Leitnant oder so wat, mit anjesehen hätte, der hätte sich stantepeh in ihr verliebt.
Na, und det Jespenst, det drehte sick um und jing in seine Hehle. Und da jing det Jepacke und Jepolter los. Und nun hab' ick 't jlicklich abjeliefert. Nich eenen Jroschen Trinkgeld hat mer det Lork jejeben. Na – ick pfeif' druff, de Hauptsache is, dat wir ihr los sind. Nun werden woll wieder bessere Zeiten for Delmsloh kommen. Unser Herr ist im Grunde so unrecht nich. Trina, de sonst weck wollte, hat nun ooch ihren Dienst verlänjert und will unserm Freilein dichdig helfen. Und denn wird die Jeschichte schon jut jehen, wenn se auch man noch jung is. Det haben wir ja jesehen, se ist eene, de in de Welt paßt.«
Nach dieser langen Erzählung stärkte sich August mit einem guten Schluck und sah hastig nach der Uhr. Es wurde höchste Zeit für ihn. Mit einem halben Dutzend Zigarren beschenkt, verließ er sehr vergnügt das Gastzimmer.
Auch Hinrich begab sich bald zu seinem Wagen, um nach Hause zu fahren. Bald saß er, bald stand er. Dann pfiff er ein Liedchen oder klatschte lustig mit der Peitsche. Dann wieder schaute er sinnend in die Heideweiten.
Auf einmal fiel ihm der Titel eines Gedichts aus der Schulzeit ein: »Der Kampf mit dem Drachen.« Er lachte hell auf. Ja, den hatte die kleine Nachbarin glücklich bestanden. Er konnte sich ganz gut vorstellen, wie sie da vor dem bösen Feind gestanden und was für Augen sie dabei gemacht hatte. Er hatte ja selbst eine ähnliche Szene mit ihr verlebt.
Seit drei Wochen hatte August die große Veränderung an ihr bemerkt. Das stimmte ja ganz genau. Gestern vor drei Wochen hatte er im Busch ihr die Lektion gegeben, und heute vor der gleichen Zeit war sie bei seiner Mutter zu Besuch gewesen. Er nickte befriedigt vor sich hin. Daß sie durch ihre Kinderalbernheit nun hindurchgedrungen und ein so vernünftiges und resolutes Mädchen geworden war, das konnten er und seine Mutter sich als Verdienst zurechnen. Die Gedichtbücher und die Nachtigallen, und auch der Drache und der Papa hätten das nicht fertiggebracht. Er hatte das Gefühl eines Mannes, dem ein sehr schweres Erziehungsstück sehr gut gelungen ist. Als er an Delmsloh vorüberfuhr, kam es ihm vor, als hätte er durch sein kluges rechtzeitiges Eingreifen den Hof und seine Bewohner vom Untergang gerettet.
Nun begriff Hinrich auch, warum er sie nachher niemals mehr im Busch getroffen hatte. Sie hatte jetzt wichtigeres zu tun. Sie packte nun doch mit ihren kleinen Händen das Leben fest an. Und das war ja auch gut. Aber daß sie nun wahrscheinlich ihr Lieblingsplätzchen im Walde gar nicht mehr aufsuchte, war eigentlich doch schade, sehr schade. – –