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Zwei Eilande ragen aus der Nordsee in der Entfernung von einer halben Meile empor. Das eine, dessen starker granitner Fuß, jählings abfallend, in der Tiefe wurzelt, ist mit fruchtbarer Erde und dichten Waldbäumen bedeckt. Unter den hohen Tannen liegt ein einsames Haus, von blühenden Beeten umgeben, weshalb es die Küstenleute von weit und breit den Garten nennen. Ein alter Seemann wohnte hier unlängst, der von langen Seezügen ermüdet, die ersehnte Heimat unter diesem Dache fand. Jetzt deckt ihn die kühle Erde und Jerta, seine jugendlich-schöne Tochter, geboren unter einem südlichen Himmel, wartet des Grabes.
Das zweite Eiland, lang und öde in die See hineingestreckt, mit einer abgeplatteten Oberfläche, hat in seinen äußeren Umrissen die Gestalt eines Sarges. Es ist kein Aufenthalt der Glücklichen. Kein Vogel nistet dort, wo kein Baum, kein Strauch ihm seine Jungen schirmt. Der Mensch allein hat auf diesem unfruchtbaren Stein seine Hütte erbaut; aber ihre Tür öffnet sich keinem glücklichen Gaste. Wer hier seine Einkehr hält, ist bereits einem traurigen Schicksal verfallen.
Auf dem äußersten Vorsprung der Insel liegt eine starke gemauerte Schanze. Sie ist mit Kanonen besetzt und in der Mitte derselben steht eine Flaggenstange. Wehe dem Schiffe, das sich dieser öden Klippe naht, wenn von jener Stange eine bleichgelbe Flagge weht. Sie ist das Zeichen der Pest. Dies Eiland ist der letzte Zufluchtsort der Hoffnungslosen, welche die Welt ausstieß.
Wenn aber von der hohen Stange die gelbe Flagge nicht abweht, dann ist zwischen dem Garten und dem Sarge ein zeitweiliger Verkehr. Der Quarantänevogt ist ein vom Unglück verfolgter Schiffer, der von der See nur einen siechen Körper heimbrachte und hier eine ärmliche Versorgung fand. Er wurde dem Kapitän des Gartens lieb und beide besuchten sich öfters. Mit den Vätern kamen auch die Kinder zusammen, und Jerta hatte stets einige Blumen oder Beeren in ihrem Körbchen, die Osrick auf seiner kahlen Klippe sonst nicht zu sehen bekam. So fanden sich die Kinder in unschuldiger Neigung zusammen und diese wuchs mit den Jahren zur innigsten Liebe.
Jertas Vater war hinübergeschlummert und hatte ihr die an fremden Küsten erworbenen Schätze hinterlassen. Der Quarantänevogt blieb vereinsamt auf seinem Sarge. Osrick, der schnell heranwuchs, wurde von einer unbezwinglichen Begier auf die See hinausgetrieben. Ihm war es, als müsse er das Glück aufjagen und an sich fesseln, das den armen Vater sein Lebenlang neckte und irreführte. Oft, wenn der junge Seemann, von kurzen Seereisen heimkehrend, zu dem Garten emporstieg, bat ihn Jerta mit Tränen in den Augen, sich mit dem begnügen zu lassen, was sie besäße und mit ihr nach dem reichen Süden zu ziehen, der ihre eigentliche Heimat war. Aber Osrick vermochte nicht von seinem Vater zu lassen und wollte nicht aus Jertas Händen empfangen, was er dem eigenen Verdienste zu danken hoffte, um ihrer würdig zu sein. So schieden sie stets mit kummerbelasteten Herzen.
Jetzt waren zwei Jahre vergangen, ohne daß sie den Gespielen ihrer Jugend sah. In einem Briefe hatte er es ihr angezeigt, daß er ein großes Glück gemacht habe. Er war zum ersten Offizier einer Kauffahrteibrigg emporgestiegen. Auf einer langen und gefahrvollen Reise war der Kapitän erkrankt und gestorben. Als er dem Eigner der Brigg Schiff und Ladung unversehrt übergab, fand dieser an dem jungen, frischen Seemann ein solches Gefallen, daß er ihm sofort das Kommando dieses schönen Schiffes antrug. Osrick jubelte laut auf und steuerte mit tausend rosigen Hoffnungsträumen seiner neuen Bestimmung entgegen.
Jerta saß auf einer Steinbank, die auf der äußersten Spitze des Gartens errichtet war. Neben ihr stand Skuld, eine blühende, junge Nordländerin. Sie war mehr Gespielin, als Dienerin. Die Blicke der jungen Herrin schweiften längs des Horizontes. Sie beugte sich vornüber und die Gespielin zog sie erschrocken zurück und rief:
»Siehst du nicht die Brandung unter dir? Wie leicht faßt dich ein Schwindel und du stürzest hinab in die Tiefe.«
»Fürchtest du dich vor der brandenden See und bist eine Tochter des Nordens?« fragte Jerta lachend. »Ich bin im Süden geboren, wo die goldenen Äpfel an immergrünen Bäumen reifen, und fürchte sie nicht, sie ist mir von Jugend auf treu gewesen und hat mich oft auf ihren Wellen gewiegt. Sie wird auch jetzt meine Bitten erhören und mir meinen Osrick bringen.«
»Sie wird es,« antwortete Skuld. »Aber sie tut es erst dann, wenn sie ihn mit ihren Armen zu fassen vermag. Wer weiß, wo der Ruhelose jetzt weilt, woran er denkt und was er treibt. Die Menschen werden anders, wenn sie es zu etwas bringen und Osrick ist ein vornehmer Kapitän geworden.«
»Ich bin dir böse, weil du mir den Freund verdächtigen willst,« sagte Jerta und eine Wolke des Unmuts flog über ihre Stirn. »Aber es gelingt dir nicht.«
Sie sah der Freundin in das treue Auge und fuhr fort:
»Nein, ich zürne dir nicht, da ich weiß, daß du diesen Zweifel nur aussprichst, um meine Sehnsucht zu mildern, denn du siehst wohl, daß sie mich verzehrt.«
Die beiden Jungfrauen umarmten sich und Jerta sagte, durch Tränen lächelnd, nach einer Weile:
»Wenn mein Osrick aus dem schönen Süden heimkehrt, dann sollen auch für dich Freudentage anbrechen. Ich habe es wohl gesehen, daß Ole Steen, wenn er mit einer Botschaft von dem Sarge herüberkommt, nur Augen für dich hat. Und du, Schelmin, siehst das Boot, welches ihn trägt, immer zuerst, wenn es auch noch so weit entfernt ist. Osrick wird auf seinem Schiffe einen Platz für den schmucken, jungen Matrosen haben, und du ziehst dann mit mir in die blumenduftigen Täler, wo die Sterne golden blinken und die See vom Purpur widerstrahlt.«
»Wer weiß, wo diese Blumentäler liegen und wo die goldenen Äpfel reifen, womit du mich laben willst,« erwiderte Skuld mit einem trüben Lächeln. Dabei fiel ihr Blick auf den steinernen Sarg, über den gerade eine dunkle Wolke hinzog, sie schauerte zusammen und ging dem Hause zu.
Jerta aber blickte unverwandt auf die See. plötzlich deckte ein flammendes Rot ihre Stirn und sie schrie laut auf:
»Ein Segel! Er ist es!«
Dann aber hatte sie es wieder aus den Augen verloren und konnte es in der auf- und abwogenden Flut nicht wiederfinden, wie scharf sie auch umherblickte.
Es war auch kein Segel gewesen, sondern das Blinken einer zusammenbrechenden Welle, über welche eine Möve hinstrich, die von dem letzten Schimmer des Abends angestrahlt wurde.
Wo waren Osrick und sein gutes Schiff, nach welchen Jerta sich so sehnte? Keine Kunde kam davon nach diesen entlegenen nordischen Inseln. Der Quarantänevogt ging ungeduldig auf seinem Felsen hin und her. Jede Mahnung, die von Jerta an ihn gelangte, wies er mürrisch zurück. Aber im innersten Gemüt war er tief bekümmert, daß er keinen Trost hatte für die liebende Jungfrau.
Da liegt die Mittellandssee im vollen Glanze vor uns. Von fern herüber winkt das schwarze Meer und die mächtige Halbinsel, welche zwischen beiden ruht, ist das feueratmende Natolien. Die langgestreckten Gebirgsketten des Taurus und Antitaurus durchziehen es und über die stolzen Kuppen ragt der dreizehntausend Fuß hohe Argäus wie ein Riese in den klaren Morgenhimmel hinauf.
Eine Brigg, schmuck getakelt und handlich zu steuern, schießt mit vollen Segeln in die weite Seebucht hinein, welche man das Smyrnaer Meer nennt und steuert der Mündung des Meles zu, an dessen Ufern, einen Berg hinaufsteigend, die reichste Handelsstadt des Orients, das goldene Ismir, welches die europäischen Seefahrer Smyrna nennen, sich ausbreitet. Da liegt das stolze Handelsimperium der Levante, mit seinem von Schiffen strotzenden Hafen, seinen hunderttausend buntgemischten Einwohnern, die den Wert der von ihnen im Laufe eines Jahres versendeten Waren nach Millionen berechnen.
Ein buntes Gewimmel ist in diesen engen, sich zu einem kaum zu entwirrenden Labyrinth verkettenden Straßen. Türken, Griechen, Armenier, Juden und Franken streichen rastlos aneinander vorüber. Alle, die hier wandern, sind verschieden in Glauben, Sitten und Gewohnheiten und jagen nur einem Phantom nach – dem Gewinn. Es strömt herab aus dem hochgelegenen Türkenquartier, es stürmt hinauf aus dem untern Teil der Stadt, wo die Griechen und Armenier wohnen; es prallt aufeinander, sich drängend und stoßend, sich gegenseitig verwünschend, von dem Hafen nach der Börse, von der Börse nach dem Hafen sich fortwälzend, sich beneidend und anfeindend und wo es irgend möglich, sich ein Bein stellend. Zwischen ihnen durch schreitet der Franke, der aus seinem Quartier, wo luftige Häuser in regelmäßigen Straßen stehen, in das fortbrausende Gewühl tritt. Er sieht mit einem Blicke der Überlegenheit auf die verwahrlosten Kinder des Orients herab. Ernst besorgt er seine Angelegenheiten und kehrt dann wieder nach dem Frankenquartier zurück, an dessen stattlichsten Häusern die Wappen der Konsuln prangen, von deren Dächern die Flaggen der Souveräne wehen, deren Stellen sie hier vertreten und die Gerechtsame der Menschen wahrnehmen, die von ihrem Vaterlande an diese Küste verschlagen sind.
Auf eines dieser Häuser, dessen Portal mit dem Wappen einer hohen nordischen Macht geschmückt ist, schreitet ein junger Mann in seemännischer Tracht zu. Seine blauen Augen glänzen hell und sein goldblondes Haar ringelt in natürlichen Locken auf die Schultern herab. Es ist der Kapitän der schmuckgetakelten Brigg, die den Meerbusen von Smyrna durchschnitt und seit einer Stunden wohlbehalten vor Anker liegt. Der Offizier wird mit freundlicher Gastlichkeit empfangen und kehrt nach einiger Zeit mit den besten Versprechungen an Bord seines Schiffes zurück. Nachdem er seine Befehle erteilt, steigt er in die Kajüte hinab und steht vor einem Gemälde still, welches einen Teil der Rückwand einnimmt. Das ist die Nordsee, die dort auf- und abwogt und die Eilande, woran sie aufbrandet, sind der Garten und der Sarg. Träumend steht er vor diesem Bilde und sagt vor sich hin:
»Noch diese Reise und wir werden uns wiedersehen, teure Jerta!«
Der neue Tag bricht an. Am Bord der Brigg ist ein reges Leben. Die Luken, die in den Raum führen und gegen Regen und Seewasser wohl verschalkt sind, werden geöffnet. Der Ladebaum ist aufgerichtet, die schweren und leichten Takeln werden daran befestigt. Die Stunde der Entlöschung ist gekommen und da die Brigg bereits für eine neue Fracht gewonnen ist, arbeitet sie mit doppelter Mannschaft, um den Raum freizumachen. Endlich, mit dem Schlusse des dritten Tages, ist das eine Werk getan und das andere kann mit dem nächsten Morgen beginnen.
Der Kapitän und seine Offiziere entwickeln eine energische Tätigkeit. Die Mannschaft, durch Beispiel und lockende Versprechungen angefeuert, will nicht zurückbleiben. Noch drei andere Tage verstreichen und der größte Teil der neuen Güter befindet sich binnen Bords.
Endlich kommt der ersehnte Schluß: Kostbare Stoffe in aller Pracht und Farbenglut des Orients; die selteneren Früchte des Südens, die edelsten Gewürze. Der Duft, den sie ausströmen, wirkt fast betäubend. Als das letzte Stück unter Deck und wohl verstaut ist, gibt der Bootsmann den Befehl, die Luken zu dichten und alles seefest zu machen. Sie hasten sich ab, als sei die größte Gefahr im Verzuge. Noch zwei Tage verstreichen, während welcher die Papiere in Ordnung gebracht und die Lücken in der Proviantkammer ergänzt, die Wasserfässer gefüllt werden. Die Brigg ist segelklar und der Hafenmeister begibt sich an Bord. Aufrecht steht jeder bei seinem Werk und wartet der Order vom Halbdeck; – der erste Offizier steht am Steuerbord und hält seinen Lugaus nach dem Lande.
Von dort kommt das Konsularboot mit dem königlichen Wimpel. Der Konsul geleitet den jungen Kapitän selbst an Bord, und kaum hat dieser das Verdeck betreten, als der Anker auf und nieder gewunden wird und die Segel von den Rahen fallen. Die Marssegel werden gehißt; die Schoten der Untersegel fallen vor und durch die Mündung des Meles steuert die Brigg in den Meerbusen von Smyrna hinaus.
Fast eine Woche ist die Brigg draußen. Die Strecke, welche sie zurücklegte, ist eine geringe. Während der ersten Tage brisete es frisch und der silberne Schaum rauschte zu beiden Seiten des Buges hin. Aber nach dem vierten Tage schralte der Wind. Er ward schwächer und füllte nur noch die leichten Obersegel, während die schweren Untersegel zeitweise aufbauchten und dann klatschend an den Mast zurückschlugen.
Ein Leichtmatrose stand auf der Ankerwinde und pfiff. Der Bootsmann fuhr ihn deshalb an und der Junge erwiderte:
»Willn locken.«
»Wen willst locken?« fragte der alte Seefahrer. »Hast noch nicht gehört, daß wenn einer pfeift, ohne vorher seinen Morgensegen oder sonst etwas Geistliches herzusagen, er alles Unheil an Bord zusammenpfeift?«
»Weiß es, Bootsmann, und habe gebetet,« antwortete der Leichtmatrose. »Üb' immer Treu und Redlichkeit, sang des Vaters Nachbar am Morgen, als er abends unsere letzte Speckseite stahl und ich bete es ihm nach, weil es so geistlich klingt. Denke, die Brise wird kommen.«
»Ja! Sie wird kommen. Aber der Teufelsspuk mit ihr, weil du die Sprüche eines Speckdiebes betest.«
»Wie kann ein Teufelsspuk an Bord eines christlichen Schiffes kommen?« fragte der Leichtmatrose. »Beantwortet mir das, wenn Ihr es wißt.«
»Auf einem wohldisziplinierten Schiffe fragen die Offiziere und die Jungens antworten!« sagte der Bootsmann hochfahrend, da er keine andere Antwort wußte. »Herunter da von der Ankerwinde und tue sofort dein Werk.«
»Ich habe es schon getan!« antwortete der Leichtmatrose im Herabsteigen.
»Dann tue es nochmals und halte den Mund, sonst gibt es Hanfaale ohne Butter, aber aus Pfeffer und Salz!« schalt, sich entfernend, der Bootsmann und brummte vor sich hin:
»Diese grünen Jungens werden immer dreister. Man sollte die Schulmeister bei den Beinen aufhängen, weil sie ihnen so viele Gelehrsamkeit beibringen. Wie soll ich wissen, weshalb der Teufel sich mit dem Christentum zusammengibt? Aber daß es geschieht, will ich beschwören, und wenn er uns nicht das stehende und laufende Gut von oben herab auf die Köpfe wirft, so hämmert er zu unsern Füßen, bis er die Nägel aus dem Kiel gestampft hat und von unten auf an die Deckplanken schlägt.«
Der alte Seebär schauerte zusammen, als er diese Worte sprach. Er suchte seine Hängematte und sank in einen traumähnlichen Schlaf. Als er jäh aus demselben emporfuhr, vernahm er unter sich ein schwaches Hämmern. Er dachte an den Teufelsspuk, den er vorher dem Leichtmatrosen prophezeite, und eilte mit glühendem Gesichte auf das Verdeck. Hier hatte sich seit kurzem eine handliche Brise eingestellt. Die Brigg lief eine frische Fahrt. Der Leichtmatrose, der den Bootsmann kommen sah, rief ihm zu:
»Es ist noch eine Stunde, bevor Eure Wache beginnt, Herr. Wollt Ihr nicht wieder hinuntergehen? Ich rufe Euch zur rechten Zeit.«
Der Bootsmann schüttelte mit dem Kopfe und blieb.
Wäre er hinuntergegangen, so würde er das leise Hämmern abermals gehört haben. Durch eine Spalte der Scherwand, welche das Volkslogis von dem beladenen Zwischendeck trennt, schimmerte ein Licht.
»Wer ist so verwegen, in die Räume zu dringen, wo die Waren lagern, welche die Landesflagge deckt? Wer legt die Hand an die Ladung, die der Kapitän, soviel an ihm ist, schirmen und unversehrt heimbringen soll, bei Verlust von Ehre und gutem Leumund?«
Zwei Matrosen sind es. Kühne, wagehalsige Gesellen, die ein unbezwingliches Gelüst nach einer der Kisten tragen, deren Deckel mit einer Flasche bemalt ist. Den letzten Tag kamen sie an Bord und die Matrosen vermuten einen herzstärkenden Tropfen darin. Mit einem Brecheisen haben sie den Eingang in das Zwischendeck erzwungen. Die losgebrochene Planke wird leise angelegt und die Nachforschungen beginnen. Die Kisten, welche sie so emsig suchen, sind nicht aufzufinden. Der Steuermann hat sie zu schlau zu verstecken gewußt. Mit steigendem Verdruß kriechen sie von einem Winkel nach dem andern, fluchend über jede fehlgeschlagene Hoffnung. Da entdecken sie ein Faß und sind schnell mit dem Bohrer zur Hand. Knirschend frißt sich dieser durch das Holz und eine gelbe Masse drängt sich durch die Öffnung. Es ist nicht Wein, es ist Öl, das unaufhaltsam hervorquillt. Sie schreien laut auf und sehen sich starr in das Gesicht. Endlich fassen sie sich und suchen den angerichteten Schaden so wirkungslos als möglich zu machen. Während der eine mit seinem Daumen das Bohrloch schließt, wirft sich der andere auf einen Baumwollenballen, trennt die Hülle mit seinem Messer und dreht daraus einen Pfropfen, womit er die Öffnung verstopft. Das Öl hört auf zu fließen.
Die Schiffsdiebe atmen auf. Sie kriechen durch die losgebrochene Planke aus dem Zwischendeck, löschen die Laterne aus und schleichen sich nach ihren Hängematten. Es hat sie niemand bemerkt. Aber der Mann, der die Umhüllung von der Baumwolle abtrennte, beginnt zu zittern. Ein leises Frösteln rieselt über seinen Leib und schüttelt seine Knochen aneinander. Kalte Schweißtropfen treten ihm vor die Stirn. Ihm ist es, als atme er auch hier den erstickenden Geruch, der ihm aus dem Ballen entgegenströmte. Er will laut aufschreien, aber er vermag es nicht. Mit dumpfem Stöhnen sinkt er in seine Hängematte zurück.
Der Wind frischt auf und jagt die Brigg mit fliegender Eile vor sich her. Der Offizier der neu antretenden Wache mustert seine Mannschaft. Ihm fehlt einer. Es ist der Bursche, der den Pfropfen für das angebohrte Ölfaß drehte. Sein Gefährte tritt vor und sagt:
»Der Nils ist krank, Herr. Denke, es hat nicht viel auf sich. Morgen wird er wieder frisch sein. Aber in diesem Augenblick kann er nicht auf den Füßen stehen. Laßt ihn liegen, Herr. Ich werde seinen Turnus am Steuer aushalten.«
»Ich kenne den Nils,« entgegnet der Offizier. »Er ist ein liederlicher Bursche und hat sich betrunken. Wenn er morgen nüchtern ist, soll er seiner Strafe nicht entgehen.«
Die Nacht geht ruhig vorüber.
Am andern Tage fliegt die Brigg durch die Straße von Gibraltar und schießt hinaus in die spanische See. Der Offizier, der gestern einen Mann von seinem Wachtvolk vermißte, hat wieder den Dienst. Er mustert seine Leute und vermißt denselben Mann. Auf seinen Befehl läuft einer der Schiffsjungen in das Volkslogis, um ihn zu suchen. Nach wenigen Minuten kehrt dieser auf das Verdeck zurück, vorwärts getrieben von banger Furcht, alle Zeichen der Todesangst im Gesicht. Er stürzt zu den Füßen des Offiziers und ruft mit ängstlichbebender Stimme:
»Der Nils ist ganz schwarz geworden, seine Augen leuchten wie zwei glühende Kohlen.«
»Der Junge ist toll!« schilt der Offizier. Aber das Wort stirbt ihm auf der Zunge. Ein böses Ahnen fliegt ihm durch den Sinn. Da entsteht auf dem Vorderdeck ein augenblicklicher Tumult. Das ganze Wachtvolk ist dort versammelt und bildet einen unentwirrbaren Knäuel.
»Was gibt es da vorn?« ruft der Offizier, auf der Scheide des Halbdecks stehend.
»Pest an Bord!« hallt eine Stimme aus dem dichten Haufen zurück.
Wie ein Schrei des Verderbens fliegen diese Worte von einem Ende der Brigg bis zum andern. Das Wachtvolk zur Koje hört ihn und fliegt in der größten Verwirrung das Deck hinauf. Die Offiziere vernehmen es in ihren Kammern und Kapitän Osrick, der alsbald erscheint, fragt mit heller Stimme:
»Wer wagt es, ein so unbedachtes Wort auszusprechen?«
»Ich, Herr!« antwortet der Bootsmann, respektvoll vortretend. »Der Nils aus Stavanger ist davon befallen und hat soeben den Geist aufgegeben. Dachte wohl, daß ein Unheil über uns kommen würde, denn der Wind ist gottloserweise aus seiner Ruhe gepfiffen und dann kommt der Teufel allemal über ehrliche Christenmenschen und wirft sie nieder. Das hat uns der Türke auf den Hals gehetzt.«
»Schwatzt nicht solch unsinniges Zeug!« unterbricht ihn der Kapitän. »Wo ist der Tote?«
»Habe befohlen, ihn in seine Hängematte einzuschnüren und dann über Bord zu werfen. Aber die Kerle fürchten sich und wollen nicht Hand anlegen!« erwidert der Bootsmann. »Die Wahrheit zu gestehen, Herr,« sagt er leiser, »verdenke ich es ihnen nicht, denn es ist kein kleines Werk.«
»Feiges Volk seid ihr und einfältiges Gesindel dazu,« spricht Kapitän Osrick. »Wenn ihr euch fürchtet, einem von euren Maaten den letzten Dienst zu erweisen, so will ich es tun. Was scheltet ihr die Türken, da ihr doch dreimal größere Heiden seid als sie?«
Der Kapitän steigt nach diesen Worten in das Volkslogis herab. Der Bootsmann folgt ihm, indem er vor sich hinbrummt:
»Will mit ihm gehen, da ich nun doch einmal Deckoffizier bin und mir den Respekt nicht verkürzen darf. Aber es rieselt mir über den ganzen Leib und ich fühle kalte Tropfen auf der Stirn.«
Die Matrosen stehen mit bleichen Gesichtern und schlotternden Knien umher, als sie sehen, daß die Offiziere in das Zwischendeck hinabsteigen.
Es wird Abend. Der Matrose Nils wird über Bord gelantscht und sein Maat, der mit ihm den nächtlichen Raubzug bestand, fällt, vom Fieber geschüttelt, in die Knie.
Die Krankheit ist am Bord der Brigg heimisch.
Die Brise blieb günstig. Aber ein panischer Schrecken herrschte an Bord. Alle Bande der Ordnung waren gelöst. Nur mit Mühe hielten die drei Offiziere die Fahrt aufrecht. Einer von ihnen stand am Steuer; die beiden andern mühten sich mit der Stellung der Segel ab.
Das Volk rottete sich zusammen und sprach eifrig miteinander. Dann drangen sie in geschlossener Reihe zum Halbdeck vor. Kapitän Osrick trat ihnen mit gewaffneter Hand entgegen.
»Tut die Dinger weg, Herr,« rief der Zimmermann, der sich zum Wortführer aufschwang. »Es denkt kein Mensch daran, Euch ein Leides zu tun. Aber das Unglück, welches über uns gekommen ist, fordert, daß wir es zu bewältigen trachten, und ich denke, Ihr werdet einem vernünftigen Worte nicht abgeneigt sein.«
»Die Türken haben die Pest in unser Schiff gebracht. Bleiben wir an Bord, sind wir alle geliefert. Laufen wir irgendwo binnen, stellt man uns unter Quarantäne und wir sind nicht besser daran, denn der Giftstoff bleibt in unserer Nähe. Darum wollen wir uns davonmachen, solange wir noch gesund sind. Laßt uns das nächste Land andienen und mit den Booten landen. Jeder zieht dann des Weges, der ihm gefällt, und wir sind geborgen«.
»Und das Schiff? Und die Ladung?« entgegnete der Kapitän. »Und die Verantwortung, die mich trifft, wenn ich das alles nach eurem Rate treulos preisgebe?«
»Was kümmern uns Schiff und Ladung!« kreischte eine Stimme aus dem Haufen. »Erst kommen wir selbst und dann die andern, wollt Ihr unsern Vorschlag annehmen?«
»Das heißt,« antwortete der Kapitän Osrick rasch, »wollt Ihr ein ehrloser Schurke sein, der anvertrautes Gut dem Winde und den Wellen überliefert, um sein nacktes Leben zu retten? So mir Gott in meiner letzten Stunde gnädig sei, ich will es nicht.«
»Dann setzen wir Euch vom Kommando ab!« rief der Zimmermann entschieden. »Denke wohl, daß wir die Verantwortlichkeit dafür übernehmen können.«
»Der erste, der die Hand nach mir ausstreckt, ist des Todes!« sprach Kapitän Osrick kaltblütig und legte das Pistol an.
»Ihr tötet den ersten vielleicht, dafür drückt Euch ganz gewiß der Zweite die Kehle zu!« sagte der Zimmermann, »Packt an alle Mann zugleich.«
Die Masse stürzte sich wie eine erhitzte Meute auf den Kapitän. Das Pistol ging los und verwundete einen Matrosen. Die andern hatten den Kapitän bald bewältigt und nötigten ihn, in die Kajüte zu gehen. Der Zimmermann rief ihm nach:
»Bleibt dort unbelästigt. Wir werden das Land allein finden und wenn der Kiel auf den Strand rennt, könnt Ihr denken, daß wir auf und davon sind. Es steht dann noch immer in Eurem Belieben, zu handeln wie Ihr wollt.«
Sie zogen die Kajütskappe dicht zu und warfen die Tür ins Schloß. Kapitän Osrick war von seinen Offizieren getrennt, allein in der dumpfigen Kajüte, in der nächsten Nähe des Zwischendeckes, wo in den Baumwollenballen der Giftstoff lagerte, der Verderben über das Schiff brachte. Die Hilflosigkeit, worin er sich befand, bewältigte ihn so sehr, daß er ohnmächtig niedersank. Aber nicht lange dauerte dieser Zustand der Schwäche. Die Energie des Geistes kehrte wieder und er sann, wie er seiner Gefangenschaft ledig werde.
Unter dem Boden hing die Lampe. Er zündete sie an und verstopfte dann mit einer wollenen Decke die Höhlung des oberen Fensters, damit die Matrosen verhindert würden, ihn zu beobachten. Er hatte seine Arbeit so sorgfältig gemacht, daß auch nicht der geringste Schimmer durchdringen konnte. Nun warf er einen Blick auf die in dem Spiegel angebrachten Kajütsfenster. Nur durch diese allein war eine Verbindung mit der See möglich. Diese mußte er daher öffnen. Das Geräusch, welches die Arbeit machte, konnte man vom Verdeck aus vielleicht hören; zu sehen vermochte man nichts davon. Das Oberfenster war verdeckt und die Heckjolle hing als Schutz über ihm. Mit großer Mühe gelang es ihm, ohne Hilfsmittel die Surrings zu lösen, wodurch die Fenster gehalten wurden.
Es ward tiefe Nacht draußen. Die Jolle, welche hinderte, daß man ihn von oben herab bemerkte, wenn er den Kopf aus einem der Fenster steckte, schnitt auch ihm jede Aussicht nach oben ab. Er sah nichts, als das Schäumen des Wassers um die Hacke des Steuers und das Blinken der See im Kielwasser. Auf dem Verdecke war alles so still, als ob die strengste Subordination am Bord herrschte. Die Rebellen hatten den Steuermann gezwungen, ihnen den Kurs anzugeben, der nach dem nächsten Lande führte und dieser, um Mißhandlungen zu entgehen, hatte es getan. Er hoffte, man werde ihn darauf freilassen und er sich dem Kapitän nähern können. Aber er verrechnete sich. Man hatte ein scharfes Auge auf ihn.
Der Mann am Steuer ward abgelöst und gab seinem Nachfolger den Kurs an. Kapitän Osrick hörte es. Darauf ward es wieder still. Plötzlich schlug ein herzzerreißendes Kreischen an sein Ohr. Es ward hin und her gerannt. Dann ward es wieder still und erst nach einer Pause vernahm man außenbords einen dumpfen Schall.
»Ein neues Opfer ist gefallen!« sagte der Kapitän Osrick vor sich hin. »Ich muß aus diesem Gefängnisse entkommen, auf welche Weise es immer sei.«
Und, sich ermannend, begann er auch das letzte Fenster zu öffnen.
Das erste Morgengrauen brach durch die Finsternis. Über seinem Kopfe entstand ein furchtbares Getrampel. Der kundige Seemann erkannte bald, welche Art von Arbeit man ausführe, und daß die ruhige See, welche die Brigg so sanft umschlossen hielt, diese Arbeit begünstige.
»Sie rüsten die Boote zur Abfahrt und beginnen damit, die Heckjolle ins Wasser zu bringen,« sprach er vor sich hin. »Wenn sie . . .«
Aber er konnte es nicht ausdenken, denn schon sauste die Jolle an den Kajütsfenstern vorbei in die Flut. Der Mann, der sich darin befand, um die Takeln auszuhaken und die Fangleine gehörig zu befestigen, mußte mit Blindheit geschlagen sein, sonst hätte er die offnen Kajütsfenster sehen müssen. Aber die Angst vor dem schwarzen Tod nahm alle seine Sinne gefangen. Er verrichtete mechanisch sein Werk und enterte auf der ihm zugeworfenen Sturmleiter wieder zu Deck. Kapitän Osrick sah das alles mit klopfendem Herzen an. Es war, als ob ein Traumbild an ihm vorüberschwebe.
Da blitzte in der Kimmung des Horizontes der erste Vorbote der aufgehenden Sonne und streute rosiges Licht umher. Osrick sah in die aufleuchtende See und schrie vor Überraschung und Entzücken laut auf, denn auf Kanonenschußweite lag ein Orlogschiff vor ihm auf der spiegelglatten See. Mit bebenden Knien lehnte sich Osrick über die Fensterbrüstung hinaus und maß mit den Augen die Entfernung des Orlogschiffes von dem seinigen. Dann warf er einen Blick auf die Heckjolle, die an der Fangleine hängend im Kielwasser nachschleppte und ein Strahl der Freude leuchtete aus seinen Augen.
Auf dem Verdeck gingen der Zimmermann und der Bootsmann auf und ab. Der Teufel war über den letztern gekommen und hatte seinem Christentum so völlig den Garaus gemacht, daß er offen zu den Rebellen übertrat.
»Er sitzt in seiner Kajüte warm,« sagte der treulose Deckoffizier höhnend, »und braucht nicht wie wir in der Morgenkühle mit den Zähnen zu klappern. Macht Euch keine unnützen Grillen.«
»Er hat unsern gerechten Bitten nicht nachgegeben und ist deshalb unser Gefangener,« antwortete der Zimmermann, der das Haupt der Verschwörung war. »Aber es ist nicht nötig, daß wir den Gefangenen verhungern und verdursten lassen. Das Land liegt zwar vor uns, aber es dauert noch eine Weile, bevor wir es erreichen; darum mag er mit allem versorgt werden. Allein damit die Leute keinen Verdacht schöpfen, wenn wir mit ihm verkehren, ruft einen der Matrosen zum Begleiter auf.«
Es geschah. Als die drei Matrosen in die Kajüte traten, drang ihnen das helle Tageslicht entgegen. Laut aufschreiend stürzten sie an das Fenster. Die Heckjolle war verschwunden und der Kapitän nirgends zu finden.
Es war eine königliche Korvette mit einer Reihe schwerer Geschütze auf dem Deck. Alles an Bord war vorschriftsmäßig hergerichtet und vierkant hinten und vorn. Der Offizier von der Wache stand auf der Kampagne. Die Schildwachen am Fallreep und auf der Back schritten in gemessener Haltung auf und ab. Die Toppmänner (Männer auf dem oberen Mast) in den Marsen hielten den Lugaus.
Eine Brigg ward gemeldet, die im Lee der Korvette mit all ihrem Linnen nach dem Lande zu abhielt. Sie mußte das Kriegsschiff bemerkt haben, denn sie hatte die Flagge aufgezogen und den Klüver, sowie ihre Bramsegel gestrichen, drei Zeichen, womit der Kauffahrer auf offener See die bewaffneten Kriegsschiffe zu begrüßen hat. Da gewahrte einer der Toppmänner eine leichte Jolle mitten auf der Salzflut und in derselben einen Mann, der mit dem Tuche in der Hand nach der Korvette hinüber winkte. Schnell war er mit dieser Meldung zu Deck.
Bevor er aber die Kampagne erreichte, hatte man auf dem Deck der Brigg die Jolle ebenfalls gesehen und dieser Anblick rief daselbst eine furchtbare Aufregung hervor. Der Bootsmann warf dem Zimmermann vor, daß er die Order für die Instandsetzung der Boote viel zu früh gegeben habe. Die Heckjolle hätte überhaupt nicht gestrichen zu werden brauchen, da sie zur Aufnahme vieler Männer zu klein sei. Der Zimmermann dagegen fluchte Himmel und Hölle auf seinen Gefährten herab, weil er einen Tölpel in die Jolle schickte, der so blind gewesen sei, daß er nicht einmal die geöffneten Kajütsfenster gesehen habe. Beide stürzten sich auf den Unglücklichen, den sie zu Boden warfen und unter gräßlichen Schimpfreden mit Füßen traten. Die Matrosen nahmen für und wider Partei. Es war ein hitziger mit Mund und Fäusten geführter Streit, worüber sie den flüchtigen Kapitän und die Korvette ganz vergaßen, welche letztere ein paar Striche nach Lee abhielt und sich mit ihren metallenen Feuerschlünden in bedrohlicher Weise näherte. Nur einer hatte am Bord der Brigg seine Sinne so weit zusammen, daß er mindestens den Versuch machte, der gefahrdrohenden Lage eine andere Richtung zu geben. Er flog die Kajütstreppe hinab, brachte eine geladene Flinte herauf und schlug auf den Kapitän in der Jolle an. Dieser war bereits weit aus dem Bereich der Kugel, aber der über die See hinrollende Schuß brachte die wütenden Kämpfer zur Besinnung. Sie ließen voneinander ab und wie der hochschäumenden Flut die matt dahinschleichende Ebbe folgt, war allen der Mut gesunken.
»Wir sind verloren!« sagte der Zimmermann vor sich hin und fuhr zusammen, denn vom Bord der Korvette fiel ein Schuß, den Befehl andeutend, daß die Brigg sofort beizudrehen habe. Zugleich bemannte dieselbe ein Boot, welches, von raschen Ruderschlägen fortgetrieben, der Heckjolle entgegenflog. Osrick richtete sich auf und rief dem das Boot steuernden Quartiersmanne zu:
»Geht nicht an Bord der Brigg! Geht nicht an Bord der Brigg!«
»Habe meine Order!« rief dieser zurück und feuerte seine Mannschaft an, frisch auszuholen.
»Pest dort an Bord!« schrie ihnen Osrick nach.
Aber sie hörten ihn nicht mehr. Der Wind, der sich soeben stärker aufgab, faßte die Breitseite der Jolle und warf sie mit einem Zuge an den Lufbord der Korvette. Osrick erlag der andauernden Aufregung und sank ohnmächtig zusammen. Flinke Enterer waren zur Hand. Die Jolle ward geborgen und Osrick auf das Deck gebracht. Als er die Augen aufschlug, sah er den Offizier vom Dienst neben sich, der ihn fragte, was dies alles zu bedeuten habe und ob er von jener Brigg geflüchtet sei?
»Das bin ich, Herr! Es ist ein Unglücksschiff, welches vor uns auf der See treibt. Ich bin der Kapitän, den die Mannschaft einsperrte, weil ich nicht zugab, daß sie das Schiff auf den Strand setzte, sie wollte dem Tode auf diese Weise entgehen, Herr, denn wir kommen von Smyrna."
»Ich weiß genug,« sagte der Offizier erbleichend und schrie laut:
»Das Boot zurück!«
Das Orlogsboot (Boot des Kriegsschiffes) hatte den Kauffahrer beinahe erreicht. Die Mannschaft hielt sich bereit, dasselbe zu entern. Da vernahm sie einen Kanonenschuß und erblickte zwei weiße Wimpel übereinander am Vortopp. Es war das Signal, daß sie sofort umkehren sollten. Blind an Gehorsam gewöhnt warfen sie die Ruder an das Wasser und das Orlogboot entfernte sich von dem Kauffahrer, der ihm ein höhnisches Gelächter nachsandte.
»Das Boot ist gerettet!« rief der Offizier, frei aufatmend.
»Das Boot ist gerettet!« wiederholte Osrick. »Aber die Korvette nicht, denn jene Brigg kommt von Smyrna und ich bin ihr Kapitän.«
Betroffen schwieg der Offizier. Erst nach einer Pause sagte er:
»Nehmt Euern Platz neben jener Kanone und haltet Euch still. Es ist dies ein so überraschend seltsamer Fall, daß ich mit mir zu Rate gehen muß. Halloh, Kadett Ballström! Hierher, wenn es gefällig ist.«
Die Korvette steuerte fort. Ein abermaliger Schuß deutete der Brigg an, daß sie sich in dem Kielwasser der Korvette zu halten habe. Gezwungen folgte sie dieser unwillkommenen Order.
Der Offizier vom Dienst hatte den Kapitän der Korvette die nötige Mitteilung gemacht und dieser versammelte sämtliche Offiziere zu einer Beratung um sich. Beim Schlusse derselben sagte er:
»Wir sind gezwungen, uns der Notwendigkeit zu fügen. Mit einem angesteckten Schiffe in Berührung gekommen, können wir den Kreuzzug nicht fortsetzen. Laßt den Doktor alle möglichen Vorkehrungen treffen. Sendet den Kauffahrteikapitän an Bord seiner Brigg zurück und laßt ihn sein Kommando wieder antreten. Unsere Kanonen werden seinen Worten Nachdruck verschaffen. Es ist unser Amt, die Brigg bis an die Quarantänestation zu begleiten, damit auf offener See nicht noch mehr Unglück geschehe. Es ist genug, daß unsere Korvette in die Reihe der verdächtigen getreten ist.«
Der Kapitän entließ seine Offiziere und diese gingen, trübe gestimmt durch dies unerwartete Ereignis, wohin die Pflicht des Tages sie rief.
Osrick empfing die Nachricht von den gefaßten Beschlüssen und sagte:
»Ich bin bereit zu gehorchen, aber eins hätte ich zu bitten. Die Rebellen verdienen es zwar nicht, daß man sich für sie verwendet, allein die Menschlichkeit befiehlt, sie vor größerem Leid zu schützen. Die Apotheke eines Kauffahrers ist nur mangelhaft bestellt und kein kundiger Mann am Bord, der die richtige Anwendung der Medikamente versteht, wenn also der Arzt sich mit mir an Bord begeben dürfte . . .«
»Geschieht schon ohne Eure Erinnerung,« versetzte dieser, der, einen Kasten unter dem Arm, den Fallreep beschritt. »Ich gehe mit Euch und überlasse es meinem Kollegen, die gesunde Mannschaft der Korvette bei der gewohnten Laune zu erhalten. Ihr seht mir nicht danach aus, Herr, als ob Ihr das Pestgift mit Euch herumschlepptet und mit Gottes Hilfe gelingt es mir vielleicht, den bösen Geist aus Eurer Brigg zu bannen.«
»Und wenn nicht?« fragte Osrick, von einem Gefühl banger Ahnung ergriffen.
»Dann unterliegen wir mit dem tröstenden Bewußtsein, auf alle Weise unsere Pflicht getan zu haben,« sagte der Arzt und bestieg mit dem Kapitän die Jolle. Sechs von den königlichen Matrosen hatten sich freiwillig erboten, die beiden Männer zu begleiten, um die geschwächte Besatzung zu verstärken. Sie waren sofort beurlaubt worden.
Unter dem Geleite der sechs bewaffneten Seeleute betrat Osrick das Verdeck. Der Bootsmann und der Zimmermann wurden ergriffen und in das Kabelgat geworfen, von den Matrosen waren nur noch drei gesund, die übrigen lagen in ihren Hängematten und schüttelten sich im Fieber. Der Arzt war sofort bei ihnen und begann sein trauriges Geschäft. Osrick hielt den zitternden Matrosen eine scharfe Ansprache und warnte sie, sich auch nur mit einer Miene gegen seine Befehle aufzulehnen. Den Steuermann befreite er aus seinem Gefängnis und nach einer Stunde herrschte die altgewohnte Ordnung. Die Brigg segelte vor einer leidlichen Brise den Kurs der Korvette, indem sie deren Kielwasser entlang steuerte.
Der Spätherbst war über die nordische See gekommen. Er hüllte sie in seine trügerischen Nebel und durchwühlte die klippenreiche Flut, die wildschäumend aufspritzte.
Ole Neen, der wackere Gehilfe des Quarantänevogts vom Sarge, saß auf einem Stein am Ufer und sah auf seinen kränkelnden Herrn, der, den Blick zu Boden gesenkt, an seinem Stabe auf und ab schlich.
»Ich halte es nicht aus, ihn länger so zu sehen,« sagte der treue Mann vor sich hin. »Sein Körper leidet und außerdem reibt er sich auf in der Sehnsucht nach seinem Sohne. Und je milder und zerknirschter es in seinem Innern aussieht, je rauher und abstoßender wird er äußerlich. Ich kenne das. – Nun steht er still und sieht wieder hinüber nach dem Garten. – Der Nebel läßt nichts unterscheiden, armer Herr! – Und doch! In der Kimmung blinkte es vorher auf. vielleicht kriegen wir in einer Stunde klares Wetter und sie haben drüben aus dem Garten von dem Festland her Nachricht erhalten. Ich will auf alle Fälle das Boot klar machen.«
Nach einer Stunde hatte, wie Ole Neen es prophezeite, der aufkommende Wind die Nebel auseinandergelegt und man sah den Garten deutlich vor sich. Ole Neen hatte mit dem Quarantänevogt gesprochen und dieser unter Schmerzen polternd und scheltend seine Einwilligung zu einem Kreuzzuge sich abtrotzen lassen, den er im tiefinnersten Herzen sehnlichst herbeiwünschte. Ole Neen fuhr ab, dem Garten entgegen, von dort aus hatte ihn das Auge der Liebe bald erkannt.
»Ich sage es dir, Skuld,« rief die froh erregte Jerta. »Ole Neen kommt und bringt Nachricht von dem Vater, vielleicht auch von dem Sohne.« Sie sagte das letztere mit leichtem Erröten.
»Oder er will sie von uns, die wir von nichts wissen!« entgegnete Skuld ernst.
»Du gefällst dir darin, alle meine Hoffnungen zu zerstören,« sagte Jerta unwillig. »Komm mit herab zum Strande. Das Boot ist schon nahe.«
Ole Neen landete. Es war eine gegenseitig getäuschte Hoffnung. Jerta, die sich leicht in das Unerwartete fand, sprach nach einiger Zeit:
»Es ist doch gut, daß Ihr gekommen seid, Ole Neen. Lange schon habe ich meine Sehnsucht nach Osricks Vater unterdrücken müssen. Jetzt vermag ich es nicht länger. Ich muß mich an seinem Herzen ausweinen und ihm nachher die Grillen weglachen. Wie ist es, mein wackerer Steuermann? Getraut Ihr Euch, uns beide wohlbehalten nach dem Sarg zu bringen?«
»Wenn Ihr Euch beeilt, ja,« sagte Ole Neen. »Die Sonne geht allgemach zu Rüste. Der Wind steht hoffentlich noch eine Weile durch und zwei gute Streckbuge bringen uns hin. Aber aufhalten dürft Ihr mich nicht.«
»Allstunds, wie Ihr Seeleute sagt, sind wir am Bord!« antwortete Jerta in ihrer heiteren Weise. »Haltet Euch klar für die nächsten fünf Minuten. Das Passagiergut ist bald an Bord gebracht.«
Bald darauf stieß das Boot von dem Landungsplatze des Gartens ab. Kaum hatten sie ihn verlassen, als es aus der Tiefe heraufbrauste und an die Felswände emporstieg. Die baumreiche Insel ward mit einem Nebelflor verhüllt. Skuld beachtete es und gab ihren trüben Empfindungen Worte, aber Jerta verscheuchte die Traurigkeit der Freundin mit einem heitern Scherz und begann eine muntere Volksweise, worin Ole Neen freudig einstimmte. Singend erreichten sie den Strand des Sarges und der greise Vater empfing die Braut des vielgeliebten Sohnes mit einem Freudenrufe. Skuld folgte ihnen langsam. Rückwärts schauend warf sie einen Blick nach der Richtung, wo der Garten lag. Aber der Nebel hatte sich so verdichtet, daß man auch nicht das geringste gewahrte.
»Ich werde das liebe Eiland nicht wiedersehen,« sagte sie vor sich hin und war so tief in Gedanken, daß sie erschrak, als Ole Neen sich ihr näherte und sie in seine Arme schloß.
An eine Heimfahrt war für diesen Abend nicht zu denken. Für solche Fälle, die sich öfters ereigneten, war auf dem Sarge eine Stube eingerichtet. Als aber Ole Neen am andern Morgen nach dem Strande zuging, sah er einen gänzlich veränderten Himmel. Die Nebel waren verschwunden. Ein scharfer Wind blies mit großer Heftigkeit von dem Garten her. Die See ging hoch und warf den schäumenden Gischt auf den abgeplatteten Vorsprung, von welchem aus der Weg zur Signalstange führte.
»Wir kriegen Winter. Die klaren Wolken im Osten und der schneidende Wind, der sie vorwärts treibt, prophezeien es mir. In dieser brausenden See ist an eine Überfahrt im offenen Boote gar nicht zu denken. Möchte nun bald wünschen, daß ich die Weiber daheimgelassen hätte. Sollte Frost einfallen und sie wären gezwungen, hierzubleiben . . .«
Ole Neen wurde in seinen Betrachtungen, die wenig Tröstliches hatten, unterbrochen. Ihm ward es, als flirre etwas Weißes an seinem Auge vorüber.
»Das ist ein Segler!« rief er aus und wurde in seiner Erwartung nicht, wie Jerta, von einer Möve getäuscht. Es war wirklich ein Segler, der von einem zweiten gefolgt wurde. Mit der höhersteigenden Sonne erkannte er sie ganz deutlich. Er schüttelte mit dem Kopf und sagte:
»Segler um diese Zeit in einem Fahrwasser, das zu keinem Hafen führt, sind eine seltene Erscheinung. Hierher kommen nur solche Fahrzeuge, die von Stürmen verschlagen wurden, oder solche, welche zwangsweise hierher beordert werden . . .«
Der junge Seemann vermochte nicht, den Gedanken auszudenken, sondern eilte an das Bett des alten Herrn, der sich eben erhob und in seinem Glücke einen freundlichen Gruß für den Gefährten seiner Einsamkeit hatte. Bald aber verschwand die flüchtige Heiterkeit und Böses ahnend rief er:
»Du bringst ein Unglück!«
»Ich melde zwei Segler, die auf unser Eiland zusteuern!« entgegnete Ole Neen. »Ihr müßt selbst urteilen, ob sie uns Glück oder Unglück bringen.«
»Unglück bringen sie!« rief der Quarantänevogt. Und wird . . . Herrgott, die Dirnen! Fort mit ihnen von dem Eilande, solange es noch Zeit ist.«
»Zu spät!« entgegnete Ole Neen. »Wir können nicht mehr bei den ansegelnden Schiffen vorüber. Und wenn dies möglich wäre, geht die See so hohl, daß in unserm offenen Boote die Überfahrt gewisser Tod wäre. Laßt sie darum in ihrer Kammer ruhen, solange es irgend geht, sie werden der Unruhe noch vollauf haben. Wir wollen nach unserm Werk sehen.«
Fast wäre der Quarantänevogt aufgefahren, weil ihn jemand an seine Pflicht erinnern wollte. Aber er bezwang sich und nahm das Fernrohr mit sich. Die steifer wehende Brise hatte die Schiffe bedeutend näher gebracht. Die Rumpfe waren völlig aus dem Wasser und die einzelnen Segel genau voneinander zu unterscheiden.
»Einer von ihnen ist ein Orlogsmann,« sagte der alte Herr, der das Fernrohr nicht von dem Auge ließ: »Er hat einen guten Vorsprung und scheint jemand am Bord zu haben, der mit dem hiesigen Fahrwasser wohl vertraut ist, denn er steuert dem Platze zu, wo bei einem Wetter wie heute ein Schiff gefahrlos vor Anker gehen kann. Er hat einen Kauffahrer hinter sich, dem er das Geleite gibt, wir wissen schon, was so ein Geleite sagen will, Ole Neen, und müssen uns darein finden. Wären nur die Mädchen nicht hier. Daß ich dich gestern auch nicht mit Gewalt zurückhielt, als du, gegen meine Order, abfuhrst, um sie zu holen.«
Ole Neen, der seinen Herrn kannte, erwiderte nichts und dieser setzte sein Fernrohr wieder an:
»Wollen doch den armen Teufel betrachten, der das Unglück zwischen seinen Planken hat. Laßt sehen, was für eine Art von Fahrzeug es ist. – Eine Brigg! Und wenn ich mich recht besinne, eine Brigg, wie . . .«
Er setzte das Rohr ab und sank auf einen Stein. Ole Neen sprang besorgt herzu und jener fuhr fort:
»Ich habe dir den Brief Osricks vorgelesen, worin er die Brigg beschreibt, deren Kapitän er geworden ist. Das ist derselbe Bau, derselbe Schnitt. Der Harzanstrich auf dem Breitgang und die weiße Farbe der Masten. O Jesus! Es wäre schrecklich.«
Dasselbe hatte Ole Neen gedacht, der mit seinen scharfen Augen die Fahrzeuge betrachtete. Aber er suchte seinem Herrn die Furcht auszureden und ihn zu beruhigen. Dieser aber blickte still vor sich hin und die Besinnung kehrte ihm erst zurück, als auf dem Vorderdeck des Orlogschiffes ein Schuß abgefeuert wurde. Zugleich entfaltete es die königliche Flagge an der Gaffel und wies von dem Vortopp die bleichgelbe Pestflagge. Das letztere geschah auch am Bord der Brigg.
Beide Schiffe lagen in der gehörigen Entfernung vor ihren Ankern. Das Orlogsboot fuhr dem Strande zu. Der Quarantänevogt ging dem Offizier desselben entgegen. Kaum aber hatte der letztere zu sprechen begonnen, als der alte Herr schwankte. Ole Neen war schnell zur Hand und sagte zu dem überraschten Offizier:
»Kann mir denken, was geschehen ist. Ihr habt den Namen jener Brigg und den ihres Kapitäns genannt. Das ist Herrn Osricks Vater. Nun wißt Ihr alles.«
Der Offizier begab sich in sein Boot zurück, nachdem er das nähere verabredet. Der Sarg war keine Quarantäneanstalt mit Hospitälern und anderen Einrichtungen. Es war eine Station, weit von jedem Fahrwasser gelegen, wohin man solche Schiffe wies, die den gewissen Tod am Bord hatten und wo sie solange unter Aufsicht eines bewaffneten Fahrzeuges aushalten mußten, bis die Besatzung wie durch ein Wunder genas, oder eine Beute des Fiebers wurde.
Ein gleiches Schicksal hatte der Offizier der Brigg vorhergesagt. Der Quarantänevogt hatte es nicht mehr gehört. Aber Ole Neen hörte alles. Nur drei von der ganzen Besatzung – unter ihnen der Kapitän – waren noch übrig. Der Arzt, der sich auf offener See freiwillig an Bord begab, hielt treu auf seinem Posten aus. Aber seine Kunst war nicht stark genug gewesen, die Krankheit zu brechen. Keiner blieb von ihrer Wut unberührt.
Mit schwerem Herzen geleitete Ole Neen seinen Herrn nach Hause.
Zwei Tage vergingen. In dem Stand der Dinge änderte sich nichts. Die jungen Mädchen ahnten das schrecklichste, allein der alte Herr blieb unerbittlich. Sein Mund war fest verschlossen. Umsonst versuchte Jerta ihre Schmeichelkünste; umsonst warf sie sich, in Tränen aufgelöst, zu seinen Füßen. Sie erfuhr nichts. Aber Skuld war zu Ole Neen getreten und hatte ihn über das Schicksal der Brigg befragt. Die Jungfrau war dem Geliebten, den sie vollständig beherrschte, geistig überlegen und er konnte ihr nichts verbergen. Nach der ersten Viertelstunde wußte sie alles.
»Es ist gut,« sagte sie ruhig. »Als ich hierher fuhr, legte sich eine Zentnerlast auf mein Herz. Ich fühlte, daß mir ein Unheil bevorstand, aber ich konnte es nicht klar erkennen. Nun weiß ich es und meine Angst ist verschwunden. Jerta wird diesen Kampf nicht überstehen. Osrick stirbt und sie kann ohne ihn nicht leben. Ich aber bin mit Jerta unauflöslich verbunden im Leben wie im Tode. Treu dem Gelübde, das sich die Jungfrauen des Nordens leisten, will ich nie ein Glück genießen, das ihr nicht zuteil werden kann. So sind wir getrennt, mein Freund, nachdem wir uns kaum vereinten, und ich bin Witwe, bevor ich Weib geworden bin. Jetzt gehe ich, sie von dem in Kenntnis zu setzen, was unserer harrt.«
Sie ging und ließ den Geliebten in tiefster Niedergeschlagenheit zurück.
Kaum hatte Jerta erfahren, welches große Unglück sie traf, als ihr Charakter sich wunderbar verwandelte. Die Jungfrau legte eine Stärke und Entschlossenheit an den Tag, von der niemand eine Ahnung hatte. Sie bezwang ihre Tränen und die innere Erregung gewaltsam zurückdrängend, sagte sie:
»Hier helfen nicht Klagen und Weinen; hier muß gehandelt werden. Mein Platz ist an der Seite meines Osrick.«
Schnell war sie zur Fahrt an Bord der Brigg gerüstet. Erst als ihr dies verweigert wurde, brach sie in Tränen aus. Nichts halfen die Bitten und Ermahnungen des greisen Vaters; nichts das Flehen der treu bewährten Freundin. Sie blieb bei ihrem Vorsatze und als sie auf beharrlichen Widerspruch traf, sank sie in krampfhaften Zuckungen zu Boden. Man brachte die Bewußtlose in ihre Kammer.
Von dem Augenblicke an, da die Schiffe vor Anker gingen, veränderte sich das Wetter auf eine merkwürdige Art. Es fror noch stärker, aber der Himmel bezog sich. Der Wind hörte auf und eine dichte Schneemasse fiel herab. Um bei einem plötzlichen Eistreiben das einzige vorhandene Boot vor jeder Gefahr zu sichern, hatte Ole Neen dies in eine verdeckte Bucht gebracht und mit Ketten angeschlossen. Der Verkehr mit den Schiffen war aufgehoben und die Bewohner des Sarges waren allem Anscheine nach für die Dauer des Winters nur auf sich angewiesen. Jerta kam nicht zum Vorschein. Skuld berichtete, daß sie, seitdem die Ohnmacht gewichen, unbeweglich auf ihrem Lager sitze und vor sich hinbrüte, ohne auf einen Zuspruch zu hören. Die Freundin hatte keine Ahnung davon, welche Gedanken in der Seele der so hart geprüften Jungfrau reiften.
Abermals war ein Tag verstrichen. Schon schwamm die See mit Eisstücken; sie war nahe daran, unfahrbar zu werden. Da löste sich von der Breitseite der Brigg eine leichte Jolle und steuerte der Klippe zu. Es war der Arzt, der freiwillig auf den Kauffahrer übergetreten war. Der Quarantänevogt kam ihm entgegen.
»Ich bringe Euch keine Hoffnung,« sagte der Arzt. »Meine Kunst ist fruchtlos. Ich vermag die Gewalt des Fiebers nicht zu brechen.«
Der alte Herr war in tödlicher Angst:
»Und mein Sohn? Ihr sagt mir nichts von ihm.«
»Noch lebt er. Seine starke Natur hat dem Gifte bis jetzt noch widerstanden. Nur eine Stunde will ich, um mich zu stärken, hier atmen, dann kehre ich wieder zurück.«
»Und ich begleite Euch,« sprach der Vater. »Unverantwortlich ist es von mir, daß ich den Sohn solange in fremden Händen ließ.«
»Ihr bleibt auf dem Platze, den Euer Amt Euch anweist.« sagte der Arzt. »Eure Instruktion lautet, das Eiland unter keinen Umständen auch nur eine Stunde zu verlassen. Das werdet Ihr befolgen.«
»Ich werde es nicht. Ihr geht an Bord und ich begleite Euch.«
»Besinnt Euch!« ermahnte der Arzt. »Auf der Korvette wird ein scharfer Ausguck gehalten und die Kanoniere derselben sind zugleich gute Schützen. Ermannt Euch. Gott ist barmherzig und kann in seiner Allmacht den Sohn für Euch erhalten. Will er es nicht, so wird Eure Gegenwart auch nichts frommen. Ihr könnt nicht einmal mit Euerm Sohne sprechen, denn er ist ohne Besinnung. Warum seine verzerrten Züge sehen und diese Schreckensgestalt Zeit Eures Lebens mit Euch herumtragen? Bewahrt Euch lieber das freundliche Bild des lebenskräftigen Jünglings. Kommt, Mann, und laßt mich einen Augenblick in Euerm Hause ruhen.«
Der Arzt nahm den Arm des Quarantänevogts, der so schwach war, daß er sich kaum aufrecht zu erhalten vermochte. Aber nur wenige Schritte hatten sie sich entfernt, als der Mann, welcher den Arzt herüberruderte, in der Jolle laut aufschrie. Schnell wandte sich jener dorthin.
»Das ist der Schrei eines Mannes, der bald für immer verstummen soll,« sagte der Arzt. »Wenn ich diesen Ton höre, weiß ich, was ihm folgt. Er war der letzte von denen, die aus der Korvette mit mir herübergekommen sind. Dachte, der kräftige Mann würde dem Fieber widerstehen. Nun ist auch diese Hoffnung dahin.« –
Er brachte den Matrosen mit vieler Mühe an das Land und ließ ihn darauf aus seinen Armen auf den Schnee gleiten:
»Du bekommst ein kühles Lager, mein Junge. Aber ich bin nicht stark genug, dich auf ein anderes zu tragen. He! Holla! Ist niemand da, der mir eine Hand leiht?«
Ole Neen war bei Wege und trug den Kranken hinein. Es war still am Strande.
Skuld ging den Geschäften des Hauses nach. Jerta hatte ihr versprochen, ruhig zu sein, und darauf bauend, entfernte sie sich. Auf das Geräusch, welches die Neuangekommenen verursachten, erschien Jerta, um sich nach dem, was vorgefallen war, zu erkundigen; dann kehrte sie in ihre Kammer zurück.
In dem Hause war alles still. Der alte Herr war auf sein Lager gesunken und stöhnte. Auf der andern Seite der großen Stube lag der erkrankte Matrose. Der Arzt war mit ihm beschäftigt. Er konnte sich nicht entschließen, den Hilflosen zu verlassen, obgleich es ihn mächtig an Bord zurücktrieb. Skuld und Ole Neen standen am Feuer und waren gewärtig, wo ihre Hilfe nötig werden sollte. So brach die Nacht herein.
Da öffnete sich die Tür von Jertas Kammer. Sie huschte die Treppe hinab und hielt einige Male an, zu horchen, ob man sie auch höre. Alles blieb ruhig. Dann trat sie hinaus vor die Tür und zog eine brennende Laterne hervor, welche sie bis dahin mit dem Mantel versteckte. Bei dem Schein derselben fand sie den Weg nach dem Boote des Doktors.
Die nordischen Mädchen an der Küste sind von Jugend auf mit der See vertraut. Sie führen das Ruder oder das Steuer und wissen ihren Kurs wohl zu halten. Mit Mühe löste sie die steifgefrorenen Fangleinen, die Richtung erspähend, welche sie zu nehmen habe. Die See war erregt und eine tiefe Dunkelheit herrschte. Hier und da blitzte es auf. Bald war es eine überrollende Welle, bald ein Stück Eis. Die einzelnen Schollen fuhren krachend zusammen. Eine schob sich unter die andere und sie türmten sich allmählich zu Hügeln empor. Die Schrecken und Gefahren wuchsen mit der Minute. Jerta achtete nicht darauf. An dem großen Mast der königlichen Korvette hing eine brennende Laterne. Das war ihr Leitstern.
Als sie das Ruder ergriff, rollte eine Welle heran. Sie hob das leichte Fahrzeug und warf es seitwärts, daß es Wasser schöpfte. Eine Eisscholle schrammte dagegen und es war nahe am Kentern. Einen Augenblick zitterte Jerta, dann warf sie das Ruder herum und brachte die Spitze des Fahrzeuges der zunächst heranrollenden Welle entgegen. Als diese wieder in die See zurückrauschte, führte sie die Jolle mit sich fort, sie war in dem Dunkel der Nacht verschwunden.
In der Glut des Fiebers wälzte sich Osrick auf einem Lager. Die Besinnung war ihm entschwunden. Allein lag er in der finstern Kajüte und stieß dumpfe Schmerzenslaute aus. Da öffnete sich die Tür und herein schwebte eine weibliche Gestalt. Es war Jerta, die im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit und durch die Allmacht ihrer Liebe den Kampf mit den Elementen bestand. Als sie das Verdeck betrat, sank sie kraftlos zusammen. Mit aller Anstrengung vermochte sie sich nicht zu erheben. Unwillkürlich übermannte sie der Schlaf. Die Augen schlossen sich.
Totenstille herrschte an Bord. Nur die See grollte und jagte einen schweren Eisblock wie einen Spielball vor sich her. Mit einer Gewalt schleuderte sie ihn gegen den Bug der Brigg, daß diese in allen Fugen erbebte, von diesem donnerähnlichen Schüttern schreckte Jerta aus ihrem Traumschlafe auf. Einige Minuten vergingen, bis ihr die Besinnung wiederkehrte, dann schwankte sie dem Eingange der Kajüte zu und trat an das Lager des Freundes. Er kannte sie nicht. Aber die nächtliche Erscheinung wirkte so glücklich auf ihn, daß er ruhig in die Kissen seiner Hängematte zurücksank. Jerta betete inbrünstig, beugte sich dann zu dem Freunde herab und flüsterte:
»Nun ist es geschehen, was ich so lange ersehnte. Sie wollten mich zurückhalten und du solltest hier in der Einsamkeit schmachten. Aber sie verstehen sich schlecht auf die Liebe. Gott hat mich durch Sturm und Eisschollen geleitet; er wird mir auch Kraft geben, dir beizustehen und zu helfen. Bin ich aber zu schwach dazu, dann sterben wir mitsammen, mein teurer Freund.«
Osrick sah einen Augenblick auf, als hätte er sie verstanden, dann schlummerte er ruhig weiter.
Als Skuld am andern Morgen in Jertas Kammer trat, war diese leer. Von banger Furcht ergriffen, schrie sie um Hilfe, während Ole Neen seine Braut nicht zu beruhigen vermochte. Der Arzt aber, der Jerta nur kurze Zeit sah und wenig mit ihr sprach, hatte doch einen tiefen Blick in ihr Inneres getan und sagte:
»Was fragt Ihr viel? Ist sie nicht die Geliebte des jungen Kapitäns? Wo soll sie anders sein, als bei ihm?«
Diese Worte brachten den verschiedenartigsten Eindruck hervor. Skuld verstummte. Sie fühlte, daß es nicht anders sein konnte. Der alte Herr schüttelte ungläubig mit dem Kopfe und fragte:
»Wie sollte das nur möglich sein?«
Ole Neen aber unterbrach seinen Herrn mit den Worten:
»Es ist nicht wahr. Ich selbst habe unser Boot mit der doppelten Kette so fest angeschlossen, daß die kleinen Jungfernfinger es nicht losmachen können. Und selbst dann, wenn es geschähe, wie sollte sie das schwere Boot regieren, da ich die Ruder und das Steuer unter Verschluß habe?«
»Das habt Ihr!« entgegnete der Arzt. »Aber meine Jolle liegt frei am Strande und eine Jungfrau ihrer Art mag es wohl wagen, sich darin der Wut der Elemente preiszugeben.«
Darauf erwiderte keiner etwas. Allein wie auf ein gegebenes Zeichen gingen sie zugleich nach dem Strande, der Stelle zu, wo der Arzt landete. Die Jolle desselben war verschwunden.
»Wir wollen hinüber!« rief der geängstigte Vater, und Skuld faßte den Arm ihres Bräutigams, diesen mit einem ernsten Blicke ansehend. Beide gingen der Stelle zu, wo das große Boot angekettet lag. Der Sturm, der nach dieser Richtung hin wehte, hatte das Eis hoch um dasselbe aufgestaut. Ein einziger Blick belehrte sie, daß es eine Unmöglichkeit sein würde, dieses Fahrzeug zu flotten.
Der Arzt war unterdessen an die Signalstange getreten und strich die bleichgelbe Pestflagge. Dies erregte die Aufmerksamkeit des wachthabenden Offiziers an Bord der Korvette. Das hatte der Arzt gewollt. Mehrere Male machte er verschiedene Zeichen mit den verschiedenen Flaggen, die ihm zu Gebote standen. Sie ähnelten den zwischen den Offizieren verabredeten Signalen. Endlich schien man ihn verstanden zu haben. Auf dem Verdeck ward es lebendig. Zwei Schaluppen wurden herabgelassen und bemannt. Die eine steuerte in der Richtung nach dem Lande zu, die andere hielt auf die Brigg ab. Die Mannschaften arbeiteten mit riesenmäßiger Anstrengung, aber umsonst. Man mußte unverrichteter Sache wieder umkehren.
Drei unerträglich lange Tage, drei längere, schreckensvolle Nächte gingen vorüber. Da endlich, mit dem Anbruch des vierten, wechselte der Wind. Düstere Regenwolken zogen aus dem Süden herauf. Die Eisblöcke schoben sich allmählich seitwärts; eine freiere Strömung stellte sich her. Den wohlgeschulten Matrosen der Korvette ward es möglich, mit ihren starken Schaluppen an das Ufer zu gelangen.
Mit wenigen Worten hatte der Arzt den Offizier über die Lage der Dinge aufgeklärt. Dieser fand sich bewogen, mit den Bewohnern des Eilandes nach der Brigg hinüberzufahren. Nach einer Stunde waren sie seitlängs. Ole Neen enterte zuerst und half den übrigen. Sie betraten mit zitternden Knien die Kajütstreppe. Der Atem stockte. Die Herzen schlugen nicht. Der Arzt, welcher voranging, raffte all seinen Mut zusammen und öffnete die Tür.
Osrick saß in einem Sessel; bleich, abgezehrt, mit schmerzzerrissenen Zügen. Aber das Auge blickte ruhig, das Fieber war aus demselben verschwunden. Der Arzt faßte den Puls des Kranken und rief laut:
»Er ist gerettet!«
»Durch sie!« antwortete Osrick mit leiser Stimme und blickte Jerta an, die verschämt vor ihren Freunden stand und ihnen bittend die Hände entgegenstreckte.
Skuld warf sich vor ihr in die Knie und rief:
»Ich war hart mit dir, als du mir deinen Herzenswunsch verrietest und schalt dich eine Törin. Du aber hast, was du wolltest, auch herrlich vollbracht.«
»Weil ich ihn liebte !« sagte Jerta. »War es denn nicht genug, wenn ich nur mit ihm sterben konnte?«
»Nun aber werdet ihr mitsammen leben, lange und glücklich,« schloß der Arzt.
Der Vater hielt den Sohn innig umschlossen. Skuld aber sagte zu Ole Neen:
»Das hat meinen harten und starren Sinn erweicht. Mein Stolz ist gebrochen, vergib, wenn ich mich oft überhob. Fortan bin ich deine demütige Magd.«
Der ehrliche Bursche wußte nicht, wie ihm geschah. Er drückte die Hand seines Mägdleins und sein Herz schlug in freudiger Rührung.
Und als der neu erwachende Frühling über die See hinstrich und sie so freundlich anlächelte, daß die Eisblöcke zerrannen und die stürmischen Wellen sich glätteten, hatte sich alles herrlich verändert. Das Orlogsschiff war verschwunden und hatte, der erhaltenen Order gemäß, die Brigg an einen Platz gebracht, wo die verdächtige Ladung unter den nötigen Vorsichtsmaßregeln gelöscht werden konnte. Ole Neen hatte das Amt eines Quarantänevogts erhalten. Skuld, als sein angetrautes Weib, erfüllte ihre Pflichten mit herzgewinnender Freundlichkeit. Nach dem Garten hinüber fuhren sie oft in müßigen Tagen. Dort lebten Jerta und ihr Gatte in ungetrübter Freude und der alte Herr war Zeuge ihres Glückes.
Es war ferner nicht die Rede davon, nach dem Süden überzusiedeln, wo zwar auf immer grünen Bäumen die goldenen Äpfel wachsen, aber auch unter ihrer Hülle das verderbliche Fieber lauert. Sie bedurften der hellen Pracht des Südens nicht unter den dunklen nordischen Tannen und Buchen; denn wo die wahre Liebe wohnt, ist überall Frühlingswonne.