George R. Sims
Erinnerungen einer Schwiegermutter – Erster Band
George R. Sims

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Sechste Erinnerung.

Einige meiner Sorgen.

Ich glaube wirklich nicht, daß es noch eine Frau gibt, die beständig so geplagt wird, wie ich. Nicht nur die Last meines eigenen Haushalts liegt auf meinen Schultern, sondern ich muß mich auch noch fortwährend um meine verheirateten Söhne und Töchter sorgen. Mein Mann behauptet zwar, es sei ganz unnötig, und ich ärgerte mir umsonst die Gelbsucht an den Hals (um ein Pröbchen seiner seinen Ausdrucksweise zu geben).

Die Dinge so leicht zu nehmen, ist ja recht schön; ich kann das aber nicht. Ich glaube, John Tressider wäre noch nicht einmal aus seiner Gelassenheit zu bringen, wenn das Haus in Flammen stände, und es ist ein wahres Wunder, daß bei seiner schrecklichen Gewohnheit, bis spät in die Nacht unten zu sitzen, die Times zu lesen und dann halb im Schlaf zu Bett zu gehen und immer wieder und wieder das Gas brennen zu lassen, nicht schon ein Unglück geschehen ist.

Ich habe es versucht, meine Töchter aus meiner Erfahrung Nutzen ziehen zu lassen, und sie ganz besonders gegen die schlimme Schwäche gewarnt, ihren Männern zu erlauben, wenn schon alle andern zu Bett gegangen sind, noch aufzubleiben, zu rauchen, zu lesen und das Gas nach Gutdünken zu behandeln.

Meinem Manne habe ich wieder und wieder Vorstellungen gemacht, allein er besteht darauf, daß ihm die Times, sein Glas Whiskey und Wasser nochmal so gut schmeckten, wenn alle andern zu Bett gegangen wären. Warum kann er die Times nicht wie andre vernünftige Männer morgens lesen, oder im Geschäft, statt bis spät in die Nacht zu sitzen, das Feuer ausgehen zu lassen und dann kalt wie ein Frosch zu Bett zu kommen?

Aber so ist es immer gewesen. Nichts kann ihn bewegen, zu einer christlichen Stunde schlafen zu gehen. Als die Kinder noch klein waren, verbrachte er den ganzen Abend mit ihnen, und da hatte er allenfalls eine Entschuldigung, wenn er nachher eine ruhige Stunde verlangte.

Er pflegte die Kinder bis spät aufbleiben zu lassen, und mein Reden dagegen half gar nichts, wenn ich auch zehnmal mein nervöses Kopfweh hatte und mich in mein Zimmer flüchten mußte, um dem schauderhaften Lärm zu entgehen, den sie bei dem gräßlichen Spiele vollführten, das sie »Kriegen« nannten, wobei Stühle und Tische umgeworfen wurden und er der Ausgelassenste von allen war.

Es ist ja natürlich sehr hübsch, wenn ein Vater nach seiner Rückkehr aus dem Geschäft mit seinen Kindern spielt, aber wenn ihrer sieben zusammen toben und ein schwerer Mann auf allen Vieren herumkriecht und Bär vorstellt, dann könnt ihr euch denken, was für einen Höllenlärm das gibt.

Ein so ausgezeichneter Vater mein Mann in vieler Hinsicht auch sein mag – und die Gerechtigkeit muß ich ihm widerfahren lassen – ist er doch sehr unverständig. Ich habe ihn nie mit den Kindern allein gelassen, ohne daß etwas schief ging.

In meinem ganzen Leben werde ich den Schreck nicht vergessen, den ich eines Morgens bekam, als das Kindermädchen – wir hielten uns gerade an der See auf – die kleine Jane, die damals erst fünf Jahre alt war, hereinbrachte. Ihr Kopf war zur Größe eines Kürbis angeschwollen.

»Um Gottes willen, Polly,« rief ich aus, »was fehlt denn dem Kinde?«

»Ich weiß nicht, Madame,« antwortete sie, »aber der Herr hat sie gestern über eine Stunde im Meer herumpantschen lassen; sie wird wohl Wasser ins Hirn gekriegt haben.«

Natürlich schickte ich sofort zum Arzt – mein Mann war nach der Stadt gefahren – und als der Doktor kam, sagte er, das Plätschern im Wasser sei ohne Zweifel die Ursache, und es wäre ein Wunder, daß das Kind nicht die Kopfrose bekommen habe. Nun bitte ich einen! Ein Vater erlaubt seinem Kinde, die Füße eine Stunde lang im kalten Wasser zu haben, ohne ihm den Kopf naß zu machen! Ist das nicht, um den Verstand zu verlieren?

Ich sage immer, daß mein ältester Sohn nicht für seine wilden Streiche verantwortlich gemacht werden kann, denn sie sind wahrscheinlich seines Vaters Schuld. Als John ein kleiner Junge war, machte sein Vater immer Kunststücke mit ihm. Das Kind mußte sich bücken und den Kopf zwischen den ausgespreizten Beinen hindurchstecken. Dann ergriff ihn sein Vater bei den Händen und ließ ihn einen Purzelbaum schlagen, und seither ist es, glaube ich, mit Johns Kopfe nicht ganz richtig. Es geht gegen die Natur eines Kindes, wenn es immer kopfüber, kopfunter gedreht wird; das muß ja das geistige Gleichgewicht stören.

Wenn ich manchmal daran denke, was für Schrecken ich durch meines Mannes Unverstand gehabt habe, dann kann ich mich nur wundern, daß meine Nerven nicht noch mehr zerrüttet sind. Ich konnte ihm aber nie ernste Vorwürfe machen, denn er war immer ebenso unglücklich als ich, und viel hilfloser.

Ich werde nie den Tag vergessen, wo er in mein Zimmer kam, als ich gerade beim Ankleiden war, denn ich hatte meines Kopfwehs wegen im Bett gefrühstückt. Sein Gesicht war geisterbleich, er sank auf einen Stuhl und rief mit Grabesstimme: »Ich – ich – fürchte, Sabine hat einen Pfennig verschluckt!«

»Wo ist sie?« schrie ich, in die Höhe fahrend.

»Ich habe sie in der Kinderstube gelassen; sie ist ganz schwarz im Gesicht, und ich habe sie auf den Kopf gestellt und geschüttelt, aber ohne Erfolg. Lieber Himmel! Was soll ich anfangen?«

Weiter brauchte ich nichts zu hören. Im Augenblick war ich oben, und da fand ich mein armes Lämmchen fast erstickt (sie war damals erst vier Jahr alt), und die Gans von Kindermädchen, der die Augen beinahe aus dem Kopfe traten, klopfte sie in den Rücken und schrie: »Spuck's doch aus, mein Herzchen, spuck's doch aus, oder du mußt sterben.«

Ich riß ihr das Kind aus den Händen, aber ich war so erschreckt, als ich es würgen und husten sah, daß ich meine sonstige Geistesgegenwart einen Augenblick verlor und an allen Gliedern zitterte.

»Wie ist denn das zugegangen?« fragte ich atemlos.

»O, ich hab's nicht gethan, Madame – es war der Herr. Er hat ihr einen Pfennig gegeben, sie hat ihn in den Mund gesteckt, und er ließ sie auf seinen Knieen reiten und machte ›so hoppelt der Bauer‹ mit ihr, und dabei muß sie den Pfennig verschluckt haben.«

Stellt euch das nur 'mal vor. Ein Familienvater macht mit seinem Kind »so hoppelt der Bauer« mit einem Pfennig im Munde!

Es war Sonntag Morgen und die Leute gingen gerade in die Kirche, aber daran dachte ich nicht. Ich wußte weiter nichts, als daß mein Kind einen Pfennig im Halse stecken hatte, und ich fürchtete, wenn sie ihn verschluckte, dann käme Grünspan in ihr liebes Mägelchen, und Grünspan ist doch Gift. Ohne mich lange zu besinnen, rannte ich, so wie ich war, im losen Schlafrock und mit offenem Haar mit dem armen Mäuschen die Treppe hinab und flog über die Straße und um die Ecke, wo unser Doktor wohnte.

Die Nachbarn haben mich wohl für verrückt gehalten. Einige blieben mit ihren Gesangbüchern unter dem Arme wie versteinert stehen und sahen mir nach, aber ich mußte sie denken lassen, was sie Lust hatten, denn ich konnte doch nicht jedermann im Vorbeirennen zurufen: »Mein Kind hat einen Pfennig verschluckt!«

Alles das und wie ich ausgesehen haben muß, fiel mir erst später ein, aber damals dachte ich an weiter nichts als an mein armes Kind.

An der Gartenthür des Doktors riß ich beinahe die Klingel ab, und dann stürmte ich die Treppe hinauf und rappelte mit dem Klopfer, daß die Leute, die nicht in die Kirche gegangen waren, die Fenster aufrissen und die Köpfe herausstreckten. Der Bediente kam auch gleich, ich rannte durch den Hausflur und stürzte so außer Atem ins Sprechzimmer des Doktors, daß ich nur ächzen konnte: »Pfennig – Hals – rasch!«

Der Doktor nahm das Kind, das furchtbar schrie, untersuchte den Hals und sagte: »Ich sehe nichts.«

»Dann hat sie ihn schon verschluckt,« antwortete ich, »O, Herr Doktor, was soll ich anfangen? Mein armes Kind ist vergiftet – es wird an Grünspan sterben! Retten Sie mein Kind!«

Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, denn ich hatte das Gefühl, als ob ich den Verstand verlieren sollte, aber in diesem Augenblick wurde wieder laut an der Hausthür geklopft und ich hörte, wie mein Mann nach mir fragte. Gleich darauf trat er ins Zimmer.

»Beruhige dich, es ist alles in Ordnung, meine Liebe,« rief er, »wir haben den Pfennig gefunden.«

»Was?« entgegnete ich, »das Kind hat ihn gar nicht verschluckt? Und du hast mich in diesem Aufzug –« und dann fiel ich erschöpft aufs Sofa, bekam Weinkrämpfe, und es dauerte eine Viertelstunde, bis ich mich soweit erholt hatte, daß ich nach Hause gehen konnte.

Der Doktor ließ uns eine Droschke holen, denn als die Aufregung vorüber war, konnte ich doch nicht im Schlafrock, bloßem Kopf und auf dem Rücken hängendem Haar über die Straße gehen, und in der Droschke habe ich meinem Manne dann gehörig die Meinung gesagt. So 'ne Idee! Jagt mir einen so wahnsinnigen Schreck ein und macht mir Angst, mein Kind hätte einen Pfennig verschluckt, und ich renne am Sonntag im bloßen Kopfe durch die Straßen, und alles für nichts und wieder nichts!

Als ich gegangen war, hatte das Kindermädchen den Pfennig auf dem Fußboden gefunden. Er war augenscheinlich ins Kleid des Kindes und nicht seine Kehle hinuntergeglitten und zu Boden gefallen, als mein Mann es auf den Kopf gestellt hatte, aber in seinem Schreck hatte er das nicht bemerkt, sondern geglaubt, es habe ihn verschluckt. Kein Wunder, daß das arme Wurm nach einer solchen Behandlung und nachdem es vom Kindermädchen so heftig in den Rücken gepufft worden war, schrie. Das sind einige Proben von den Dingen, womit ich mich in den ersten Jahren meiner Ehe abfinden mußte, und das einzige Wunder ist, daß sie mich nicht zu einem galligen, unleidlichen Frauenzimmer gemacht haben.

Solange die Kinder jung waren, hörten die Sorgen und die Unruhe nicht auf, denn wenn sie nicht die Masern oder den Keuchhusten oder eine andre Kinderkrankheit hatten, dann kriegten sie Fischgräten in den Hals, oder stießen und schlugen sich die Kniee auf, und John (mein Sohn, nicht mein Mann), nicht zufrieden damit, sich von allem anstecken zu lassen, was überhaupt ansteckend ist – was der Junge für eine Ansteckungsfähigkeit besaß, ist wirklich kaum zu glauben; es brauchte nur ein Fall von Masern in der Zeitung zu stehen und diese dem Jungen zufällig in die Hände zu geraten, und richtig, er kriegte die Masern – brachte es wirklich fertig, sich zu verlieren, während er mit dem Kindermädchen, das sein kleines Schwesterchen im Wagen fuhr, aus war. Als das Mädchen nach Hause kam und mir sagte, es sei stehen geblieben, um sich ein Schaufenster anzusehen, und als es sich wieder umgedreht habe, sei der Junge verschwunden gewesen – er war damals etwa sechs – da war es ein Wunder, daß ich der Gans nicht ein paar gab.

Natürlich hatte ich furchtbare Angst, wie jede Mutter gehabt hätte, deren Kind in den Straßen von London verloren ist, denn die Zeitungen waren voll von Fällen, wo liebe kleine Kinderchen, durch Süßigkeiten in abgelegene Straßen gelockt, dort ihrer hübschen Kleider beraubt und an deren Stelle mit schmierigen Lumpen bekleidet worden waren, und ich war fest überzeugt, daß mein Junge gestohlen sei und zum Seiltänzer oder Clown erzogen werde.

Zuerst war ich wütend, ich konnte nicht anders; als aber eine Stunde vergangen war, ohne daß der Junge heimgekommen wäre, und die Nacht anbrach, da schickte ich sämtliche Dienstboten aus und ließ in allen Läden fragen und eine Beschreibung von ihm auf der Polizei abgeben, und ich konnte weiter nichts thun, als im Hausflur auf und ab gehen, die Hände ringen und von Zeit zu Zeit vor die Thür treten und die Straße hinauf und hinab sehen, ob ich nicht eine Spur meines Jungen entdecken könne.

Um sieben Uhr abends wurde er von einem Schutzmann gebracht. Er war weinend am Triumphbogen gefunden und nach der nächsten Polizeiwache geführt worden, und ich war so überglücklich, daß ich dem Schutzmanne fünf Schillinge gab und John für sein Weglaufen und weil er mich so furchtbar geängstigt hatte, ordentlich durchwichste.

Eine Mutter, die alles das durchgemacht hat, kann doch wohl erwarten, daß ihr ihre Kinder, wenn sie aufgewachsen sind, ein Trost und eine Stütze werden und daß sie ihre Tage in Frieden beschließen könne. Wie es mit andern Müttern ist, weiß ich nicht. Manche mögen glücklicher gewesen sein als ich; ich weiß nur, daß ich mir jetzt, wo meine Kinder verheiratet und versorgt (unversorgt wäre richtiger) sind, nicht nur über sie, sondern auch über ihre Männer und Frauen Sorgen mache. Die Sorgen einer Mutter sind schlimm genug, aber die einer Schwiegermutter – ich glaube alles Ernstes, sie sind noch schlimmer; denn wenn sie sich melden, ist man nicht mehr so jung, so kräftig und so hoffnungsvoll, und dann kommen die Enkel, die auch nicht ohne sind. Sie sind eine doppelte Sorge; stößt ihnen etwas zu, dann trägt man außer den eigenen auch noch die Sorgen ihrer Väter und Mütter mit, und das ist nur natürlich.

Meine Bedrängnisse scheinen gar kein Ende nehmen zu sollen; kaum habe ich mich über meiner ältesten Tochter kleinen Jungen beruhigt, der seine arme Mutter beinahe zu Tode geängstigt hat, weil ihm Wasser ins Hirn getreten war, so kriegt meiner zweiten Tochter kleines Mädchen die Masern, und man weiß ja nie, was sie zurücklassen, und wenn sie, Gott sei Dank, gar nichts zurücklassen, und ich schon anfange, aufzuatmen, dann ist mein zweiter Sohn William wieder in Angst und Not über seinen kleinen Jungen, den ein nachlässiges Mädchen aus dem Kinderwagen auf den Kopf hat fallen lassen, so daß der Arzt befürchtet, es könne ein dauernder Schaden für die geistigen Fähigkeiten des Kindes zurückbleiben. Die dumme Person! Statt vor ihre Füße zu sehen, reckt sie die Nase in die Luft und rennt mit dem Kinderwagen gegen einen Laternenpfahl!

Gott sei Dank! Die Kinder sind wieder alle wohl, und soweit ist alles mit ihnen in Ordnung, aber man weiß nie, was kommen kann, und ich öffne meine Briefe stets mit Furcht und Zittern.

Der Brief, den die liebe Lottie mir schrieb, worin sie mich bat, doch gleich zu ihr zu kommen, weil John sich in so ungewöhnlicher Weise benehme, ist eine Probe dessen, was ich zu ertragen habe.

Ich habe schon davon erzählt, welche Sorgen mir John durch sein excentrisches Wesen gemacht habe, und weil er in seines Vaters Geschäft nicht gut thun wollte, sondern Schriftsteller wurde, aber von seiner Verheiratung habe ich noch nichts mitgeteilt.

Die erste Ahnung, daß er verliebt sei, erhielt ich durch die Photographie seiner »ihn liebenden Lottie«, die ich in seinem Zimmer fand.

Als er an jenem Abend nach Hause kam, war ich schon zu Bett gegangen, aber am nächsten Morgen nahm ich ihn vor.

»John,« sagte ich, »ich war gestern abend in deiner Stube und habe dort eine Photographie gefunden. Wer ist denn die junge Dame?«

Er wurde ein bißchen rot und lachte verlegen.

»O, das ist ein Geheimnis, Mutter,« sagte er, »du darfst nicht neugierig sein.«

Neugierig sei ich durchaus nicht, entgegnete ich, aber ich meinte, daß es ein Geheimnis wegen einer »ihn liebenden Lottie« nicht geben dürfe. Dann bat ich ihn, ernsthaft zu sein, und gab ihm etwas mütterlichen Rat über Damenbekanntschaften, wobei ich besonderen Nachdruck darauf legte, daß sich kein Mann, der ein Mädchen aufrichtig achte, zu schämen brauche, mit seiner Mutter über sie zu sprechen.

Aber John wollte nicht ernsthaft sein, sondern brachte das Gespräch auf andre Dinge. Er konnte es nie vertragen, wenn man ernst mit ihm sprach oder ihm raten wollte. Der arme Junge! Es wäre besser für ihn gewesen, wenn er gelernt hätte, seine Empfindlichkeit in dieser Hinsicht zu bekämpfen, und es war doch nur natürlich, daß ich mich um seine Wohlfahrt sorgte.

Ich wäre auf die Sache zurückgekommen, denn wie mein Mann bezeugen kann, bin ich nicht die Frau, die sich so leicht ablenken läßt, wenn sie sich einmal vorgenommen hat, etwas herauszubringen, aber unglücklicherweise geriet John, obgleich sein Vater seine Schulden sehr großmütig bezahlt hatte, abermals in die Klemme. Er hatte wieder Schulden gemacht, die Gläubiger kamen ins Haus und belästigten ihn, und eines Tages verursachte er mir einen großen Schreck, indem er mir sagte, er wolle sich möblierte Zimmer mieten und allein wohnen.

Wenn es irgend etwas in der Welt gibt, wogegen ich ein gewisses Vorurteil habe, dann sind's möblierte Zimmer für junge Herren. Ich halte es nicht für gut, wenn junge Leute sich der Einwirkung der Familie früher entziehen, als bis sie sich einen eigenen Herd gründen wollen, wo der Einfluß der Frau den der Mutter und Schwestern ersetzt. Ich war deshalb sehr unglücklich darüber, aber was konnte ich machen? John war mündig, und wenn es ihm beliebte, zu gehen, konnte niemand ihn halten. Er gab vor, er müsse aus Gründen, die mit seiner schriftstellerischen Thätigkeit zusammenhingen, eine eigene Wohnung haben, und trotz allem, was ich einwandte, ging er – es war ein harter Schlag für mich – und mietete sich möblierte Zimmer am andern Ufer der Themse in Camberwell.

Er besuchte uns ziemlich häufig und sprach sehr zuversichtlich von seiner Zukunft, und es ist auch richtig, er hatte eine feste Anstellung bei der Redaktion einer Wochenzeitung und arbeitete auch für verschiedene Blätter in der Provinz, so daß er gar keinen schlechten Verdienst hatte.

Dafür mußte man ja dankbar sein, und ich machte mir wirklich nicht mehr viel Sorgen um ihn. Die Photographie und seine ihn liebende Lottie hatte ich fast vergessen, als ich eines Tages einen Brief von ihm erhielt, den ich erschrocken zu Boden fallen ließ, nachdem ich ihn gelesen hatte, und alles, was ich sagen konnte, war: »Allmächtiger Gott!«

In Anbetracht des Inhalts war der Brief sehr kurz, aber er war ganz John.

»Liebe Mutter! Du wirst überrascht sein, zu hören, daß ich verheiratet bin. Meine Frau wird Dir gefallen, das weiß ich bestimmt, und deshalb möchte ich sie Dir vorstellen. Dem Alten brauchst Du vorläufig noch nichts zu sagen, sondern warte lieber, bis Du sie Dir angesehen hast. Ich möchte Lottie allmählich mit der Familie bekannt machen; sie ist ein bißchen schüchtern und fürchtet, Ihr würdet sie alle nicht leiden können, deshalb möchte ich Euch nicht alle auf einmal auf sie loslassen. Willst Du nächsten Samstagabend um sechs bei uns essen? Setze Dein freundlichstes Lächeln auf, als die liebe alte Mutter, die Du bist, denn Lottie macht sich große Sorgen, daß Ihr die Nachricht übel aufnehmen werdet, und ich möchte ihr doch gern zeigen, was für eine prächtige, gütige, liebe Sorte Schwiegermutter sie bekommen hat.

Dein Dich treu liebender Sohn

John.«

Als ich mich von meiner Ueberraschung erholt hatte, war mein erstes Gefühl Aerger. Wie in aller Welt kam John dazu, sich zu verheiraten, ohne einer Menschenseele ein Wort davon zu sagen? Das war ja lächerlich, unsinnig, und wie konnte sich das Mädchen zu so etwas überreden lassen, und wie kamen ihre Angehörigen dazu, ihre Einwilligung zu einer solchen heimlichen Heirat zu geben, und was sollte die ganze Geschichte eigentlich heißen?

Je mehr ich mir die Sache überlegte, um so besorgter wurde ich, daß John einen sehr dummen Streich begangen und sich mit einem Mädchen verheiratet habe, das der Familie wahrscheinlich keine Ehre machen werde. Junge Männer sind manchmal sehr thöricht. Sie lassen sich von einem hübschen Gesicht fangen und stecken den Kopf in eine Schlinge, die sie ihr ganzes späteres Leben nicht wieder los werden.

Indessen das Unglück – wenn es eins war – ließ sich nicht ungeschehen machen, und alles, was ich thun konnte, war abwarten. Aber ich war sehr froh, als der Sonnabend endlich kam, denn nun würde die Ungewißheit enden und ich das Schlimmste – oder das Beste erfahren.

Zunächst war es ein etwas peinliches Zusammentreffen, aber das dauerte nicht lange. Frauen erkennen einander auf den ersten Blick, und ein Blick auf meine neue Schwiegertochter reichte hin, mir zu zeigen, daß Johns Glück in guten Händen liege. Nachdem sie ihre anfängliche Schüchternheit überwunden hatte, wurden wir sehr rasch Freunde, und ich konnte sehen, daß John über den guten Eindruck, den seine Frau offenbar auf mich machte, sehr glücklich war.

Lottie war groß und anmutig, und was mir am besten an ihr gefiel, sie schien sehr häuslich und eine tüchtige Wirtschafterin zu sein. Ohne allzu unverhohlene Neugier zu verraten, gelang es mir doch, alles über sie in Erfahrung zu bringen, was ich wissen wollte. John hatte sie im Hause einer seiner schriftstellerischen Freunde kennen gelernt, und dort hatten sie auch Neigung zu einander gefaßt. Sie war eine Waise und hatte bei einem Onkel und einer Tante gelebt, war aber nicht glücklich bei ihnen gewesen, und das war vielleicht der Grund, weshalb sie in eine heimliche Trauung gewilligt hatte. Jedenfalls waren sie verheiratet und glücklich, das konnte ich sehen.

John war den ganzen Abend in der besten Laune, und ehe ich fortging, beruhigte er mich wegen seiner Stellung, denn nun, da er verheiratet war, lag mir daran, zu wissen, daß er keine Geldsorgen hatte. Nichts ist so bedrohlich für das häusliche Glück, als unbezahlte Metzgerrechnungen.

Er erzählte mir von verschiedenen Stellungen, die ihm angeboten waren, namentlich von einer besonders vorteilhaften, und bewies mir, daß sein Einkommen hinreichte, eine Familie anständig zu erhalten, selbst wenn sein Vater ihm keinen Zuschuß geben sollte, und so ging ich sehr zufriedenen Gemüts nach Hause, glücklich über den Gedanken, daß meines ältesten Sohnes Los sich so günstig gewendet und daß sich seine ihn liebende Lottie schließlich als ein so nettes, verständiges, häusliches Mädchen herausgestellt hatte, das für ihn sorgen und sein Heim behaglich machen würde.

John hatte es mir überlassen, die Neuigkeit den andern Familiengliedern schonend beizubringen, und das that ich auch, wobei ich seinen Schwestern versicherte, die neue Schwägerin werde ihnen sehr gut gefallen. Mr. Tressider nahm die Mitteilung sehr ruhig hin. Ich habe überhaupt nie einen Menschen gesehen, der die überraschendsten Nachrichten so ruhig hingenommen hätte.

Als ich nach Hause kam, ging ich gleich hinunter in seine Stube und fand ihn wie gewöhnlich rauchend und die »Times« lesend. Ich glaube, er hält es für seine Pflicht, jeden Abend die Times zu lesen, und meint, wenn er es einmal versäume, dann würde das Britische Reich aus den Fugen gehen.

»John,« sagte ich, »sei so gut und leg die Zeitung 'mal hin und hör mich an.«

Er sah mich einen Augenblick an, legte aber die Times nicht aus der Hand.

»Sprich nur,« antwortete er, »ich höre.«

Ich erhob mich, nahm ihm die Zeitung ruhig weg und legte sie auf den Tisch.

»Du wirst doch 'mal einen Augenblick ohne die Zeitung fertig werden können, sollte ich meinen,« versetzte ich. »Du kannst deiner Frau und deiner Zeitung nicht gleichzeitig die gehörige Aufmerksamkeit widmen.«

Er sah mich in seiner verständnislosen, halb stumpfsinnigen Art an, die mich immer ganz besonders aufbringt, aber ich wollte mich nicht reizen lassen, weil ich mich bei einer solchen Gelegenheit, wie die Eröffnung der Verheiratung seines ältesten Sohnes, nicht zanken mochte.

»John ist verheiratet,« sagte ich also ganz ruhig.

Ich erwartete, daß er auffahren oder ein bißchen Ueberraschung verraten werde; er zog aber nur die Augenbrauen in die Höhe und sagte: »So?«

»Ich bin bei ihm gewesen, und seine Frau ist ganz allerliebst.«

Mr. Tressider nahm die Pfeife aus dem Munde, sah, daß sie erloschen war, stopfte sie und zündete sie wieder an und stieß drei oder vier dicke Dampfwolken aus.

»Hm!« machte er dabei.

Nun wurde ich aber wirklich ärgerlich.

»John Tressider,« sprach ich, »wenn dies das ganze Interesse ist, das du an deines ältesten Sohnes Verheiratung nimmst, dann solltest du dich was schämen. Wenn du deine Pflicht als Vater gethan hättest – – –«

Ich hatte keine Zeit, meinen Satz zu vollenden, denn in diesem Augenblick trat der Bediente ein und brachte Mr. Tressiders Schlafstubenlicht, das auf meine Anordnung stets auf seinen Tisch gestellt wurde, damit das Gas auf der Treppe ausgedreht werden konnte und nicht seinem Unverstand überlassen zu werden brauchte.

Als der Bediente gegangen war, nahm mein Mann die Zeitung wieder auf und suchte die Stelle, wo er unterbrochen worden war.

»Ich bin froh, daß du sie nett findest,« sagte er, »und ich freue mich, daß er verheiratet ist; das wird ihn vielleicht solid machen. Ich bin der Ansicht, daß es ganz verständig von ihm ist.«

»Daß er sich heimlich verheiratet hat? Du billigst doch solche Heiraten nicht?«

»Nun, sie ersparen einem viel Unruhe, nicht wahr? Es gibt kein Hochzeitsfrühstück, keine Reden zu halten, keine Kosten, keinen albernen Unsinn. Wenn ich 'mal wieder heirate, dann – – –«

Das war mehr, als ich ruhig mit anhören konnte.

»Du wirst doch hoffentlich so anständig sein, zu warten, bis ich tot bin,« entgegnete ich ärgerlich, marschierte aus dem Zimmer und schmetterte die Thür hinter mir ins Schloß.

Er hatte es nicht schlimm gemeint, wie er nachher erklärte, aber ich habe nie einen Mann gekannt, der einen so mit Ueberlegung und Ruhe reizen konnte, wie John Tressider, wenn er's darauf anlegte.

John artet in dieser Hinsicht seinem Vater nach. Auch er kann einen reizen, aber nicht mit Ruhe und Ueberlegung. Er kann sich nicht beherrschen und bringt einen wohl zur Verzweiflung, aber ohne es zu wollen. Selbst die arme, liebe, sanfte Lottie. Aber ihr werdet ja sehen, wie er's trieb und was für dumme Geschichten er anstellte, als ich infolge von Lotties Brief eintraf.

Wie sie alles so ruhig hinnehmen kann, ist mir schleierhaft. Mein Mann sollte sich 'mal so was unterstehen. Ich bin eine langmütige Frau, aber – – –


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