George R. Sims (1847 - 1922)
Die junge Frau Kaudel
George R. Sims (1847 - 1922)

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Herr Kaudel leidet an Magenkatarrh.

Kaudel hatte acht Tage lang an einer Verdauungsstörung gelitten, die ihn zu einer verdüsterten Weltanschauung und vielen Seufzern veranlaßte. Die junge Frau Kaudel war am ersten Tag voll Mitgefühl gewesen, am zweiten aber war ihre Teilnahme kühler und am dritten behandelte sie ihn entschieden grausam.

»Ich begreife nicht, daß ein Mann sich so kläglich gebärden mag, Wilfrid,« sagte sie. »Wenn du Indigestionen hast, so nimm doch etwas dagegen ein.«

»Ich habe mein Leben lang dagegen eingenommen,« stöhnte Kaudel, der das Gewicht eines Motorwagens auf seiner Brust zu spüren glaubte, »und rede doch nicht von Indigestionen, denn das ist es nicht. Es ist eine Untätigkeit der Verdauungsorgane, womit meine Familie von jeher belastet war.«

»Deine Familie scheint mit sehr Vielem belastet zu sein! Wenn sie mehr erbliche Freude am Spazierengehen hätte, wäre vieles besser.«

»Du meinst, ich machte mir nicht genug Bewegung? Ich tue ja, was ich kann, aber ein Mann, der den lieben langen Tag und die halbe Nacht Gehirnarbeit verrichtet, kann nicht immer spazieren gehen, übrigens nützt das auch nichts; es ist ein altes, vererbtes Übel.«

»Gut, dann rede nicht so viel darüber, sondern versuche, es zu heilen.«

»Das habe ich bereits getan. Ich habe Ingwer und Kreosol genommen, Schachteln voll Tablettchen und Gläser voll Arzneien, bin rund um den Park gerannt, stundenweise Treppen auf und ab gelaufen, aber nichts hat mir geholfen.«

»Willst du etwas nehmen, was ich dir gebe?«

»Was ist es?«

Die junge Frau Kaudel zog ein Büchschen aus der Tasche und entnahm diesem etwas, was wie ein Kalkmarmel aussah.

»Ich habe einer Dame erzählt, wie entsetzlich du leidest, und da gab sie mir eine von diesen Kugeln. Ein deutscher Professor hat sie ihrem Mann verordnet, und sie haben ihm außerordentlich wohlgetan.«

»Mabel!« rief Kaudel mit strengem Ton, indem er den weißen Marmel beguckte. »Wenn du mich loswerden willst, so verschaffe dir ein Gift, das schmerzlos wirkt, und gieße mir’s in den Tee.«

»Gift! Was für verrücktes Zeug du redest! Meine Freundin würde mir doch wahrlich kein Gift geben.«

»Aus was besteht das Ding?«

»Das weiß ich nicht; sie hat mir’s nicht gesagt.«

»Und du erwartest, daß ich einen weißen Marmel hinunterschlucke, von dessen Bestandteilen du nichts weißt? Nein, Mabel, da sind mir meine Leiden noch lieber.«

»Mir aber nicht, denn die drücken andre auch zu Boden. Es ist keine Kleinigkeit, dich den ganzen Tag stöhnen und über alles brummen zu hören. Du rührst deine Mahlzeiten kaum an, kannst dies nicht essen, jenes nicht riechen, du gehst mir wahrhaftig auf die Nerven.«

«Ich geh’ namentlich mir selbst auf die Nerven.«

»Und jedermann, der um dich sein muß. Der Hund verkriecht sich unterm Tisch, sobald du ›deinen Magen‹ hast, und er tut sehr wohl daran. Dabei willst du ihn doch nicht loswerden.«

»Wen, den Hund?«

»Nein, deinen Magenkatarrh.«

»Glaubst du, daß ich das nicht möchte, wenn ich nur könnte? Ich hasse meinen Zustand, und würde wahrlich lieber frohgemut und leichtherzig sein, als schwermütig und bedrückt. Bildest du dir etwa ein, Kranksein mache mir Vergnügen?«

»Nein, aber manchmal will es mir scheinen, du bildetest dir ein, kränker zu sein, als du bist. Nur den Tag über stöhnst du und machst ein Gesicht, als ob alle Kümmernisse der ganzen Welt auf dir lasteten. Sobald aber der Abend kommt und das Licht brennt, bist du wieder ganz munter.«

»Nervöse Menschen mit schlechter Verdauung befinden sich des Abends immer wohler. Da leben sie auf. Diesmal hat mich’s eben bös gepackt; mir ist, als ob ich Zentnerlasten auf der Brust trüge.«

»Das muß schrecklich sein — und doch weigerst du dich, ein Mittel zu nehmen, das ich dir anbiete.«

»Ich will wissen, was ich schlucke.«

»Nun, ich kenne ein paar ganz harmlose Hausmittelchen, die mein Vater zu nehmen pflegte, wenn seine Verdauung nicht in Ordnung war. Der stöhnte nämlich nicht, rollte die Augen und wurde auch nicht so reizbar, daß man den Hund hätte tagelang spazieren schicken müssen, sondern er trank einfach ein Glas kochend heißes Wasser, wenn ihm nicht wohl war. Darf ich dir nicht ein Glas heißes Wasser bringen?«

»Nein, ich danke. Ich bin kein Teekessel. Ich nehme Wismut und will dabei bleiben.«

»Das Mittel scheint nicht viel zu taugen, sonst hätte dir’s längst geholfen, aber du willst ja kein richtiges nehmen. Sieh nur all die Anzeigen von Verdauungsmitteln an, die in den Zeitungen stehen. Warum versuchst du’s mit keinem?«

»Wenn ich sie alle untereinander nähme, könnte mir’s schlecht bekommen. Die meisten davon habe ich einzeln bereits versucht.«

»Dann kann’s nur daran liegen, wenn du nicht kuriert bist, daß du fortfährst, Dinge zu genießen, die dir schädlich sind. Du solltest den Tee am Morgen aufgeben und dafür Hafergrütze essen.«

»Hafergrütze ist mir ein Greuel. Nur die Schotten lieben Hafergrütze, und die bringen diesen Geschmack eben mit auf die Welt.«

»Und du solltest kein dunkles Fleisch essen, nur Hähnchen und Fische, und solltest nie etwas trinken bei den Mahlzeiten.«

»Ich trinke nie etwas zwischen den Mahlzeiten, und etwas Flüssigkeit muß ich doch zu mir nehmen.«

»Ja, aber du solltest kein Ingwerbier trinken; das ist gar nicht gut für den Magen.«

»Wein kann ich nicht vertragen, Bier nicht, Schnaps nicht. Und Limonade darf ich auch nicht trinken. Ich würde gern frisches Brunnenwasser trinken, nur graut mir davor, seit ich bei einem Vortrag im Polytechnikum Brunnenwasser unterm Mikroskop gesehen habe. Es schwammen Geschöpfe drin herum, die wie kleine Krokodile und Alligatoren aussahen.«

»Ich glaube, daß du zu viel rauchst. Das Rauchen kann unmöglich gut sein für den Magen, und du rauchst fast den ganzen Tag.«

»Das hat gar nichts damit zu schaffen. Meine Schwester raucht nicht, hält eine Milchdiät ein und hat noch mehr mit ihrem Magen zu schaffen als ich.«

»Ich verlange nur, daß du irgend etwas tust, um dein Leiden los zu werden. Dein Zustand wirkt so bedrückend auf mich, ja, manchmal ist mir’s, als ob ich ein Fenster aufmachen und hinausschreien müßte. Chronische Magenverstimmung beim Mann sollte einer Frau das Recht geben, sich scheiden zu lassen.«

»Mabel, Mabel, wie stimmt das zur Trauungsformel? Die Frau gelobt, daß sie dem Mann anhängen will in gesunden und kranken Tagen.«

»Ich glaube, daß es noch keine gichtischen, chronischen Magenkatarrhe gab, als man die Trauungsformel festsetzte. Die Menschen haben damals ein gesünderes Leben geführt, sind nicht tagelang in gekrümmter Haltung kritzelnd und Pfeifen rauchend am Pult gesessen.«

»Der Tabak war allerdings noch nicht erfunden, das ist richtig.«

»Und ich glaube wirklich, daß der an allem schuld ist. Du hast — wie heißt man’s doch? — eine Nikotinvergiftung!«

»Kinder rauchen nicht und haben doch oft Verdauungsstörungen.«

»Dann gibt man ihnen passende Mittel, doch du nimmst sie nicht.«

»Kinder verderben sich meist den Magen mit Obst und Süßigkeiten, was ich nicht tue.«

»Jedenfalls führen sich Kinder nicht so kläglich auf wie du! Da du aber keinen Rat von mir annimmst, nichts nehmen willst, was ich dir empfehle, so will ich jetzt ausgehen. Du willst ja vermutlich auch arbeiten.«

»Gewiß,« sagte Kaudel. »Geh du nur und laß mich allein meine Qualen tragen. Das Leiden will ich ja aushalten, aber noch Vorwürfe darüber zu bekommen, das schlägt dem Faß den Boden aus.«

Kaudel stand auf und zog sich in sein Studierzimmer zurück, und die junge Frau Kaudel rief den Hund aus seinem Versteck unterm Sofa und nahm ihn mit zum Spaziergang.

Zwei Stunden darauf, Kaudel stöhnend und Wismutzeltchen kauend über der Arbeit saß, kehrte sie mit strahlender Miene zurück. Sie hatte eine dickbauchige Flasche im Arm, eine Flasche, wie die Leute sie ins Spital mitbringen, um unentgeltlich verteilte Arzneien in Empfang zu nehmen.

»Du lieber Himmel, Mabel!« rief Kaudel. »Was in aller Welt schleppst du denn da umher?«

»Etwas für dich. Ein unfehlbares Mittel gegen Magenkatarrh.«

Kaudel schielte mißtrauisch nach der Flasche, die mit einer dicken grünlichen Flüssigkeit gefüllt war.

»Was ist es? Woher hast du es?«

»Nun, ich habe bei unserm Schornsteinfeger vorgesprochen, um ihn zum Teppichklopfen zu bestellen, und dabei lernte ich seine Frau kennen. Ein nettes altes Frauchen, das nach dir gefragt hat, weil sie, wie sie mir sagte, alles liest, was du schreibst, und da habe ich ihr erzählt, wie übel du mit deinem Magenkatarrh dran seiest. ›O, Frau Kaudel,‹ hat sie gesagt, ›wollen Sie dem Herrn nicht eine Flasche von dem Trank bringen, den mein Mann genommen hat? Der hat ausgestanden wie ein Märtyrer mit seinem Magen und ist jetzt gesund wie der Fisch im Wasser. Stöhnend und seufzend ist er allemal morgens an sein Geschäft gegangen, und dann mit solchen Schmerzen heimgekommen, daß er sich nicht einmal mehr dazu aufraffen konnte, vor dem Essen den Ruß abzuwaschen. Jetzt ist er pudelwohl, geht pfeifend an die Arbeit und summt ein Liedchen aus einer Oper, wenn er heimkommt. Er ist nämlich sehr musikalisch, mein Mann, müssen Sie wissen.‹«

»Und du willst, daß ich …«

»Laß mich ausreden — ich bin noch nicht fertig. Als mir die Frau das gesagt hatte und dann in ihre gute Stube ging und eine Flasche von dem Trank brachte, den sie immer vorrätig hat und den sie selbst aus Kräutern bereitet, die sie gut kennt, weil nämlich ihr Vater ein Kräutersammler war, da habe ich’s doch nicht ablehnen können, sie mitzunehmen, und habe ihr schönen Dank dafür gesagt. So, und da ist die Flasche.«

Die junge Frau Kaudel stellte das stattliche Gefäß auf den Schreibtisch.

»Nach jeder Mahlzeit mußt du ein Weinglas voll davon trinken, und wenn du das drei Tage lang tust, wird all dein Ach und Weh kuriert sein.«

»Mabel!« rief Kaudel entrüstet. »Glaubst du wirklich, daß ich das Gebräu einer Schornsteinfegersfrau schlucken werde? Weg damit!«

Die junge Frau Kaudel machte ein sehr betrübtes Gesicht.

»Jetzt willst du es nicht einmal nehmen, und ich hab’ die häßliche Flasche den ganzen Weg hergeschleppt, als ob ich vom Spital käme! Nie mehr werde ich etwas für dich tun!«

»Du brauchst mir auch keine von Schornsteinfegern bereitete Arzneien zu bringen! Das nächste Mal bringst du mir vielleicht eine Schachtel mit Pulvern vom Straßenkehrer! Ich finde es im höchsten Grad unpassend, daß du in der Nachbarschaft herumläufst und mit Schornsteinfegern und Teppichklopfern über deines Mannes Gesundheit verhandelst. Nächstens wirst du den Schutzmann über die Symptome meines Leidens unterhalten. Mein Magenkatarrh ist meine persönliche Angelegenheit, und ich verbitte mir, daß sie außerhalb des Hauses besprochen wird. Was würdest du dazu sagen, wenn ich mit dem Blumenmädchen an der Ecke von deiner Migräne sprechen wollte und dir etwa ein Fläschchen aus der Hausapotheke ihrer Mutter mitbringen? Was diesen Humpen mit irgend einem Sudel aus der Hexenküche betrifft, so nimm ihn weg und bring ihn mir nicht wieder vor Augen. Du kannst ihn der Madame Schornsteinfeger zurückschicken mit einer schönen Empfehlung von mir, und ich möchte sie nicht berauben.«

»Das werde ich nicht tun. Ich werde die arme Frau, die dir etwas Gutes erweisen wollte, nicht kränken.«

»Dann gieße den Trank aus oder beglücke deinen Vater damit; ich nehme ihn jedenfalls nicht.«

»Gut, nur laß mich dann auch unbehelligt mit deinen Leiden. Ich werde keine Teilnahme mehr haben und einfach ausgehen, wenn du zu stöhnen anfängst. Wenn du wirklich so übel dran wärest, wie du dich anstellst, würdest du Hilfe suchen und dankbar sein für eine solche. Ich glaube, deine Krankheit beruht nur auf Einbildung. Es ist gar nicht so schlimm, du bildest dir’s nur ein — oder willst mir’s weismachen.«

»O gewiß,« versetzte Kaudel gereizt, »ich verstelle mich nur. Du siehst, daß ich mich vor Schmerzen krümme — das ist natürlich gemacht. Du hörst mich stöhnen — Schauspielerkunststück. Ich habe ja so viel übrige Zeit, daß ich mir eine künstliche Nachahmung von Krankheitszuständen ausdenke und meinen Tag mit Privatvorstellungen zubringe. Alles Komödie!«

»Komödie!« rief die junge Frau Kaudel. »Was mich betrifft, so ist’s wahrhaftig eher eine Tragödie! Ich könnte ebensogut mit einem Pflegling des Heims für Unheilbare verheiratet sein.«

»Wenn du das wärest, dürftest du ihm wenigstens nicht Arzneien bringen, die du auf der Gasse aufgelesen hast und von denen du erwartest, daß ich sie schlucke!«

»Ich werde dir gewiß niemals mehr eine anbieten, nie mehr, solange ich lebe! Aber ich werde auch nicht länger die Sklavin deines Magenkatarrhs bleiben! Ich habe die ganze Zeit nichts mehr auf den Tisch gebracht, was ich gern esse, nur damit du nicht in Versuchung kommen solltest, auch davon zu essen. Das hat jetzt ein Ende. Für heute abend werde ich Salm mit Hummersauce und nachher eine Ente mit Gurkensalat bestellen und morgen soll’s zum Frühstück gedämpfte Leber und Speck geben. Ich werde mich nicht länger aus Gefälligkeit gegen dich von gedünsteten Seezungen, Hammelbraten und Sagopudding ernähren, denn blau gekochte Seezunge ist mir ein Greuel, der Hammelbraten ist mir über alle Maßen entleidet und Sagopudding war mir von jeher zuwider. Auf der Stelle werde ich mit der Köchin sprechen und ihr sagen, daß wir keine Krankenkost mehr brauchen, sondern menschenwürdige Nahrung. Vielleicht bestelle ich sogar Schweinebraten.«

»Das wirst du hübsch bleiben lassen!« rief Kaudel triumphierend, »und zwar weil er dir selbst nicht bekommt und weil die Versuchung für dich zu groß wäre. Wenn du Salm und Ente auf den Tisch bringst, so werde ich davon essen, und die Folgen fallen auf dein Haupt.«


»Meine Frau hielt Wort,« schreibt Kaudel, »und im ganzen war mir’s eher lieb als leid, denn ich hatte die Krankenkost auch herzlich satt. Ich aß Salm und Gurkensalat und ließ mir die Ente trefflich schmecken. Aus Angst vor den möglichen Folgen machte ich, statt nach Tisch an die Arbeit zu gehen, einen langen Spaziergang durch den Park und am andern Morgen war mein Magenkatarrh wie weggeblasen.«


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