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[Dieses Kapitel erschien in verkürzter Form vor mehreren Jahren in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XII, Heft 1.] Bei dem Verhältnis zwischen der Ausbildung der Individualität und dem socialen Interesse ist vielfach zu beobachten, daß die Höhe der ersteren Schritt hält mit der Erweiterung des Kreises, auf den sich das letztere erstreckt. Haben wir zwei sociale Gruppen, M und N, die sich scharf von einander unterscheiden, sowohl nach den charakteristischen Eigenschaften wie nach den gegenseitigen Gesinnungen, deren jede aber in sich aus homogenen und eng zusammenhängenden Elementen besteht: so bringt die gewöhnliche Entwicklung unter den letzteren eine steigende Differenzierung hervor; die ursprünglich minimalen Unterschiede unter den Individuen nach äußerlichen und innerlichen Anlagen und deren Bethätigung verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den umkämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen; die Konkurrenz bildet bekanntlich die Specialität des Individuums aus. Wie verschieden nun auch der Ausgangspunkt dieses Prozesses in M und N gewesen sei, so muß er diese doch allmählich einander verähnlichen. Es ist von vornherein wahrscheinlich, daß, je größer die Unähnlichkeit der Bestandteile von M unter sich und derer von N unter sich wird, sich eine immer wachsende Anzahl von Bildungen im einen finden werden, die solchen im ändern ähnlich sind; die nach allen Seiten gehende Abweichung von der bis dahin für jeden Complex für sich giltigen Norm muß notwendig eine Annäherung der Glieder des einen an die des ändern erzeugen. Schon deshalb wird dies geschehen, weil unter noch so verschiedenen socialen Gruppen die Formen der Differenzierung gleich oder ähnlich sind: die Verhältnisse der einfachen Konkurrenz, die Vereinigung vieler Schwacher gegen einen Starken, die Pleonexie Einzelner, die Progression, in der einmal angelegte individuelle Verhältnisse sich steigern u.s.w. Die Wirkung dieses Prozesses – von der blos formalen Seite –kann man häufig in der internationalen Sympathie beobachten, die Aristokraten unter einander hegen und die von dem specifischen Inhalt des Wesens, der sonst über Anziehung und Abstoßung entscheidet, in wunderlicher Weise unabhängig ist. Nachdem der sociale Differenzierungsprozeß zu der Scheidung zwischen Hoch und Niedrig; geführt hat, bringt die blos formale Thatsache einer bestimmten socialen Stellung die durch sie charakterisierten Mitglieder der verschiedenartigsten Gruppen in innerliche, oft auch äußerliche Beziehung. Dazu kommt, daß mit einer solchen Differenzierung der socialen Gruppe die Nötigung und Neigung wachsen wird, über ihre ursprünglichen Grenzen in räumlicher, ökonomischer und geistiger Beziehung hinauszugreifen und neben die anfängliche Centripetalität der einzelnen Gruppe bei wachsender Individualisierung und dadurch eintretender Repulsion ihrer Elemente eine centrifugale Tendenz als Brücke zu ändern Gruppen zu setzen. Wenige Beispiele werden für diesen an sich einleuchtenden Vorgang genügen. Während ursprünglich in den Zünften der Geist strenger Gleichheit herrschte, der den Einzelnen einerseits auf diejenige Quantität und Qualität der Produktion einschränkte, die alle ändern gleichfalls leisteten, andererseits ihn durch Normen des Verkaufs und Umsatzes vor Überflügelung durch den ändern zu schützen suchte, – war es doch auf die Dauer nicht möglich, diesen Zustand der Undifferenziertheit aufrecht zu halten. Der durch irgendwelche Umstände reich gewordene Meister wollte sich nicht mehr in die Schranken fügen, nur das eigene Fabrikat zu verkaufen, nicht mehr als eine Verkaufsstelle und eine sehr beschränkte Anzahl von Gehülfen zu halten, und Ähnliches. Indem er aber das Recht dazu, zum Teil unter schweren Kämpfen, gewann, mußte ein Doppeltes eintreten: einmal mußte sich die ursprünglich homogene Masse der Zunftgenossen mit wachsender Entschiedenheit in Reiche und Arme, Kapitalisten und Arbeiter differenzieren; nachdem das Gleichheitsprinzip einmal so weit durchbrochen war, daß Einer den Ändern für sich arbeiten lassen und seinen Absatzmarkt frei nach seiner persönlichen Fähigkeit und Energie, auf seine Kenntnis der Verhältnisse und seine Chancenberechnung hin, wählen durfte, so mußten eben jene persönlichen Eigenschaften mit der Möglichkeit, sich zu entfalten, sich auch steigern und zu immer schärferen Specialisierungen und Individualisierungen innerhalb der Genossenschaft und schließlich zur Sprengung derselben führen. Andererseits aber wurde durch diese Umgestaltung ein weiteres Hinausgreifen über das bisherige Absatzgebiet gegeben; dadurch, daß der Producent und der Händler, früher in einer Person vereinigt, sich von einander differenzierten, gewann der letztere eine unvergleichlich freiere Beweglichkeit und wurden früher unmögliche kommerzielle Anknüpfungen erzielt. Die individuelle Freiheit und die Vergrößerung des Betriebes stehen in Wechselwirkung. So zeigte sich bei dem Zusammenbestehen zünftiger Beschränkungen und großer fabrikmäßiger Betriebe, wie es etwa anfangs dieses Jahrhunderts in Deutschland stattfand, stets die Notwendigkeit, den letzteren die Produktions- und Handelsfreiheit zu lassen, die man den Kreisen kleinerer und engerer Betriebe kollektivistisch einschränken konnte oder wollte. Es war also eine zwiefache Richtung, in der die Entwicklung von dem engen homogenen Zunftkreise aus führte und die in ihrer Doppelheit die Auflösung desselben vorbereiten sollte: einmal die individualisierende Differenzierung und dann die an das Ferne anknüpfende Ausbreitung. Die Geschichte der Bauernbefreiung zeigt z.B. in Preußen einen in dieser Beziehung ähnlichen Prozeß. Der erb-unterthänige Bauer, wie er in Preußen bis etwa 1810 existierte, befand sich sowohl dem Lande wie dem Herrn gegenüber in einer eigentümlichen Mittelstellung; das Land gehörte zwar dem letzteren, aber doch nicht so, daß der Bauer nicht gewisse Rechte auf dasselbe gehabt hätte. Andererseits mußte er zwar dem Herrn auf dessen Acker frohnden, bearbeitete aber daneben das ihm zugewiesene Land für seine eigene Rechnung. Bei der Aufhebung der Leibeigenschaft wurde nun dem Bauer ein gewisser Teil seines bisherigen, zu beschränkten Rechten besessenen Landes zu vollem und freiem Eigentum übermacht, und der Gutsherr war auf Lohnarbeiter angewiesen, die sich jetzt zumeist aus den Besitzern kleinerer, ihnen abgekaufter Stellen rekrutierten. Während also der Bauer in den früheren Verhältnissen die teilweisen Qualitäten des Eigentümers und des Arbeiters für fremde Rechnung in sich vereinigte, trat nun scharfe Differenzierung ein: der eine Teil wurde zu reinen Eigentümern, der andere zu reinen Arbeitern. Wie aber hierdurch die freie Bewegung der Person, das Anknüpfen entfernterer Beziehungen hervorgerufen wurde, liegt auf der Hand; nicht nur die Aufhebung der äußerlichen Bindung an die Scholle kam dafür in Betracht, sondern auch die Stellung des Arbeiters als solchen, der bald hier, bald dort angestellt wird, andererseits der freie Besitz, der Veräußerlichungen und damit kommerzielle Beziehungen, Umsiedlungen u. s. w. ermöglicht. So begründet sich die im ersten Satz ausgesprochene Beobachtung: die Differenzierung und Individualisierung lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues –reales und ideales – zu den Entfernteren zu spinnen.
Ein ganz entsprechendes Verhältnis findet sich in der Tier- und Pflanzenwelt. Bei unsern Haustierrassen (und dasselbe gilt für die Kulturpflanzen) ist zu bemerken, daß die Individuen derselben Unterabteilung sich schärfer voneinander unterscheiden, als es mit den Individuen einer entsprechenden im Naturzustande der Fall ist; dagegen stehen die Unterabteilungen einer Art als Ganze einander näher, als es bei unkultivierten Species der Fall ist. Die wachsende Ausbildung durch Kultivierung bewirkt also einerseits ein schärferes Hervortreten der Individualität innerhalb der eigenen Abteilung, andererseits eine Annäherung an die fremden, ein Hervortreten der über die ursprünglich homogene Gruppe hinausgehenden Gleichheit mit einer größeren Allgemeinheit. Und es stimmt damit vollkommen überein, wenn uns versichert wird, daß die Haustierrassen unzivilisierter Völker viel mehr den Charakter gesonderter Species tragen, als die bei Kulturvölkern gehaltenen Varietäten; denn jene sind eben noch nicht auf den Standpunkt der Ausbildung gekommen, der bei längerer Zähmung die Verschiedenheiten der Abteilungen vermindert, weil er die der Individuen vermehrt. Und hierin ist die Entwicklung der Tiere der ihrer Herren proportional: in roheren Zeiten sind die Individuen eines Stammes so einheitlich und einander so gleich als möglich; dagegen stehen die Stämme als Ganze einander fremd und feindlich gegenüber; je enger die Synthese innerhalb des eigenen Stammes, desto strenger die Antithese gegenüber dem fremden; mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzierung unter den Individuen und steigt die Annäherung an den fremden Stamm. Dem entspricht es durchaus, daß die breiten ungebildeten Massen eines Kulturvolkes unter sich homogener, dagegen von denen eines ändern Volkes durch schärfere Charakteristiken geschieden sind, als Beides unter den Gebildeten beider Völker statthat. Und in Bezug auf die Reflexe, die dieses Verhältnis in den beobachtenden Geist wirft, muß Gleiches stattfinden, und zwar auf Grund der wichtigen psychologischen Regel, daß differente, aber zu dem gleichen Genus gehörige und in einer gewissen Einheit zusammengefaßte Eindrücke miteinander verschmelzen und sich dadurch gegenseitig derart paralysieren, daß ein mittlerer Eindruck herauskommt; eine der extremen Qualitäten wird durch die andere ausgeglichen, und wie die äußerst verschiedenen Farben das farblose weiße Licht zusammensetzen, so bewirkt eine Mannichfaltigkeit sehr verschieden veranlagter und bethätigter Persönlichkeiten, daß das Ganze, in dem die Vorstellung sie zusammenfaßt, einen indifferenteren, der scharfkantigen Einseitigkeit entbehrenden Charakter trägt. Die Reibung zwischen scharf ausgebildeten Individualitäten, die in der Wirklichkeit zu Ausgleichungen oder Konflikten führt, findet auch im subjektiven Geiste statt. Je differenzierter ein Kreis seinen Bestandteilen nach ist, desto weniger wird er als ganzer einen individuellen Eindruck machen, weil jene sich sozusagen gegenseitig nicht zu Worte kommen lassen, sich gegenseitig zu einem Durchschnittseindruck aufheben, der um so unbestimmter sein wird, je mehre und je verschiedenere Faktoren zu ihm zusammenwirken.
Dieser Gedanke läßt sich auch verallgemeinernd so wenden, daß in jedem Menschen ceteris paribus gleichsam eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen und dem Socialen besteht, die nur die Form wechselt: je enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen ab. Die sociale Ordnung des Quäkertums zeigt dies recht klar. Als Ganzes, als Religionsprinzip von dem extremsten Individualismus und Subjektivismus, bindet es die Gemeindeglieder in höchst gleichförmige, demokratische, alle individuellen Unterschiede möglichst ausschließende Lebens- und Wesensart; dafür mangelt ihm aber jedes Verständnis für die höhere staatliche Einheit und ihre Zwecke, sodaß die Individualität der kleineren Gruppe einerseits die der Einzelnen, andererseits die Hingabe an die große Gruppe ausschließt. Und nun stellt sich dies im einzelnen darin dar: in dem, was Gemeindesache ist, in den gottesdienstlichen Versammlungen, darf jeder als Prediger auftreten und reden, was und wann es ihm beliebt; dagegen wacht die Gemeinde über die persönlichen Angelegenheiten, z. B. die Eheschließung, sodaß diese ohne Einwilligung eines zur Untersuchung des Falles eingesetzten Komitees nicht stattfindet. Sie sind also individuell nur im Gemeinsamen, aber social gebunden im Individuellen. Und nun entsprechend: erweitert sich der Kreis, in dem wir uns bethätigen und dem unsere Interessen gelten, so ist darin mehr Spielraum für die Entwicklung unserer Individualität; aber als Teile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart, dieses letztere ist als sociale Gruppe weniger individuell.
Wenn so die Tendenzen zur Individualisierung einerseits, zur Undifferenziertheit andererseits sich derart gleich bleiben, daß es relativ gleichgiltig ist, ob sie sich auf dem rein persönlichen oder auf dem Gebiet der socialen Gemeinschaft, der die Person angehört, zur Geltung bringen, – so wird das Plus an Individualisierung oder ihrem Gegenteil auf dem einen Gebiet ein Minus auf dem ändern fordern. Auf diese Weise kommen wir zu einer allgemeinsten Norm, welcher die Größenunterschiede der socialen Gruppen nur die häufigste Gelegenheit zum Hervortreten bieten, die sich indes auch aus ändern Veranlassungen zeigt. So bemerken wir z. B. bei gewissen Völkern, wo das Extravagante, Überspannte, launenhaft Impulsive sehr vorherrscht, doch eine sklavische Fesselung an die Mode. Die Verrücktheit, die Einer begeht, wird automatenhaft von allen ändern nachgeäfft. Andere dagegen mit mehr nüchterner und soldatisch zugeschnittener Form des Lebens, die als Ganzes lange nicht so bunt ist, haben doch einen viel stärkeren Individualitätstrieb, unterscheiden sich innerhalb ihres gleichförmigen und einfachen Lebensstiles viel schärfer und prägnanter voneinander, als jene in ihrer bunten und wechselnden Art. So hat also einerseits das Ganze sehr individuellen Charakter, aber seine Teile sind untereinander sehr gleich; andererseits ist das Ganze farbloser, weniger nach einem Extrem zu gebildet, aber seine Teile sind untereinander stark differenziert. Im Augenblick indessen kommt es uns hauptsächlich auf das Korrelationsverhältnis an, das sich an den Umfang der socialen Kreise knüpft und die Freiheit der Gruppe mit der Gebundenheit des Individuums zu verbinden pflegt; ein gutes Beispiel davon zeigt das Zusammenbestellen kommunaler Gebundenheit mit politischer Freiheit, wie wir es in der russischen Verfassung der vorzarischen Zeit finden. Besonders in der Epoche der Mongolenkämpfe gab es in Rußland eine große Anzahl territorialer Einheiten, Fürstentümer, Städte, Dorfgemeinden, welche untereinander von keinem einheitlichen staatlichen Bande zusammengehalten wurden und also als Ganze großer politischer Freiheit genossen; dafür aber war die Gebundenheit des Individuums an die kommunale Gemeinschaft die denkbar engste, so sehr, daß überhaupt kein Privateigentum an Grund und Boden bestand, sondern allein die Kommune diesen besaß. Der engen Eingeschlossenheit in den Kreis der Gemeinde, die dem Individuum den persönlichen Besitz und gewiß auch oft die persönliche Beweglichkeit versagte, entsprach der Mangel an bindenden Beziehungen zu einem weiteren politischen Kreise. Die Kreise der socialen Interessen liegen konzentrisch um uns: je enger sie uns umschließen, desto kleiner müssen sie sein. Nun ist aber der Mensch nie bloßes Kollektivwesen, wie er nie bloßes Individualwesen ist; darum handelt es sich hier natürlich nur um ein Mehr oder Minder und nur um einzelne Seiten und Bestimmungen der Existenz, an denen sich die Entwicklung vom Übergewicht des Einen zu dem des Ändern zeigt. Und diese Entwicklung wird Stadien haben können, in denen die Zugehörigkeiten zu dem kleinen wie zu dem größeren socialen Kreise nebeneinander in charakteristischen Folgen hervortreten. Während also die Hingabe an einen engeren Kreis im allgemeinen dem Bestände der Individualität als solcher weniger günstig ist als ihre Existenz in einer möglichst großen Allgemeinheit, ist psychologisch doch zu bemerken, daß innerhalb einer sehr großen Kulturgemeinschaft die Zugehörigkeit zu einer Familie die Individualisierung befördert. Der Einzelne vermag sich gegen die Gesamtheit nicht zu retten; nur indem er einen Teil seines absoluten Ich an ein paar andere aufgiebt, sich mit ihnen zusammenschließt, kann er noch das Gefühl der Individualität und zwar ohne übertriebenes Abschließen, ohne Bitterkeit und Absonderlichkeit wahren. Auch indem er seine Persönlichkeit und seine Interessen um die einer Reihe anderer Personen erweitert, setzt er sich dem übrigen Ganzen sozusagen in breiterer Masse entgegen. Zwar der Individualität im Sinne des Sonderlingtums und der Innormalität jeder Art wird durch ein familienloses Leben in einem weiten Kreise weiter Spielraum gelassen; aber für die Differenzierung, die dann auch dem größten Ganzen zugute kommt, die aus der Kraft, aber nicht aus der Widerstandslosigkeit gegenüber einseitigen Trieben hervorgeht – für diese ist die Zugehörigkeit zu einem engeren Kreise innerhalb des weitesten oft von Nutzen, vielfach freilich nur als Vorbereitung und Übergang. Die Familie, deren Bedeutung zuerst eine politisch reale, mit wachsender Kultur mehr und mehr eine psychologisch ideale ist, bietet als Kollektivindividuum ihrem Mitglied einerseits eine vorläufige Differenzierung, die es auf diejenige im Sinne der absoluten Individualität wenigstens vorbereitet, andererseits einen Schutz, unter dem die letztere sich entwickeln kann, bis sie der weitesten Allgemeinheit gegenüber bestandsfähig ist. Die Zugehörigkeit zu der Familie stellt: in höheren Kulturen, wo doch zugleich die Rechte der Individualität und der weitesten Kreise sich geltend machen, eine Mischung der charakteristischen Bedeutung der engen und der erweiterten socialen Gruppe dar.
Wenn ich oben andeutete, daß die größte Gruppe den extremen Bildungen und Verbildungen des Individualismus, der misanthropischen Vereinzelung, den barocken und launenhaften Lebensformen, der krassen Selbstsucht größeren Spielraum gewährt, so ist dies doch nur die Folge davon, daß die weitere Gruppe geringere Ansprüche an uns stellt, sich weniger um den Einzelnen kümmert und deshalb das volle Auswachsen auch der perversesten Triebe weniger hindert als die engere. Die Größe des Kreises trägt also nur die negative Schuld, und es handelt sich mehr um Entwicklungen außerhalb als innerhalb der Gruppe, zu welch' ersteren die größere ihren Mitgliedern mehr Möglichkeit giebt, als die kleinere. Während dies einseitige Hypertrophieen sind, deren Ursache oder deren Folge eine Schwäche des Individuums ist, sehen wir doch auch, wie gerade in der Einseitigkeit, die die Stellung in einer großen Gruppe mit sich bringt, eine unvergleichlich starke Kraftquelle fließt und zwar nicht nur für die Gesamtheit, sondern auch für den Einzelnen. Durch nichts wird dies klarer dargelegt, als durch die unzählige Male beobachtete Thatsache, daß Personen, die in einem bestimmten Wirkungskreise alt geworden sind, unmittelbar nach dem Ausscheiden aus demselben die Kräfte verlieren, durch die sie bisher ihren Beruf ganz zureichend erfüllt haben; nicht nur, daß dieses Kraftquantum, nicht mehr längs der gewohnten Bahnen verlaufend, sich nicht in neu gebotene hineinfinden kann und deshalb modert, sondern die gesamte Persönlichkeit in allen ihren, auch außerhalb des Berufes liegenden Bethätigungen klappt in der Mehrzahl solcher Fälle zusammen, sodaß es uns nachträglich scheinen mag, als habe der Organismus an und für sich schon lange nicht mehr die zu seiner Bethätigung erforderlichen Kräfte besessen und habe gerade nur in dieser bestimmten Form derselben ein in ihm selbst eigentlich nicht mehr liegendes Vermögen entfalten können – ungefähr wie man sich von der Lebenskraft vorstellte, daß sie, über die bloß natürlichen, in den Bestandteilen des Körpers wohnenden Kräfte hinaus, den chemischen und physikalischen Wirkungen in demselben noch eine besondere, der specifischen Form des Organischen eigene Kraft hinzufügte. So gut man nun diese dem Leben abgesprochen und die scheinbar durch dasselbe erzeugte Kraftsumme auf eine besondere Zusammenstellung der sonst bekannten, im natürlichen Kreislauf befindlichen Kräfte zurückgeführt hat, so gut wird man den energischen Zusammenhalt der Persönlichkeit und den Kraftzuschuß, den der Beruf uns zu verleihen und den die Folgen des Verlassens desselben zu beweisen scheinen, nur als eine besonders günstige Anpassung und Anordnung der auch sonst in der Persönlichkeit vorhandenen Kräfte erkennen; die Form erzeugt eben keine Kraft. Wie nun aber dennoch das Leben thatsächlich eben diese besondere, mit nichts anderem vergleichbare Kombination und Konzentration der Naturkräfte ist, so bewirkt auch der Beruf durch die Art, wie er die Kräfte des Individuums anordnet, eben doch Entfaltungen und zweckmäßige Zusammenfassungen derselben, die sonst unmöglich wären. Und da nur innerhalb einer großen und sehr arbeitsteilig gegliederten Gruppe diese specifische Formgebung für den Einzelnen stattfinden kann, so wird auch auf diesem Wege wieder durchsichtig, in wie engem Zusammenhange die Kräftigung und Durchbildung der Persönlichkeit mit dem Leben innerhalb eines größten Kreises steht.
Aus weiterer Entwicklung dieses Zusammenhanges verstehen wir, daß eine starke Ausbildung der Individualität und eine starke Wertschätzung derselben sich häufig mit kosmopolitischer Gesinnung paart, daß umgekehrt die Hingabe an eine engbegrenzte sociale Gruppe beides verhindert. Und die äußeren Formen, in denen die Gesinnung sich ausspricht, folgen dem gleichen Schema. Die Renaissancezeit bildete in Italien einerseits die vollkommene Individualität aus, andererseits die weit über die Grenzen der engeren socialen Umgebung hinausgehende Gesinnung und Gesittung; dies spricht sich direkt z.B. im Worte Dantes aus, daß – bei all seiner leidenschaftlichen Liebe zu Florenz – ihm und seinesgleichen die Welt das Vaterland sei, wie das Meer den Fischen; indirekt und gleichsam a posteriori beweist es sich dadurch, daß die Lebensformen, die die italienische Renaissance schuf, von der ganzen gebildeten Welt angenommen worden sind und zwar gerade, weil sie der Individualität, welcher Art sie auch immer sei, einen vorher ungeahnten Spielraum gaben. Als Symptom dieser Entwicklung nenne ich nur die Geringschätzung des Adels in dieser Epoche. Der Adel ist nur so lange von eigentlicher Bedeutung, als er einen socialen Kreis bezeichnet, der, in sich eng zusammengehörend, sich um so energischer von der Masse aller anderen und zwar nach unten und nach oben abhebt; seinen Wert zu leugnen bedeutet das Durchbrechen beider Kennzeichen, bedeutet einerseits die Erkenntnis vom Werte der Persönlichkeit, gleichviel welchem Geburtskreise sie angehört, andererseits eine Nivellierung gegenüber denjenigen, über die man sich sonst erhoben hat. Und beides findet sich thatsächlich in der Litteratur jener Zeit deutlich ausgesprochen.
Aus solchen Zusammenhängen erklärt sich übrigens der Verdacht der Herzlosigkeit und des Egoismus, der so häufig auf großen Männern lastet, – weil die objektiven Ideale, von denen sie entflammt sind, nach ihren Ursachen und Folgen weit über den engeren sie umgebenden Kreis hinausreichen und die Möglichkeit dazu eben in dem starken Herausragen ihrer Individualität über den socialen Durchschnitt gegeben ist; um so weit sehen zu können, muß man über die Nächststehenden hinwegblicken.
Die bekannteste Analogie dieses Verhältnisses bietet der Zusammenhang, den Republikanismus und Tyrannis, Nivellement und Despotismus und zwar sowohl im Nacheinander wie im Zugleich aufweisen. Alle Verfassung, die ihren Charakter von der Aristokratie oder der Bourgeoisie entlehnt, kurz, die dem socialen und politischen Bewußtsein eine Mehrzahl aneinander grenzender engerer Kreise bietet, drängt, sobald sie überhaupt über sich hinauswill, einerseits nach der Vereinheitlichung in einer persönlichen führenden Gewalt, andererseits zum Socialismus mit anarchischem Anstrich, der mit dem Auslöschen aller Unterschiede das absolute Recht der freien Persönlichkeit herstellen will. So führte der Polytheismus des Altertums mit seinen lokal geschiedenen und in vielfachen Verhältnissen der Über- und Nebenordnung stehenden Bezirken göttlicher Wirksamkeiten gegen Beginn unserer Zeitrechnung aufwärts zum Monotheismus, abwärts zum Atheismus; so hat der Jesuitismus im Gegensatz zu der aristokratischen Kirchenverfassung einerseits eine gleichmachende Demagogie, andererseits einen päpstlichen Absolutismus zu Zielpunkten. Deshalb ist das Nivellement der Massen in der Regel das Korrelat des Despotismus, und deshalb läßt gerade diejenige Kirche, die am energischsten in einer persönlichen Spitze gipfelt, die Individualität ihrer Bekenner am wenigsten aufkommen und hat den meisten Erfolg im Aufbau eines weltumspannenden, die Persönlichkeiten als solche möglichst nivellierenden Reiches gehabt.
In diesen Beispielen nimmt unsere Korrelation zwischen individualistischer und kollektivistischer Tendenz also eine andere Form an: die Erweiterung des Kreises; steht mit der Ausbildung der Persönlichkeit nicht für die Angehörigen des Kreises selbst in Zusammenhang, wohl aber mit der Idee einer höchsten Persönlichkeit, an die gleichsam der individuelle Wille abgegeben wird, die dafür, wie in anderer Beziehung die Heiligen, Stellvertretung übernimmt.
Die Entwicklung, die von der engeren Gruppe aus gleichzeitig zur Individualisierung und zur gesteigerten Socialisierung führt, braucht freilich nicht immer beides in gleichem Maße zu realisieren, sondern das eine Element kann unter Umständen das andere sehr überwiegen, da es sich ja nicht um eine metaphysische Harmonie oder um ein Naturgesetz handelt, das mit innerer Notwendigkeit jedes Quantum des einen mit dem gleichen des ändern verbände, sondern das ganze Verhältnis nur als ein sehr allgemeiner zusammenfassender Ausdruck für das Resultat sehr komplizierter und modifizierbarer historischer Bedingungen gelten darf. Wie oben schon angedeutet, begegnen wir auch dem Fall, daß die Entwicklung nicht nach beiden Seiten zugleich, sondern vor die Alternative zwischen beiden führt und doch auch so die Korrelation zwischen ihnen beweist. In sehr bewußter Weise zeigt dies eine Phase in der Geschichte der Allmend, des Kollektivbesitzes der schweizerischen Gemeinden. Insoweit die Allmenden in den Besitz von Teilgemeinden, Orts- und Dorfkorporationen übergegangen sind, werden sie jetzt in einigen Kantonen (Zürich, St. Gallen u. a.) von der Gesetzgebung mit der Tendenz behandelt, dieselben entweder an die einzelnen Genossen aufzuteilen, oder an größere Landgemeinden übergehen zu lassen, weil jene kleinsten Verbände eine zu geringe personale und territoriale Basis besäßen, um ihren Besitz für das öffentliche Wesen recht fruchtbar werden zu lassen.
Man könnte vielleicht das ganze Verhältnis, das wir hier meinen und das in den mannichfachsten Modis des Zugleich, des Nacheinander, des Entweder-Oder Gestalt gewinnt, symbolisch so ausdrücken, daß die engere Gruppe gewissermaßen eine mittlere Proportionale zwischen der erweiterten und der Individualität bildet, so daß jene, in sich geschlossen und keines weiteren Faktors bedürfend, das gleiche Resultat der Lebensmöglichkeit ergiebt, das aus dem Zusammen der beiden letzteren hervorgeht. So hatte z.B. die Allgewalt des römischen Staatsbegriffes zum Korrelat, daß es neben dem ius publicum ein ius privatum gab; die für sich ausgeprägte Verhaltungsnorm jenes allumfassenden Ganzen forderte eine entsprechende für die Individuen, die es in sich schloß. Es gab nur die Gemeinschaft im größten Sinne einerseits und die einzelne Person andererseits; das älteste römische Recht kennt keine Korporationen, und dieser Geist bleibt ihm im allgemeinen. Umgekehrt giebt es im deutschen Recht keine ändern Rechtsgrundsätze für die Gemeinschaft wie für die Einzelnen; aber diese Allgemeinheiten sind nun auch nicht die allumfassenden des römischen Staates, sondern kleinere, durch die wechselnden und mannichfaltigen Bedürfnisse der Einzelnen hervorgerufene. In kleineren Gemeinwesen bedarf es nicht jener Abtrennung des öffentlichen Rechts vom privaten, weil das Individuum in ihnen inniger mit dem Ganzen verbunden ist.
Es ist nur eine Folge des Gedankens einer solchen Beziehung zwischen Individuellem und Socialem, wenn wir sagen: je mehr statt des Menschen als Socialelementes der Mensch als Individuum und damit diejenigen Eigenschaften, die ihm bloß als Menschen zukommen, in den Vordergrund des Interesses treten, desto enger muß die Verbindung sein, die ihn gleichsam über den Kopf seiner socialen Gruppe hinweg zu allem, was überhaupt Mensch ist, hinzieht und ihm den Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt. Für diese Korrelation liefert die stoische Lehrt: ein deutliches Beispiel. Während der politisch-sociale Zusammenhang, in dem der Einzelne steht, noch bei Aristoteles den Quellpunkt der ethischen Bestimmungen bildet, heftet sich das stoische Interesse, was das Praktische betrifft, eigentlich nur an die Einzelperson, und die Heranbildung des Individuums zu dem Ideale, welches das System vorschrieb) wurde so ausschließlich zur Aegide der stoischen Praxis, daß der Zusammenhang der Individuen untereinander nur als Mittel zu jenem idealen individualistischen Zweck erscheint. Aber dieser freilich wird seinem Inhalt nach von der Idee einer allgemeinen, durch alles Einzelne hindurchgehenden Vernunft bestimmt. Und an dieser Vernunft, deren Realisierung im Individuum das stoische Ideal bildet, hat jeder Mensch Teil; sie schlingt, über alle Schranken der Nationalität und der socialen Abgrenzung hinweg, ein Band der Gleichheit und Brüderlichkeit um alles, was Mensch heißt. Und so hat denn der Individualismus der Stoiker ihren Kosmopolitismus zum Komplement; die Sprengung der engeren socialen Bande, in jener Epoche nicht weniger durch die politischen Verhältnisse wie durch theoretische Überlegung begünstigt, schob, unserm vorangestellten Prinzip zufolge, den Schwerpunkt des ethischen Interesses einerseits nach dem Individuum hin, andererseits nach jenem weitesten Kreise, dem jedes menschliche Individuum als solches angehört. Daß die Lehre von der Gleichheit aller Menschen häufige Verbindungen mit einem extremen Individualismus eingeht, verstehen wir aus diesem und den folgenden Gründen. Es liegt psychologisch nahe genug, daß die furchtbare Ungleichheit, in welche der Einzelne in gewissen Epochen der Socialgeschichte hineingeboren wurde, die Reaktion nach zwei Seiten hin entfesselte: sowohl nach der Seite des Rechts der Individualität, wie nach der der allgemeinen Gleichheit; denn beides pflegt im gleichen Grade den größeren Massen zu kurz zu kommen. Nur aus diesem zweiseitigen Zusammenhange heraus ist eine Erscheinung wie Rousseau zu verstehen; und die steigende Entwicklung der allgemeinen Schulbildung zeigt dieselbe Tendenz: sie will einerseits die schroffen Unterschiede der geistigen Niveaus beseitigen und gerade durch die Herstellung einer gewissen Gleichheit jedem Einzelnen die früher versagte Möglichkeit zur Geltendmachung seiner individuellen Befähigungen gewähren. Ich glaube sogar, daß die Vorstellung der allgemeinen Gleichheit psychologisch durch nichts mehr gefördert werden kann, als durch ein scharfes Bewußtsein von dem Wesen und dem Werte der Individualität, von der Thatsache, daß jeder Mensch doch ein Individuum mit charakteristischen, in genau dieser Zusammensetzung nicht zum zweiten Male auffindbaren Eigenschaften ist; gleichviel wie diese Eigenschaften inhaltlich beschaffen seien: die Form der Individualität kommt doch jedem Menschen zu und bestimmt seinen Wert gemäß dem Seltenheitsmoment. Hierdurch wird eine formale Gleichheit geschaffen; gerade wenn jeder etwas Besonderes ist, ist er insoweit jedem ändern gleich. Und das Dogma vom absoluten Ich, von der persönlichen unsterblichen Seele, die jedem Menschen eigen sei, mußte mehr als alles andere zu der Vorstellung der allgemeinen Gleichheit beitragen, weil die empirischen Unterschiede, die man im Inhalte der Seelen vorfindet, gegenüber ihren ewigen und absoluten Qualitäten, in denen sie gleich sind, nicht in Betracht kommen. Wenn man von dem socialistischen Charakter des Urchristentums gesprochen hat, so geht dieser vielleicht weniger aus positiven Gründen, als aus den negativen der vollständigen Gleichgiltigkeit hervor, die die ersten Christen alledem gegenüber empfanden, was sonst Unterschiede unter den Menschen ausmacht – und zwar gerade wegen des absoluten Wertes der Einzelseele. Hört die absolute Individualität auf, so werden die Einzelnen nur als Summe ihrer Eigenschaften gerechnet und sind natürlich so verschieden, wie diese es sind; sind diese Eigenschaften aber etwas Nebensächliches gegenüber der Hauptsache, nämlich der Persönlichkeit, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele, die etwa noch dazu wie bei Rousseau von vornherein sich einer vollkommenen, erst durch Erziehung und Gesellschaft verdorbenen Güte erfreut, so ist die Gleichheit alles Menschenwesens die natürliche Folge. Übrigens führt, wie ersichtlich, dieser metaphysische Sinn der Persönlichkeit zur Vernachlässigung ihres empirischen und eigentlich bedeutungsvollen Inhalts. Da nun aber die weitergehende Socialisierung in einer natürlichen und innerlich notwendigen Beziehung zu einer weitergehenden Individualisierung steht, so ist das eben charakterisierte Verhältnis, wo es praktisch wird, allemal verderblich. Revolutionäre Bewegungen, wie die der Wiedertäufer oder die von 1789, kommen zu ihren logischen und ethischen Unmöglichkeiten dadurch, daß sie zwar die niedere Allgemeinheit zu gunsten einer höheren aufheben, aber ohne zugleich das Recht der Individualität zu wahren. Besonders die französische Revolution zeigt durch ihre Beziehung zu Rousseau, wie leicht die metaphysische Bedeutung der Persönlichkeit zur Vernachlässigung ihrer realen Bedeutung führt und wie durch diese nun auch die Socialisierung leidet, die von jener ausging. Wenden wir uns nun wieder zu dem Verhältnis des Individualismus zum Kosmopolitismus zurück, so stellt sich in ethischer Beziehung der erstere oft als Egoismus dar, wie es da sehr nahe liegt, wo das Band der patriotischen Gesinnung zerfallen ist, das den Einzelnen zwar an einen kleineren Kreis fesselt, als der Kosmopolitismus es thut, aber dafür dem Egoismus ein kräftigeres Gegengewicht bietet. Schon die Cyniker zeigen die gleiche Korrelation zwischen Kosmopolitismus und Egoismus, indem sie das Zwischenglied des Patriotismus ausschalten, dessen es für die meisten Menschen bedarf, um den Egoismus im altruistischen Sinne zu beugen. Wenn andererseits die klassische Philosophie vielfach noch über Aristoteles hinaus es zu keiner scharfen begrifflichen Fassung der Persönlichkeit gebracht hat, wenn der Begriff der Vernunft für sie oft genug zwischen allgemeinster Weltvernunft und rein persönlicher Denkkraft schwankt, so ist dies doch die Folge der an den engeren staatlichen Kreis als an ein gewisses Mittleres zwischen Allgemeinstem und Persönlichstem gebundenen Denkgewohnheit. Die Anwendbarheit dieser Formel von der Korrelation zwischen Steigerung des Individuellen und Anwachsen der Socialgruppe auf ethische Verhältnisse läßt sich ferner in folgender Wendung darstellen. Solange das wirtschaftliche oder sonstige Produzieren innerhalb eines engeren Kreises vorgeht, so daß dem Schaffenden sein Publikum mehr oder weniger bekannt ist, wird die unvermeidliche psychologische Association zwischen der Arbeit und den Personen, für die sie bestimmt ist, oft zweierlei verhindern: einerseits das rege Interesse an der Sache selbst und ihrer objektiven Vollkommenheit, gleichgiltig dagegen, welchen zufälligen und subjektiv bestimmten Bedürfnissen sie gerade dienen wird, andererseits aber auch den reinen Egoismus, dem nur an dem Preise seiner Arbeit liegt, aber gar nicht daran, von wem er gezahlt wird. Beides aber wird durch die Vergrößerung des Kreises, an den die Arbeit sich wendet, begünstigt. Wie im Theoretischen dasjenige als objektive Wahrheit erscheint, was Wahrheit für die Gattung ist, wovon sich die Gattung, von vorübergehenden psychologischen Hindernissen abgesehen, muß überzeugen lassen: so erscheinen uns Ideale und Interessen in demselben Maße objektiv, als sie einem größten Interessentenkreise gelten; alles Subjektive, Einseitige, wird aus ihnen dadurch herausgeläutert, daß sie sich an eine möglichst große Anzahl von Subjekten wenden, in der der Einzelne als solcher verschwindet und die das Bewußtsein an die Sache zurückweist. Ich halte es nicht für zu kühn, wenn ich das sogenannte sachliche, unpersönliche, ideale Interesse ausdeute als entstanden aus einem Maximum in ihm zusammenströmender Interessen; dadurch erhält es seinen verklärten, scheinbar über allem Persönlichen stehenden Charakter. Deshalb läßt es sich auch nachweisen, daß diejenigen Bethätigungen, die am häufigsten und gründlichsten die selbstlose Vertiefung in die Aufgabe, die reine Hingebung für die Sache aufweisen, also die wissenschaftlichen, künstlerischen, die großen sittlichen und praktischen Probleme, sich ihren Wirkungen nach immer an das weiteste Publikum wenden. Wenn man z.B. sagt, daß die Wissenschaft nicht um ihrer Nützlichkeit oder überhaupt nur um irgendwelcher »Zwecke«, sondern um ihrer selbst willen betrieben werden müsse, so kann dies nur ein ungenauer Ausdruck sein, weil ein Handeln, dessen Erfolg nicht von Menschen als nützlich und förderlich empfunden würde, nicht ideal, sondern sinnlos wäre; die Bedeutung davon kann nur jene psychologische Verdichtung und gegenseitige Paralysierung unzähliger Einzelinteressen sein, im Gegensatz gegen welche die Verfolgung der im Einzelnen erkannten und bewußten Interessen eines engeren Kreises als Nützlichkeit oder Zweckmäßigkeit κατ εξοχην erscheint. Wir sehen hier also, wie die Beziehung zum allergrößten Kreise zwar auch über den individuellen Egoismus hinaustragen kann, aber doch das Bewußtsein eigentlicher socialer Zweckmäßigkeit aufhebt, das vielmehr den Bethätigungen für eine kleinere Gruppe eigen ist; andererseits aber führt die bei Vergrößerung des socialen Kreises eintretende Schwächung des socialen Bewußtseins gerade auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Produktion zum vollständigen Egoismus. Je weniger der Produzent seine Konsumenten kennt, desto ausschließlicher richtet sich sein Interesse nur auf die Höhe des Preises, den er von diesen erzielen kann; je unpersönlicher und qualitätloser ihm sein Publikum gegenübersteht, um so mehr entspricht dem die ausschließliche Richtung auf das qualitätlose Resultat der Arbeit, auf das Geld; von jenen höchsten Gebieten abgesehen, auf denen die Energie der Arbeit aus dem abstrakten Idealismus stammt, wird der Arbeiter um so mehr von seiner Person und seinem ethischen Interesse in die Arbeit hineinlegen, je mehr ihm sein Abnehmerkreis auch persönlich bekannt ist und nahe steht, wie es eben nur in kleineren Verhältnissen statthat. Mit der wachsenden Größe der Gruppe, für die er arbeitet, mit der wachsenden Gleichgiltigkeit, mit der er dieser nur gegenüberstehen kann, fallen vielerlei Momente dahin, die den wirtschaftlichen Egoismus einschränkten. Nach vielen Seiten ist die menschliche Natur und sind die menschlichen Verhältnisse so angelegt, daß, wenn die Beziehungen des Individuums eine gewisse Größe des Umfanges überschreiten, es um so mehr auf sich selbst zurückgewiesen wird.
Und nun zeigt eine noch weiter in das Gebiet des Individuellen und Socialen vorschreitende ethische Betrachtung, wie auch für die äußersten Punkte beider noch unsere Korrelation gilt. Was man als Pflichten gegen sich selbst im gebietenden wie verbietenden Sinne bezeichnet, ist gerade das;, was andererseits auch als Würde und Pflicht des »Menschen überhaupt« zu gelten pflegt. Die Selbsterhaltung, Selbstbeherrschung, das rechte Selbstgefühl, die Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit – das alles sind Pflichten, die wenigstens in dieser abstrakten Form alle specielle Beziehung zu dem engeren socialen Kreise ablehnen, der uns sonst, hier anders als dort, seine besonders charakterisierten Verpflichtungen auferlegt. Sie gelten nicht nur unter allen möglichen Verhältnissen, sondern ihre ideologische Bestimmung geht auch auf die weitesten und allgemeinsten Kreise, mit denen wir überhaupt in Berührung kommen und kommen können. Nicht als Angehörige dieses und jenes Kreises sollen wir solche Selbstpflichten erfüllen, sondern als Menschen überhaupt; und es ist gar kein Zweifel, daß das allgemeine Menschentum, das uns dieselben auferlegt, nur der weitere sociale Kreis im Gegensatz zu dem engeren ist, der unmittelbarere und in ihrer Beziehung auf dritte Personen deutlichere Leistungen von uns fordert. Gerade weil man gewohnt ist, daß Pflicht nur Pflicht gegen Jemand sei, wird sie als Pflicht gegen sich selbst vorgestellt, sobald man sie empfindet, ohne daß sie sich in greifbarer Weise auf andere Menschen bezöge. Die erweiterte und verdichtete Gattungserfahrung hat diesen Pflichten volle sittliche Würde verliehen, indem sie zugleich wegen der Weite des Kreises und der Fülle der Interessen und Zwecke, die sich in ihnen zusammenfanden, alle einzelne teleologische Beziehung derselben hinter den Horizont des Bewußtseins rückte und dieses, das doch einen Zweck, ein Objekt des Pflichtgefühls suchte, nur an sich selbst zurückzuweisen wußte, sodaß gerade die Pflicht gegen die größte Allgemeinheit uns als Pflicht gegen das eigenste Ich erscheint.
Mit einer etwas anderen Wendung, die statt des Wohin mehr das Woher der Sittlichkeit ins Auge faßt, stellt sich dies so dar. Wir unterscheiden nach Kants Vorgang sittliche Heteronomie, d. h. sittliches Handeln auf Grund äußeren Gebotes, von sittlicher Autonomie, die von innen heraus und nur um dem eigenen Pflichtgefühl zu genügen Gleiches thut. Wie nun aber alle Pflicht ihrem Zwecke nach Pflicht gegen Jemand und dieser Jemand ursprünglich eine äußere Person ist, so ist sie auch ihrem Ursprung nach ein äußeres Gebot, das erst durch einen langwierigen, durch die ganze Gattungsgeschichte sich hindurchziehenden Prozeß in das Gefühl eines rein innerlichen Sollens übergeht. Nun gehörte aber offenbar die umfassende Fülle einzelner äußerer Impulse dazu, um den Ursprung des einzelnen sittlichen Gebotes für das Bewußtsein zu verlöschen; denn überall bemerken wir, wie einer einzelnen Erscheinung ihre Genesis psychologisch anklebt, solange sie nur aus dieser einen hervorgegangen ist, daß sie aber psychologische Selbständigkeit erlangt, sobald das Hervorgehen des Gleichen aus einer großen Anzahl und Mannichfaltigkeit von Vorbedingungen beobachtet wird. Die psychologische Verbindung mit jeder einzelnen derselben löst sich in dem Maße, als die Erscheinung anderweitige eingeht. Tausendfach können wir es schon im individuellen Leben beobachten, wie ein gewisser Zwang nur oft genug, nur von genügend vielen Seiten, ausgeübt zu werden braucht, um eine Gewohnheit und schließlich einen selbständigen, des Zwanges gar nicht mehr brauchenden Trieb zu der betreffenden Handlung zu erzeugen. Und das Gleiche wird vermöge der Vererbung stattfinden. Je öfter und aus je mannichfaltigeren Verhältnissen heraus innerhalb der Gattung die Nötigung zu social nützlichen Handlungen erfolgt ist, desto eher werden diese als an sich notwendig empfunden und aus einem autonom erscheinenden Triebe des Individuums heraus ausgeführt werden, – sodaß auch hier die größte Fülle, der weiteste Umkreis der Impulse sich unter Ausschaltung der dazwischen liegenden Sphären als das Allerindividuellste darstellt. Ein Blick auf den Inhalt der sittlichen Autonomie bestätigt diesen Zusammenhang. Engere und speciellere Pflichten pflegen nicht unmittelbar an diese Autonomie zu appellieren; in demselben Maße, in dem unsere Pflichten inhaltlich weiteren Charakter tragen, hängen sie dagegen nur von persönlichem Pflichtgefühl ab. Untersuchen wir, wodurch sich denn das »aus bloßer Sittlichkeit« zu Vollbringende von den äußerlichen Geboten des Staates, der Kirche, der Sitte unterscheidet, so finden wir immer, daß es ein allgemein Menschliches ist, – mag das Allgemeine nun qualitativen Sinn wie bei den Pflichten der Familie gegenüber oder quantitativen wie bei der Pflicht der allgemeinen Menschenliebe haben. Die Specialzwecke haben eine Specialexekutive; das allgemein Menschliche liegt dem Einzelnen aus sich selbst auszuführen ob. Die autonome Sittlichkeit enthält das, was »an sich« gut ist; das ist aber nur das, was für den Menschen überhaupt, d. h. für die maximale Allgemeinheit, gut ist. Es läßt sich, wie ich glaube, behaupten, daß, um wieder Kantische Ausdrücke zu brauchen, zwischen dem Statutarischen und dem autonom Gebotenen ein gradueller Übergang, parallel dem zwischen dem kleineren und dem größeren socialen Kreise, stattfindet. Man muß im Auge haben, daß dies ein kontinuierlicher Prozeß ist, daß nicht etwa nur die Extreme des Individualismus und des Kosmopolitismus sich psychologisch und ethisch berühren, sondern daß schon auf den Wegen zu diesen von der socialen Gruppe aus die zurückgelegten Strecken beider Richtungen sich zu entsprechen pflegen. Und zwar gilt dies nicht nur für Einzel-, sondern auch Kollektivindividuen. Die Entwicklungsgeschichte der Familienformen bietet uns dafür manchen Beleg, z. B. den folgenden. Als die Mutterfamilie (wie Bachofen und Lippert sie rekonstruiert haben) durch die Geltung der männlichen Macht verdrängt war, war es zunächst nicht sowohl die Thatsache der Erzeugung durch den Vater, die die Familie als eine darstellte, als vielmehr die Herrschaft, die er über eine bestimmte Anzahl von Menschen ausübte, unter denen sich nicht nur seine Leibesnachkommen, sondern Zugelaufene, Zugekaufte, Angeheiratete und deren ganze Familien u. s. w. befanden und unter einheitlichem Regimente zusammengehalten wurden. Aus dieser ursprünglichen patriarchalischen Familie heraus differenziert sich erst später die jüngere der bloßen Blutsverwandtschaft, in der Eltern und Kinder ein selbständiges Haus ausmachen. Diese war natürlich bei weitem kleiner und individuelleren Charakters als jene umfassende patriarchalische; allein eben dadurch ermöglichte sich ihr Zusammenschluß zu einem nun viel größeren staatlichen Ganzen. Jene altere Gruppe konnte allenfalls sich selbst genügen, sowohl zur Beschaffung des Lebensunterhaltes wie zur kriegerischen Aktion; hatte sie sich aber erst in kleine Familien individualisiert, so war aus naheliegenden Gründen der Zusammenschluß der letzteren zu einer nun erweiterten Gruppe möglich und erfordert, und Plato hat diesen Prozeß nur in der gleichen Richtung fortgesetzt, wenn er die Familie überhaupt aufhob, um die staatliche Gemeinschaft als solche auf ein Maximum von Zusammenschluß und Kraft zu bringen.
Es ist schon für die Tierwelt die ganz gleiche Beobachtung gemacht worden, daß die Neigung zur Familienbildung in umgekehrtem Verhältnis zur Bildung größerer Gruppen steht; das monogame und selbst polygame Verhältnis hat etwas so Exklusives, die Sorge für die Nachkommenschaft beansprucht die Eltern in so hohem Maße, daß die weitergehende Socialisierung bei derartigen Tieren darunter leidet. Darum sind die organisierten Gruppen unter den Vögeln verhältnismäßig selten, während z. B. die wilden Hunde, bei denen völlige Promiskuität der Geschlechter und gegenseitige Fremdheit nach dem Akt herrscht, meistens in eng zusammenhaltenden Meuten leben, und bei den Säugetieren, bei denen sowohl familienhafte wie sociale Triebe herrschen, bemerken wir stets, daß in Zeiten des Vorherrschens jener, also während der Paarungs- und Erzeugungszeit, die letzteren bedeutend abnehmen. Auch ist die Vereinigung der Eltern und der Jungen zu einer Familie eine um so engere, je geringer die Zahl der Jungen ist; ich erwähne nur das bezeichnende Beispiel, daß innerhalb der Klasse der Fische diejenigen, deren Nachkommenschaft völlig sich selbst überlassen ist, ihre Eier zu ungezählten Millionen ablegen, während die brütenden und bauenden Fische, bei denen sich also die Anfänge eines familienhaften Zusammenhaltes finden, nur wenige Eier produzieren. Man hat in diesem Sinne behauptet, daß die socialen Verhältnisse unter den Tieren nicht von den ehelichen oder elterlichen, sondern nur von den geschwisterlichen Beziehungen ausgingen, da diese dem Individuum viel größere Freiheit ließen als jene und es deshalb geneigter machen, sich eng an den größeren Kreis anzuschließen, der sich ihm eben zunächst in den Geschwistern bietet, sodaß man das Eingeschlossensein in eine tierische Familie als das größte Hemmnis für den Anschluß an eine größere tierische Gesellschaft angesehen hat.
Wie sehr übrigens die Sprengung der kleineren Gruppe in Wechselwirkung steht mit Erweiterung der Socialisierung einerseits, der Durchsetzung des Individuums andererseits, zeigt auf dem Gebiete der Familienforrnen weiterhin etwa die Sprengung der patriarchalischen Gruppierung im alten Rom. Wenn die bürgerlichen Rechte und Pflichten in Krieg und Frieden ebenso den Söhnen zukommen wie dem Vater, wenn die ersteren persönliche Bedeutung, Einfluß, Kriegsbeute u. s. w. erwerben konnten, so war damit in die patria potestas ein Riß gekommen, der das patriarchalische Verhältnis immer weiter spalten mußte und zwar zu gunsten der erweiterten staatlichen Zweckmäßigkeit, des Rechtes des großen Ganzen über jedes seiner Mitglieder, aber auch zu gunsten der Persönlichkeit, die nun aus dem Verhältnis zu diesem Ganzen eine Geltung gewinnen konnte, die das patriarchalische Verhältnis unvergleichlich eingeschränkt hatte. Und nach der subjektiven Seite, auf das Gefühl der Individualität hin angesehen, zeigt eine nicht sehr schwierige psychologische Überlegung, in wie viel höherem Maße das Leben in und die Wechselwirkung mit einem weiteren als mit einem beschränkten Kreise das Persönlichkeitsbewußtsein entwickelt. Dasjenige nämlich, wodurch und woran die Persönlichkeit sich dokumentiert, ist der Wechsel der einzelnen Gefühle, Gedanken, Bethätigungen; je gleichmäßiger und unbewegter das Leben fortschreitet, je weniger sich die Extreme des Empfindungslebens von seinem Durchschnittsniveau entfernen, desto weniger stark tritt das Gefühl der Persönlichkeit auf; je wilder aber jene schwanken, desto kräftiger fühlt sich der Mensch als Persönlichkeit. Wie sich überall die Dauer nur am Wechselnden feststellen, wie erst der Wechsel der Accidenzen die Beharrlichkeit der Substanz hervortreten läßt, so wird offenbar das Ich dann besonders als das Bleibende in allem Wechsel der psychologischen Inhalte empfunden, wenn eben dieser letztere besonders reiche Gelegenheit dazu giebt. Solange die psychischen Anregungen, insbesondere der Gefühle, nur in geringer Zahl stattfinden, ist das Ich mit ihnen verschmolzen, bleibt latent in ihnen stecken; es erhebt sich über sie erst in dem Maße, in dem gerade durch die Fülle des Verschiedenartigen unserem Bewußtsein deutlich wird, was doch allem diesem gemeinsam ist, gerade wie sich uns der höhere Begriff über Einzelerscheinungen nicht dann erhebt, wenn wir erst eine oder wenige Ausgestaltungen desselben kennen, sondern erst durch Kenntnis sehr vieler derselben, und um so höher und reiner, je deutlicher sich das Verschiedenartige an diesen gegenseitig abhebt. Dieser Wechsel der Inhalte des Ich, der dieses letztere als den ruhenden Pol in der Flucht der psychischen Erscheinungen eigentlich erst für das Bewußtsein markiert, wird aber innerhalb eines großen Kreises außerordentlich viel lebhafter sein, als bei dem Leben in einer engeren Gruppe. Man wird zwar einwenden können, daß doch gerade die Differenzierung und Specialisierung in jenem den Einzelnen in eine viel einseitiger gleichmäßige Atmosphäre bannt als es bei geringerer Arbeitsteilung stattfindet; allein dies als negative Instanz selbst zugegeben, gilt es doch wesentlich vom Denken und Wollen der Individuen; die Anregungen des Gefühls, auf die es für das subjektive Ichbewußtsein besonders ankommt, finden gerade da statt, wo der sehr differenzierte Einzelne inmitten sehr differenzierter anderer Einzelnen darin, steht und nun Vergleiche, Reibungen, specialisierte Beziehungen eine Fülle von Reaktionen auslösen, die im engeren undifferenzierten Kreise latent bleiben, hier aber gerade durch ihre Fülle und Verschiedenartigkeit das Gefühl der eigenen Person steigern oder vielleicht erst hervorbringen.
Es bedarf sogar durchaus der Differenzierung der Teile, wenn bei gegebenem Raum und beschränkten Lebensbedingungen ein Wachsen der Gruppe stattfinden soll, – eine Notwendigkeit, die auch auf Gebieten stattfindet, denen der Zwang wirtschaftlicher Verhältnisse ganz fern liegt. Nachdem z. B. in der frühesten christlichen Gemeinde eine vollkommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee, eine Erhebung jeder Funktion in die Sphäre derselben geherrscht hatte, konnte bei der Verbreitung auf die Massen eine gewisse Verflachung und Profanierung nicht ausbleiben; das Weltliche, mit dem sich das Religiöse mischte, überwog jetzt quantitativ zu sehr, als daß der hinzugesetzte religiöse Bestandteil ihm sofort und ganz hätte sein Gepräge aufdrücken können. Zugleich aber bildete sich der Mönchsstand, für den das Weltliche vollkommen zurücktrat, um das Leben ausschließlich sich mit religiösem Inhalt erfüllen zu lassen. Das Einssein von Religion und Leben zerfiel in weltlichen und religiösen Stand, – eine Differenzierung innerhalb des Kreises der christlichen Religion, die zu ihrem Weiterbestande durchaus erforderlich war, wenn sie die ursprünglichen engen Grenzen überschreiten sollte. Wenn Dante den schärfsten Dualismus zwischen weltlichem und kirchlichem Regime, die völlige gegenseitige Unabhängigkeit zwischen den Normen der Religion und denen des Staates predigt, so setzt er dies in unmittelbaren und sachlichen Zusammenhang mit dem Gedanken des Weltkaiserreichs, der völligen Vereinheitlichung des ganzen Menschengeschlechts zu einem organischen Ganzen.
Wo ein großes Ganzes sich bildet, da finden sich soviele Tendenzen, Triebe, Interessen zusammen, daß die Einheit des Ganzen, sein Bestand als solcher, verloren gehen würde, wenn nicht die Differenzierung das sachlich Verschiedene auch auf verschiedene Personen, Institutionen oder Gruppen verteilte. Das undifferenzierte Zusammensein erzeugt feindselig werdende Ansprüche auf das gleiche Objekt, während bei völliger Getrenntheit ein Nebeneinanderhergehen und Befaßtsein in dem gleichen Rahmen viel eher möglich ist. Gerade das Verhältnis der Kirche zu anderen Elementen des Gesamtlebens, nicht nur zum Staat, läßt dies häufig hervortreten. Solange z.B. die Kirche zugleich als Quelle und Behüterin von Erkenntnis galt und gilt, hat die in ihr erstandene Wissenschaft sich schließlich doch immer in irgendwelche Opposition zu ihr gesetzt; es kam zu den entgegengesetztesten Ansprüchen, die Wahrheit über ein bestimmtes Objekt auszumachen, und zu den »zweierlei Wahrheiten«, die immerhin den Anfang einer Differenzierung vorstellten, aber in demselben Maße umgekehrt zu um so schlimmeren Konflikten führten, je einheitlicher im Ganzen noch Kirche und Wissenschaft aufgefaßt wurden. Erst wenn beide sich vollkommen sondern, können sie sich vollkommen vertragen. Erst die differenzierende Übertragung der Erkenntnisfunktion an andere Organe als die der religiösen Funktionen ermöglicht ihr Nebeneinanderbestehen bei jenem Angewachsensein beider, das in einer umfänglichen Gruppeneinheit besteht.
Auch eine auf den ersten Blick entgegengesetzte Erscheinung führt doch in gleicher Weise auf unseren Grundgedanken. Wo nämlich schon differenzierte und zur Differenzierung angelegte Elemente in eine umfassende Einheit zusammengezwungen werden, da ist gerade oft gesteigerte Unverträglichkeit, stärkere gegenseitige Repulsion die Folge davon; der große gemeinsame Rahmen, der doch einerseits Differenzierung fordert, um als solcher bestehen zu können, bewirkt andererseits eine gegenseitige Reibung der Elemente, eine Geltendmachung der Gegensätze, die ohne dies Aneinanderdrücken innerhalb der Einheit nicht entstanden wäre, und die leicht zur Sprengung dieser letzteren führt. Allein auch in diesem Fall ist die Vereinheitlichung in einem großen Gemeinsamen das wenngleich vorübergehende Mittel zur Individualisierung und ihrem Bewußtwerden. So hat gerade die weltherrschaftliche Politik des mittelalterlichen Kaisertums den Partikularismus der Völker, Stämme und Fürsten erst entfesselt, ja ins Leben gerufen; die beabsichtigte und teilweise durchgeführte Einheitlichkeit und Zusammenfassung in einem großen Ganzen hat dasjenige, was sie freilich dann zu sprengen berufen war: die Individualität der Teile, erst erschaffen, gesteigert, bewußt gemacht.
Für dieses Reziprozitätsverhältnis vor Individualisierung und Verallgemeinerung finden wir Beispiele auf äußerlichen Gebieten. Wenn statt der Geltung von Amts- und Standestracht jeder sich kleidet, wie es ihm gefällt, so erscheint dies einerseits individueller, andererseits aber menschlich allgemeiner, insofern jene doch etwas Auszeichnendes hat, eine engere, besonders charakterisierte Gruppe zusammenschließt, deren Auflösung gleichzeitig eine weite Socialisierung und Individualisierung bedeutet. Noch entschiedener zeigt der folgende Fall, daß nicht nur im realen Verhalten, sondern auch in der psychologischen Vorstellungsart die Korrelation zwischen dem Hervortreten der Individualität und der Erweiterung der Gruppe statthat. Wir vernehmen von Reisenden und können es auch in gewissem Maße leicht selbst beobachten, daß bei der ersten Bekanntschaft mit einem fremden Volksstamme alle Individuen desselben ununterscheidbar ähnlich erscheinen, und zwar in um so höherem Maße, je verschiedener von uns dieser Stamm ist; bei Negern, Chinesen u. A. nimmt diese Differenz das Bewußtsein so sehr gefangen, daß die individuellen Verschiedenheiten unter jenen völlig davor verschwinden. Mehr und mehr aber treten sie hervor, je länger man diese, zunächst gleichförmig erscheinenden Menschen kennt; und entsprechend verschwindet das stete Bewußtsein des generellen und fundamentalen Unterschiedes zwischen uns und ihnen; sobald sie uns nicht mehr als geschlossene, in sich homogene Einheit entgegentreten, gewöhnen wir uns an sie; die Beobachtung zeigt, daß sie in demselben Maße als uns homogener erscheinen, in dem sie als unter sich heterogener erkannt werden: die allgemeine Gleichheit, die sie mit uns verbindet, wächst in dem Verhältnis, in dem die Individualität unter ihnen erkannt wird.
Auch unsere Begriffsbildung nimmt den Weg, daß zunächst eine gewisse Anzahl von Objekten nach sehr hervorstechenden Merkmalen in eine Kategorie einheitlich zusammengefaßt und einem ändern ebenso entstandenen Begriff schroff entgegengestellt wird. In demselben Maße nun, in dem man neben jenen, zunächst auffallenden und bestimmenden Qualitäten andere entdeckt, welche die unter dem zuerst konzipierten Begriff enthaltenen Objekte individualisieren, – in demselben müssen die scharfen begrifflichen Grenzen fallen. Die Geschichte des menschlichen Geistes ist voll von Beispielen für diesen Prozeß, von denen eines der hervorragendsten die Umwandlung der alten Artlehre in die Descendenztheorie ist. Die frühere Anschauung glaubte zwischen den organischen Arten so scharfe Grenzen, eine so geringe Wesensgleichheit zu erblicken, daß sie an keine gemeinsame Abstammung, sondern nur an gesonderte Schöpfungsakte glauben konnte; das Doppelbedürfnis unseres Geistes, einerseits nach Zusammenfassung, andererseits nach Unterscheidung, befriedigte sie so, daß sie in einen einheitlichen Begriff eine große Summe von gleichen Einzelnen einschloß, diesen Begriff aber um so schärfer von allen ändern abschloß und, wie es entsprechend der Ausgangspunkt der oben entwickelten Formel ist, die geringe Beachtung der Individualität innerhalb der Gruppe durch um so schärfere Individualisierung dieser den ändern gegenüber und durch Ausschluß einer allgemeinen Gleichheit großer Klassen oder der gesamten organischen Welt ausglich. Dieses Verhalten verschiebt die neuere Erkenntnis nach beiden Seiten hin; sie befriedigt den Trieb nach Zusammenfassung durch den Gedanken einer allgemeinen Einheit alles Lebenden, welche die Fülle der Erscheinungen als blutsverwandte aus einem ursprünglichen Keime hervortreibt; der Neigung zur Differenzierung und Specifikation kommt sie dadurch entgegen, daß ihr jedes Individuum gleichsam eine besondere, für sich zu betrachtende Stufe jenes Entwicklungsprozesses alles Lebenden ist; indem sie die starren Artgrenzen flüssig macht, zerstört sie zugleich den eingebildeten wesentlichen Unterschied zwischen den rein individuellen und den Arteigenschaften; so faßt sie das Allgemeine allgemeiner und das Individuelle individueller, als die frühere Theorie es konnte. Und dies eben ist das Komplementärverhältnis, das sich auch in den realen socialen Entwicklungen geltend macht.
Die psychologische Entwicklung unseres Erkennens zeigt auch ganz im allgemeinen diese zwiefache Richtung. Ein roher Zustand des Denkens ist einerseits unfähig, zu den höchsten Verallgemeinerungen aufzusteigen, die überall giltigen Gesetze zu ergreifen, aus deren Kreuzung das einzelne Individuelle hervorgeht. Und andererseits fehlt ihm die Schärfe der Auffassung und die liebevolle Hingabe, durch die die Individualität als solche verstanden oder auch nur wahrgenommen wird. Je höher ein Geist steht, desto vollkommener differenziert er sich nach diesen beiden Seiten; die Erscheinungen der Welt lassen ihm keine Ruhe, bis er sie auf so allgemeine Gesetze zurückgeführt hat, daß alle Besonderheit vollkommen verschwunden ist und keine noch so entlegene Kombination der Erscheinungen der Auflösung in jene widerstrebt. Allein wie zufällig und flüchtig diese Kombinationen auch sein mögen, sie sind doch nun einmal da, und wer die allgemeinen und ewigen Elemente des Seins sich zum Bewußtsein zu bringen vermag, muß auch die Form des Individuellen, in der sie sich zusammenfinden, scharf percipieren, weil gerade nur der genaueste Einblick in die einzelne Erscheinung die allgemeinen Gesetze und Bedingungen erkennen läßt, die sich in ihr kreuzen. Die Verschwommenheit des Denkens setzt sich beidem entgegen, da die Bestandteile der Erscheinung sich ihr weder klar genug sondern, um ihre individuelle Eigenart, noch um die höheren Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die ihnen mit ändern gemeinsam sind. Es steht damit in tieferem Zusammenhange, daß der Anthropomorphismus der Weltanschauung in demselben Maße zurückweicht, in dem die naturgesetzliche Gleichheit der Menschen mit allen anderen Wesen für die Erkenntnis hervortritt; denn wenn wir das Höhere erkennen, dem wir selbst und alles andere untergeordnet sind, so verzichten wir darauf, nach den speciellen Normen dieser zufälligen Komplikation, die wir selbst ausmachen, auch die übrigen Weltwesen vorzustellen und zu beurteilen. Die für sich bestehende Bedeutung und Berechtigung der anderweitigen Erscheinungen und Vorgänge in der Natur geht in der anthropozentrischen Betrachtungsart verloren und färbt ganz und gar von dem Kolorit des Menschentums ab. Erst die Erhebung zu dem, was auch über diesem steht, zu der allgemeinsten Naturgesetzlichkeit, schafft jene Gerechtigkeit der Weltanschauung, die jedes Ding in seinem Fürsichsein, seiner Individualität erkennt und anerkennt. Ich bin überzeugt: wenn alle Bewegungen der Welt auf die allbeherrschende Gesetzmäßigkeit der Mechanik der Atome zurückgeführt wären, so würden wir schärfer als je vorher erkennen, worin sich jedes Wesen von jedem ändern unterscheidet.
Dieses erkenntnistheoretische und psychologische Verhältnis erweitert sich, wenngleich dieselbe Entwicklungsform beibehaltend, sobald es sich statt um Naturgesetze um metaphysische Allgemeinheiten handelt. Neben der Abstraktionskraft des Verstandes ist es hier die Wärme des Gemütes, die aus seinem Innersten die metaphysische Blüte hervortreibt, die Innigkeit des Mitlebens mit den Erscheinungen der Welt, die uns die allgemeinsten, überempirischen Triebkräfte ahnen läßt, von denen sie im Innersten zusammengehalten wird. Und ebendieselbe Tiefe und Sammlung des Empfindens flößt uns oft eine heilige Scheu vor dem Individuellen der innern und äußeren Erscheinungen ein, die uns nun gerade hindert, in transcendenten Begriffen und Bildern gleichsam ein Asyl für die Not oder auch nur für die Unerklärlichkeit des augenblicklichen Erlebens zu suchen. Nicht woher dieses Schicksal kommt und wohin es geht, macht das aus, worauf es uns ankommt, sondern daß es gerade dieses Eigenartige, in dieser bestimmten Kombination mit nichts anderem Vergleichbare ist. Während die höchsten metaphysischen Verallgemeinerungen dem verfeinerten Gefühlsleben entspringen, ist gerade ein solches oft genug von dem Aufnehmen und Betrachten der empirischen Welt der Einzelheiten zu sehr ergriffen, ist zart genug organisiert, um alle die Schwankungen, Gegensätze, Wunderlichkeiten in dem Verhältnis des Individuellen zu bemerken, an denen der Stumpfsinnigere vorüberempfindet, und begnügt sich mit dem bloßen Anschauen und Anstaunen dieses wechselvollen Spieles der Einzelheiten. Ich brauche es kaum auszusprechen, daß es die ästhetische Naturanlage ist, die diese Differenzierung am vollendetsten darstellt; sie sucht einerseits die Ergänzung des Irdisch-Unvollkommenen im Bau einer Idealwelt, in der die reinen typischen Formen wohnen, andererseits die Versenkung in das Allereigenste, Allerindividuellste der Erscheinungen und ihrer Schicksale. Und im Praktisch-Ethischen knüpft sich das Interesse des Herzens am wärmsten gerade an die engsten und dann wieder an die weitesten Kreise der Pflichterfüllung: einerseits an die engste Familie, andererseits an das Vaterland, einerseits an die Individualität, andererseits an das Weltbürgertum; die Verpflichtungen für die dazwischen liegenden Kreise, so enge und strenge sie sein mögen, entbehren doch der Wärme und Innigkeit der Empfindung, die an jene Pole des socialen Lebens sich heftend auch von dieser Seite deren innere Zusammengehörigkeit zeigt. Und wie die hingebend optimistische Stimmung pflegt sich auch die skeptisch-pessimistische zu verhalten: sie verbindet gern die Verzweiflung am eigenen Ich mit der an der weitesten Allgemeinheit, projiciert das Gefühl innerer Wertlosigkeit, das aus rein subjektiven Momenten quillt, gar zu oft auf die Welt als Ganzes. Was dazwischen liegt, einzelne Seiten und Bezirke der Welt können dabei objektiv und selbst optimistisch beurteilt werden. Und umgekehrt kann ein Pessimismus, der nur diese Einzelheiten trifft, sowohl das Ich wie das Ganze der Welt unberührt lassen.