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IV.
Das Organische. Leib und Seele

1. Begriff des Organischen. 2. Zoologische und physiologische Grundbestiminungen. 3. Psychologie. Das Lebendige. Leib und Seele. 4. »Teile« der Seele. 5. Charakterisierung der aristotelischen Erkenntnislehre. 6. Die Empfindung. 7. Die Anschauung. 8. Das Denken. Der denkende Geist als überorganisches Princip. 9. Psychische Mechanik. 10. Lust und Unlust. Die Affekte. Psychologie der Katharsis. 11. Begehren und Wollen. Die Freiheit 1. Zu der Zahl der Begriffe, die Aristoteles als bleibende Grundlage für die wissenschaftliche Weltbetrachtung festgelegt hat, gehört außer den im Bisherigen aufgeführten auch der des Organischen, dessen deutliche und für die Folgezeit maßgebende Unterscheidung von dem des Unorganischen ihm aus seiner dynamischen Bestimmung des Verhältnisses von Materie und Form herausgewachsen ist, und zwar durch dessen Ausdehnung auf das Gebiet der lebenden Wesen.


Das Wort Organ (ὄργανον) bedeutet ursprünglich das Werkzeug. Der Begriff nun des Organischen bei Aristoteles wird durchsichtig, sobald man diese Bedeutung in Zusammenhang bringt mit seiner Lehre von der Wirksamkeit der Form als der innern Ursache eines an der Materie sich vollziehenden Werdeprozesses. Organisch sind nach seiner Anschauung die Teile der Naturkörper, sofern sie sich in ihrem Zusammenwirken als Werkzeuge darbieten für die Verwirklichung der im Innern (in der Entwicklung des Dinges) waltenden »Natur« (φύσις) d. h. der Formthätigkeit oder der im Wesen seiner Gattung liegenden Funktionsweise. Dieser zufolge bringen die Teile nach außen dasjenige zur Darstellung, worauf dem Wesen nach das Ganze angelegt ist; sie sind in ihrem Hervortreten und Zusammenwirken die Werkzeuge für das Dasein und Bestehen, d. h. für den Zweck des Ganzen. Das Wesen des Organismus liegt daher für Aristoteles darin, daß er als Ganzes »früher« ist als die Teile. Die Zusammensetzung der Teile bedingt nicht sein Wesen, sondern sie selbst wären nicht ohne die in und mit ihnen wirkende Kraft der Form oder des Typus der Gattung. Die gegenseitige Angepaßtheit der Teile ist daher nicht die Ursache der organischen Beschaffenheit, sondern nur ihr Kennzeichen. Sie ist selbst erst von dieser, also von innen her bedingt. Darum ist das wesentliche Merkmal eines Organs seine Zweckmäßigkeit im dynamischen Sinne des Begriffes. Was an dem organischen Wesen äußerlich sichtbar wächst und wird, ist innerlich, als Zweck seiner Entwicklung, schon vorgebildet.

 

2. Unter den auf die organische Welt bezüglichen Wissenschaften sind es nun die Zoologie, Physiologie und Psychologie, in denen Aristoteles selbst nicht nur für sein Zeitalter, sondern auch für eine lange Folgezeit bahnbrechend gewesen ist. Was zunächst die Tierwelt betrifft, so ist seine Kenntnis der Gattung zwar im Vergleich mit der heutigen nur eine sehr beschränkte; seine »Tiergeschichte« war aber dennoch eine für ihre Zeit großartige Leistung. Als die zwei großen Hauptklassen der Tiere unterscheidet er diejenigen, welche Blut, und die, welche keines, oder besser: nur ein »Analogon« desselben besitzen. Als Arten der ersteren erscheinen die Vierfüßler (a. gebärende, b. Eier legende), Vögel, Fische und Wale; als die der andern die Weichtiere, Weichschaltiere, Schaltiere, Insekten. Das Hauptbestreben neben der Einteilung geht nun aber darauf, die Massen derselben in eine aufsteigende Stufenfolge zu ordnen, nach dem Grade der Vollkommenheit bis zum Menschen hinauf. Eine erhebliche Rolle spielt dabei der Begriff der Zwischenstufen; eine solche bilden z. B. die Affen zwischen den Menschen und den Vierfüßlern, das Krokodil zwischen den Fischen und den eierlegenden Quadrupeden, der Einsiedlerkrebs zwischen Weich- und Schaltieren. Den wissenschaftlichen Ausdruck dieser Kontinuität und Vermittelung findet er in dem Gesetz der Analogie, welches das Band bezeichnet, wodurch verschiedene Gattungen sich als die Produkte der einen durchgreifenden gemeinsamen Lebensthätigkeit in der Natur erweisen. Ist doch das Weltganze als solches für Aristoteles im Grunde der Sache ein Gesamtorganismus und somit auch ein Gesamtleben s. darüber des Verfassers »Untersuchungen zur Philosophie der Griechen,« 2. Aufl. (Freiburg i. B. 1888). S. 194 ff., und er hält es daher für berechtigt, schon im Bereiche des Unorganischen bestimmte Erscheinungen (wie namentlich die Thatsache der Bewegung), als Analogien oder Vordeutungen des Lebens aufzufassen. Noch unverkennbarer ist ihm dieser Sachverhalt innerhalb der organischen Welt selbst. »Die Stelle des Blutes vertritt bei den blutlosen Tieren eine entsprechende Flüssigkeit; … den Knochen entsprechen bei Fischen und Schlangen die Knorpel und Gräten; … statt des Herzens haben die blutlosen Tiere ein ähnliches Zentralorgan, statt der Lungen haben die Fische die Kiemen; … für die Pflanzen hat die Wurzel dieselbe Bedeutung, wie für die Tiere der Kopf oder genauer der Mund, die Nahrung aufzunehmen; … die Lebensweisen, die Gemütsarten und der Verstand der Tiere lassen sich denen der Menschen vergleichen, die menschliche Seele ihrerseits unterscheidet sich in der Kindheit kaum von der tierischen s. Zeller a. a. O. S. 502 f. Weitere Belege ebd.« u. s. w. – Als physiologische Unterlage für die Abstufung innerhalb der Tierwelt gilt hauptsächlich der verschiedene Grad der organischen Wärme, der nach oben hin nicht nur die Vollkommenheit des Blutes, sondern namentlich auch den Grad der seelischen Ausbildung kennzeichnen soll. Besonderes Gewicht wird ferner auf die Unterschiede in der Bewegungsfähigkeit gelegt, außerdem namentlich die Stellung des Kopfes in Betracht gezogen, dessen Vorrücken nach oben dem Aufrücken in der Stufenreihe der Gattungen parallel geht. Von besonderem Interesse für den genetischen Gesichtspunkt der Einteilung sind ferner die Arten der Entstehung. Auf generatio aequivoca führt Aristoteles die einiger Insektenarten zurück, die aus fauligen Stoffen entspringen sollen, ferner die der Schaltiere und derer die (pflanzenartig) angewachsen sind. Die sonstigen Entstehungsarten bilden nun selbst wieder eine ansteigende Reihe von der Wurmform bis zur voll entwickelten Gestaltung mit dem Zwischengliede der Eiform, und es findet sich hier schon ein Anklang an moderne Auffassungen des Verhältnisses von Phylo- und Ontogenie, wenn angegeben wird, daß auch bei eierlegenden und lebendig gebärenden Tieren der Embryo zuerst »wurmartig« sei. Der eigentliche Grundgedanke der heutigen Deszendenzlehre liegt jedoch noch ganz abseits, denn von einem wirklichen genetischen Heraufbilden höherer Organismen aus niederen ist überhaupt noch nicht die Rede, sondern nur von einer in den höheren und niederen Formen durchgreifenden Analogie der Bildung. Die höhere oder niedere Stufe, welche die »Form« der betreffenden Tierklasse einnimmt, gilt als das, was der Art ihrer Organisation und Entstehung immer schon vorausliegt und sie bedingt, – eine Auffassung übrigens, welcher die moderne Theorie in der neuesten Phase ihrer Entwicklung auch wieder Einfluß auf ihre Untersuchungen scheint gestatten zu wollen. Als Vorläufer der Goetheschen Metamorphosenlehre erscheint Aristoteles da, wo er morphologische Gesichtspunkte zur Erklärung des Einzelnen heranzieht. Manche (z. B. rudimentäre) Bestandteile, für die sich eine organische Funktion nicht will nachweisen lassen, werden als Kennzeichen des allgemeinen (Gattungs-) Typus hingenommen; für anderes wird auf die Beschränktheit in der Quantität des Stoffes hingewiesen, der der Natur für die betreffende Gattung zur Verfügung stehe; deshalb bediene sich diese vielfach eines und desselben Organs zu mehreren Funktionen zugleich, wenn auch immer innerhalb gewisser Schranken, oder sie müsse, was sie dem einen Organ zulege, bei einem andern fehlen lassen, so beim Bären die Behaarung beim Schwanz, bei Tieren dagegen mit besonderer Schwanzfülle die Fleischigkeit der Beine u. a. Vergl. Goethe, die Metamorphose der Tiere. Eine weitere Uebereinstimmung mit der G.schen Lehre s. o. S. 36 f.

Als leitendes Prinzip für die Betrachtung des Baues der Tiere gilt für Aristoteles der Grundsatz, daß die Zusammensetzung durch den Zweck der einzelnen Teile bestimmt werde, die Wahl der Bestandteile aber sich nach deren natürlicher Beschaffenheit richte. Im Allgemeinen werden zunächst die »gleichteiligen« Bestandteile von denjenigen unterschieden, welche aus diesen selbst erst gebildet sind, also Teile wie Blut, Fett, Mark, Gehirn, Fleisch, Knochen von Fuß, Hand, Kopf u. s. w. Da die Nerven hier noch nicht bekannt sind, so gilt das »Fleisch« als Grundlage der Empfindung und damit überhaupt des bis zum Seelischen aufsteigenden Lebens; das Blut ferner als Nahrung für die festen Bestandteile; das Gehirn, wie schon erwähnt, als Apparat zur Abkühlung des Blutes und der vom Herzen aufsteigenden Wärme, während als das eigentliche Zentralorgan des Ganzen das Herz angesehen wird. Dieses gilt als Hauptsitz der Lebenswärme, und damit des Lebensgeistes (Pneuma), der seiner Beschaffenheit nach als eine Art Mittelding zwischen dem Seelischen und dem Physiologischen betrachtet wird. Nur die allerniedrigsten Gattungen, die auch zerschnitten noch fortleben, haben, wie Aristoteles hervorhebt, diese Zentralisation des Organismus noch nicht erreicht.

Die Grundzüge der aristotelischen Physiologie liegen etwa in folgenden Bestimmungen. Der in den Magen aufgenommene Nahrungsstoff wird unter der Wirkung des Lebensgeistes und der tierischen Wärme in diesem verarbeitet, sodann in den mit den Verdauungsorganen in Verbindung stehenden Adern verdampft und als Blutwasser dem Herzen zugeführt. Das Blut selbst, das vom Herzen bereitet wird, durchströmt den ganzen Körper und dient ihm zur Nahrung: die reinste Masse dem Fleisch und den Sinnesorganen, der Ueberschuß den Knochen, Haaren und was diesen etwa gleichwertig ist; das zur Ernährung Untaugliche wird in den Ausleerungen entfernt. Von dem Unterschied zwischen Venen und Arterien, sowie von einem Kreislauf des Blutes weiß Aristoteles noch nichts. Die Herstellung des Blutes durch das Herz beruht ihm auf einer Art »Kochung«, als deren mechanische Wirkungen auch die Pulsation und die Alternation des Ein- und Ausatmens hingestellt werden. Die Atmung (also die Lunge) soll ebenfalls dem Zwecke der Abkühlung dienen. Betreffs der mechanischen Gesetze der Bewegung konnte Aristoteles, da er die Nerven noch nicht kannte, zu einer annähernd zutreffenden physiologischen Ansicht noch nicht gelangen und sucht daher ein Verständnis dieses Gebietes, dessen Probleme ihm keineswegs entgehen, vorwiegend von der psychologischen Betrachtung aus zu gewinnen (s. u. § 11). Die Hauptleistung für die Erklärung des Einzelnen muß übrigens auch in der Anatomie und Physiologie bei Aristoteles die teleologische Betrachtung übernehmen, die denn namentlich hier gelegentlich für unsere Begriffe noch recht kindlich ausfällt. So wenn in der Embryologie zuerst die Entstehung des Herzens und dann die des Kopfes angenommen wird, weil zuerst die des Zentrums, nach dieser aber die des Gehirns erforderlich sei, um die von jenem kommende Lebenswärme durch Abkühlung gleich von Anfang an auf das richtige Maß zu bringen; oder wenn die Funktion des Zwerchfelles gesetzt wird in die Scheidung der Verdauungsorgane von den darüber liegenden »edleren« Eingeweiden, um die von der verdampfenden Nahrung aufsteigende Wärme vom Herzen abzuhalten, das in seinen Verrichtungen dadurch beeinträchtigt werden könnte. Die metaphysische Unterlage dieser teleologischen Physiologie bekundet sich u. a. namentlich in der Auffassung des Geschlechtsverhältnisses: Das männliche Geschlecht verhält sich zum weiblichen, wie die Form zum Stoff; bei der Befruchtung liegt in dem männlichen Samen (der eine Ausscheidung aus dem Blute ist), das formgebende (bewegende) Moment; sein Korrelat im weiblichen Organismus sind die Katamenien. die zur Bildung des Fötus lediglich die Materie abgeben. Der Zweck der Fortpflanzung ist die Erhaltung der Gattung, und diese wieder nach Aristoteles die einzig mögliche Art und Weise, in der das Vergängliche zu seinem Teil die Ewigkeit behauptet: die Gattung als solche ist ewig, während das Individuum vergehen muß. Der Unterschied in der Vollkommenheit der beiden Geschlechter beruht nach Aristoteles' Ansicht auf dem verschiedenen Grade der Lebenswärme, die wieder vom Zentralorgan her die Verschiedenheit in der körperlichen Entwicklung bedingt. Das weibliche Geschlecht wird als eine Art Verkümmerung des männlichen, d. h. als ein nicht zu voller Ausbildung der organischen Anlage Gekommenes betrachtet.

 

3. Mit den physiologischen Lehren des Aristoteles stehen nun seine psychologischen im engsten Zusammenhange, und zwar in erster Linie vermittelst des beiden Gebieten gemeinsam zu Grunde liegenden Begriffes des Organischen. Im Sinne der bisherigen Ausführungen gefaßt bildet das Organische das wesentliche Merkmal des Lebendigen, ja beide Begriffe sind nur verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache. Und sofern nun das Lebendige überall (auch – nach antiker Anschauung – bei den Pflanzen) sich darstellt als ein eigenartiges Ineinander von Leib und Seele, erweist sich für Aristoteles die Antwort auf die alte Frage von dem Wesen der Seele und ihrem Verhältnis zum Leibe bedingt durch die Bestimmung des Lebendigen in seiner Identität mit dem Wesen des Organischen. Sie ergiebt sich für ihn aus der Art, wie er die früheren Bestimmungen über das Verhältnis von Materie und Form zur Anwendung bringt in der Erklärung des Organismus. Und zwar thut er dies zugleich unter Verwertung eines Begriffes, der von seiner Analyse der Bewegung aus herantritt, an der Hand der Frage nämlich von der Begreiflichkeit derjenigen Eigenschaft, wodurch der Organismus sich in erster Linie als Lebendiges von den Beständen der unorganischen Welt unterscheidet, d. h. der spontanen Bewegung, Veränderung, Aeußerung und überhaupt Entwicklung. Die Ursache dieser ist es, die wir in den Organismus hinein verlegen und als dessen Seele bezeichnen. Auf Grund dessen begreift Aristoteles die Seele als die den Leib zu dem, was er ist (nämlich zu einem Lebendigen), gestaltende Form (εἶδος). Sie ist ihm die Form eines physischen Körpers, der zum Leben beanlagt ist (εἶδος σώματος φυσικοῦ δυνάμει ζωὴν ἔχοντος). Sie ist demgemäß nichts anderes (bezw. nichts geringeres) als die volle Wirklichkeit des Leibes, seine Entelechie (vgl. S. 40 f.), und als solche das, was ihn erst zum lebendigen Leibe macht, die stetig vorhandene Möglichkeit seiner Lebensfunktionen. Und zwar seine »erste« Entelechie, d. h. eine solche, die auch vorhanden ist, wenn sie (wie z. B. während des Schlafes) nicht in ihren Wirkungen sich aktuell zeigt. Man kann nach alledem die Seele im Sinne des Aristoteles definieren als die Funktionsverwirklichung eines organischen Körpers (σώματος ὀργανικοῦ), d. h. eines Körpers, dessen Bestandteile sich als »Werkzeuge« der in ihm liegenden Funktionsweise darstellen, weil sie ihr Wesen lediglich darin haben, in ihrem Ineinandergreifen die Bethätigung und Verwirklichung desjenigen zu sein, worauf dem Innern Wesen der Sache nach das Ganze angelegt ist, nämlich des Lebens. Die Seele ist daher, in bündigerer Formulierung, Begriff (λόγος) und Wesen (οὐσία) des Leibes, der ohne sie schon nicht mehr Leib ist, sondern nur noch Leichnam. Er verhält sich zu ihr, wie das Wachs zu seiner Form; sie zu ihm, wie die Sehkraft zum Auge. Man kann sich diesen aristotelischen Begriff der Seele mit der späteren Auffassung in den der Lebenskraft übersetzen, nur eben mit dem Vorbehalt, daß diese nicht als Ergebnis der organischen Funktion in ihren einzelnen Leistungen angesehen wird, sondern als ihr Grund, und zwar in dem Sinne, daß die leiblich-organischen, wie die seelischen und geistigen Wirkungen gleichmäßig durch sie bedingt sind, also z. B. Wachstum und Atmung ebensowohl wie Fühlen und Denken. Die Seele, insofern und insoweit sie Lebenskraft ist, ist vom Leibe nicht trennbar; ihre Affektionen sind immer zugleich solche des Leibes. Als die »Form« des Leibes ist sie ferner auch dessen Zweck; denn der Zweck des Leibes ist die Verwirklichung seines Lebens, d. h. eben die Beseelung, was aber wiederum nicht bedeuten soll, daß der Leib die Seele bedingt oder hervorbringt, sondern daß sie an ihm und seinen Organen sich und damit eben das Leben verwirklicht. Die Seele ist die beherrschende und begrenzende Kraft des organischen Leibes. Aristoteles ist mit dieser biologischen Grundansicht Gegner sowohl des Materialismus, der das Seelische für eine Funktion des Stoffes erklärt, wie auch andrerseits Abgesehen von einer bedeutenden Konzession; s. u. § 8 des Kap. des Spiritualismus, für den die Seele eine dem Leibe qualitativ entgegengesetzte, mit ihm unvergleichbare Substanz bedeutet.

 

4. In Konsequenz dieser Ansicht faßt nun Aristoteles die verschiedenen Arten der Lebensfunktion als verschiedene Stufen des seelischen Lebens, die trotz ihrer Verschiedenheit innerhalb des Organismus ein einheitliches Ganzes bilden: die Seele wirkt im Organismus überall als eine bestimmte Art der Funktion; nicht als Seele im allgemeinen, sondern immer entweder als ernährende (und fortpflanzende) oder empfindende oder bewegende oder denkende, bezw. als eine Mehrheit von diesen zusammen. Um also das konkrete Wesen und die Funktionen der Seele zu erkennen, muß man die aufsteigende Reihe der Lebensfunktionen aufsuchen. Die genannten Hauptstufen des Seelischen liegen nun aber nicht gleichsam äußerlich neben- und übereinander, sondern sind, nach Aristoteles, durch bestimmte nachweisbare Beziehungen und Bedingungen nach bestimmten Verhältnissen verkettet. Das wichtigste unter diesen liegt in der Thatsache, daß die niederen Stufen für das Dasein der höheren immer vorausgesetzt werden. Die niedrigste Lebens- oder Seelenthätigkeit, die vegetative (»ernährende«) mit Ausschluß der übrigen besitzen die Pflanzen; auf der nächsthöheren Stufe aber, nämlich der empfindenden (bei den Tieren) ist jene ebenfalls vorhanden, und ebenso besteht nach obenhin die Denkthätigkeit, die den Vorzug des Menschen bildet, nicht ohne den Untergrund jener andern Funktionen. Die der organischen Bewegung wird dabei stillschweigend als den drei andern in verschieden hohem Grade zur Seite gehend vorausgesetzt.

Eine besondere Erörterung des eigentlichen Gefühlslebens hat Aristoteles in den Rahmen seiner methodisch-psychologischen Untersuchungen nicht mit gegeben. In dem intellektualistischen Charakter seiner Spekulation, der schon in der Art, wie er das Wesen Gottes ausschließlich als Denkthätigkeit bestimmt, uns entgegentrat, liegt es bedingt, daß er innerhalb der systematischen Psychologie den Blick vorwiegend auf die aufsteigende Reihe der Erkenntnisfunktionen gerichtet hält.

 

5. Bei der Erörterung dieser hat er nun weiter den erkenntniskritischen Gesichtspunkt, d. h. die Frage von den Normen für die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis, von dem psychologisch-genetischen, also von der Bestimmung des thatsächlichen Wesens und Zusammenhangs der verschiedenen Funktionen noch nicht gesondert gehalten. Trotz dieser Ungeschiedenheit der Gesichtspunkte ist aber die Erkenntnislehre des Aristoteles eine epochemachende Leistung innerhalb des wissenschaftlichen Geisteslebens, weil sie nicht nur die früheren unzulänglichen und sich gegenseitig widerstreitenden Anfänge einer solchen mit genialem Tiefblick zusammenschauend und abschließend hinausführt, sondern auch für alle Folgezeit die Grundlage feststellt, auf welche nachmals jede Weiterführung der bezüglichen Probleme bewußt oder unbewußt hat aufbauen müssen.

Unter Aristoteles' Vorgängern hatten die Eleaten und namentlich auch Platon die Vernunft mit ihren allgemeinen Begriffen als die normgebende Potenz des Erkennens und als das Organ für absolute Wahrheit angesehen. Im Gegensatze zu ihnen hatten die Sophisten und verwandte Richtungen die Möglichkeit und das Bedürfnis, allgemeingültige Erkenntnis aus dem Inhalte abstrakter Vernunftbegriffe zu gewinnen, in Abrede gestellt und Wahrheit überhaupt nur als etwas Relatives, d. h. von der jeweiligen Beschaffenheit des Subjekts und seiner durch äußere Faktoren bedingten Wahrnehmung und Erfahrung Abhängiges, also nach Umständen Veränderliches hingestellt. Auf keiner von beiden Seiten war es aber zu einer durchgreifenden Erörterung betreffs der Bedingtheit der Vernunftinhalte durch die der Empfindung und Anschauung gekommen, und deshalb auch die Abwägung des Anspruchs von seiten der beiden Gebiete auf normative Bedeutung hinsichtlich des Wahrheitsgehalts ihrer Inhalte schließlich in der Schwebe geblieben. Aristoteles fand somit hier noch die Aufgabe vor, zu zeigen, was sowohl die Empfindung und Wahrnehmung, wie auch die Vernunft zu der Gewinnung sicherer Erkenntnis beitrage, inwiefern die letztere auf die Inhalte der ersteren mit angewiesen sei, und andrerseits die Empfindungsinhalte der Ergänzung durch die in der Vernunft liegenden allgemeinen Begriffe bedürfen. Außerdem galt es, noch zu bestimmen, in welcher Art des Zusammenwirkens beider Vermögen man überhaupt die Norm für die Wahrheit sowohl der sinnlichen Erfahrung, wie auch der über diese hinausstrebenden Vernunftinhalte zu suchen habe. Die Behandlung dieses Problems unternimmt nun Aristoteles zum erstenmale in seinem ganzen Umfange, indem er den genetischen Aufbau des normativen Erkenntnisprozesses aufzuweisen sucht. In dem Rahmen dieser Erörterung bestimmt er das Verhältnis zwischen dem oberen und unteren Erkenntnisvermögen sowohl hinsichtlich der thatsächlichen Beschaffenheit der beiderseitigen Funktion, wie auch betreffs der ihnen zugewiesenen Leistung hinsichtlich der Gewißheit des Erkennens auf Grund ihres aller Orten bestehenden gegenseitigen Zusammenhangs.

 

6. Die Erkenntnislehre beginnt Aristoteles naturgemäß mit der Bestimmung des Wesens der Empfindung (αἴσθησι&ς). Er sieht von vornherein deutlich den Sachverhalt, um dessen Begreifen es sich dabei handelt: es fragt sich, wie das, was als Beschaffenheit eines äußern Gegenstandes vorhanden ist (Farbe, Klang u. dgl.), zugleich als Zustand des ihm gegenüberstehenden Subjekts eine Wirklichkeit haben kann, sofern es sein objektives Dasein diesem kundzugeben in der Lage ist. Das Objektive und das Subjektive werden im Moment der Empfindung ein einziger Akt, und es entsteht also weiter die Frage, wie dies zugeht und wie es möglich ist, und zwar insbesondere angesichts der unbestreitbaren Thatsache, daß einerseits ein bestimmter Inhalt als Empfindungsqualität nur für ein Empfindungsorgan vorhanden sein kann, und daß er andrerseits doch auch als Eigenschaft des Dinges dann vorhanden ist, wenn das Organ ihn nicht perzipiert. Auf den Inhalt dieser unmittelbar zusammenhängenden Fragen antwortet Aristoteles dadurch, daß er von seiner Lehre über das Verhältnis von Potenzialität und Aktualität, sowie von Materie und Form eine neue Anwendung auf das Gebiet der Erkenntnis macht. Hierdurch will er erklären, wie im Vorgange der Empfindung das Objekt seine Eigenschaft auf das Sinnesorgan überträgt. Er bestimmt die Empfindung als eine Art der Bewegung, als qualitative Veränderung des empfindenden Organs durch das Erleiden des Eindrucks, der damit (modern ausgedrückt) der Seele zum Bewußtsein kommt: das Organ ist vorher schon »der Möglichkeit nach« empfindend, und diese Möglichkeit geht mit dem Eintreten des Eindrucks in Wirklichkeit über, sie wird aktuell. Indem also z. B. die Farbe auf das Auge wirkt, vollzieht sich ein einheitlicher Akt, worin, indem Gegenstand und Sinnesfunktion sich ausgleichen, das Objektive und das Subjektive sich (bildlich gesprochen) verhalten, wie die zwei Enden eines Weges, der dadurch, daß man ihn von zwei entgegengesetzten Seiten betrachten kann, nicht aufhört, einer und derselbe zu sein. Und so in allen Sinnesgebieten. Der Schall ist begrifflich verschieden vom Gehör, aber im Akte des Hörens bilden Schall und Gehör eine Einheit: der Schall ist übergegangen in »Schallen«, ebenso wie von der andern Seite das Gehör oder die Hörfähigkeit in (aktuelles) »Hören«; beide Vorgänge fallen ineinander. Das Organ wird im Akte der Empfindung das, was das Empfindungsobjekt in Wirklichkeit ist. Vermittelt aber ist diese Koincidenz durch die Bewegung, welche durch das bereits aktuelle Objekt (z. B. die Farbe) hervorgerufen wird, womit aber im Empfindungsorgan nicht ein Neues gestiftet, sondern nur eine Bethätigung ausgelöst wird, auf die es schon angelegt war.

Für Aristoteles existiert, wie man sieht, noch kein Unterschied von »primären« und »sekundären« Sinnesqualitäten: er ist nicht (wie schon vor ihm Demokrit und später J. Locke u. a.) der Ansicht, daß zwar gewisse Eigenschaften (wie etwa Gestalt, Schwere u. dgl.) den Dingen an sich selbst zukommen, andre dagegen (wie Farbe und Klang) nur deren Wirkung im Sinnesorgan bezw. im Bewußtsein bedeuten und sonach nur in und für die Wahrnehmung vorhanden sind. Alle Eigenschaften ohne Unterschied sind für ihn am Objekt selbst und veranlassen das Organ durch ihre Einwirkung zu einer Funktion, wodurch ihre wesentliche Beschaffenheit (ihre »Form«) auf es übertragen wird. Das empfindende Organ nimmt, wie Aristoteles sagt, die Form des Objekts ohne dessen Materie in sich auf, etwa wie das Wachs den Abdruck des Siegels; es wird im Organ das gleiche »Verhältnis« (λόγος) hergestellt, wie in der Empfindungsqualität selbst. Zur Aufhellung der Frage aber, wie man sich diese Herstellung zu denken habe, dient nun weiter die Lehre vom Medium (μεταξύ) der Empfindung: das Objekt beeinflußt das Organ nicht durch Fernwirkung, sondern muß es berühren, und zwar durch Vermittelung einer zwischen beiden gelegenen Substanz, welche die Bewegung von dem Einen auf das Andere fortleitet. Diese Medien sind für Gesicht, Gehör und Geruch Luft und Wasser, für Geschmack und Getast die Zunge und das Fleisch. Diese Annahme soll es verständlich machen, wie vom Gegenstande die Form ohne die Materie auf das Sinnesorgan sich übertragen läßt: das Objekt (z. B. der Schall) bewirkt im Medium eine seiner Eigentümlichkeit entsprechende Bewegung oder Veränderung, und durch diese wieder das Medium eine dem entsprechende im Sinnesorgan, in welches hinein es sich, wenn auch mit etwelcher physikalischen Modifikation, fortsetzt.

Die Empfindung ist hiernach für Aristoteles ein Prozeß, wodurch die objektive Qualität als solche zugleich subjektiv wird, indem sie auf dem angegebenen Wege zur Wechselwirkung mit der Seele gelangt. Hierdurch wird einerseits die objektive Qualität z. B. der Farbe erst wirklich zur gesehenen Qualität, und andrerseits die Sehfähigkeit des Auges zum wirklichen Sehen; dies beides aber ist ein Akt, und zwar ein solcher, worin auch in diesem Gebiete der Wirklichkeit sich die Potenzialität zur Aktualität ausgestaltet durch Vermittelung der Bewegung.

Von der heutigen Theorie des Sehens unterscheidet sich die hier dargestellte vor allem dadurch, daß sie nicht, wie diese aus der Empirie herstammt, sondern aus der Metaphysik. Sie ist eine spezielle Anwendung der dort vorgetragenen Lehre von dem Verhältnis von Potenzialität. Aktualität und Bewegung. Außerdem ruht die moderne Lehre vom Sehen auf der Voraussetzung, daß die erzeugende Ursache (Wellenbewegung des Aethers) etwas vom Inhalt der Empfindung verschiedenes sei; für Aristoteles dagegen ist die Farbe selbst schon etwas am Objekt vorhandenes und als solches imstande, durch das Medium hindurch das Organ zu affizieren, wie denn außerdem auch das Licht (der Helligkeitsgrad) für ihn nicht erst im Empfindungsprozeß für das Auge als besondere Eigenschaft der Farbe mit entsteht, sondern mit dieser selbst bereits am Objekt da ist und die Affektion vermitteln hilft. Einen Vorzug aber besitzt die antike Theorie in dem Umstande, daß sie das erkenntnistheoretische Problem schärfer ins Auge faßt, in dem Hinweis nämlich darauf, daß der Akt des Empfindens im Subjekt und der »äußere« Vorgang am Objekt ein einheitliches Geschehnis ausmachen, welches sich der darauf bezüglichen wissenschaftlichen Analyse nur in zwei verschiedenen Seitenansichten (als objektives und subjektives Bewußtsein) darstellt.

Die bis jetzt aufgezeigten Eigentümlichkeiten der Empfindung bezeichnen ihr Wesen hauptsächlich im Verhältnis zu der sie veranlassenden Welt des Physikalischen. Für die Kennzeichnung ihres Wesens in seiner Beziehung zum seelischen Innern läßt Aristoteles es sich angelegen sein, darauf hinzuweisen, daß die anscheinend getrennten Empfindungsinhalte der verschiedenen Sinne in ein gemeinsames »erstes« (d. h. oberstes) Empfindungsorgan einmünden, auf dessen Mitwirkung bei jeder besonderen Empfindung noch die Perzeption derjenigen Eigenschaften beruht, die sich aus der kombinierten Thätigkeit verschiedener Empfindungsgebiete ergeben. So namentlich die Eigenschaften der Größe und Bewegung; auch das Vermögen der Unterscheidung der verschiedenen Empfindungsqualitäten wird darauf zurückgeführt; außerdem auch dasjenige, vermittelst dessen man im Akte der Empfindung sich nicht bloß eines bestimmten Inhaltlichen (Weiß, Süß u. dgl.), sondern auch der Thatsache des eigenen Empfindens selbst bewußt wird. Mit dieser Vervollständigung der Theorie des Empfindens ist nun für Aristoteles die Grundlage für die Aufweisung des von hier aufsteigenden Erkenntnisprozesses gegeben.

 

7. Zwischen der Empfindung und Wahrnehmung-, (deren beide Begriffe hiernach in dem der αἴσθησις ununterschieden bleiben), und den höheren geistigen Thätigkeiten des Meinens und Denkens steht in der Reihenfolge der theoretischen Vermögen die anschauliche Vorstellung (φαντασία), d. h. das schon mehr oder minder verallgemeinerte Bild des Gegenstandes, das von der Wahrnehmung her der Seele zum dauernden Besitz geworden ist. Sie beruht physiologisch auf der Zuleitung der durch den Empfindungsakt eingeleiteten innern Bewegung bis zum Zentralorgan, als welches Aristoteles, wie schon gesagt, noch nicht das Gehirn, sondern das Herz betrachtet. Für den innerorganischen Träger dieser Fortleitung hält er das Blut und insbesondere den darin befindlichen »warmen Hauch«. Die Anschauung ist hiernach die Wirkung des in den bezeichneten Verhältnissen gegebenen Beharrungsvermögens für Eindrücke, d. h. des Gedächtnisses (μνήμη), unterscheidet sich aber von dem spezifisch so genannten Erinnerungsbilde (μνημόνευμα) eines Eindrucks dadurch, daß mit ihr nicht notwendig die frühere wirkliche Wahrnehmung (unter Hinzutritt der Zeitvorstellung) wieder mit zum Bewußtsein kommt. Aus den Verschmelzungen der Anschauungsinhalte entstehen weiter veränderte Anschauungs-, d. h. Phantasiebilder im eigentlichen Sinne. Von besonderer Wichtigkeit sind aber die Anschauungen für Aristoteles um deswillen, weil sie den Inhalt der sie bedingenden Eindrücke immer schon in einer gewissen Verallgemeinerung wiedergeben, da sie den Inhalt jener unter Abstreifung des individuellen (lokalen, zeitlichen u. dgl.) Charakters zum Bewußtsein bringen. Sie bilden auf Grund dessen die Vorstufe der allgemeinen Begriffe und deshalb auch die Unterlage sowohl für die Möglichkeit der Sprache, wie auch für die spezifische Vernunftthätigkeit des Schließens. Noch unterhalb dieses Gebietes schließt sich an die Anschauung zunächst das Meinen (δόξα) an, dessen Gebiet das Zufällige, Mögliche und Vergängliche ist, im Gegensatz zum Ewigen und Notwendigen. Dieses selbst bildet den Inhalt der eigentlichen Denkthätigkeit (διάνοια), die ihrerseits wieder als praktische (φρόνησις) oder als rein begriffliche (ἐπιστήμη) sich bekundet.

 

8. Das Denken im eigentlichen Sinne ist nach Aristoteles das Erfassen einer Wahrheit vermittelst der Einsicht ihres letzten Grundes. Das Organ dieser Thätigkeit ist der Geist (νοῦς), in dessen Begriffe bei Aristoteles noch die spezielleren des Verstandes, der Vernunft und des Bewußtseins ineinanderspielen. Er ist der dem Menschen als solchem eigentümliche »Teil« der Seele, der an kein leibliches Organ gebunden ist (χωριστός). Sein Objekt bilden die einheitlichen und ursprünglichen Gründe der Dinge und die obersten Prinzipien aller Wissenschaft. Wie im Gebiete der Wahrnehmung das Auge sich im einheitlichen Empfindungsakte mit dem Gegenstande (d. h. dessen »Form«) identifiziert, so wird im Gebiete des Denkens der Geist im Erfassen der abstrakten (begrifflichen) Form eins mit diesem seinem Objekte. Die dem Gegebenen zu Grunde liegenden Vernunfteinheiten (begrifflichen Beziehungen), die noch des denkenden Erfaßtwerdens bedürfen, bringt er als wirkliche zum Bewußtsein. Die Sinnlichkeit liefert ihm hierzu den Stoff vermittelst der Anschauungsbilder. Mit Rücksicht auf diesen Umstand vergleicht Aristoteles die Beschaffenheit des Geistes vor dem Herantreten dieser Eindrücke mit der einer unbeschriebenen Tafel. Die spontane Gegenwirkung aber des Geistes auf die von jener Seite kommenden Anregungen besteht nach seiner Ansicht in dem Bewußtmachen der den sinnlichen Thatsachen selbst schon zu Grunde liegenden begrifflichen Verhältnisse: der Geist erschaut sie aus eigener Kraft hinzu und bringt dadurch erst in die Vielheit des Gegebenen abschließenden Zusammenhang und letzte Begründung. Insbesondere leistet er dies durch das unmittelbare Erfassen der an sich undeduzierbaren obersten Begriffe und Axiome der verschiedenen Wissenschaften. In dieser Weise giebt er z. B. der Mathematik die Begriffe und obersten Grundsätze von Einheit, Größe, Punkt, Linie; der Philosophie die der ersten Ursache, der Möglichkeit und Wirklichkeit, der Substanz u. a. Diese Intuition des »Unvermittelten« (der ἄμεσα), ist zugleich die klarste Erkenntnis, für deren Objekte es nach Aristoteles kein Irren und Schwanken giebt, denn es besteht für sie vermöge der Eigenart des Geistes nicht, wie für das bloße Meinen und discursive Denken (διάνοια), der Unterschied von Wahrheit und Irrtum, sondern nur der von Haben und Nichthaben, Sehen oder Nichtsehen. In dem Denken dieser obersten Inhalte denkt und bethätigt der Geist zugleich sein ureigenstes Wesen; das denkende Bewußtsein und sein (abstrakter) Inhalt sind identisch.

Auch wo der Geist außerhalb des rein Theoretischen wirkt, indem er sich (auf Veranlassung des Begehrens) dem Praktischen zuwendet, ist er von Haus aus reine Erkenntnisthätigkeit. Er erkennt die Normen und Prinzipien des Handelns, sowie die konkreten Dinge und Verhältnisse, sofern sie zum Zustandekommen des Entschlusses maßgebend sind, und wird so zum beratschlagenden Denken. Daß er nun in diesem Gebiete sich nicht als absolutes Wahrheitsorgan bethätigt, sondern auch irren kann, hängt wesentlich damit zusammen, daß er hier nicht absolut selbstthätig ist, sondern sich seine konkreten Zwecke von der jeweiligen Situation (also von außen) her muß geben lassen. Aristoteles bezeichnet ihn daher nach dieser Seite hin lieber als praktischen Verstand (φρόνησις), denn als Denken im höchsten Sinne dieses Wortes.

Die verschiedenen Thätigkeiten der Seele bilden, wie wir gesehen haben, bei Aristoteles eine aufsteigende Reihe von Stufen des organischen Lebens; sie entfalten sich von unten nach oben an der Hand von dessen Entwicklung. In dieser Ansicht eingeschlossen ist nun die andere, daß mit dem Aufhören des Lebens auch die Seele mit ihren Thätigkeiten nicht mehr vorhanden ist, da nach der hier waltenden Grundanschauung die Begriffe der Seele und des organischen Lebens sich decken. Aristoteles zieht diese Konsequenz in der That für die drei unteren und z. T. auch für die oberste Funktion des Seelenlebens, nämlich für das praktische Denken. Andrerseits freilich hat er bei seinem objektiven Blicke für die Verhältnisse der Wirklichkeit sich der Erwägung nicht verschlossen, daß in dem Wesen der Vernunft und des reinen Denkens, welches die Probleme des Lebens und der Welt überhaupt vor das Bewußtsein stellt, im Vergleich mit den Naturfunktionen eine Ungleichartigkeit und Superiorität sich zur Geltung bringt, die es zu verbieten scheint, auch die Fähigkeiten des begrifflichen Denkens ausschließlich als eine Leistung des Organismus zu fassen. Dieses Bedenken ist dem Philosophen auch an der Hand eines andern Gedankens nahe getreten. Das menschliche Wesen ist ihm eine Art Mikrokosmos. Wie nun in der Welt als Ganzem sich der göttliche Geist bethätigt, der als Grund der Bewegung und zugleich als das Ziel derselben zu der Weltentwicklung vermöge seines schöpferischen Wesens hinzukommt, so soll nach Aristoteles auch im Menschen zu den seelischen Funktionen als den organischen Leistungen noch der Geist als die Funktion des rein begrifflichen (schöpferischen) Denkens (nicht herauswachsen, sondern) hinzutreten. Der denkende Geist hat für Aristoteles nach dem Obigen das Eigenartige, daß sein Erkennen nicht, wie das der Empfindung, auf einem Affiziertwerden, also einem Leiden von seiten materieller Objekte beruht, und daß seinem Wesen überhaupt nichts dem Materiellen Analoges eigen ist. Er ist als Denkkraft im absoluten Sinne eine Aktualität, mithin leidenslos (ἀπαθής). Zu seinen Objekten, den Begriffen, verhält er sich analog, wie im Gebiete der Wahrnehmung das Licht zu den Farben: wie dieses die Farben aus der »Möglichkeit« (des Erblicktwerdens) in die Wirklichkeit überführt, so ist es der »aktive Geist« (νοῦς ἀπαθής), oder, wie man ihn später bezeichnete, (ποιητικός), der die im Inhalte der Vernunft liegenden Begriffe durch eine Art innerer Bestrahlung dem Bewußtsein gegenständlich macht und damit ihre Synthesis im Denken ermöglicht. Da nun ein Wirkendes nicht ohne das Wechselverhältnis mit einem Leidenden gedacht werden kann, so ist allerdings auch für das Wesen des Geistes dieses Verhältnis anzunehmen. In bestimmter Beziehung also ist auch ein »leidender« (passiver) Geist (νοῦς παθητικός) im Wesen des Menschen anzunehmen. Dieser aber besteht in nichts anderem als darin, dass die Begriffe, die beim wirklichen Denken dem Bewußtsein aufleuchten, auch außerhalb dieses aktiven Verhaltens (als unbewußte Inhalte) in der Seele vorhanden sind, um je nach Umständen auf Anregung durch die äußeren Eindrücke unter der Wirkung des »aktiven« Geistes beim Denken in Aktion zu treten. Der aktive Geist selbst aber, obwohl gleichfalls ein »Teil der Seele«, soll, nach Aristoteles' Ansicht, doch als vom Organismus »getrennt« gefaßt werden, d. h. als etwas, was zu den von unten auf sich entwickelnden Seelenkräften von oben her noch hinzukommt, und zwar, wie er ausdrücklich sagt, »von außen« (θύραθεν): er ist das im Organismus enthaltene, aber nicht durch ihn bedingte Ueberirdische und Göttliche. Sein Wesen ist unentstanden und unvergänglich; er überdauert daher, und zwar er allein unter den seelischen Funktionen, die Auflösung des Leibes, weil er sein Dasein nicht erst diesem verdankt.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß mit dieser Lehre von der »Getrenntheit« des Denkgeistes gegenüber dem Gesamtorganismus des Menschen der bisher streng festgehaltene genetische Charakter der aristotelischen Anthropologie in die Brüche geht. Der Philosoph wird hier mit Bewußtsein dualistisch. Unter dem Eindrucke der Unvergleichbarkeit des Denkens mit den organischen Funktionen des Seelenlebens statuiert er zwischen beiden Gebieten eine Kluft, indem die aktive Vernunft aus den unteren Lebensstufen weder herauswachsen, noch in ihrem Wesen irgendvon ihnen bedingt sein soll. An dieser Auffassung wird auch nichts geändert durch den Umstand, daß Aristoteles in seinem physiologischen Hauptwerke (»Ueber die Entstehung der Tiere«) den Geist schon bei der Zeugung des Menschen mit in den embryonalen Organismus eintreten läßt; denn auch hier wird dieses Herzukommen ausdrücklich als ein vom Organischen aus nicht bedingtes Accedens charakterisiert. Aristoteles gelangt bei diesem Punkt an die Grenze seines metaphysischen Vermögens. Er bekundet aber, wie aller Orten, so auch hier den großen Wirklichkeitssinn, von dem seine Spekulation getragen ist. Indem er sich vor die Wahl gestellt sieht, entweder die bezeichnete Schwierigkeit im Inhalte seiner Weltanschauung und die Lücke im einheitlichen Aufbau seiner biologischen Theorie bestehen zu lassen oder, wie schon andere vor ihm gethan hatten, die Thatsache der Eigenartigkeit des denkenden Faktors gegenüber der Natur zu leugnen, entschied er sich mit Bewußtsein für das Erstere. Als der leitende Gesichtspunkt aber seiner ganzen Lehre ergiebt sich gerade an dieser Stelle mit voller Deutlichkeit das Bestreben, den überkommenen Gegensatz des Sensualismus und des Platonismus endgültig, und zwar vom Boden des letzteren aus zu überwinden. Jenem gegenüber wird der Sachverhalt betreffs der Wahrnehmung und des Denkens dahin richtig gestellt, daß die Wahrnehmung ihren Inhalt, soweit er ein allgemeiner ist, nicht von sich aus in den denkenden Geist hineinlegt, sondern dieser ihn aus ihr entnimmt, oder zu ihr hinzubringt; den Platonikern aber wird bedeutet, daß der Geist die in ihm angelegten Begriffe auch subjektiv nicht in sich erblicken würde, wenn sie nicht in den Dingen schon an sich lägen und auf Anlaß der Wahrnehmung daraus entwickelt werden könnten. In dieser Stellung zum Empirischen liegt es nun auch begründet, daß nach Aristoteles der Geist in seiner Gesamtthätigkeit nicht bloß als ein Wahrheit schauendes Vermögen (intellektuelle Anschauung), sondern auch als Ueberlegung und Meinung sich bethätigen muß, oder daß, aristotelisch gesprochen, seine Thätigkeit nicht bloß auf das Ewige, auf sich selbst Ruhende gerichtet ist, sondern auch auf das Veränderliche, ein Gebiet, worin auch er der Möglichkeit des Irrtums nicht enthoben ist. Das andere Ergebnis aber seiner gesamten Erkenntnislehre faßt Aristoteles in den Satz, die Seele sei »in gewisser Weise alles« (ἡ ψυχή τὰ ὂντα πώς ἐστι πάντα), sofern nämlich die Formen der sinnlichen, wie auch der nur dem Denken erfaßbaren (intelligiblen) Dinge im Erkenntnisprozesse zu ihrem Inhalt werden.

 

9. Wer mit den modernen Inhalten und Methoden der philosophischen Disziplinen vertraut ist, wird unschwer bemerken, daß unter diesen keine hinsichtlich des Wesens und der Behandlung ihrer Probleme noch in so naher Fühlung mit den aristotelischen Grundlagen geblieben ist, wie gerade die Psychologie. Diese Thatsache tritt namentlich auch in den bei Aristoteles zu der Erkenntnislehre nebenhergehenden Erörterungen betreffs der Gesetzmäßigkeit der Bewußtseinsvorgänge heraus. Man erkennt dabei besonders deutlich seine Beflissenheit, den Zusammenhang und die Wechselwirkung des Seelischen mit dem Organischen und Physiologischen zu seinem Recht kommen zu lassen, ungeachtet des Umstandes, daß ihm gerade hierzu noch so gut wie alle wirklich sachlichen Grundlagen und Handhaben abgingen, und zwar hauptsächlich wegen der Unbekanntschaft mit den Funktionen des Nervensystems und Gehirns, an dessen Stelle für ihn eben das Herz die Bedeutung des psychophysischen Zentralorgans behauptet.

Unter der Wirkung dieser Bestrebung hat Aristoteles in der Psychologie namentlich die systematischen Grundlagen der Lehre von der Assoziation und Reproduktion geschaffen. Er weiß, daß Reproduktion immer durch Assoziation bedingt ist, die Bedingung der letzteren selbst aber liegt nach seiner Lehre entweder in der Aehnlichkeit der Vorstellungen oder in ihrem Kontrastverhältnis oder in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge. Im Verfolg dieser Untersuchungen hat Aristoteles namentlich die Verhältnisse der Reihenreproduktion schon genauer beobachtet und in Verbindung damit auch für die organische Grundlage eine bestimmtere Vorstellung zu gewinnen versucht. Die Erinnerung, und zwar sowohl die unwillkürliche, wie auch das »Besinnen«, ist ihm, so gut wie noch der heutigen Physiologie im Wesentlichen, eine im geringeren Grade stattfindende Wiedererregung gewisser körperlicher Empfindungsorgane, nur daß bei ihm an Stelle der betr. cerebralen Partieen als Zentralorgan das Herz und als Leitungen die Kanäle des Blutes dienen müssen. Die Annahme solcher innerorganischen Bewegungen als Grundlage der Vorstellungsverbindungen hat denn bei Aristoteles auch bereits auf die Anfänge einer Vorstellungsmechanik geführt, der unter den modernen Versuchen einer solchen namentlich die Herbart'schen Ansichten mehrfach nahe kommen. Es wird u. a. gelehrt, die größere Bewegung verdränge die schwächere, oder: mehrere Inhalte desselben Sinnes können eine Verschmelzung bilden, also zugleich empfunden werden, während die Inhalte entgegengesetzter Sinne sich hemmen. Die kleinen und schwachen Bewegungen kommen namentlich vielfach im Traume zur Geltung, weil während des Schlafes die größeren, von denen sie gehemmt waren, verschwunden sind u. dgl. m.

 

10. In der Lehre von den Gemütsbewegungen geht die noch heute geläufige Bestimmung des Wesens und Gegensatzes von Lust und Unlust gleichfalls bereits auf Aristoteles zurück. Das Lustgefühl beruht nach seiner Auffassung auf der ungehinderten Verwirklichung einer in der organischen Natur angelegten Beschaffenheit; Unlust dagegen ist das Innewerden einer Hemmung hinsichtlich einer derartigen Bethätigung. Vollverwirklichte Funktion und entsprechende Lust sind im Grunde dasselbe. Darum ist auch jede Empfindung notwendig mit Lust oder Unlust verknüpft, da mit ihr immer entweder Förderung oder Hemmung des vorhandenen natürlichen Zustandes gegeben ist. Die anhaltendste Lust gewährt aber, nach Aristoteles, die geistige Arbeit, schon deswegen, weil sie sich am längsten ohne Unterbrechung fortsetzen läßt. – Der allgemeine Begriff des Gefühls hat sich bei Aristoteles noch nicht von seinen speziellem Fassungen herausgelöst. Außer den allgemeineren Bestimmungen über das Wesen von Lust und Unlust hat er aus diesem Gebiete nur noch die eigentlichen Affekte eingehender behandelt, diese aber nicht vom theoretisch-psychologischen Gesichtspunkt, sondern ausschließlich von dem des praktisch-rhetorischen Interesse und daher mehr nach ihrer Beziehung zum ethischen Verhalten des Menschen. Ihr psychologisches Wesen besteht für ihn in einer Mischung von Lust und Unlust, wobei jeweilen immer das eine der beiden Momente über das andere vorwiegt. Als überwiegende Lustaffekte behandelt er die Liebe, den Mut und das Wohlwollen; als Affekte der Unlust: Zorn, Haß, Furcht, Mitleid, Unwille, Neid, Verachtung, Scham, Eifersucht. Den Wert der Affekte für das geistige Leben stellt er ziemlich hoch und hält deshalb nicht ihre Unterdrückung für das Normale und der Sittlichkeit Günstige, sondern ihre Mäßigung. Von besonderem Interesse ist hierzu noch die Würdigung, die er dieser Seite des Gefühlslebens hinsichtlich ihrer Bedeutung für das ästhetische Verhalten, insbesondere für den Kunstgenuß zu teil werden läßt: ihre angemessene Erregung soll für diesen die psychologische Unterlage abgeben. Die ästhetische Wirkung eines Kunstwerks beruht im Sinne von Aristoteles darauf, dass es auch solche Affekte, in denen das Moment der Unlust überwiegt, zu Quellen reiner Lust erheben kann, dadurch nämlich, daß die Seele im ästhetischen Verhalten sich von dem Drückenden, was der Affekt mit sich bringt, erleichtert fühlt und in einer fortgehenden Gemütsbewegung, die ihn zum vollständigen Bewußtsein bringt, sich allmählich von der Last desselben befreit. Und es ist keine bloße Analogie, wenn er diesen Vorgang vermittelst eines von der Medizin herübergenommenen Begriffes bezeichnet, nämlich mit dem der Katharsis. Man verstand darunter den Prozeß der Aufregung und gleichsam Auskochung eines durch sein Uebermaß nachteiligen Stoffes durch den Verlauf der Krankheit, wodurch jener auf das mit der Gesundheit verträgliche Maß herabgesetzt wurde. Als eine psychologische Anwendung jenes Heilverfahrens kennt Aristoteles auch die Art, wie man gewisse seelische Aufregungszustände durch das Vorspielen orgiastischer, also noch mehr erregender Melodien zu kurieren suchte. Im Hinblick auf derartiges macht er nun von dem Begriffe der Katharsis eine sinnreiche Anwendung zur Erklärung der ästhetischen Wirkung tragischer Dichtungen. Laut der Erörterung im sechsten Kapitel seiner Poetik geht die Tragödie darauf aus, auf Grund der Art und Weise, wie sie ihre Gegenstände zur Darstellung bringt, »durch Furcht und Mitleid eine Katharsis der obigen Affekte zu erzielen (δὶ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν). Zur richtigen und vollständigen Erklärung dieser seit den Tagen Lessings bis auf die Gegenwart viel behandelten Stelle ist erforderlich, daß man für den Begriff der tragischen Katharsis nicht nur Mit J. Bernays, Ueber die aristotelische Theorie des Drama (Berlin 1880). an dem gleichnamigen medizinischen Vorgange sich orientiert, sondern auch noch hinzunimmt, daß ihrem Autor jedenfalls auch der Unterschied bekannt war, den die griechische Medizin zwischen der »Reinigung« eines Krankheitsstoffes und der völligen Ausscheidung desselben machte, welche letztere sie in ausdrücklichem Gegensatze zur Katharsis als »Kenosis« (Entleerung) bezeichnete. Bei der Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts fallen betreffs der bezeichneten Stellen alle diejenigen Erklärungen auf die Seite, welche die Wirkung der Tragödie als die vollständige Befreiung der Seele von den Affekten der Furcht und des Mitleids auffassen. Das Wesen der tragischen Katharsis liegt für Aristoteles nicht in der Ausscheidung (Kenosis) jener beiden Affekte, sondern in ihrer durch die ästhetische Wirkung des Geschauten bedingten Ermäßigung. Da die Tragödie ihrem Wesen nach durch den Stoff der Handlung in erster Linie die Erregung zweier überwiegender Unlustaffekte bedingt, so entsteht die Frage, wie es ihr dessenungeachtet gelinge, Wohlgefallen hervorzurufen und sich so als Kunstwerk zu erweisen. Und die Antwort hierauf liegt für Aristoteles eben darin, dass jene Affekte in dem Zuschauer nicht bloß aufgeregt, sondern zugleich in der Weise geläutert werden, daß sie den Charakter von Unlustgefühlen verlieren und sich in Lustgefühle verwandeln. Ueber die Mittel, womit dies erreicht wird, ist weiter unten (bei Gelegenheit der Poetik) zu reden. Die psychologische Wirkung der Tragödie besteht also nach Aristoteles darin, daß sie die genannten Unlustaffekte in einen wohlthuenden Fluß aufzulösen versteht, der während des ganzen Verlaufs der Handlung das Gefühl der fortgehenden Läuterung der Unlust bedingt, d. h. der zunehmenden Befreiung von dem, was er Drückendes hat, ohne deswegen den Affekt selbst aufzuheben. Näheres darüber in der Abhandlung: »Zur Katharsisfrage« in dem oben (S. 68, Anm. 1) angegebenen Werke S. 163 ff.

 

11. In dem Wesen des Gefühls liegt für Aristoteles auch der Zusammenhang zwischen der theoretischen und der praktischen Seite des Seelenlebens. In Hinsicht der letzteren hat er das Wesen des Willens und sein Verhältnis einerseits zum Begehren, andrerseits zur menschlichen Freiheit rein psychologisch schon im wesentlichen zutreffend bestimmt. Er unterscheidet zunächst zwischen der rein sinnlichen und der verstandesmäßigen Art des Begehrens: Jene (die Begierde, ὄρεξις, ἐπιθυμία) ist immer gegeben mit der Empfindung, auf Grund des Umstands, daß diese außer ihrem objektiven Inhalt auch eine subjektive Art der Anmutung (als angenehm oder unangenehm) besitzt, womit von selbst bedingt ist, daß das Empfundene unmittelbar begehrt oder abgelehnt wird. Für das Denken dagegen sind diese beiden Akte vermittelt, und zwar durch die an der Hand der Anschauungsbilder sich einstellende Ueberlegung betreffs dessen, was schließlich als annehmlich oder als das Gegenteil davon zu erwarten sei. In diesem Prozeß, dem des eigentlichen Wollens (βούλησις), liegt daher immer schon ein Schließen. Der wirkliche Eintritt aber desselben und damit der Handlung ist dann gegeben, wenn zu dem Begehren noch die Gewißheit der Macht hinzukommt, das Begehren unmittelbar ins Werk zu setzen. Die Handlung selbst nun vollzieht sich durch den Uebergang des Wollens in die Bewegung, und betreffs dieser hat Aristoteles auch schon die Frage zu beantworten gesucht, wie sie im Organismus selbst psychologisch und physiologisch bedingt ist. Da er das Nervensystem nicht kennt, so muß er sich hier freilich mit einer rein dialektischen Anwendung desjenigen behelfen, was er in der Naturphilosophie über das Wesen und die Bedingungen der Bewegung gelehrt hat, indem er die dort aufgewiesenen drei Faktoren derselben, nämlich das rein Aktive, das zugleich Aktive und Passive und das rein Passive (s. o. S. 41) als in Begleitung eines Willensvorgangs auch im Organismus sich einstellend aufzuzeigen sucht. Das Erste sieht er in dem Auftreten der Vorstellung eines realisierbaren Gutes, das Zweite in dem Begehrungsvermögen, das von jener angeregt wird und seinerseits die Fähigkeit hat, durch Einwirkung auf das Herz den psychophysischen Organismus in Bewegung zu setzen; das Dritte endlich in dem hierdurch bewegten Leibesglied (Hand, Mund u. dgl.) selber.

An der Lehre von der Freiheit des Wollens hält Aristoteles angesichts der Thatsache der Verantwortlichkeit fest, sucht aber namentlich den Begriff derselben mit der für ihn feststehenden Thatsache, daß jedes Wollen durch Motive bedingt ist, in Einklang zu halten. Als den zusammenfassenden Sinn seiner auf dieses Problem bezüglichen Erörterung kann man den Gedanken bezeichnen, Freiheit sei da, wo das letzte, ausschlaggebende Motiv nicht von außen, sondern aus dem Wesen der Persönlichkeit selbst stammt, das sich in Wechselwirkung mit den Eindrücken ohne Zwang zu bethätigen Veranlassung nimmt und sich sowohl der thatsächlichen Lage, als auch der Folgen seines Handelns vollbewußt ist. Aus dieser Bestimmung des Wesens der Freiheit ergiebt sich für Aristoteles sogleich auch die andere, daß die Grenze zwischen Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit eine fließende ist: auch eine durch äußere Einflüsse veranlaßte Handlung muß als frei betrachtet werden, sofern das, was als Motiv von außen kommt, durch die Beschaffenheit des Charakters in der Persönlichkeit des Handelnden Anklang findet. Andrerseits giebt es nach seiner Ansicht viele Handlungen, namentlich die durch Affekte bedingten, die zwischen freien und unfreien in der Mitte stehen. So reicht, wie man sieht, der genetische Charakter der aristotelischen Psychologie bis in die Erörterung der obersten und letzten Fragen dieses Gebiets hinein. Man darf sagen, daß Aristoteles zuerst wirklich die Handhabung dieses Gesichtspunkts für die Betrachtung des organischen und des Seelenlebens wirklich gelehrt hat – eine Fertigkeit, die freilich in der Folgezeit gerade bei denjenigen, die sich auf diesem Felde als seine Nachfolger betrachteten, bis gegen das spätere Mittelalter hin wieder verloren ging.


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