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11. Kapitel
Herr Butzebach hat Gäste

Warum sich Herr Jukundus über seine Gäste wundert, und was er für eine Neuigkeit zu sagen hat. Jochen und Ferdel wollen nichts mehr von Peter wissen, und Nettchen denkt: der ist nicht so. Sie rettet ihr himmelblaues Kleid und vergißt ihren Ärger.

 

In Neustadt gab es noch jemand, der sich über die Kaffeegesellschaft am Ostersonnabend herzhaft wunderte, das war Herr Jukundus Butzebach selbst. Der ging, ehe seine Gäste kamen, in seinem weiten stillen Garten auf und ab und dachte daran, wie viele Jahre er nun einsam gelebt hatte, und nun auf einmal sollten sich seine Türen auftun und Gäste einlassen. Er war zufrieden gewesen in seiner Einsamkeit, und nun freute er sich doch auf die Menschen, die zu ihm kommen wollten.

Daran ist Nanette schuld, nur Nanette, dachte er, mit ihr ist die Jugend in mein Haus gekommen und die Freude!

Er blieb vor einem Aurikelbeet stehen und sah darauf nieder. Die Blüten hatten sich alle aufgetan, und all die lieben unschuldigen Blumengesichter erinnerten ihn an das kleine Mädchen, das ihn jetzt so oft aus seinen einsamen Gedanken rief. Wie Frühlingssonnenschein, dachte er.

»Da bin ich, Onkel Jukundus, da bin ich.« Vom Hause her tönte Nettchens helles Stimmlein, wie eine himmelblaue Wolke flog sie daher, und Herr Butzebach mußte sich ordentlich stemmen, um nicht umzufallen, so heftig umarmte sie ihn.

»Oh, Nanette, wie fein, im himmelblauen Kleid.«

»Ganz neu ist's, Onkel Jukundus.« Nettchen drehte sich wie ein Kreisel, »morgen sollte ich's erst anziehen, aber Mutter hat gesagt, die Gesellschaft bei dir sei schon Feiertag. Ach, ich freu' mich so sehr, so sehr!« Und Nettchen Dibelius breitete ihre Arme weit aus, als müßte sie Größe und Weite ihrer Freude zeigen. Ein großer Hut, mit rosenfarbenen Bindebändern unter dem Kinn geschlossen, umgab ihr Gesichtchen, das blühte darin wie ein Röslein.

»Die Mutter kommt gleich nach und der Vater holt uns dann ab,« erzählte Nettchen.

Der Onkel ergriff ihre Hand. »So komm, wir wollen hineingehen und die Gäste empfangen!«

Im Gartensaal, durch dessen weit offene Türen die Frühlingsschöne des Gartens hineinglänzte, war der Kaffeetisch gedeckt, und dort hinein führte Herr Jukundus Butzebach seine Gäste, die alle mit der in Neustadt üblichen Pünktlichkeit eintrafen. Der Herr Rektor Hagemeister ein wenig verwundert, denn über kurze nachbarliche Zwiegespräche war bisher der Verkehr noch nie hinausgegangen, und Mamsell Aurelie ein wenig verdrießlich, sie sagte wie die Justizrätin: »Auf so etwas kommt nur ein einsamer Junggeselle, am Ostersonnabend eine Kaffeegesellschaft zu geben. Unglaublich!«

Doch absagen hatte die Dame auch nicht wollen, man war doch neugierig, wie es bei dem Sonderling ausschaute, und die Tassen, die berühmten, kostbaren Tassen, gab es wohl daraus zu trinken? Ihre Blicke überflogen schnell den Tisch, da standen wirklich die allerschönsten Tassen darauf, eine immer prunkvoller als die andere, und die Damen stießen laute Bewunderungsrufe aus: »Ei, wie schön, ei, so einen Kaffeetisch läßt man sich gefallen.«

»Selbst am Ostersonnabend,« sagte Fräulein Malve. Die sah nur eine Tasse an, sie kannte sie noch nicht, die andern hatte sie schon oft gesehen. »Ist diese neu?"

»Nicht neu, sie stand vergessen in einem Schrank, neulich fiel sie mir ein, und heute soll Nanette daraus trinken, warum, mag sie nachher raten.«

Nettchen sah die Tasse an, auf die der Onkel wies. Sie war innen und außen vergoldet, nur in der Mitte war eine kleine Landschaft gemalt, ein Tempelchen darin, darüber stand in seiner Schrift: Freundschaft. Das Bildchen wurde von einem Schriftkranze umschlossen, ein Spruch war's, den Nettchen etwas mühsam entzifferte:

Liebe, Treue und Vertrauen
Halfen diesen Tempel bauen.

Warum hatte der Onkel ihr diese Tasse gegeben? Nettchen dachte plötzlich an Peter Hagemeister, und sie erschrak; in aller Frühlings- und Ferienfreude der letzten Zeit hatte sie den fernen Freund fast vergessen, wirklich vergessen! Nicht einmal daran hatte sie gedacht, daß für Peter nun auch die Ferien gekommen waren, einsame Ferien. Und immer hatte er noch nicht geschrieben, aber freilich, sie wartete ja gar nicht mehr auf den Brief. »Liebe, Treue und Vertrauen,« sie las den Spruch noch einmal, da mahnte Sünder sorglich neben ihr: »Nettchen, Nettchen, dein Kleid!«

Beinahe wäre der braune Trank auf Nettchens himmelblaues Festkleid geflossen, und von allen Seiten tönte die Mahnung: »Aber, Nettchen, sieh dich vor.«

Nur Herr Jukundus Butzebach sagte nichts, der überschaute heiter den Kreis seiner Gäste, wie lange hatte der Gartensaal keine so fröhliche Gesellschaft gesehen. »Ein Ostersonnabend ist ja eigentlich noch kein Feiertag,« sagte er, »jedoch –"

Da nickten die drei Frauen Dibelius sacht und Fräulein Aurelie Hagemeister sehr kräftig, und der Hausherr lachte. »Ich sehe schon, die verehrten Damen haben etwas gemurrt über die Einladung,« sagte er. »Wie ist's aber, wenn man eine Freude zu verkünden hat, soll man da nicht aus einem Sonnabend einen Sonntag machen?«

»Allemal, Freund Jukundus, aber nun sagen Sie geschwind, was ist's, ich vergehe vor – nennen wir's Wißbegierde!« rief Fräulein Malve vergnügt. »Sollte es mit dem unnützen Jungen, dem Peter, zusammenhängen?«

Herr Butzebach nickte ihr zu, »recht geraten,« sagte er lächelnd. Der unnütze Junge will aber ein tüchtiger Mann werden, den ersten Schritt hat er getan, er ist versetzt worden.«

»Gott sei Dank!« Herr Rektor Hagemeister atmete tief auf, und er schob seine Tasse weit von sich, »wenigstens versetzt worden.«

»Nicht wenigstens, werter Herr Nachbar.« Herr Butzebach lächelte nicht mehr, er lachte, er strahlte: »Peter Hagemeister ist mit dem besten Zeugnis als Erster versetzt worden, und seine Lehrer sind des Lobes voll.«

»Peter – Klassenerster!«

illustration: Arthur Scheiner

»Peter – Klassenerster!«

Nettchen schrie auf, der Rektor aber wiederholte das Wort langsam, schwer, als könne er es gar nicht fassen: »Peter – als Erster versetzt!«

Über den Tisch hinüber reichte ihm der Hausherr einen Brief. »Peters Bitte um Verzeihung steht darin.«

»Ich habe ihm schon längst im Herzen verziehen!« Der Rektor drückte Herrn Butzebachs Hand fest: »Gott lohn's Ihnen, was Sie an dem Jungen getan haben.«

»Und der Brief ist für dich, Nanette, nun hat Peter doch geschrieben.«

Nettchen jubelte nicht auf, sie nahm den Brief still aus des Oheims Hand, ihr Blick flog nach dem Schrank hin, in dem die Königstasse prunkte, Peter holte sie sicher zurück, ganz sicher!

Die Briefe, die Peter Hagemeister geschrieben hatte, waren nicht sehr lang geraten, es ging stufenweise, Herr Butzebach hatte den längsten empfangen, der an den Onkel war schon kürzer geraten und der Brief an Nettchen enthielt nur einen kurzen Dank, »für das Buchzeichen und alles,« weiter nichts.

»Ein bißchen kurz,« sagte Tante Malve, die Nettchen beim Lesen über die Schulter gesehen hatte, »fürs Briefeschreiben scheint dieser Peter nicht eingenommen zu sein.«

»Er ist aber Erster geworden,« rief Nettchen laut und froh.

»Recht so, daran wollen wir uns halten.« Onkel Jukundus nickte ihr zu, Sünder aber tippte auf die Rückseite des Briefes: »Da steht noch etwas, Nettchen.«

Die las: »Liebes Nettchen, in Neustadt ist es doch am schönsten auf der Welt, ich wollte, ich wäre dort.« Da sagte sie vergnügt: »Eigentlich ist's doch ein feiner Brief, nun können die anderen nicht mehr sagen, Peter ist undankbar.«

Es war sehr festlich, sehr gemütlich an Onkel Jukundus Kaffeetisch, aber Nettchen Dibelius begann es auf einmal in den Füßen zu kribbeln, Peters Schuld hatte sie nicht verraten, seinen Erfolg hätte sie am liebsten gleich allen ihren Freundinnen mitgeteilt. Doch aus einer Kaffeegesellschaft kann man nicht fortlaufen, es schien aber, als spürten die Erwachsenen ihre Sehnsucht. Onkel Jukundus riet: »Lauf etwas in den Garten, Nanette!«

So stolz Nettchen auch auf ihren Platz am Tisch der Erwachsenen gewesen war, den Rat befolgte sie doch mit ziemlicher Eile. Im Fortgehen hörte sie noch den Ruf der Mutter, »denk an dein neues Kleid,« da hielt sie sich sorgsam in der Wegmitte, um von keinem heimtückischen Strauch geritzt zu werden, wie das bei neuen Kleidern Sträucher gern tun. Doch langsam, beinahe wie eine Mamsell, schritt sie nicht, sie rannte quer durch den Garten hindurch bis an den Schulzaun. Sie wußte, drüben arbeitete um diese Zeit manchmal der alte Schuldiener, vielleicht konnte sie dem wenigstens zurufen: »Peter Hagemeister ist Klassenerster geworden.«

Doch als sie an den Zaun trat, lag der Schulgarten ganz einsam da, niemand war zu sehen, und just wollte sie betrübt den Rückweg antreten, als aus der Höhe eine Stimme kam: »Puh, was steht denn da für eine himmelblaue Porzellanpuppe und guckt ein Loch in die Natur?«

Nettchen blickte erschrocken empor, da baumelten vier Bubenbeine von einem Baum herab, und aus dem kahlen Gezweig heraus sah Ferdel Langmanns rundes rotes Gesicht auf sie nieder, ein zweites noch runderes, noch röteres tauchte daneben auf, ach, solche unnütze, übermütige Augen hatte nur einer, Jochen Busse. »Na, du großes Vergißmeinnicht, Nettchen, was machst du denn an unserm Zaun?« schrie der, »Mamsell Turnaus Kleinkinderschule ist das nicht.«

Nettchen hörte an dem Spott vorbei, »ich weiß was von Peter Hagemeister,« rief sie hinauf.

Plumps, kam da Jochen Busse geschwind von oben herabgesaust, Ferdel hing noch ein paar Sekunden im Gezweig wie eine reife Pflaume, dann rutschte er auch hinab, und beide schrien wie aus einem Munde: »was ist's, kommt Peter wieder?«

Jochen fügte dumpf, an sein eigenes leidvolles Mißgeschick denkend, hinzu: »Ist der dort auch sitzen geblieben?«

»Sicher,« knurrte Fredel, »da läßt sich nichts gegen tun.«

Nettchen streckte sich, ganz hochmütig sah sie die beiden Faulpelze an, oh, daß sie ihnen sagen durfte: »Klassenerster ist er geworden.«

»Hoho, Flunkerliese, du!« Ein Hohngelächter ertönte, »pfui, uns so zu uzen, pfui, du Aufschneidersche!«

»Es ist doch aber wahr, wirklich wahr.« Nettchen schrie es mit aller Lungenkraft, und den Buben gellte es in den Ohren, »es ist wahr«.

Sie wußten es beide, Nettchen Dibelius log nie, und sie starrten sich betroffen an. »Ih, nee, Klassenerster, so 'n Fleißbengel geworden?«

»Hat er's geschrieben?« Jochen Busse hegte doch noch einen leisen Zweifel, es schien ihm gar zu unwirklich, zu märchenhaft, »Klassenerster«!

Nettchen nickte. »Drin hat's Onkel Jukundus erzählt, und Herr Rektor Hagemeister ist auch da,« berichtete sie.

Jochen Busse schaute Ferdel Langmann an und Ferdel Langmann nickte Jochen Busse zu: »Na, dann ist's mit Peter alle,« brummten beide.

»Warum denn alle?« rief Nettchen verdutzt.

»Pah, 'n Klassenerster, und wir sind sitzen geblieben!« Jochen verzog höhnisch den Mund. »Und du, denk' du nur nicht, daß sich Peter nachher noch viel um dich kümmert, pah, um eine, die zu Mamsell Turnau geht.«

Ach, die beiden wußten doch nichts von der verpfändeten Königstasse, nichts von Nettchens tapferen Kämpfen für den Freund, das alles würde Peter doch nicht vergessen, nie! Nettchen lachte nur, aber ein kleiner Schatten war doch über ihre Freude gefallen. »So ist Peter Hagemeister nicht,« verteidigte sie den Freund, »aber freilich, ihr seid auch sitzen geblieben.«

Da bückten sich zwei Buben blitzschnell, zwei Erdklumpen wurden zusammengeballt, doch Nettchen sah das Unheil kommen, sie wich geschickt aus, die schwarzen Bälle verfehlten das Ziel, und obgleich die argen Missetäter eiligst neue formten, Nettchen rettete sich doch hinter Busch und Baum vor den Würfen.

Spottrufe tönten ihr nach, Neckworte, und sie floh immer tiefer in den Garten hinein, bis zu einer Bank, die vor einem Narzissenbeet stand. Dort ruhte sie aus; sie war ein bißchen atemlos, ein bißchen verwirrt und geärgert, ein leiser Schatten war auf ihre Festfreude gefallen. Die weißen Blumen vor ihr glänzten wie Sterne, eine Amsel sang im Gezweig eines ganz in einen federzarten grünen Schleier gehüllten Busches, und dann kam vom Hause her ein lockender Ruf, drinnen im Gartensaal wurde eine süße Speise aufgetragen. Darüber vergaß Nettchen ihren Ärger, und als sie bald darauf mit ihren Eltern heimging, war ihr kein Mißklang im Herzen geblieben. Die Gäste dachten alle zufrieden dem heiteren Nachmittag nach und jedes Lob, jedes gute Wort, das sie dem Hausherrn nachsagten, hallte um ein paar Töne voller und reicher in Nettchens Herzen nach. Erst als sie im Bette lag, dachte sie wieder an Jochens höhnische Rede.

Der hatte unrecht, sicher, und doch, wenn Peter wirklich so dachte! Nein, nein, Peter ist nicht so, sagte sich Nettchen vor, bis der Schlaf sie in das Traumland entführte.


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