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In ihren Briefen an Ejnar sagt Elsa, es gehe ihr gut, und sie erzählt des langen und breiten vom Pfarrhaus und seinen Bewohnern. Er hatte sie besuchen wollen, solange sie zu Bette lag, aber sie hatte es verhindert.
Hermann hatte gesagt, Elsa dürfe gern in seinem Zimmer schreiben, wenn er nicht da sei, und dafür ist sie ihm dankbar. Die Studierstube ist der ruhigste Ort im ganzen Pfarrhause; sie liegt im östlichen Giebel hinter dem Gartensaal, und die Kinder wagen sie nicht zu betreten aus Angst, Vaters Papiere in Unordnung zu bringen, was leicht geschehen könnte, wenn sie mit ihrem gewohnten Sturmlauf durch die Türen setzen.
Daß seine Papiere stets auf ihrem Platze liegen, scheint für Hermann von unbegrenzter Wichtigkeit zu sein, und alle Kinder sind auch von dieser Ansicht durchdrungen. Nur Inger Marie nimmt diese wichtige Sache etwas leichtsinnig, wenn sie auf dem Schreibtisch »aufräumt«.
– Eines Tages ist Elsa wieder im Studierzimmer, nicht um zu schreiben, sondern um es still um sich zu haben. Hermann ist im Konfirmationsunterricht.
Sie sitzt da in der dumpfen Gefühllosigkeit, die zwar keine Ruhe ist, aber doch eine Art Ersatz dafür.
Von den Bäumen vor den Fenstern fällt ein grünlicher Schein ins Zimmer. Aber für sie ist es die unveränderliche nebelgraue Beleuchtung von dem einen Ort her, wo sie am besten hinpaßt – tot und verloren, wie sie sich fühlt. Leblos …
Sie hätte gern in dem großen Lehnstuhl ein wenig geschlafen, aber es gelingt ihr nicht. Da nimmt sie eine Zeitschrift in die Hand, die auf des Schwagers Tisch liegt, und blättert gedankenlos darin, um die Bilder anzusehen. Das Lesen ermüdet sie, und es ist ihr auch unendlich gleichgültig, was in dem Heft steht.
Dann hält sie plötzlich bei einem Gedicht an, dessen Überschrift ihre Aufmerksamkeit erregt.
Schritte in der Nacht
Der Abend wird trüb und trüber,
Mein Stübchen ist kalt und leer! – –
Wer geht da draußen vorüber,
Wenn's finster ist rings umher?
Wie Schritte hör' ich es klingen,
Ruhlos in der Finsternis Schoß.
Ach könnten sie dich mir bringen!
Ich werd' den Gedanken nicht los. –
Bist du's, die stumm wie die Sorgen,
Und blaß wie ein Schemen zu schaun,
Im Dunkel gehest verborgen
Und fliehst, wenn der Tag will graun?
Dir nach, dir nach muß ich wandern,
Und die Welt ist so weit, so groß;
Sein Heim hat eins bei dem andern –
Getrennt sind wir heimatlos! – –
So wandre viel tausend Meilen
Mit blutenden Füßen ich nun,
Zu dir muß rastlos ich eilen,
Ach nirgendwo darf ich verweilen,
Zu deinen Füßen nicht ruhn! –
Wo du dich zur Ruhe magst legen,
– Ach schlummerlos für und für, –
Da kommen auf nächtlichen Wegen
Meine Schritte vor deine Tür.
Sie bringen, was einzig mein eigen,
Mein armes Herz dir zu –
Zu deinem Lager in Schweigen
– – Und ferne geh' ich zur Ruh …
Kann ich auch nimmermehr heben
Den Schatz, der mich selig macht –
Mein Leben geht durch dein Leben
Wie Schritte in dunkler Nacht!«
Elsa sitzt unbeweglich …
Hermann ist eingetreten – sie hört ihn nicht.
Er sagt, sie solle sich ja nicht stören lassen – was augenscheinlich ganz überflüssig ist.
Aber als er noch weiter mit ihr spricht, fährt sie zusammen, wie wenn sie aus dem Schlaf erwachte.
»Ich sehe, du hast geschlafen,« sagt er. »Entschuldige!«
»Geschlafen!« wiederholt sie. »Hab ich geschlafen?« Und es geschieht etwas Merkwürdiges: Sie lächelt und sagt: »Aber jetzt bin ich doch wohl wach, Hermann? Hell wach!«
Er sieht sie erstaunt an. Was hat sie nur! »Soll ich gehen?« fragt sie.
»O nein,« erwidert er; er sei allerdings fertig mit dem Unterricht, müsse aber noch Krankenbesuche machen.
Er sammelt seine Blätter zusammen, die er mitnehmen will, und dabei fällt sein Blick auf das Heft, das Elsa zwar geschlossen, aber noch auf dem Schoße liegen hat. Er fragt, ob sie noch einige Nummern von dieser Zeitschrift haben möchte; sie sei nicht streng kirchlich, enthalte Reiseberichte, Gedichte usw.
»Nein, danke,« antwortet Elsa. »Nur dies hier!«
Ja in diesem habe sich übrigens ein Freund von ihm etwas Merkwürdiges geleistet. Er schreibe sonst nur religiöse Sachen; aber da habe er nun ein Gedicht veröffentlicht, das nur von irdischer Liebe handle. Es stehe allerdings kein Name darunter, aber dieses Zeichen habe er schon früher als Pseudonym gebraucht. Das Gedicht könne auf einen Herzenskummer deuten, den man indes früher nie bei ihm bemerkt habe, was ja aber auch kein Verbrechen wäre. Und doch – dieses Machwerk hier sei geschmacklos! Wenigstens von einem Pfarrer!
»Warum?«
»Na, es müßte doch wenigstens erbaulich ausgehen.«
»Aber es ist ja erbaulich – durch und durch erbaulich.«
»Ach so! Das hab ich nicht herausgefunden – nein! Der Verfasser ist übrigens der Missionar, der dich damals verpaßt hatte.«
Elsa wiederholt: »Der Missionar, der mich verpaßt hatte.«
»Ja, er hätte ja mit dir gehen sollen.«
Sie wiederholt: »Er hätte ja mit mir gehen sollen.«
Und auf einmal rollen ihr die Tränen die Wangen herab.
»Sie ist heute tüchtig nervös, die Ärmste!« denkt Hermann. »Dies ist doch wahrhaftig weder traurig noch rührend!«
Dann fängt er an zu erzählen, daß dieser Pfarrer – von da an, wo er hörte, daß Elsa allein gereist sei, sozusagen durch seine Schuld, weil er zu spät gekommen war, um sie zu begleiten – in seinen Briefen beständig nach ihr gefragt habe. Und er, Hermann, habe ihm ja geschrieben, wie glücklich sie gewesen sei.
Elsa fährt in ihrem Stuhl auf: »Was hast du geschrieben?« fragt sie.
»Glücklich – ja, vom weltlichen Standpunkt aus,« fährt Hermann fort. »Und jetzt im Winter habe er von dem großen Leid erzählt, das sie betroffen und sie erstarren habe lassen. – Ja, so kann man es doch wohl nennen?«
»Mehr, Hermann, mehr, es hat mich beinahe innerlich umgebracht. Du weißt nicht, wie es gewesen ist!« Elsa beugt den Kopf über die Armlehne des Stuhles, und wieder rollen ihr die Tränen die Wangen herab.
»Du Ärmste – aber es kann zum Leben werden!«
Hermann ergreift ihre Hand und ist herzlich gut zu ihr, versucht es aber auf jede Weise, sie vom Weinen abzuhalten.
Er erzählt weiter, es sei ganz »sonderbar« gewesen, denn als Antwort auf diesen Brief habe der Missionar – den in all diesen Jahren niemand dazu gebracht habe, nach Hause zu reisen – geschrieben, nun habe er sich entschlossen, ins Vaterland zurückzukehren und sich da um eine Stelle zu bewerben. Es sei natürlich nur ein zufälliges Aufeinandertreffen der Umstände – aber Hermann habe immer gewünscht, Elsa solle diesen Mann predigen hören. Und jetzt komme er, gerade jetzt, wo sie ihn brauche.
Er sei schon auf dem Heimweg, wolle aber zuerst nach London, um bei einigen großen Missionskonferenzen anwesend zu sein. Er müsse wohl in diesen Tagen dort eintreffen. Hermann wolle eben einen Brief dahin schicken – ja, und er wolle ihn eben jetzt mit auf die Post nehmen, es fehle nur noch die Adresse.
»Die Adresse in London – sie lag doch hier – es kann sie doch niemand weggenommen haben.« Ein leidender Zug läuft über des Pastors Gesicht, während er nach rechts und links sucht.
Elsa lächelt: »Ach, Hermann,« sagt sie, »das steht dir zu komisch! Es ist wohl hier der Staub abgewischt worden, während du bei deinen Konfirmanden gesessen hast.«
Endlich findet sich der Zettel, und die Adresse wird geschrieben. Dann werde sie wohl entschuldigen, wenn er gehe, sagt Hermann.
»Ja, geh nur, Hermann, geh nur! Auf Wiedersehen!«
*
Elsa liegt auf den Knien vor dem Lehnstuhl und weint – weint.
Weint zum erstenmal richtig, seit dem Tode ihres Hänschens, sie weint sich nicht aus – ach nein, sich ausweinen, das wird sie erst, wenn sie den Altan entlang läuft und zwei Hände ergreift, die sich ihr entgegenstrecken, damit sie ihr Antlitz darin verbergen kann – aber doch so weinen, daß ihr ist, als falle eine schwere tote Last von ihr ab.
Sie weiß nicht, wie lange es dauert, weiß kaum, wie es zugeht, aber später sitzt sie an Hermanns Schreibtisch und läßt die Feder hurtig übers Papier gleiten.
Dann hält sie inne. Ja, den Namen und die Adresse hat sie jetzt – und doch – darf sie davon ausgehen, daß es unbedingt der rechte Mann ist und nicht möglicherweise ein anderer?
Ja, ja, es ist der rechte, denn sie glaubt es bestimmt. Dann muß er es doch sein. Und wieder gleitet die Feder übers Papier.
– »Ich schreibe an den, der mein Freund in der Nacht ist.
Denn ich sitze in dunkler Nacht, und niemand anders kann zu mir kommen.
Da bin ich gewesen, seit wir uns getrennt haben. Aber ich habe es nicht die ganze Zeit über gewußt. Ich habe geträumt – und solange der Traum währt, kann man ja glauben, es sei Wirklichkeit. Durch den Traum ging auch ein dünner lebendiger Faden, der mich noch ans Leben band. Aber dieses Band ist jetzt abgerissen – ich bin erwacht und weiß, wo ich bin.
Mit diesem Band meine ich meinen kleinen Jungen. Das Verhältnis zu ihm war das letzte Lebendige an mir. Als er starb, konnte ich nicht weinen. Er war so herzig …
Sie sagten damals, im Grunde genommen gebe es nur einen einzigen, der in der Nacht umgehe. Daran mußte ich denken, als mein Hänschen starb. Ich empfand, daß Sie recht hatten – aber es erfüllte mich mit Grauen. Es kam mir vor, als sei es mein Widersacher – mit größerer Macht ausgestattet als der Tod, – der mir so fürchterlich ans Leben wollte. Und da war es, als erhebe sich alles in mir gegen ihn.
Seitdem hab ich auf dem öden Hofe gesessen und in die Nacht hinausgestarrt – wie ich es an jenem Abend tat, ehe Sie kamen. Hinaus in den Tod. Es war mir nicht einmal klar, daß Sie existierten – –
Heute hat mich ein Hauch des Lebens gestreift. Ich habe Ihren Schritt gehört. Ich habe Ihren Gruß erhalten.
Ich weiß, ich bin leer und schlecht und häßlich – aber ich bin es eben doch, ich und keine andere, zu der Sie so sprechen.
Und jetzt müssen Sie zu mir kommen.
Wissen Sie noch – wie Sie damals mit dem Lachen ankamen, das vom Hofe fortgezogen gewesen war? Jetzt ist es mein Herz, das davongezogen ist – aber wenn Sie kommen, dann haben Sie es bei sich. Sie sind der Einzige, der es mir bringen kann.
Sie haben gesagt, ich dürfe mich nicht allein mit der Angst und Dunkelheit herumschlagen. Aber das Schlimmste ist doch, wenn man sich leblos fühlt! Wie man sich vor Gespenstern fürchtet, so fürchte ich mich vor mir selber, vor dem Ich, das ich sein soll …
Ich weiß, Sie werden kommen – ja sind Sie nicht meinetwegen schon unterwegs? – Damit ich mich selbst wieder fühlen kann? Heute habe ich das wieder können, weil ich von Ihnen gehört habe – aber ich habe Angst, es werde nicht vorhalten.
Sagen Sie mir, warum sollten wir zwei in unserem Verhältnis zu einander nur Schritte in der Nacht sein – anstatt zusammen in den Tag hinausgehen? Hat das einen Sinn?
Ist es das Schicksal, das über uns ist – das wir auf uns herabziehen, ohne es zu wissen? Oder will er, der meinen kleinen Jungen mit fortnahm, ich solle kein Glück haben?
Ich frage Sie darnach, weil ich Ihnen alles sagen kann – und alles, was Sie sagen, glaube ich.
In jener Nacht, wo es vielleicht anders hätte werden können, dachte ich nicht darüber nach, weil ich damals nur im Augenblick gelebt habe.
Wissen Sie es noch, wie wir in den Hof zurückkamen? Meine Schuhe waren feucht vom Tau, und ringsum glühte alles im goldenen Morgenlicht. Wir wollten noch einige Stunden schlafen, und ich sagte, Sie müßten dableiben, bis Randi mit dem Kaffee käme – weil dann von Abschied noch nicht die Rede sein konnte.
Ich bat Sie, gut zu schlafen und keine Angst zu haben, wenn die Tür zu mir hinein aufgehe; denn das sei deren angenehme Gewohnheit.
Dann ging ich zu Bett und schlief so herrlich wie ein glückliches Kind, das glaubt, das Gute werde nie aufhören.
Als ich erwachte und Sie nicht mehr da waren, hatte ich so viel Freude in mich aufgenommen, daß sie mir nicht gleich wieder abhanden kam. Mir war, als genössen wir noch alles gemeinsam – von Randis dünnem Kaffee und der wortkargen Lebensweisheit des Wagenlenkers an, bis zu den ernsten dunklen Tannen, die den Wegrand entlang auf mich zukamen – immer dieselben …
Erst später stellte sich die Leere ein, eine ganz überwältigende Leere. Es kam mir unmöglich, unmenschlich vor, daß es vorbei sein sollte. Dann hätte es mit mir selbst ja auch vorbei sein müssen.
Aber ich glaubte eben, ich könne nichts anderes tun, als mir sagen, es sei ein Traum gewesen. So sei ja das Leben gar nicht; es müsse übernommen werden, so wie es nun einmal sei.
Das war nicht wahr, aber ich wußte es nicht besser.
Ja, und dann ging ich hinein in das Unwirkliche und ließ das Leben liegen – – –
Das hat mich zu dem toten Punkt geführt, vor dem ich jetzt stille stehe.
Dieses Dasein ist nicht zu ertragen! Aber der Gedanke an den Tod – ich bin nicht mehr gesund – macht es nur noch schlimmer. Man fürchtet sich vor dem Tode, weil man doch nicht weiß, ob er wirklich ein Abschluß ist.
Doch wenn Sie kommen, dann ist das Böse verschwunden – und es ist noch das Damals vor neun Jahren; weder Zeit noch Raum liegen dazwischen.
Ein Gedanke steigt in mir auf, ob das, was wir unter Ewigkeit verstehen, nicht eigentlich gleichbedeutend mit Leben ist, mit einem so starken Leben, daß es die Zeit sprengt und den Raum ausfüllt, Und dann – ja dann habe ich wohl einen Begriff davon.
Aber dieses Leben kann man nicht in Einsamkeit erreichen. Sonst ist es der Tod, endloser Tod.
Und ich bin einsam – allein auf der Welt, bis Sie kommen.« – –
Elsa legt die Feder nieder. Wohin soll sie ihn bitten zu kommen? Wo sollen sie sich treffen?
Auf einmal ist ihr, als könne dies nur an einem einzigen Orte geschehen: auf dem öden Hofe da droben, wo allerdings Angst und Leblosigkeit herrscht, wenn man allein ist, der aber zu dem schönsten Ort auf der Welt werden kann, wenn man zu zweit ist.
Da, wo all das Wunderbare geschehen ist, da muß auch das Wiedersehen stattfinden. Aber läßt es sich einrichten, daß sie sich dort treffen? – –
*
Gegen sieben Uhr pflegt man sich im Pfarrhaus zum Abendbrot zu versammeln.
»Was ist denn mit dir, Elsa?« fragt Inger Marie, indem sie ihren Arm um die Schwägerin schlingt. »Du bist sonst immer so blaß, und heute hast du dunkelrote Flecken auf den Wangen. Du hast doch nicht Fieber?«
Elsa lacht. »Flecken! Wie hübsch du das beschreibst! Nein, ich habe geschlafen.«
Bei Tisch fragt sie den Schwager: »Hermann, erinnerst du dich noch an den großen Hof, wo ich damals übernachtete, als ich von euch nach Hause reiste? Ich habe seither oft an ihn gedacht, es war so still dort.«
»O ja,« beginnt der Pfarrer, und man merkt, er will zu einem längeren Bericht ausholen; aber seine Frau fällt ihm mit ihrer dänischen Lebhaftigkeit ins Wort. Wenn religiöse Dinge verhandelt werden, läßt sie ihn das Wort führen, dreht sich aber das Gespräch um weltliche Angelegenheiten, dann ist ihr der teure Gatte ein wenig zu umständlich.
»Ja du,« sagt sie. »Da ging es höchst sonderbar. Zuerst starb die Frau.«
»Was sagst du, Randi? Ja, sie sah auch schon fast wie eine Verstorbene aus.«
»Ja, Randi. Im Wochenbett – sie bekam einen kleinen Jungen, der auch starb.«
Elsa sieht die kleine von der Decke herabhängende Wiege vor sich und darin ein wachsbleiches Gesichtchen.
»Darnach wurde der Mann trübsinnig – das war er freilich schon vorher etwas gewesen – Nein, mein Kleinchen, nicht mit den Fingern in die Butter! – Nach ein paar Jahren starb er dann auch. Er war viel älter gewesen als seine Frau und hatte aus erster Ehe eine erwachsene Tochter, die mit einem Verwandten vom Nachbarhofe verheiratet war. – Nein, Dagny, du hast schon drei Zwieback gehabt, nun ist es genug! – Ja, dann wurde der Hof – Gieß nicht daneben, Knut! Bitte lieber Großmama, sie solle dir die Milchkanne halten. Gib acht – so jetzt wirfst du dein Glas um! Ach, das ist schlimm!«
»Wir müssen uns mit dem ›holden Gesicht der Hausfrau‹ trösten,« sagt Hermann mit einem gemütlichen Lächeln zu Elsa, als Inger Marie nichts weniger als entzückt aussieht, »denn auf das reine Tischtuch müssen wir verzichten.«
»Nun also, was ich erzählen wollte,« fährt Inger Marie kurz nachher fort, »dann wurde der Hof an einen Sohn von unserem lieben alten Doktor verkauft, der ihn zu einem Sanatorium umbauen wollte.«
»Ach, das ist fast schade!«
»Das würdest du nicht sagen, wenn du ihn jetzt sähest, nicht wahr, Vater? Das ganze ist im alten Bauernstil gehalten und außerordentlich behaglich. Die Luft ist herrlich dort, voller Ozon – gleich dahinter liegen grüne, sonnige Hügel, wo die Nervenkranken im Freien liegen können, und ringsum ist es wundervoll still. Sie erholen sich auch ganz überraschend da droben. Die Verpflegung ist großartig, und der junge Arzt samt seinen Pflegerinnen sind gläubige Menschen. Jetzt kann man auch leichter hinkommen, nur das letzte Stück muß man im Wagen fahren. Unser Arzt hier steht in reger Verbindung mit dem Sanatorium. Ich habe schon immer gewünscht, Ejnar solle mit dir dahin gehen, wenn er hierher kommt.«
»Ich möchte eigentlich lieber jetzt gleich hin,« sagt Elsa. »Dann wäre ich vielleicht schon kräftiger, wenn Ejnar kommt – und könnte doch noch mit ihm dort sein.«
Nein, Inger Marie will Elsa nicht fort lassen! Aber Hermann meint, der Gedanke sei nicht zu verwerfen. Er ist nicht zufrieden mit Elsas Gesundheitszustand, und in einigen Tagen kommt die ganze Familie Halling. Elsa könnte mehr Ruhe und etwas regelmäßigere Pflege, als sie ihr hier bieten können, recht wohl brauchen.
»Wer will mit mir nach der Post gehen?« fragt Elsa, als man vom Tisch aufsteht. »Ich komme gleich wieder herunter, muß nur meinem Brief noch ein paar Worte anfügen.«
Vier, fünf bieten sich sofort an, und Elsa nimmt alle mit, obgleich Arne Halling wütend ist, weil er nicht der einzige sein darf.
Als sie zum Tor hinausgehen, sagt Arne, er habe gerade gedacht, er wolle sie fragen, ob sie nicht auch zu den Opfern der gesellschaftlichen Vorurteile und der eisenbeschlagenen Tyrannei gehöre? Sie sehe so aus. Ihr Nervenleiden habe wohl seine Ursachen. Niemand solle ihm weismachen wollen, sie könne sich damit begnügen, in einer bürgerlichen Ehe mit einem so netten, guten Mann, wie Tante Inger Maries Bruder, Zimmerpflanzen zu begießen, und Suppe zu kochen! »Nein, nein – in Ihren Augen steht die Sehnsucht nach einem größeren Schicksal geschrieben!«
»Geben Sie es doch endlich auf, daran herumzustudieren, Arne,« sagt Elsa trocken. »Und Sie sollen mich auch nicht gleich einreihen wollen unter die gesellschaftlichen – – oder wie sollen sie eigentlich heißen?«
Dann haben sie die Kinder erreicht – und was Arne noch sagen will, ertrinkt in ihrem Rufen und ihrem Lachen.
*
Dicht an dem alten Hof vorbei führt der schmale graue Weg.
Unterhalb des Wegs, hinter moosbewachsenen Felsen, rauscht der Fluß dahin, mit grünlich glänzendem Wasser und leise siedendem weißem Schaum. Der Fluß trennt den Hof von den hoch aufragenden, dunklen Tannen der jenseitigen Bergwand.
Hinter dem Wohnhaus liegt der grüne weite Hofplatz. Von da geht es direkt den Berg hinauf, der aber hier weder so senkrecht, noch so düster ist, wie auf der andern Seite, sondern über einem schmalen Gürtel Tannengehölz sanfte, freie Hügel hat mit sonnenbeschienenen Hängen, wo Erdbeeren reifen und wo leuchtende Blümlein mit ihren klaren Farben den Rasen wie zu einem einladenden, blütenbestreuten Teppich machen.
Den Hofplatz umgeben jetzt mehr Gebäude als damals. Mehrere Holzhäuser in ländlichem Stil sind errichtet worden, in denen leidende Menschen ihre Unterkunft haben.
Es ist jetzt belebt auf dem Hofe, der damals so öde und stumm war, und doch ist kein Lärm da. Die Stille scheint hier so tief zu sein, daß sie den Lärm der ganzen Welt verschlingen oder ihn jedenfalls zu einem weichen, friedlichen, die Stille nicht unterbrechenden Ton herabdämpfen kann.
Selbst die große Glocke im Wohnhause, die zu den Mahlzeiten ruft, hat einen ruhigen, nachdenklichen Klang, der nicht erschreckt, sondern ganz klösterliche Vorstellungen erweckt. Der Klang verliert sich bebend, langsam hinschwindend ein gutes Stück weiter oben am Berge zwischen Renntiermoos und Zwergbirken …
Die Vorsteherin und die weiß gekleideten Hilfspflegerinnen verrichten die Pflichten zwischen den Nervenleidenden mit einem sanften Walten, bei dem sich die Kranken ganz unwillkürlich allmählich beruhigen.
Einzelne von ihnen haben ihr Zimmer im Hauptgebäude, das erweitert worden ist, noch ein Stockwerk bekommen hat, und in dem auch das Eßzimmer und der Versammlungssaal liegen.
– An einem der Fenster nach dem Wege zu sitzt eine Kranke und schaut in die helle Julinacht hinaus. Matt und farblos ist alles hier unten in der Talsenkung, und doch ist es so hell, daß man jeden Stein auf dem Wege zählen könnte.
Es ist dasselbe Zimmer, das Elsa vor langer Zeit auch gehabt hat, nur ist es jetzt ein gut Teil kleiner. Aber es hat das Fenster, an dem damals der runde Spiegel hing und durch das sie auf den Weg hinaussah.
Und das Zimmer hat auch noch seine Tür in den »Festsaal«, wo die Mahlzeiten eingenommen werden und wo die Morgenandacht den Tag einleitet. –
Eine weiche Stimme aus dem Hintergrund des Zimmers fragt, ob es ihr an dem offenen Fenster nicht zu kühl werde.
»Nein, Schwester, es beruhigt mich,« antwortet Elsa. »Wenn ich die Luft hier einatme, ist mir, als trinke ich Quellwasser. Man merkt wohl, wie hoch droben man hier ist. Und ich lausche so gern auf die Stille ringsum.«
»Ja, obgleich der Weg dicht vorüberführt, bringt er doch keine Unruhe mit sich,« erwidert die Schwester. »Wenn aber ein einzelner Schritt daherkommt, dann hört man ihn schon merkwürdig weit, so recht stark und schwer.«
»O ja, daran erinnere ich mich gut,« sagt Elsa.
»Aber nun dürfen Sie nicht länger aufbleiben, gnädige Frau. Wir haben dem Herrn Pastor und seiner Frau feierlich versprechen müssen, daß Sie zeitig zur Ruhe kommen,« sagt die Schwester.
»Ja, nun gehe ich auch zu Bett, Schwester.«
Aber als Elsa allein geblieben ist, bleibt sie doch am Fenster sitzen.
Bei Tag sieht man ja die Veränderungen, die hier vorgenommen worden sind, und da kann es aussehen, als sei das Alte zurückgedrängt worden. Aber wenn sich die Nacht herabgesenkt hat, taucht es lautlos wieder auf – und es ist hier ganz wie damals.
Ist es nicht, als ginge Randi da draußen in der Dämmerung über den Weg und beuge sich zwischen den moosbewachsenen Felsblöcken nieder, um ihren Eimer mit Wasser zu füllen? Randi, mit Augen von ganz derselben unbestimmten Farbe wie die helle Nacht selbst. Sie können so sehnsuchtsvoll und wie aus weiter Ferne kommend blicken …
Jetzt ist Randi wieder gegangen – über den großen, ernsten Hofplatz weg. Und Elsa sitzt hier allein in der Nacht und lauscht hinaus.
Lauscht auf Schritte auf dem Wege …
Nicht mit kalter, tödlicher Angst wie damals, aber mit allem, was sie an Erwartung in sich hat. Denn jetzt kennt sie die Schritte, auf die sie lauscht, und sie weiß, sie bringen Leben – das Leben, das sie so lange entbehrt hat.
Wie wenig hat sie doch jetzt noch davon! Aber erwarten, hoffen können, das erhält einen doch lebendig.
Sie fühlt es als Wohltat, unter fremden Menschen zu sein; da kann man ganz für sich bleiben. Sie kommt mit den andern Kurgästen eigentlich nur bei den Mahlzeiten zusammen; immerhin sind sie ihr nicht ganz gleichgültig.
Keiner, keiner von ihnen weiß ja etwas von jener Nacht, wo Leben in dem toten Hofe erwachte, sie alle ahnen ja nicht, daß sie es nur der dauernden Wirkung von damals zu verdanken haben, wenn sie hier neue Kräfte und rote Wangen bekommen. Elsa jedoch versteht es, und es bewegt sie, wenn sie daran denkt.
Zu bestimmten Zeiten muß Elsa ruhen; sie liegt dann auf dem Altan oder auf dem Hofe; und nachher geht sie ein wenig ins Freie – immer auf dem Wege, der zum Hofe heraufführt.
Sie geht dem Schritt entgegen, der auf dem Wege ist. Weit weg ist er noch – aber mit jedem Tag kommt er näher.
»Er kommt mit Lachen … kommt mit Weinen … Kommt mit allem, was Leben uns beut!«
– Eines Morgens reicht ihr der junge Oberarzt einen Brief mit englischen Marken und mit einer Handschrift, die sie nicht kennt – ja doch, wohl kennt, aber noch nie gesehen hat.
»Auch heute nicht von Ihrem Mann, gnädige Frau!« sagt er teilnehmend.
Und Elsa antwortet: »Nein.«
Jetzt ist sie auf die Hügel hinter dem Hofe gestiegen; sie kann sonst das Steigen nicht ertragen, aber heute muß sie da droben sein – wo man in den Sonnenaufgang hineinschaut.
Das Schreiben liegt in ihrem Schoß, und sie liest:
»Ich habe Ihren Brief erhalten – er hat hier auf mich gewartet – und ich reise heute noch ab. Die Sache, derentwegen ich hierher gekommen bin, gebe ich auf. Nach Kopenhagen muß ich zwar, bleibe aber dort nur ganz kurz, um Sie so bald wie möglich zu erreichen.
Ja, Ihretwegen kehre ich ins Vaterland zurück. Ich war schon auf dem Punkt angekommen, wo ich glaubte, mein Werk da drüben abschließen zu dürfen, aber der Gedanke an Sie gab den Anstoß zum tatsächlichen Abschluß.
Ich muß mit Ihnen sprechen.
Ich habe nur auf den rechten Augenblick gewartet. Dieser mußte kommen. Vor dem toten Punkt muß man einmal halt machen, wenn man keine Verbindung mit dem Leben hat.
Ich komme, um Ihnen zu dieser Verbindung zu helfen. Nicht um Ihnen das Leben zu bringen – ach nein! Von dem Leben, das ich Ihnen zu bringen hatte, dem Leben, das ich von Rechts wegen aus Ihrer Hand hätte empfangen sollen, sind wir ausgeschlossen. In dieser Beziehung dürfen wir nur Schritte in der Nacht sein – die an des andern Tür vorübergehen.
Sie fragen, ob das nicht ganz ohne Sinn sei? Doch. So hätte es nicht sein sollen. Aber warum suchen Sie die Ursache so weit weg, und sie liegt doch so nahe? Etwas, das keinen Sinn hatte, war unserem ersten Zusammentreffen vorausgegangen. Vielleicht kann auch ich es unerkennbar verschuldet haben. Gott im Himmel können Sie jedenfalls nicht dafür anklagen.
Ich weiß nicht, ob wir es an jenem Abend hätten ungeschehen machen können. Man kann ja eine Lage nicht gleich überschauen. Und da, wo selbst das größte innere Recht mit dem allergeringsten äußeren Unrecht zusammenstößt, ist das Erzwingen eine zweifelhafte Sache. Ich war mir unter den Gemütsbewegungen jener Nacht nicht klar darüber, wie weit ich eingreifen dürfte – und bin es mir auch heute kaum.
Jene Nacht, die für Sie in einem frohen Kinderschlaf endigte, hatte für mich keinen so sanften Abschluß. Ich schlief zwar eine Weile, erwachte aber daran, daß die Tür aufging – zu Ihnen hinein.
Oder – ich war aus innerer Unruhe erwacht und sah dann die Tür aufgehen.
Durch die offene Türe hörte ich Ihre Atemzüge … Und ich sah Sie.
Was mich da überkam, werde ich Ihnen nicht erklären.
Es hatte seinen Grund nicht darin, daß Sie ein Weib waren.
Sondern, daß Sie – Sie es waren …
Wie, wenn ich nun zu Ihnen hineinginge und Ihr trotziges, jungfräuliches Haupt zwischen meine beiden Hände nähme, dann würden Sie, ehe Sie noch ganz wach wären, es dicht an meine Brust lehnen und beide Arme um meinen Nacken schlingen. Und Ihr Frauenlächeln würde mir ins Herz strahlen …
Ich wußte, so würde es sein.
Das machte den Kampf unmenschlich hart. Aber durch Feuer müssen wir, um geläutert zu werden.
Ich stand auf und ging auf und davon.
Vorher verwischte ich alle Spuren von unserem Zusammensein. Niemand sollte es ahnen und sich darüber verwundern. Dadurch machte ich ein klein bißchen von meinem Recht auf Sie geltend: ich hatte als der erste in Ihrer Schlafkammer gestanden.
Als ich aus dem Hause trat, herrschte ein unerträglich sonnenfunkelnder Morgen, der mir in den Augen weh tat
Und als ich ein paar Schritte gegangen war, grenzte meine Sehnsucht nach Ihnen an Wahnsinn. Ich lief zurück …
Auf den untersten Stufen der Treppe, die zum Altan führte, kämpfte ich den Strauß aus. Und da war ich nicht allein.
Aber indem ich Sie zeitlich und menschlich aufgab, verlangte ich Sie als mein eigen in dem Verhältnis, wo man Seele gegen Seele steht und mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit das andere mitzieht. Nicht zu sich selbst – sondern hinauf, über sich selbst hinauf. Als ich aufstand und fortging, war mir, als trage ich Sie auf ausgestreckten Armen mit fort –
Und so ist es in all diesen neun Jahren gewesen. Sie wissen, was man teuer erkauft hat, gibt man nicht auf.
Nun rufen Sie – und ich komme. Ich habe Ihnen etwas zu sagen – und mich können Sie anhören.
Ihr lieber Junge … Ach, hätten Sie ihn doch behalten dürfen! Es ist unbegreiflich schwer, daß Sie ihn haben verlieren müssen. Aber lassen Sie uns nicht versuchen, es erklären zu wollen. Wir könnten dazu kommen, dem Herrn Beweggründe zu unterschieben, die er selbst nicht anerkennen würde.
Übrigens tun Sie es hier doch, wenn Sie von einem Widersacher reden, der es böse mit Ihnen meine. In diesem Verhältnis sind Sie selbst der Widersacher. Und Ihr Widerstand ist hier etwas, was keinen Sinn hat, weniger Sinn als sonst etwas auf der Welt.
Immerhin kann dieses »sich zur Wehr setzen« einen Fortschritt bedeuten. Sie waren in diesem Punkt vorher ganz unpersönlich gewesen. Im Widerstand liegt doch ein verdrehter Anfang zu einem persönlichen Verhältnis, und ich weiß, Sie sind aufrichtig und redlich, und so werden Sie nicht aufhören, bis es in die richtige Lage gekommen ist.
Untersuchen Sie nur einmal recht, wer das ist, den Sie Ihren Widersacher nennen. Darum bitte ich Sie –
Sie sitzen in der Dunkelheit und haben Angst vor sich selbst – und der einzige, der ganz zu Ihnen hineinkommen kann, von dem wollen Sie nichts wissen!
Sie wissen, Sie sitzen im Tal des Todes. Sie wollen heraus – und versperren dem Leben den Weg.
Ich weiß wohl, Sie sind mit sich selbst im Widerspruch. Aber so stark darf der Widerspruch nicht sein, daß man dabei zu Grunde geht.
Zu Grunde gehen dürfen Sie nicht!
Ich komme auch nur, weil das nicht geschehen darf. Deshalb bin ich zurückgekehrt.
Ich will nichts weiter von Ihnen, als Ihnen in diesem Punkt helfen dürfen.
Es ist jetzt nicht mehr das Damals vor neun Jahren. Ich komme nicht mit dem Lachen, das vom Hofe fortgezogen war – und das Märchen zwischen uns ist aus. Das muß uns klar sein.
Ich würde viel weiter wandern, als bis zu dem öden Hofe droben auf dem Gebirge, um Sie ein einziges Mal lachen zu hören – und um den kecken Glanz in Ihren Augen zu sehen, wenn Sie von Herzen fröhlich sind … Aber dazu ist die jetzige Zeit nicht mehr angetan. ›Hier handelt es sich um größere Dinge.‹
Ja – das Beste von jenem Abend, das, wovon er nur ein Bild war, kann wieder aufgenommen und zu Wirklichkeit werden: das Leben, das kam, als alles im Tode erstarrt war, und die Wandlung, die dieses Leben mit sich brachte.
Vielleicht bereitet Ihnen das, was ich gesagt habe, eine Enttäuschung. Und Sie enttäuschen, das möchte ich am allerwenigsten.
Aber vergessen Sie nicht, ganz kann ich Sie nur verlangen außerhalb alles dessen, was dem Leben hier auf der Erde angehört. Und ich will Sie nicht halb haben.
Ich bin
Ihr Freund in der Nacht.«
*
Etwas später am Tag sitzt Elsa in ihrem Zimmer am Fenster und schreibt:
»Ich wußte, daß Sie kommen würden. Und doch war es etwas ganz, ganz Neues, es zu erfahren.
Sie sind der, auf den ich warte. Und wenn Sie kommen, dann ist für mich alles erreicht. Ich weiß nicht, wie Sie das meinen, wenn Sie sagen, es könnte mir vielleicht eine Enttäuschung bereiten.
Ach doch – ich möchte so gern noch einmal so recht von Herzen lachen können! ›Keck‹, wie Sie sagen. Das klingt so lustig!
Ich kann auch nicht leugnen, daß mir das Herz bitter weh tat, als ich den Abschluß von jener Nacht las, und ich nur wünschte: ›Ach, wäre ich doch erwacht!‹ Dann hätte noch alles gut werden können.
Aber mit dem, was Sie niedergekämpft haben, von dem Sie fortgegangen sind, mit dem will ich auch fertig sein.
Hier ist ein junges, neu verheiratetes Ehepaar, das über die Maßen glücklich ist. Der Mann ist überanstrengt, steigt aber doch mit auf die Berge, und kürzlich hatten die beiden einen größeren Ausflug gemacht.
Nachher erzählte die junge Frau: ›Zuerst ging es leicht und angenehm bergauf, und wir waren froh und ausgelassen. Wir plauderten und lachten, pflückten saure Erdbeeren und warfen uns mit Blumen.
Aber als wir höher hinaufkamen, wurde der Weg steil, und das strengte uns an. Auch war da eine größere Aussicht; da wurden wir schweigsam.
Schließlich, ganz droben, als der Aufstieg und all die Herrlichkeiten rings umher uns ganz den Atem benommen hatten, konnten wir uns nur noch ansehen – ganz ernst ansehen. Aber das war das Schönste am ganzen Wege.‹
So ist es auch bei uns, nicht wahr? Wir sind über das Lachen und die Erdbeerhügel hinaufgekommen. Ich wende mich vielleicht noch ab und zu um und schaue hinab – aber ich bleibe da, wo Sie gehen. Und ich weiß, das Schönste von dem ganzen Weg haben wir noch in Aussicht.
Sie haben recht: es hat keinen Sinn, daß wir zwei obdachlos in der Welt sind, wenn wir doch eine Heimat für einander haben, und das ist einzig und allein meine Schuld.
Und jetzt hab ich Angst, die Erkenntnis könnte mir kommen, daß ich auch die Verantwortung für den Tod meines süßen Jungen habe. In mehr als einer Weise. Glauben Sie nicht auch: wenn man mit aller Gewalt einen andern für etwas anklagen will, fühlt man sich gerade da nicht ganz frei von Schuld, darin liegt es.
Das, worum Sie mich bitten, will ich tun. Wäre ich so ehrlich und redlich, wie Sie denken, so hätte ich es schon früher getan. Aber ich wollte wohl den Widersacher nicht aufgeben.
Etwas muß ich Ihnen übrigens sagen: Sie würden in meinen Augen ganz derselbe sein, ob Sie ein Mordbrenner oder ein Fetischanbeter wären, das verstehen Sie, nicht wahr? Und doch, das Tiefste in Ihnen, das, was hinter allem bei Ihnen steht, das hat Sie eben doch zu dem gemacht, was Sie für mich sind.
Darin liegt ein Widerspruch, aber es ist trotzdem wahr!
Dies hat mich am stärksten zu Ihnen hingezogen. Ich forderte es heraus – um es hervorzulocken.
Gewiß habe ich es ebenso echt bei andern gesehen, aber durch andere kann ich nicht in Verbindung mit ihm kommen.
Erinnern Sie sich noch, als ich herausfand, daß Sie ein Däne seien, so gut dänisch wie ich? Wir lachten, denn es klang ja nicht sehr geistreich. Aber ich meinte ja wohl nichts weiter damit, sondern hatte nur entdeckt, daß Sie meine Sprache redeten, so redeten, wie es mir vertraut und verständlich klingt. Das war mir neu.
Deshalb kann das, was von mir abgleitet, wenn andere davon reden, meinem Herzen verständlich werden, wenn ich es von Ihnen höre.
Und deshalb erschreckt es mich nicht, wenn Sie mir sagen, warum Sie kommen.
Vielleicht habe ich Sie gerade deshalb gerufen.
Kommen Sie, wie Sie wollen, wie Sie können. Wie Sie auch kommen, so ist es am besten für mich.
Wann kommen Sie? Ich sitze hier und lausche auf Ihre Schritte.
Elsa.«
*
Als sie den Brief fertig geschrieben hat, fühlt sie sich sehr müde, und sie kann kaum noch die beigefügte Kopenhagener Adresse schreiben. Sie hat das Gefühl, als kehre sie von einem weiten Weg auf die Berge zurück. Merkwürdig, dieser kleine Gang nach den Erdbeerhügeln kann sie doch nicht so angestrengt haben?
Sie hat ein Sträußchen Erdbeeren gepflückt, die jetzt eben anfangen rot zu werden. Diese stellt sie mit feinen Gräsern und kleinen Himmelfahrtsblümchen zusammen ins Wasser und trägt dann das Glas in den Sonnenschein ans Fenster. Die Erdbeerzeit fängt zwar hier in der Gegend erst im August an, aber man kann auch vorher schon reife finden. Als sie das letztemal hier war, gab es ja so viele – und sie muß jetzt bald eine Handvoll haben.
Jetzt sollte sie ruhen, aber sie muß noch Briefe schreiben. Zuerst an Ejnar einen langen Brief mit Beschreibungen über den Ort hier, über die Verpflegung, den Arzt – und besonders über ihren eigenen Zustand. »Es geht mir eigentlich recht gut, das heißt, die Müdigkeit, die mich zuletzt im Pfarrhaus so sehr plagte, hab ich noch nicht ganz überwunden. Mich wie die andern in den Bergen herumtreiben, kann ich nicht, und ich kann auch nicht tüchtig essen – ob sich nicht am Ende mein Katarrh wieder einstellt? – Aber du weißt, die Wirkung des Aufenthalts kommt ja erst später. Dann werde sie aber auch bis Februar standhalten, sagt man hier.« – – Dann dankt sie ihm für alle Fürsorge; ja für all seine Fürsorge, die ja nicht neu sei und auch länger vorhalte, als bis der Schnee schmilzt, danke sie ihm viel, vielmals.
Sie fühlt sich gedrungen, immer mehr freundliche Worte hinzuzufügen. Das Beste, was sie weiß, möchte sie Ejnar gerne sagen. Sie fühlt sich ihm gegenüber arm, bettelarm.
Danach soll auch ihr Vater noch ein paar Zeilen haben, die sie ihm schon lange schicken wollte. Er hat sich ausführliche Berichte verbeten – er sagt, das meiste erfahre er ja aus ihren Briefen an Ejnar, und so solle sie sich durchaus nicht mit einem neuen Aufguß an ihn ermüden.
Nein, mit einer Wiederholung will sie ihren Vater verschonen.
»Ich schreibe Dir nur, um Dir zu sagen, daß ich Dich schrecklich lieb habe.
Natürlich willst Du so etwas nicht hören, und Du sagst sofort etwas kurz angebunden: ›Ja ja – laß es nun gut sein!‹
Trotzdem meine ich, wir hätten Dir das viel öfter sagen sollen – selbst wenn Du uns abgewehrt hättest. Es ist doch so sehr leer und trocken, wenn man von der Art nichts abzuwehren hat. Wir ließen uns von Dir zurückschrecken – wir schwiegen! Und das war dumm!
Aber nun sollst Du es hier hören, wo Du mich nicht unterbrechen kannst. Und das sollst Du wissen, ich wiederhole es, so oft ich an Dich denke.« – –
Sie legt die Feder nieder. Nein, sie ist zu müde, jetzt muß sie ausruhen. Das wurde ja ein alberner Brief! Ob aber ihr Vater, wenn er ihn liest, nicht am Ende doch seine Nase wahrhaft dröhnend schneuzt?
Elsa meint es wahrhaftig schon bis hier herauf zu hören, und ein Lächeln spielt um ihren Mund. Vater! …
*
Die Sonne versinkt hinter dem Bergkamm … der breite, blauschwarze Schatten legt sich über den Weg und hüllt den Hof ein.
»Was ist das?« fragt Elsa.
»Die Sonne ist untergegangen,« antwortet die weiß gekleidete Pflegerin, und es fällt ihr auf, wie blaß die Kranke im selben Augenblick geworden ist.
Elsa liegt seit zwei Tagen zu Bett. Vorgestern abend nach dem Tee bekam sie Lust, noch etwas ins Freie zu gehen – den Weg hinunter natürlich.
Die Luft war frisch und rein und duftete – sie wußte selbst nicht recht, nach was. Schon das Einatmen war stärkend. Elsa war es, als könnte sie bis zum Nachbardorf gehen, ohne müde zu werden.
Aber als sie den Weg zurückwanderte, der ihr vorher so leicht unter den Füßen weggeglitten war, der sich aber jetzt mit seinem unaufhörlichen Steigen zäh und widerwillig erwies, wurde es Elsa sehr heiß, sie fühlte sich matt und mußte schwer atmen.
Da setzte sie sich am Ufer des Flusses nieder. Ach, wie er so rasch dahinfloß … Gerade in der Richtung, wohin sie gerne wollte: den Schritten entgegen. Aber der Fluß erreichte diese lange vor ihr.
Sie pflückte Birkenlaub und Farnkräuter, die zwischen den Steinblöcken um sie her wuchsen, und warf sie in das grünlich schimmernde Wasser. Wie schnell sie mit dahinglitten … Ab und zu hielten sie bei einem aus dem Wasser aufragenden Felsblock an – schienen zu überlegen und mit ihm zu verhandeln. Aber der Felsen schien durchaus nicht gewillt, sich von der Stelle zu bewegen; da faßten sie einen raschen Entschluß und glitten darum herum. Weiter, weiter – –
Dem Schritt entgegen … wie Vorläufer für sie, die so sehnsüchtig wartet. Bald würden sie die Schritte hören … Er kommt mit Lachen, kommt mit Weinen …
Während Elsa so beständig Birkenlaub und Farnkräuter ins Wasser fallen ließ und sie fortgleiten und verschwinden sah – und ihnen einen Gruß mitgab, mußte sie unwillkürlich denken: Nicht nur ich allein, nicht nur der Fluß hier, sondern alles und alle auf der Welt drängen und eilen von jeher einem Schritt entgegen – der mit allem kommt, was das Leben zu bieten hat.
Aber wie viele gelangen bis zu ihm – wie viele?
Wie gut versteht man, daß die Menschen damals, nachdem sie dem Tode verfallen waren, lauschend den Kopf hoben, als die ersten Laute eines fernen herannahenden Schrittes ihr Ohr trafen … Und durch Jahrhunderte, ja durch Jahrtausende hindurch hat das sie am Leben erhalten, dieses Lauschen auf den Schritt, der näher kommt, näher – über alle Berggipfel hinweg. »Wie lieblich sind die Füße derer, die den Frieden verkünden!« …
Sie legte ihre eine Hand aufs Gras; es war naß vom Tau. Noch ein feines Farnkraut in den Fluß hinein, und sie stand auf, um heimzugehen. Aber da fühlte sie sich kalt und steif in allen Gliedern.
In der Nacht bekam sie Fieber, und dieses ist in den beiden letzten Tagen gestiegen. –
»Aber Schwester,« sagt sie zu der Krankenpflegerin, »mein Mann soll kein Alarmsignal bekommen, nicht wahr, Sie sind doch so gut und sorgen dafür? Das bißchen Fieber ist ja nicht der Rede wert; aber wenn man weit weg ist, bekommt man doch Angst. Was fehlt mir übrigens? Der Arzt weiß es natürlich nicht, die wissen ja nie etwas!«
Die Pflegerin beantwortet die Frage wegen Elsas Mann nicht, denn der Arzt hat selbstverständlich sofort an ihn geschrieben – und sagt nur, Elsa habe sich natürlich eine Infektion geholt.
»Ich glaubte, das sei hier oben nicht möglich. In dieser Luft soll man sich ja gar nicht erkälten können.«
»O doch, das kann man schon.«
»Ich bin ja auch nur müde und matt und habe ein paar Grad Fieber – und auch die hat man nur, weil man sie mißt.«
Die Pflegerin schüttelt lächelnd den Kopf.
»Ihr Herz ist auch nicht ganz gut, gnädige Frau,« sagt sie.
»Nein, da haben Sie recht! Aber wessen Herz ist ganz gut! So – jetzt ist wirklich hier nichts mehr zu tun! Nun können Sie wohl gehen.«
Der Ton ist ganz freudig, aber die Stimme ist sehr matt, und die Krankenschwester, die weiß, daß der Brief drei Tage unterwegs ist und die Reise hier herauf ebensoviel Zeit braucht, fragt sich, ob der Arzt nicht besser telegraphiert hätte.
Dann sagt sie zu Elsa, sie bleibe hier im Hause, höre es also gleich, wenn geklingelt werde, und verläßt dann leise das Zimmer.
Wie wohltuend es ist, ganz still zu liegen und sich die frische Luft übers Gesicht streichen zu lassen! Die frische Luft, die unaufhörlich durchs offene Fenster herein übers Bett hinströmt, wie wenn sie einem wohltun wollte.
Im Hause herrscht noch keine rechte Ruhe. Im nächsten Zimmer wird wohl erst zu Abend gegessen. Die Tür springt nicht mehr von selbst auf – sie hält es wohl nicht mehr für der Mühe wert – aber Elsa hört doch das gedämpfte Geräusch von Stimmen, Gläser- und Tellerklirren. Es wird gelacht …
Aber niemals kann der Hof so bevölkert werden, niemals so voll Leben und Lachen sein, wie er es in einer einzigen Nacht gewesen ist!
Wie unermeßlich war sie doch, jene Nacht! Wenn Elsa auf ihre vierunddreißig Jahre zurückschaut, die ihr doch recht lang vorkommen, ist ihr, als schrumpften sie neben jener Nacht zu einem Nichts zusammen.
Nur die Nacht war ihr zuteil geworden; auf den Tag, der zum Umlauf der vierundzwanzig Stunden gehört, mußte sie beim Sonnenaufgang verzichten. Den hat sie noch gut.
– Jetzt ist es still geworden ringsum, und sie kann den Brief vom Morgen noch einmal lesen, ehe sie einzuschlafen versucht. Er ist von Kopenhagen abgeschickt.
– »Ich brauche Ihnen Ihr Herz nicht zu bringen. Sie hatten es nicht ganz verloren – oder Sie haben es wieder erhalten, ehe ich damit kommen konnte.
Es schlug mir entgegen in jedem Wort, das Sie schrieben – Ihr aufrichtiges Herz!
Niemand kennt es so gut wie ich. Erinnern Sie sich noch, wie ich entdeckte, daß Ihre Augen blau sind? Nicht allein die Farbe war es, die mir da offenbar wurde, sondern ich sah wie durch klares blaues Wasser hindurch bis auf den Grund.
Sie kannten Ihr eigenes Herz nicht – kennen es wohl jetzt kaum … Ihre klugen, aufsässigen Gedanken hatten sich eine oberflächliche, verneinende Lebensweisheit geschaffen, nach der Sie Ihr Dasein eingerichtet hatten und die sie geradeswegs in den schwarzen »Kessel« hineinführte.
Ihr Herz lehnte sich dagegen auf – unklar und unbestimmt – ohne durchdringen zu können. Und Sie wissen, wie tief Sie hineingeraten sind.
Ich habe selbst etwas Ähnliches versucht. Meine Gedanken sind aufrührerisch und zweiflerisch, wahnsinnig hingenommen von allem, tödlich gleichgültig für alles – ganz unmöglich zu behandeln – und mein Herz ist nicht so aufrichtig wie das Ihrige. Aber es hat den Weg aus dem Sumpf herausgefunden – es ist nicht mehr in der Gewalt meiner Gedanken – es hat sich gegen den Tod aufgelehnt.
Und das tut das Ihrige jetzt auch. Es will nicht im Nichts vergehen, es will leben. Und es wird das Leben haben.
Nicht weil ich komme; sondern ein Schritt geht durch die Nacht, um Ihnen das Leben zu bringen. Sie haben ihn schon vernommen; aber es ging Ihnen wie damals, wo ich kam. Sie haben nicht unterscheiden können – und gemeint, er wolle Ihnen Böses.
Horchen Sie nun weiter auf den Schritt – was Sie ja, wie Sie sagen, auch schon tun. Ich glaube, Sie werden ihn dann deutlicher vernehmen.
Dieser Schritt ging durch die Nacht um Ihretwillen, ehe Sie zur Welt kamen – er war es, der daher kam, als Sie, angstvoll und verlassen, in Ihrem Gitterbettchen lagen. Er hat für Sie den Tod niedergetreten – er ist auf dem Wege zu Ihnen, er ist lauter Liebe für Sie.
Dies ist nicht Dichtung und Phantasie – es ist Wirklichkeit, die erfahren werden kann.
Versuchen Sie es mit Ihrem offenen Sinn für die Wirklichkeit! Gehen Sie diesem Schritt entgegen mit Ihrem aufrichtigen Herzen – das die Fähigkeit der unbedingten Hingabe hat. Es gilt das Leben.
Und dieses Leben können wir teilen. Ich muß es gemeinsam mit Ihnen haben.
Wir wollen ja den Bergaufstieg, von dem Sie reden, zusammen machen. Beim letztenmal kamen wir nur bis zu den Erdbeerhügeln – aber erinnern Sie sich noch an den äußersten veilchenblauen Berggipfel, der ganz in den Sonnenaufgang hineinragte? Dieser ist's, den wir erreichen müssen. – –
In zwei, höchstens drei Tagen reise ich von hier ab und zu Ihnen hinauf. Sie müssen gesund sein, wenn ich komme, hören Sie! Nehmen Sie all die Kraft in sich auf, die der Ort zu geben vermag – die andern sollen sich helfen, wie sie können! Das Leben zu ertragen, erfordert Kräfte.« – –
Elsa läßt das Papier sinken …
In zwei, höchstens drei Tagen! Nein, außer Bett wird sie da noch nicht sein können. Sie kann ihm nicht entgegengehen – muß hier liegen bleiben, wenn sie ihn kommen hört. Aber dann wird sie gesund. Mehr braucht es nicht, um sie ganz frisch zu machen.
Papier und Bleistift hat sie neben sich, auch ein Buch als Unterlage.
»Ich bin so dumm, – noch nicht ganz gesund zu sein,« schreibt sie viel langsamer und weniger deutlich, als sie sonst zu schreiben pflegt; »aber wenn Sie kommen, werde ich mich gewiß besser aufführen.
Ihren Brief kann ich nicht beantworten, denn ich kann nicht viel nachdenken. Auf diese Weise werde ich also frei von meinen klugen, aufsässigen Gedanken.
Wissen Sie, was ich für eine Empfindung habe – aber das kommt wohl vom Fieber. Daß ich sehr wenig Raum einnehme, daß ich ganz klein geworden sei und wieder in mein Kinderbettchen passe. Und als ich las, was Sie geschrieben haben, war mir, als liege ich darin – wie damals in der dunklen Stube.
Alle andern vom Tage waren verschwunden. Draußen ging ein Schritt vorüber – und ich fragte zum erstenmal: ›Wer ist in der Nacht unterwegs?‹ Aber niemand gab Antwort, alle schliefen.
Nur Sie kamen und setzten sich an mein Bett und erklärten mir, wer es sei.
Und jetzt wünschte ich, ich könnte ebenso vertrauensvoll wie mein liebes Hänschen antworten: ›Ah, der liebe Heiland!‹ – –«
Nein – sie ist zu müde. Was noch zu sagen wäre, muß warten, bis sie einander sehen.
In zwei – höchstens drei Tagen – – –
*
Es ist ein paar Tage später am Abend.
Drunten bei dem großen Hofe, der zugleich Postgebäude ist, steigt ein einzelner Reisender aus einem der zweirädrigen Wagen, wie sie in Norwegen gebräuchlich sind.
Er will kein frisches Pferd haben. Nein, er danke, er sei von der langen Wagenfahrt so lahm und steif wie ein Krüppel geworden und müsse jetzt erst seine Beine rühren, um zu sehen, ob er sie noch habe. Er wolle lieber das letzte Stück Wegs zu Fuß gehen, hinauf nach dem alten Hofe, der in ein Sanatorium umgewandelt worden sei. Dorthin wolle er, obgleich er die Umgestaltung nicht billige.
Es werde sehr spät, bis er da hinauf komme! – Jawohl, das könne er sich fast selbst ausrechnen. Aber er hoffe, irgendwo hineinschlüpfen zu können, ohne für einen Einbrecher gehalten zu werden; jedenfalls in einen Stall oder in eine Hundehütte. Und da der Weg die ganze Zeit bergauf führe, würde die Fahrt mit dem Wagen gewiß auch nicht in fliegender Eile vor sich gehen, jedenfalls nicht rascher, als er mit seinen kräftigen Beinen leisten könne. Seine Handtasche sei überdies nicht schwer zu tragen.
Eine Mahlzeit einzunehmen, – würde ihn auch nur aufhalten, und dann könne Per, sein bisheriger Wagenlenker, die ganze Speckseite allein verzehren. Er habe es wohl verdient durch alle die seltsamen Geschichten, mit denen er ihm aufgewartet habe.
Der Wagenlenker, dem die Gesellschaft des Mannes sichtlich zugesagt hat, lacht ihm mit ein paar Mägden vom Hof behaglich nach, der Fremde winkt ihnen noch zu und schreitet dann rasch den Weg hinan.
Da umfängt ihn die schweigende Einsamkeit.
Und sein Gesicht, das vorher sprechend und voller Leben gewesen war, bekommt das nach innen gerichtete Gepräge des Schweigens.
Die Sonne ist längst hinter die Felswand untergegangen, und der helle Abendglanz vergoldet die fernen Höhen nicht mehr. Eine kühle, eisgraue Dämmerung hat sich über den Talgrund gebreitet.
Er geht – geht –
Zu seiner Rechten eilt ihm der Fluß unaufhörlich entgegen. Vor kurzem ist er an dem Hofe da droben vorbeigeflossen … Er hätte vielleicht Gruß und Botschaft zu bringen, wenn man seine ernste Rede verstehen könnte!
Zur Linken hat der Wanderer die Gebirgswand, deren hoch aufragende Tannen ruhig an ihm vorbeischreiten – und wiederkommen, immer wieder in dunkler Unendlichkeit.
Er nimmt den Hut ab – sein helles Haar leuchtet in der Dämmerung – und läßt sich die frische Luft um die vor innerer Erregung erhitzte Stirne wehen.
Es duftet ringsumher … Sind hier Blumen? Ja, zwischen den Tannen stehen Nachtviolen. Wie schlank, wie blaß! Wie in stille Gedanken versunken …
Zwischen den Felsen am Flusse wachsen Birken, wie junge Mädchen schmächtig und weiß, ein leichtes, jungfräuliches Beben geht durch ihr Laub. Zu ihren Füßen winken ihm Farnkräuter zu …
Er bleibt stehen … pflückt ein paar Stengel von den schönen Wedeln, die an Palmblätter erinnern – für den hohen, alten, silbernen Becher. Und Birkenlaub – um es auf den Tisch zu streuen im Festsaal.
Alles, alles ist noch wie damals! Dieselbe helle Nacht, die angezogen kommt … mit dem Märchen im Gefolge!
Noch eine Weile – dann taucht der Hof auf mit seinen blassen Mauern zwischen den dunklen Berghängen … Er biegt in den großen stillen Hof ein und hält unten vor der Treppe an.
Den Altan entlang eilt es daher, zart und schlank … Eine Gestalt gleitet mit ausgestreckten Händen die Stufen herab … Ihre Arme sind kühl und weiß – er will sie ergreifen und an seine heißen Lippen ziehen … Er hat neun lange Jahre nach ihr gedürstet!
Schneewittchen hinter den Bergen – Schneewittchen!
Plötzlich wirft er sich am Weg zu Boden. Nein, es ist nicht ausgekämpft worden an jenem Morgen, wo er auf und davon ging! Auch nicht in all den harten, einsamen Jahren, nein, auch da nicht … Tor, der er war, daß er das hat glauben können!
Es ist noch über ihm – mit all seiner Süße, mit all seiner bitteren Gewalt!
War es denn gelogen, was er geschrieben hat?
Soll er aufstehen und wieder fortgehen, so rasch seine Füße ihn tragen können – Meer und Länder zwischen sich und sie legen wie vorher? Soll er vor der Gefahr fliehen, die beide überwältigen kann?
Nein – er wagt es nicht, sich dem zu entziehen, was er auszurichten, was er ihr zu bringen hat. Es ist wahr, daß er deshalb kommt.
Mag sein, daß seine Worte ihm selbst vorausgeeilt sind, daß der Kampf noch nicht ausgestritten ist, daß die Gefahr noch droht! Lebensgefährlich ist es ja zu leben – aber soll man deshalb das Leben fliehen? Mag sein, daß er noch immer seine dürstende Sehnsucht, seine Herzensglut, seine aufrührerischen Gedanken hat – es ist doch eines da, was das Tiefste in ihm ist, eines, was sein innerstes Leben ist!
Und dieses Leben ist's, das er mit ihr teilen will. Dazu hat er das Recht. Dies soll die Oberhand über alles andere bekommen – weil es seine Stärke von »dem Stärkeren« bekommt.
Er ist der einzige auf der Welt, der der Priester für sie sein kann. Und wie vielen er auch die Botschaft bringen mag – eine einzige nur ist seine Gemeinde – mit offenem Herzen für jedes seiner Worte.
Er kommt, um Gottesdienst mit ihr zu halten. Die ganze mächtige Natur hier um sie her ist das Gotteshaus. In dieser großen Kirchenstille werden er und sie sich treffen.
Aber – falls er ihr nun zu Wahrheit und Licht vorwärts helfen könnte, wenn er darauf verzichtete, auch nur einen Schein von ihr zu sehen, falls er sie am stärksten mitziehen könnte, wenn er dieses Zusammensein mit ihr, auf das er ein Recht hat, opferte, – so wäre er auch dazu bereit – ohne Zögern.
Ja, falls er sich in seinem Verhältnis zu ihr schon selbst überflüssig gemacht hätte, falls sie ohne sein Kommen selbst das Ziel erreicht hätte, dann – wollte er dafür danken. Nichts als danken! Das weiß er. – –
Kurz nachher steht er auf und geht ruhig weiter – dem Hofe zu.
*
Am Fenster in Elsas Zimmer sitzt die Krankenpflegerin. Sie wird, wie schon gestern, auch heute wieder wachen.
Vorgestern, als dem Arzt der Zustand der Kranken bedenklich vorkam, hat er nach der nächstliegenden, aber recht fernen Eisenbahnstelle einen Drahtbericht telephoniert und den Gatten der jungen Frau gebeten, zu kommen. Dieser ist auch abgereist, soviel weiß man im Erholungsheim. Es sind ihm auch nachher noch zwei Drahtberichte nachgeschickt worden, die er unterwegs bekommt, und spätestens morgen vormittag kann er eintreffen.
Die Pflegerin rechnet eben im stillen aus, ob er nicht in dieser Nacht noch ankommen könnte. Sie möchte es der Kranken wegen wünschen, denn sie findet diese sehr schwach, obgleich der Arzt meint, es sei keine drohende Gefahr vorhanden.
Die dänische Kranke spricht nicht viel, genießt auch recht wenig, will nur still liegen und ruhen. Ob sie es am Ende doch begriffen hat, daß ihr Mann kommt, obgleich es ihr nicht gesagt worden ist? Es liegt wie Erwartung auf ihrem Gesicht.
Die Dämmerung der Nacht ruht über dem Tal. Nur gegen Norden sind am Himmel noch Spuren des späten Sonnenuntergangs sichtbar: eine goldrote Helle, die sich halten wird, bis der Schein des heraufziehenden Morgenrots wärmer wird und sich vertieft.
Das ist die Zeit des Tages, wo der Hof wieder ganz derselbe ist wie einstmals.
Die Luft flutet rein und frisch zum offenen Fenster herein. Sie kommt von den weißen Firnen, von der in blauen Dunst gehüllten Unendlichkeit der Gebirgswelt, von nachtschwarzen Fichtenwäldern, und bringt den Duft mit von vielen Blümelein, über die sie auf ihrem Wege hingestrichen ist.
Und sie bringt die Stille des ganzen Gebirges mit sich.
Die Krankenpflegerin steht auf und tritt zu Elsa, die sich gerührt hat. Sie liegt mit wachen Augen da, hebt einen matten Finger nach dem Fenster und sagt leise: »Horch!«
Die Schwester geht ans Fenster zurück. Nein, nichts ist zu hören. Der einförmige Ton des Flusses dringt gedämpft und ruhig herüber, und ein fast lautloses Sausen geht durch die Luft, leise wie ein Ahnen …
Und doch – – Ja! Sie beugt sich zum Fenster hinaus … Doch – ein Schritt auf dem Wege … aber noch weit entfernt. Wer ist denn nur um diese Zeit unterwegs?
Wieder tritt sie an das Bett.
»Ja, ich glaube wirklich, es kommt jemand,« sagt sie freundlich aufmunternd. Denn es kann ja möglicherweise der Gatte der Kranken sein. Obgleich – er würde doch in einem Wagen kommen.
Elsa verzieht kaum merklich den Mund wie zu einem Lächeln. Sollte sie ihrer Sache nicht gewiß sein – diesen Schritt nicht hören können?
Die Schwester setzt sich wieder ans Fenster wie vorher.
Was für ein eigentümliches Echo ist doch hier auf dem Hofe! Schritte auf dem Wege sind zwar auch bei Tage aus weiter Ferne deutlich vernehmlich, aber jetzt in dieser späten Abendstunde klingen sie höchst merkwürdig.
Es hört sich an, als kämen sie von hoch droben her – aus einer unendlich blauen Ferne, vom Ende der Welt … Sie schreiten, schreiten dahin, unaufhörlich durch die Nacht.
Und wie die Schwester darauf lauscht, fällt ihr ein:
Wenn nur er es wäre, der jetzt kommt?
Sie und die andern gehören ja zu denen, die sein Kommen ganz bald erwarten. »Zu der Stunde, die niemand weiß.« Und deshalb gilt es, zu wachen und bereit zu sein. Seine Füße sind auf dem Wege …
Und obgleich sein Kommen wohl anders eingeleitet werden wird, als mit einem friedlichen Schritt, drängt sich der Krankenpflegerin doch durch diesen einfachen Ton die Vorstellung davon lebhaft auf.
Unwillkürlich faltet sie die Hände im Schoß.
»Eilig und jäh er kommen mag,
Zu jeder Stunde bei Nacht und Tag.«
Der Schritt draußen kommt immer näher – aber wie lange es doch dauert! So lange, daß sie das ganze Nichts des irdischen Daseins überdenken kann – alles das Überflüssige, mit dem sie sich selbst »Unruhe und Sorgen« gemacht hat, und auch das einzig Wesentliche.
»Laß sein meines Herzens Lampe bereit
In Glauben, Hoffnung und Lieb' allzeit!«
Die Schritte werden schwächer – vielleicht in einer Senkung des Weges – jetzt aber sind sie wieder da, viel lauter und näher. Wie, wenn sie nun gleich aus dem Schatten der großen Tanne da drüben herauskämen …
»Und wenn du kommst, komm hold und sanft – –«
– Ein Mann taucht auf dem Wege auf. Er hält den Hut in der Hand – ist groß und blond.
Die Schwester steht auf: Sollte es doch der dänische Arzt, der Gatte der Kranken sein?
Er schreitet das Haus entlang. Vielleicht geht er nur vorüber! Wenn er doch hereinkäme! Dann wäre er's vielleicht …
Jetzt bleibt der Mann draußen stehen, sieht sich um und geht an der Ecke ins Haus hinein.
Die Krankenpflegerin eilt leise nach der Tür, um den Fremden in Empfang zu nehmen.
Aber indem sie am Bett vorüberhuschen will, ist ihr, als sei es da merkwürdig still, und der Kopf der Kranken ist ein wenig auf die Seite gesunken …
Sie bleibt stehen und neigt sich über die Kranke.
Draußen kommen die Schritte auf den Hof herein und machen vor der Treppe des Altans halt.