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Dritter Teil.


Außerhalb des Lebens.

Nicht zu hoch auf den Baum hinauf, Dodo! Gib auf deine Hosen acht! – Nicht so nahe ans Wasser, Margit! – Mein Kleinchen muß lieb sein und nicht auf Mutters Erdbeeren treten! Wo ist Knut hingekommen? Auch auf dem Hof nicht? Na, er wird schon wieder auftauchen!«

Aus allen Fenstern des Pfarrhauses klingt Inger Maries helle, frische Stimme – mit ein wenig norwegischem Anklang in ihrem weichen Dänisch – ins Freie hinaus. Dann wendet sie sich ins Zimmer zurück, schüttelt lächelnd den Kopf und sagt: »Sie sind nicht zu bändigen, die Kinder – nein!«

Der Widerhall eines großen Scharmützels ruft sie wieder ans Fenster. Sie schickt ein paar mütterliche Ermahnungen in den Garten und sagt dann lachend in die Stube zurück: »Jetzt zanken sie sich wieder, die Streithähne!«

Die Kinder sind wild und lärmend, lufthungrig und sportlustig, mit glänzenden Augen und rosigen Wangen. Aber alle sind sehr lieb. In Tante Elsas Spuren laufen sie wie junge Hunde, um ihr die Gitterpforte zu öffnen, ihr den Weg zu zeigen, oder Blumen und Blaubeeren für sie zu pflücken.

Die junge Lehrerin, Fräulein Hessel, die im Pfarrhaus bekehrt worden ist, zwitschert mit Inger Marie um die Wette über ihre Freude, Hermanns Mutter redet freundlich und unaufhörlich mit jedem, den sie auftreiben kann, und Arne Halling schimpft laut über die »Tyrannei der menschlichen Gesellschaft.«

Er ist früher als die andere Hallingsche Familie, die erst mit Beginn der Ferien eintrifft, hier heraufgeschickt worden, um eine kleine Tänzerin zu vergessen, die ihn merklich in seinen juristischen Studien aufgehalten hat und die er sogar hatte heiraten wollen.

Aber da ist sie edelmütig geworden, hat sich auf die Seite der Eltern gestellt und ihm auf keine Weise durch eine Heirat schaden wollen, ja sie hat ihm sogar mit blutendem Herzen die Tür vor der Nase zugeschlagen – und sie für verschiedene andere geöffnet … sich also ganz für ihn aufgeopfert – auf dem Altar alter verstaubter Vorurteile.

Er durchschaut ihr Martyrium, und anstatt die muffigen juristischen Bücher zu öffnen, die man ihm mit heraufgegeben hat, ist er dabei, eine Schrift zu verfassen über die, denen die menschliche Gesellschaft ihren eisenbeschlagenen Schuh auf den Nacken setzt – die Gesellschaft, die die Verantwortung dafür hat, daß er und sie getrennt worden sind.

Früh und spät ist er an Elsas Seite mit dieser Schrift, genannt »Die Benachteiligten der Gesellschaft«, oder »Die von der Gesellschaft Benachteiligten«. Er weiß nicht recht, welche von den beiden Überschriften er wählen soll, und Elsa antwortet etwas zerstreut: »Nehmen Sie beide!« Aber trotz dieser wenig aufmunternden Antwort erspart er ihr nicht eine Zeile von seinen Ergüssen.

Im Haus und Hof, im Garten und Wald, immer ist jemand bei ihr. Selbst in der schattigen kleinen Schlucht, die sie entdeckt hat, wo ein dünner, heller Wasserstrahl zwischen moosigem Gestein hervorquillt, während kleine gelbe Veilchen, die freundlichen, unschuldigen Kindern gleichen, mit stiller Verwunderung dessen Lauf verfolgen, selbst da, wo sie so gern im Verborgenen gesessen hätte, haben Arne und Dodo sie aufgespürt. Auf die Berge zu steigen, wagt sie nicht, auch nicht Rad zu fahren; wenn sie aber auf dem geraden Weg etwas weiter in das endlose Gudbrandstal hineinwandern will, kommt gewiß Hermann auf seinen langen Beinen recht bald hinter ihr herspaziert und ruft: »Wend um, wend um, du kühner Schotte!«

Es ist alles nur Fürsorge für sie, alle haben Angst, sie werde sich überanstrengen oder sich einsam fühlen. Aber dem können sie doch nicht abhelfen, am wenigsten auf solche Weise.

Elsa hat zwar ihr eigenes Zimmer, aber es ist nicht abgelegen; aus dem ganzen fröhlichen Bienenkorb schwirrt und summt es um sie herum. Und wenn sie zu lange in ihrem Zimmer bleibt, kommt immer jemand, der anklopft und fragt, ob sie nicht wohl sei.

Inger Marie möchte sie gern zu Alten, Kranken und Kindern mitnehmen, die in den zu der großen Pfarrei gehörigen zerstreuten Hütten wohnen. Aber Elsa schlägt es ihr ab – wie damals, wo Ejnar ihr zuredete, einem Verein für Kinderpflege beizutreten. Solche Dinge muß man aus innerem Antrieb aufnehmen, nicht aus Zwang, und Elsa meint, ihr liege es nun eben nicht. Sie kann es auch nicht mehr ertragen, kranke Kinder zu sehen, es wird ihr schwer genug, gesunde um sich zu haben.

Die Luft da oben ist rein und stärkend, und Inger Marie tischt ihr alle nur erdenklichen leichten, nahrhaften Gerichte auf und hofft, sie zu tüchtigem Zugreifen zu verlocken. Trotzdem steht das »richtig zu Kräften kommen« als etwas Unmögliches vor Elsa. Die Mattigkeit weicht nicht, und die nächtlichen Anfälle von Herzklopfen und Atemnot wiederholen sich noch ab und zu.

Nachdem sie mehrere Wochen da droben gewesen ist, kommt es zu einer Fehlgeburt.

Der Gedanke an Ejnars Enttäuschung ist Elsa zwar schmerzlich, aber im Augenblick empfindet sie das Ganze als eine Erleichterung. Sie hatte den Gedanken an das, was bevorstand, nicht bewältigen können. Es war ihr gewesen, als würde ihrem Hansemann durch das neue Verhältnis, in das sie eintrete, etwas genommen, als verarme er dadurch, als werde er ausschließlich auf sein kaltes, schwarzes Grab verwiesen.

Die Tage, die Elsa, von einem guten alten Arzt betreut, im Bett zubringt, sind die besten, die sie seit lange gehabt hat. Wenn man zu Bett liegt, kann man das Leben von sich fern halten und sich ganz nur in Unwirklichkeit und Ruhe hineingleiten lassen. Alle im Hause sprechen leise und gehen nur auf den Zehenspitzen an ihrer Tür vorüber, und Inger Marie sitzt oft bei ihr, streicht ihr freundlich übers Haar, zieht mit mütterlich kundigen Händen die Decken zurecht und spricht so sanft und leise wie eine rieselnde Quelle. Von ihrer Freude über den lieben Ejnar, von ihrer Wehmut über die vereitelte Hoffnung spricht sie … Aber wenn Elsa kräftiger werde, komme gewiß auch Erstattung vom lieben Gott!

Morgens, gerade wenn die Sonne durch die weißen Vorhänge scheint, wird im Wohnzimmer Andacht gehalten. Der Gesang der Kinderstimmen dringt durch den Fußboden zu Elsa herauf. Das klingt schön und trostreich. Vielleicht denkt sie dabei an den kleinen Hans, als er damals versuchte, »Ein Kind ist geboren zu Bethlehem« anzustimmen, was indes nicht recht gelang … Aber dann schließt sie Augen und Gedanken vor all diesem fest zu.

Als sie wieder aufstehen darf, kommt ihr alles plötzlich noch viel schwerer vor; das Leben steht vor ihr wie ein hoher Berg, den sie ersteigen muß. Und sie hat noch weniger Kräfte als vorher.

Es ermüdet sie, so viele Menschen um sich zu haben. Es bringt Unruhe, aber kein Zusammensein. Gewiß sind alle lieb und ausgezeichnet; aber was hilft das, wenn sie alle weit weg von ihr sind! Sie stehen wie alle andern auf einem Ufer im Sonnenschein – sie auf dem andern im Schatten. Man kann nicht hinüber und herüber rufen, und sie gehen sie ja auch gar nichts an.

Die Einsamkeit untergrabe sie, hat ihr Vater gesagt. Das kann ganz richtig sein, aber wie dagegen Hilfe schaffen? Hier oben so wenig als anderswo. Die Einsamkeit hat sie ihr Lebtag begleitet – und jetzt fühlt sie sie mehr denn je vorher, weil sie aus dem Leben geschieden ist, hinaus aus dem geschäftigen, fröhlichen, bunten Treiben, in dem die andern sich bewegen. Sie steht auch ganz außerhalb dieses Hauses hier, das sich ihr so freundlich geöffnet hat.

Alle, Inger Marie, Fräulein Hessel und Hermann suchen sie, jedes auf seine Weise und ganz behutsam, geistlich zu beeinflussen. Aber ihre Worte dringen nicht an Elsas Herz, und sie antwortet ihnen auch, wie wenn sie gar nicht dabei beteiligt wäre.

Wenn Elsa am Abend in ihr Zimmer tritt und die freundliche Schar, die sie immer begleitet, um da oben noch einmal gute Nacht zu sagen, sich verabschiedet hat, bleibt sie oft noch lange an ihrem Fenster sitzen und starrt hinaus in das langgestreckte Gudbrandstal, über dem die graue Dämmerung hereinbricht – jener todblasse Schein zwischen Tag und Nacht, der alles mit kalten, nüchternen Strichen zeichnet.

Aber dann ist da vor ihr nicht mehr das Gudbrandstal … Mögen sie es nennen, wie sie wollen, sie ist doch nur an einem einzigen Ort auf der Welt. Und in dieser geisterhaften Dämmerung ist es, als entschleiere er sich, daß sie ihn wieder erkennen kann.

Sie sitzt auf dem toten Hofe – unbekannt und fern von allen Menschen.

So einsam, daß sie gar niemand mehr ist. Keine Persönlichkeit, nur ein wanderndes Bewußtsein – eine leere Schale, die ein vom Leben verlassenes Dasein führt.

Ihr Herz ist tot und dahingegangen. Nur Erkenntnis ist noch da – kalte, nüchterne, unfruchtbare Erkenntnis.

Und die Angst überkommt sie, weil dies der Tod ist, könne es nicht einmal mit dem Tode aufhören; die Toten lassen sich nicht umbringen.

Wie nun, wenn es kein lindernder, traumloser Schlaf wäre, der sie nachher erwartete, – sondern gerade Schlaflosigkeit?

Angenommen, es wäre da keine schwarze Nacht der Vergessenheit, in die man sich selbst und die ganze Sinnlosigkeit des Daseins zur Ruhe legen könnte … Sondern es käme eine endlose Fortsetzung mit verschärfter Erkenntnis in nächtlich grauer Beleuchtung, in geisterhafter Dämmerung, durch die aus weiter Ferne, von weit hinter der Grenze des Todes her Schritte auf einen zukämen …

Wo Tote wohnen – da ist Unendlichkeit. Dies fühlt sie jetzt schon – und dies ist bodenlose Angst. –

Wenn Elsa am Morgen in das große, helle Eßzimmer herunter kommt, wo Kinderlachen um den ländlichen Frühstückstisch ertönt, trifft sie, während Inger Marie lächelnd guten Morgen sagt, rasch ein bekümmerter Blick aus deren treuen Augen.

Und wenn Elsa dann fragt: »Sehe ich ruhelos aus, Inger? Ja, ich habe auch nicht viel geschlafen – und man fühlt sich ja ruhelos, so lange man lebt!« dann antwortet die Schwägerin leise über all die Brote weg, die sie für die Kinder mit Butter streicht: »Ruhelos – ach ja, leider! Aber mir scheint auch fast hoffnungslos!«

»Und leblos, dies ist wohl das richtige Wort,« fügt Elsa in Gedanken hinzu.

Aber Arne, der Inger Maries Bemerkung aufgefangen hat, ruft laut: »O ja – aber wer sieht hoffnungsvoll aus? Nur Dummköpfe!«


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