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Im Jahr 1892 starb der Gouverneur Baron Karl Gustav Wrede, und dadurch schloß sich für Mathilda die Familienheimat auf Rabbelugn.
Unmittelbar nach des Vaters Tode reiste Mathilda nach Abo, um in ihrem »lieben, lieben Kakola«, wie sie es nannte, zu wirken. Aber die angreifende Arbeit unter den Gefangenen nach den großen Gemütsbewegungen während der Krankheit ihres Vaters und bei seinem Tode, waren zuviel für ihre Kräfte gewesen. Eines Tages bekam sie im Gefängnis einen Herzkrampf und war dann den ganzen folgenden Winter sehr schwach.
Die Sorge der Gefangenen um Mathildas Gesundheitszustand war geradezu rührend. Eines Tages, als sie ihren täglichen Erholungsgang im Gefängnis machen durften, trat einer von ihnen auf sie zu – und zwar ganz deutlich als Wortführer einer ganzen Gruppe – und sagte: »Fräulein Wrede, haben Sie nicht gesagt, daß Gott allwissend sei, daß er die Liebe und auch allmächtig sei? Und wollen Sie nicht, daß wir das glauben?«
Sie antwortete: »Doch, dabei bleibe ich.«
»Aber wenn Gott allwissend ist«, fuhr der Gefangene fort, »dann weiß er auch, daß wir außer Ihnen keinen einzigen Freund haben. Wenn er also die Liebe ist, kann er uns doch nicht unsern einzigen Freund nehmen wollen. Und wenn er allmächtig ist, dann kann er Sie mit Leichtigkeit wieder gesund machen. Deshalb – wenn Sie sterben müssen, dann bleibt von unserem Glauben an Gott nicht viel übrig.«
Mathilda erwiderte: »Jetzt will ich euch etwas sagen: Wenn ich sterbe, dann seid ihr schuld daran.«
Überrascht starrte der Gefangene Mathilda an, und sie fuhr fort: »Jawohl, denn seht, Gott ist allwissend, und er weiß, daß mir eure besten und wärmsten Gefühle gehören. Wenn ihr aber ihm euer ganzes Herz geben würdet, würde das Leben heller und reicher für euch werden! Er ist die Liebe, und wenn er sieht, daß ich zwischen ihm und euch stehe, daß ich ihm im Wege stehe, dann nimmt er mich weg, gerade weil er euch liebt. Aber wenn Gott steht, daß ich kein Hindernis für ihn bin – da läßt er mich wohl am Leben – und läßt mich auch wieder zu euch kommen. Und deshalb ist es eure Schuld, wenn es nicht geschieht.«
Ein früherer, etwas gebildeterer Gefangener schrieb an Mathildas Bruder, durch den er erfahren hatte, daß sie noch einige Zeit das Bett hüten müsse: »Ich danke Ihnen herzlich, Herr Baron, für Ihren gestrigen Brief. Gott sei Dank, daß es doch etwas besser zu gehen scheint. Möchte doch der allmächtige Gott Fräulein Wrede Gesundheit und Kräfte wiedergeben, damit sie noch lange ihr Liebeswerk unter uns unglücklichen Gefangenen ausüben könne! Nur wer selbst ein Gefangener war, kann die Bedeutung ihres Werkes vollkommen verstehen. Eine sehr lebendige Vorstellung können andere ja vielleicht davon haben, aber es ist und bleibt eben doch immer nur eine Vorstellung. Nur Gott und die Gefangenen kennen sie bis auf den Grund.«
Als es Sommer war, mußte sich Mathilda die Ruhe gönnen, die ihr durchaus notwendig war. Sie verbrachte diese Erholungszeit auf dem schönen Schlosse Kremon in Livland bei ihrer Freundin, der Fürstin Liewen. Im Herbst reiste sie dann von diesem prachtvollen fürstlichen Sitze geradeswegs nach Helsingfors, wo sie sich in einer abgelegenen Straße bei der Vorsteherin der Heilsarmee in Finnland, Hedwig von Haartmann, und ihrem Adjutanten ein kleines Zimmer mietete.
Dort entschloß sich Mathilda aus freiwilliger Selbstverleugnung, sich auf dieselbe Ration zu setzen wie ihre gefangenen Freunde und von zweiunddreißig Pfennig täglich zu leben. Sie tat es teils, um andern mehr materielle Unterstützung zuzuwenden, indem sie weniger für sich selbst brauchte, teils weil sie meinte, besser auf die Gefangenen einwirken zu können, wenn diese wüßten, daß sie es auch nicht besser hatte als sie.
Sie zog dabei nur nicht in Rechnung, daß die Nahrung, die für eine einzelne Person gekauft wird, selbstverständlich weder so gut noch so reichlich sein kann, wie wenn man sie für mehrere hundert zugleich einkauft.
Vom frühen Morgen an war sie in den Gefängnissen beschäftigt, und am Abend in ihrem Zimmer auch noch stets bereit, losgelassene Gefangene oder andere bekümmerte und angefochtene Menschen, die sie gerne sprechen wollten, vorzulassen.
Und ihre Tage waren ausgefüllt mit den Freuden und Sorgen ihrer Arbeit.
Die Freuden hoben sie über alle Anstrengungen hinaus, und die Sorgen und Enttäuschungen ertrug sie mit tapferem Mut. Nie wankte sie in ihrem starken Glauben an den endlichen Sieg, und ihr Sinn für Humor schärfte ihren Blick für die komischen Seiten einer Sache und verwandelte zuzeiten die Niedergedrücktheit in ein herzliches Lachen.
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Den Kopf in die Hände vergraben und in die Unzugänglichkeit der Verzweiflung versunken, sitzt ein Gefangener in einer Ecke seiner Zelle. Er stammt von weit droben aus dem Norden, hat in ferner Wildnis gelebt, wo die großartige Einsamkeit und das unendliche Schweigen den Menschen einen eigenen versonnenen Stempel aufdrückt.
Die Tür geht auf – und der unerwartete Anblick einer Frau zeigt sich dem Gefangenen. Sie tritt ruhig näher, wie wenn sie in diesen Räumen vollkommen heimisch wäre. Erstaunt sieht sie der Gefangene an, erwidert aber ihren Gruß nur mit einem mürrischen, kaum merklichen Kopfnicken. Er hat nicht im Sinn, sich in ein Gespräch einzulassen.
»Wie froh bin ich, endlich jemand aus dem Norden zu treffen!« sagt sie lebhaft. »Ich höre, daß Sie da zu Hause sind. Dann bin ich in Ihrem Heimatort gewesen – und ich habe immer gefunden, daß die Menschen dort, die sich so innig mit der Natur einleben, besonders feine und tiefe Gedanken und Gefühle bekommen.«
Der Mann steht sie von der Seite an. Will sie ihn zum besten haben? Kurz und barsch versetzt er: »Ich bin ein Mörder.«
Mathilda wiederholt: »Die Menschen da droben bekommen so zarte, tiefe Gefühle.« Und dann beschreibt sie die Eindrücke, die sie selbst von der Natur dort bekommen hat. Ob er sich an die schneebedeckten Ebenen im tiefen Winter erinnere? Das sei eine Welt von weißer Unendlichkeit, von unberührter Reinheit – mit einer wahren Kirchenstille darüber. Und dann die bunte, strahlende, lodernde Blütenpracht des kurzen Sommers! Und die tiefe Glut des Sonnenuntergangs! Wie sehr sehne man sich doch nach dem allem! Wie merkwürdig werde einem da zumut – man trage gleichsam eine Unendlichkeit von unaussprechlichen Gefühlen in sich …
Während sie spricht sieht sie den Mann gar nicht an – aber sie hört, daß seine Atemzüge tiefer, hastiger werden …
Dann verläßt sie leise die Zelle. Er soll Zeit haben, an das Alte zu denken …
Am nächsten Tag schaut sie wieder zu ihm hinein. Da streckt er ihr beide Hände entgegen und sagt: »Sind Sie ein Prophet?«
Sie fragt, was er damit meine?
»Ich meine, jemand, der das lesen kann, was ein anderer denkt.«
Und er sagt ihr, daß er gerade all das, was sie gestern beschrieben, selbst gesehen und gefühlt, daß er tiefe Sehnsucht und zarte Gedanken in sich herumgetragen habe … Aber niemand habe sich darum gekümmert – niemand ihn verstanden –. Und nun sei all das, was gut und zart in ihm gewesen, längst zerbrochen und ausgerottet. Und jetzt – nun, jetzt entsetze und fürchte er sich nur noch vor sich selbst.
Da sagt sie ihm, das alles könne wieder gut gemacht werden, könne wieder in ihm auferstehen, jawohl, alles, was gut und rein in ihm gewesen. Gerade deshalb sei sie zu ihm gekommen, damit das geschehe. Denn sie wolle ihm von einem erzählen, sie kenne einen, der das tun könne. – –
Dieser Mann gehörte zu den großen Freuden, die sie erlebte.
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Nun noch einiges von den Enttäuschungen!
Trotz ihrer spartanischen Lebensweise hatte Mathilda ein Pferd beibehalten. Von »Reima« hatte sie sich nicht trennen können. Sie hatte das Tier von ihrem Vater erhalten, und es war sehr klug und ganz besonders anhänglich an sie. Es war, als ob es sie verstehe.
Eines Tages sprach sie im Sörnäser Gefängnis mit Pekonen, einem Manne, der in einigen Tagen losgelassen werden sollte. Pekonen äußerte den glühenden Wunsch, nach Amerika auszuwandern; er sagte, es sei viel leichter in einer ganz neuen Umgebung ein neues Leben anzufangen. Aber er wisse nicht, wo er das Reisegeld hernehmen solle, und Fräulein Wrede könne ihm wohl auch nicht helfen?
Sie antwortete, dazu sei sie leider nicht imstande, sie habe nicht so viel Geld.
Da fuhr ihr plötzlich der Gedanke durch den Kopf: »Reima – ich habe ja Reima!« Reima konnte verkauft werden.
Aber sofort wies sie diesen Gedanken zurück: »Reima ist mein Freund. Man verkauft seinen Freund nicht.«
Trotzdem kehrte der Gedanke immer wieder. »Ich kann ja dafür sorgen, daß Reima an einen guten Ort kommt – hier ist eine Menschenseele in Gefahr, die in der alten Umgebung mit all ihren Versuchungen zugrunde gehen kann.«
Eine ganze Woche lang lag sie im Kampfe mit sich selbst. Aber dann fuhr sie hinaus aufs Land, verkaufte mit blutendem Herzen ihr geliebtes Pferd und teilte hierauf dem Pekonen mit, daß er das Reisegeld nach Amerika bekommen könne.
An dem Tage, an dem das Schiff abfuhr, regnete es in Strömen, und Mathilda war durch einen unglücklichen jungen Mann aus Borga, um den sie sich annehmen mußte, vollständig in Anspruch genommen. Trotzdem versprach sie Pekonen, der sie noch aufgesucht hatte, sie werde an den Landungsplatz kommen, um ihm Lebewohl zu sagen und die Fahrkarte für ihn zu lösen.
Er versetzte, daran dürfe sie unter keinen Umständen denken, da sie doch sehr viel zu tun habe – überdies bei diesem entsetzlichen Wetter! Er sei ja gerade deshalb zu ihr gekommen, um ihr den Gang zu ersparen und sich gleich hier von ihr zu verabschieden.
Da Mathilda nun wirklich kaum wußte, wie sie es möglich machen sollte, und er in seiner Rücksichtnahme auf sie ganz aufrichtig zu sein schien, gab sie ihm das Geld zu der Fahrkarte und wünschte ihm glückliche Reise. – –
Mehrere Wochen vergingen. Mathilda wunderte sich, daß sie die versprochene Nachricht von seiner Ankunft in der neuen Welt nicht erhielt, und begann sich ernstlich Gedanken zu machen, ob ihm nicht am Ende etwas zugestoßen sei.
Eines Tages ging sie durch die Unionstraße nach dem Observatoriumshügel. Vor ihr taumelte ein Betrunkener auf der Straße hin und her. Die Gestalt kam ihr etwas bekannt vor.
Merkwürdig, wie dieser Mann an Pekonen erinnerte! Aber der war ja in Amerika – oder vielleicht tot, der Ärmste!
Der Mann taumelte in eine Wirtschaft hinein, und kurz entschlossen ging Mathilda ihm nach. Es war ein unappetitlicher Ort; die Luft von schlechtem Tabakrauch zum Schneiden dick, und an kleinen, durch verschüttete Getränke verunreinigten Tischen saßen betrunkene Männer und schrien laut durcheinander. Mathilda entdeckte mehrere von ihren Freunden, aber den nicht, den sie suchte.
»Warum sitzt ihr nur hier, ihr Armen?« fragte sie ein paar von ihnen.
Einer antwortete: »Wir könnten ja eher fragen, warum kommen Sie hierher?«
»Ich wollte sehen, ob es wahr sein kann, daß Pekonen hier ist. Wißt ihr etwas von ihm?«
»Ja freilich! Dort in der Ecke sitzt er und trinkt wie gewöhnlich.«
Ja, da saß er! O Reima! – Der Zorn kochte in Mathilda auf. Sie ging geradewegs auf den betrunkenen Mann zu und fragte: »Ist dies Amerika? Wo ist das Reisegeld? Ist alles vertrunken?«
Pekonen sah zu Boden und murmelte, es seien immerhin noch siebzehn Mark davon übrig.
»Kommen Sie sofort mit mir! Ich will mit Ihnen reden!« befahl sie.
Und unter dem jubelnden Hohngelächter seiner Kameraden trottete der Mann hinter ihr drein zur Tür hinaus.
Während er dann neben ihr hertaumelte, konnte sie kein Wort zu ihm sagen. Sie dachte nur an ihr geliebtes Pferd Reima, und das Herz tat ihr bitter weh. Als sie ihre Wohnung erreicht hatte, wies sie ihm einen Stuhl an und verließ das Zimmer, um sich zuerst etwas zu beruhigen.
Als sie nach einer Weile wieder eintrat, schlief Pekonen – zwar nicht den Schlaf des Gerechten, aber immerhin einen recht tiefen Schlaf. Trotz ihres Kummers und Zorns mußte sie fast lachen, er sah zu erbärmlich aus. Dann ging sie in die Küche und sagte zu dem Mädchen: »Rosa, machen Sie eine Tasse sehr starken Kaffee – ich gebe dann Pfeffer, Senf und Ingwer hinein. Sie ist für den abscheulichen Pekonen, damit er wach wird.«
Nach einer Weile schüttelte sie Pekonen und sagte: »Hier trinken Sie!«
Er fing an zu schlürfen – machte aber gleich eine Grimasse und sagte: »Uha, das schmeckt gräßlich!«
»Trinken Sie nur!« sagte sie bestimmt. Und er mußte die Tasse austrinken. Als er endlich ganz wach und einigermaßen nüchtern war, stellte sie ihm mit heftigen Worten sein unverantwortliches Benehmen vor.
Er schüttelte den Kopf und sagte reuevoll: »Ja, es ist schrecklich – jawohl, das ist es! Ich glaube, es hat sich wohl noch niemand so schändlich benommen. Aber versuchen Sie, ob Sie es nicht vergessen können – nur ein klein wenig.«
Und wieder wollte sich ein Lächeln um ihren Mund stehlen. Gutmütig war er – der arme Tropf!
Es gelang ihr später, Pekonen doch noch nach Amerika zu befördern, aber dort überkam ihn das Heimweh so stark, daß er wieder nach Finnland zurückkehrte – wo er schließlich an Lungenentzündung in einem Krankenhause starb.
Und als Mathilda Wrede ein kleines Blumenkreuz auf sein Grab legte, hatten die freundlichen Gefühle für ihn – den Ärmsten – schon lange die Oberhand gewonnen.
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Bei einem anderen losgelassenen Gefangenen gab sie sich große Mühe, ihn von der Trunksucht zu heilen, aber das war mehr als schwierig.
Da kam er selbst auf den Gedanken, es könne vielleicht etwas helfen, wenn er jedesmal zu ihr kommen und es ihr beichten dürfe, so oft er der Versuchung erlegen sei. Mathilda ging gern auf diesen Vorschlag ein.
Eines Tages stand er an ihrer Tür und sagte mit schluchzender Stimme: »Ja ja, Fräulein Mathilda – jetzt steht es wieder schlimm mit mir! Ich habe mich gestern betrunken. Es ist eine Schande.«
»Aber Sie sind ja auch heute nicht nüchtern«, versetzte sie ernst.
»Nein, aber das darf man nicht rechnen! Denn das bin ich ja nur, weil ich hierherkommen und es Ihnen beichten wollte. Sehen Sie, dazu hatte ich nicht den Mut, solange ich nüchtern war. Aber eine Abmachung, die muß man halten. Und da ich also hierher mußte, hab' ich mich heute betrunken.«
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Nyemann war ein achtzehnjähriger Gefangener, als Mathilda ihn kennenlernte. Die Gefangenwärter sagten, er sei frech und unverschämt, aber gegen sie war er immer willfährig.
Im Dezember hatte er seine Strafe verbüßt, und Mathilda verhandelte mit einem Konditor wegen einer Lehrstelle für ihn.
Am Tage vor dem Heiligen Abend kam er zu ihr und erzählte, er sei bei seinem Paten in Hermanstad gewesen und habe von ihm zwei Paar Haselhühner bekommen, die er vergebens zu verkaufen versucht habe. Ob Fräulein Wrede ihm nun nicht bloß fünf Mark dafür geben wolle? Dann könne er es sich doch in der Weihnachtszeit ein wenig behaglich machen.
»Ich muß es wohl tun«, versetzte Mathilda, obgleich sie gar keine Verwendung für die Vögel hatte, denn sie reiste am nächsten Morgen nach Tavastehus, um mit den dortigen weiblichen Gefangenen Weihnachten zu feiern. Aber sie konnte sie ja auch ihrem Bruder schicken. Und Nyemann bekam die fünf Mark.
Nach Weihnachten ging Mathilda zu dem Konditor, um sich nach Nyemann zu erkundigen. Ja, er war fleißig und schien sich im ganzen recht gut zu machen, so hegte Mathilda die besten Hoffnungen für ihn.
Eines Tages brachte er ihr eine Gipsbüste von dem Dichter Runeberg, die er für sein erstes selbstverdientes Geld gekauft hatte. »Sie hätten am Ende lieber den Christus von Thorwaldsen gehabt, aber ich dachte eben, etwas Vaterländisches sei auch nicht zu verachten.«
Am 14. März, Mathildas Namenstag, kam er mit einer Torte an, auf der in flotten weißen Buchstaben »Mathilda« stand.
Alles sah recht erfreulich aus, – aber einige Zeit nachher wurde Mathilda auf die Polizei vorgeladen, weil sie »gestohlene Sachen von einer übelbeleumundeten Person« gekauft habe.
Sie konnte und wollte nicht glauben, daß es Nyemann sei – aber was erfuhr sie? Mit mehreren jungen Leuten hatte er siebenundzwanzig Diebstähle der verschiedensten Art ausgeführt, und jetzt war er mitsamt seinen Spießgesellen festgenommen worden.
Mathilda war zu der Gerichtsverhandlung vorgeladen und stand nun mit einigen andern, die auch gestohlene Gegenstände gekauft hatten, vor dem Richter. Als dieser sie fragte, erzählte sie, wie sie dazugekommen war, die Haselhühner zu kaufen, die er von seinem Paten bekommen haben wollte.
»Und hier hat er gestanden, daß er sie gerade vorher aus Doktor N. Ns. Speisekammer geholt hatte«, sagte der Richter.
Mathilda sah, wie einer der andern Angeklagten Nyemann einen Rippenstoß versetzte, und hörte, wie er sagte: »Du müßtest gehängt werden. Nun kommt Fräulein Wrede deinetwegen in die größte Verlegenheit.«
Mathilda wollte nun gerne wissen, ob die Torte zu ihrem Geburtstag auch gestohlen gewesen sei, aber Nyemann blieb dabei, nein, der Kuchen sei ein ehrlicher Kuchen! Und dann erklärte er, Fräulein Wrede spreche immer die Wahrheit, deshalb solle man ihr nur alles glauben.
Nyemann und seine Spießgesellen wurden zu vier Jahren Gefängnis verurteilt und nach Kakola in Abo verschickt.
Dort hatten die andern Gefangenen gehört, daß Nyemann Mathilda Wrede gestohlene Sachen verkauft hatte und sie deswegen vor Gericht geladen worden war. Nun ließen diese Gefangenen ihn zur Strafe dafür im Gefängnishof Spießruten laufen. Und später nannten sie ihn »Haselhuhn-Nyemann«.
Als er Kakola wieder verlassen durfte, stellte er sich sofort bei Mathilda mit einem Myrtenstock ein, den er im Gefängnis gepflanzt und gepflegt hatte. »Das hab' ich getan, weil Sie so gut gegen mich waren, obgleich ich mich so schändlich benommen hatte.«
Mathilda nahm sich seiner abermals an, und eines Tages vertraute er ihr an, er brauche notwendig eine blaue Seemannsjacke, sie koste aber zehn Mark.
»Ich habe wohl dreizehn Mark«, sagte Mathilda, »aber für acht davon möchte ich mir gerne ein Paar neue Schuhe kaufen. Wie sollen wir es nun machen?«
In demselben Augenblick klingelte das Telefon, und Mathilda gab ihm ihren Geldbeutel in die Hand. »Nun besinnen Sie sich einmal, wie wir es einrichten wollen«, sagte sie, indem sie das Zimmer verließ.
Als sie zurückkam, hielt er den offenen Geldbeutel in der Hand. »Ist das alles, was Sie haben?« fragte er.
»Ja«, antwortete sie.
»Wann bekommen Sie wieder Geld?«
»Das weiß ich nicht.«
»Nun – dann hab' ich eine blaue Jacke daheim, die zwar zerrissen ist, aber schon noch getragen werden kann, wenn meine Mutter sie flickt. Ich glaubte, Sie seien reich – aber Ihre letzten Groschen will ich nicht nehmen.«
Dieses Mal sah es wirklich aus, als ob Mathilda ungemischte Freude an ihm erleben sollte.
Aber eines Tages klingelte es an ihrer Tür, und Nyemann stürzte herein mit dem Ausruf: »Sie sind mir wieder auf den Fersen!« – Er habe nicht gestohlen, nein! Sie wisse ja, daß er es nicht mehr tun wolle. Aber er habe versucht, einige Gold- und Silbersachen zu verkaufen, die ein paar Kameraden aus einem Juwelierladen geplündert hatten.
Die ganze Nacht hindurch war die Polizei seiner Spur gefolgt. Jetzt war er zum Umfallen müde und ganz ausgehungert, und er flehte Mathilda an, ihn doch eine Weile bei sich ausruhen zu lassen.
Mathilda war dem Weinen nahe. »Wie konnten Sie das nur tun, Nyemann – nach allem, was wir zusammen besprochen und ausgemacht haben? Ich will Sie gerne hier ausruhen lassen und Sie sollen sich auch satt essen, aber lange kann ich Sie nicht beherbergen. Wie, wenn die Polizei Sie hier bei mir sucht?«
»Aber dann sind Sie doch unschuldig«, versetzte er.
Sie telefonierte an ein Gasthaus in der Nähe und bestellte einen Teller Suppe und einen Teller belegte Brote.
Während Nyemann aß, erinnerte sie ihn daran, wie er in Kakola versprochen habe, ein braver Mensch zu werden und ein ganz neues Leben anzufangen, wenn er diesmal wieder aus dem Gefängnis herauskäme. Daran müsse er festhalten.
Als er satt war und ausgeruht hatte, sagte sie ihm Lebewohl. Kurz nachher hörte sie, daß er verkleidet, in einem Anzug seiner Schwester, nach Dänemark geflohen sei. Später erhielt sie aus Italien einen Brief von ihm, worin er versprach, ihr aus jedem Lande, in das er komme, Nachricht zu senden.
Dann schrieb er aus Kapstadt. Da lag er krank in einem Negerdorfe, nicht weit von der Stadt entfernt. Und dort sehnte er sich sehr nach seiner gläubigen Mutter und nach Mathilda Wrede. Jetzt war es, als sei sein Gewissen endlich im Ernst erwacht. Der Gedanke an alles, was er getrieben und getan hatte, lastete schwer aus ihm. Töne aufrichtiger Reue klangen aus diesem Briefe, der die Unterschrift trug: »Ihr unglücklicher, verlorener Sohn.«
Einen Gruß sandte er dann noch aus Australien, wo er sich gerade eine Farm kaufen wollte. Danach aber traf keine Nachricht mehr von ihm ein, und Mathilda hielt dies für ein Zeichen, daß Nyemann gestorben sein mußte, und hoffte, daß der Tod nun für ihn den Eingang in ein neues Leben bedeutet habe.
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Einer der freigelassenen Gefangenen hatte wieder zu stehlen angefangen.
Als Mathilda dies hörte, schickte sie nach ihm, und als er kam, sagte sie: »Lieber Freund, ich höre, daß Sie angefangen haben, sich allerlei Sachen anzueignen. Wenn das nur nicht damit endet, daß die Polizei Sie festnimmt – und ich Sie dann in Kakola wiederfinde.«
Ja, die Sachen seien nicht so ganz redlich erworben, das gab er zu. »Aber ich nehme sie gewiß nicht aus freiem Willen, o nein, sondern – ja, haben Sie noch nie von einer Krankheit gehört, – von der Kle – Klepo – –«
»Kleptomanie – leiden Sie vielleicht daran?« warf Mathilda ein.
»Ja, ganz recht, gerade daran leide ich.«
»Ach, Sie armer Mann, das ist ja sehr traurig! Sagen Sie mir, merken Sie es zum voraus, wenn die Krankheit im Begriff ist, über Sie zu kommen?«
»Allerdings, man hat vorher so eine Art Gefühl davon. So ungefähr eine Stunde vorher.«
»Nun gut – dann weiß ich einen Rat. Hören Sie nun! Sobald Sie merken, daß die Krankheit im Anmarsch ist, kommen Sie schnell zu mir! Wenn ich daheim bin, können Sie nehmen, was Sie wollen, und wenn ich ausgegangen bin, liegt der Stubentürschlüssel auf der dritten Stufe unter dem Treppenläufer. Meinen Schreibtisch dürfen Sie nicht anrühren; es handelt sich da nicht um Geld, sondern um Papiere, die nicht herausgenommen werden sollen. Aber aus dem Schrank und dem Sekretär dürfen Sie nehmen, was Sie nur wollen. Ich weiß ja, daß Sie es in Ihrem Krankheitszustand tun, und wenn Sie wieder gesund sind, bringen Sie mir alles wieder, aber andere Leute verstehen das nicht. Wollen wir also übereinkommen, daß Sie künftig nur bei mir stehlen?«
Der Mann stand verdutzt da, er bekam einen roten Kopf und wußte nicht recht, was er antworten sollte. Vielleicht fing er an, sich ein wenig zu schämen.
»Oder«, fuhr Mathilda fort, »wäre es nicht besser, Sie würden Gott bitten, Ihnen von der Krankheit zu helfen? Denn krank sind Sie allerdings, das ist sehr wahr – aber auf eine ganz andere Weise, als Sie mir weismachen wollen.«
Dann redete sie mit ihm – kluge, gute eindringliche und ernste Worte. Als er Mathilda verließ, war er sichtlich ergriffen. Und es war nicht nur eine vorübergehende Stimmung; nein, auch dieser Mann wurde eine ihrer Freuden – denn sie hörte später nichts Böses mehr von ihm.
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Einige Jahre später zog Mathilda Wrede aus ihrer düsteren Gasse in ein großes, sonniges Zimmer. Ihre Nächsten, die sich um ihre Gesundheit ängstigten, hatten es für sie gemietet. In diesem Zimmer befanden sich eine Menge Sachen, die Gefangene für sie angefertigt hatten.
Auf dem Schreibtisch stand ein Briefbeschwerer aus Metall. Er stellte einen Baumstamm vor, in dem eine Axt mit gebrochenem Stiel stak. »Wir Gefangenen sind dieser Baum, der durch die Axt gespalten wurde«, schrieb ihr der Mann, der ihr den Briefbeschwerer verehrte. »Fräulein Wrede ist mit dem Wort Gottes zu uns gekommen, das ist die Axt. Diese Axt ist in unsere Herzen eingedrungen, und der Hieb hat dem Eisen nichts geschadet. Aber der Stiel der Axt – ja, Fräulein Wrede ist dieser Stiel, und ihre Kraft ist unter der Arbeit zusammengebrochen!« – Das ist ja ein ungefüges und vielleicht ein etwas gesuchtes Bild, aber man merkt, daß echtes Gefühl aus ihm spricht.
Auf dem Kaminsims stand ein kleiner, geschliffener Feldstein. Den hatte ein Kakolagefangener, ein Steinschleifer, ihr geschenkt und sie gefragt, ob ihr diese Form für ihren Grabstein gefallen würde? »Denn dann werde ich tun, was ich kann, daß er genau so angefertigt wird«, sagte er.
Außerdem war da ein aus einem Knochen geschnitztes Papiermesser, ein aus einem zerbrochenen Besenstiel hergestellter Federhalter, mehrere Zeichnungen und verschiedene Nippgegenstände – lauter rührende, oft sehr hilflose Zeugnisse von der Hingebung der Gefangenen.
Kurz nachdem Mathilda in dieses bessere Zimmer gezogen war, wurde sie indes schwer krank, infolge einer Erkältung, die sie sich zugezogen hatte, als sie bei entsetzlichem Wetter einen jungen Gefangenen besuchte, der gerade an diesem Tage Geburtstag hatte.
Eines Nachts fuhr sie entsetzt auf und sah sich verwirrt um … Nein – sie war nicht mehr in ihrem Zimmer in Helsingfors – sie war auf dem Wege nach dem fernen, entsetzlichen Sibirien mit einem Gefangenentransport – wie der arme Koponen und die vielen andern … Jetzt wurde für die Nacht Rast gemacht – aber in der grauen, eisigen Morgendämmerung ging es wieder weiter, weiter, weiter …
Das waren keine Stühle und es waren nicht ihre Pflanzen, die da um sie her standen – nein, es waren Gefangene, Gefangene, Gefangene. – Aber wie – diese standen vor ihr, und sie, sie lag in einem weichen, warmen Bett! Wie war das nur möglich?
Ach, es war ja die gewöhnliche Ungerechtigkeit! Hier lag sie und hatte es gut – die andern aber mußten stehend Rast halten! Aber es war ja erst nachts zwei Uhr – die Uhr hatte soeben geschlagen – also waren es noch drei Stunden bis fünf Uhr, wo der Zug weitergehen sollte. Da konnten doch die Ärmsten noch abwechselnd in ihrem Bett ausruhen – sie mußte nur rasch aufstehen, damit sie sich hineinlegen konnten. –
Mathilda erwachte zu vollem Bewußtsein dadurch, daß sie entsetzlich fror – und fand sich auf dem Linoleum des Fußbodens ausgestreckt … Im Fieberwahn war sie aufgestanden, um den Gefangenen ihr Bett abzutreten – war vor dem Bett zusammengebrochen und ohnmächtig liegen geblieben. Die Folge davon war eine Lungenentzündung.
Professor I. W. Runeberg, der sie besuchte, ermahnte sie ernstlich, die streng vegetarische Kost, die er bei ihrem anstrengenden Leben nicht für kräftig genug hielt, aufzugeben. Aber wie gewöhnlich blieb Mathilda unerschütterlich aus dem bestehen, was sie für recht hielt.
»Nun ja«, sagte er schließlich kopfschüttelnd. »Sie sind eben ein wenig verrückt. Aber – solche Verrückte braucht die Welt allerdings. Und ich habe selbst recht viel für sie übrig.«
Eines Tages, als Mathilda noch sehr schwer krank war, klingelte es heftig an der Flurtür, und Mathilda hörte einen lauten Wortwechsel zwischen dem Dienstmädchen und einem Manne, der herein wollte und nun laut schimpfte, weil ihm der Eintritt verweigert wurde.
Mathilda rief das Mädchen herbei und fragte, was es gebe.
»Ach, ein gräßlicher Mann steht draußen und will mit Fräulein Wrede sprechen. »Betrunken ist er sicherlich auch.«
»Lassen Sie ihn hereinkommen – und warten Sie dann dort an der Tür!«
Der Mann, ein früherer Gefangener, jetzt Hafenarbeiter, blieb an der Tür stehen und starrte Mathilda an. »Ja, ich sehe wohl, daß Sie sehr krank sind«, sagte er dann. »Ja, sehr krank.«
»Warum haben Sie denn mein nettes Mädchen so grob behandelt?« fragte Mathilda.
»Ja, ich sehe es wohl«, wiederholte der Mann, ohne Mathildas Frage zu beachten. »Sehr krank – – mit Erlaubnis – wo wird man Sie begraben?«
Mathilda fühlte sich sehr krank und schwach – aber bei dieser Frage mußte sie fast lachen. Sie antwortete: »Das weiß ich selbst nicht recht. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Aber es wird wohl in unserer Familienkapelle in Anjala sein.«
»Ja, ja, das hab' ich mir wohl gedacht. Helin, einer von den andern, ist in Anjala gewesen und hat sich das rote steinerne Haus, in dem alle die Wrede liegen, angesehen. Aber es ist eine Sünde und Schande, wenn Sie auch dorthin gebracht werden sollen.«
»Warum denn? Wo wollten Sie mich denn am liebsten begraben haben?«
»Natürlich in Helsingfors – hier auf dem Kirchhof. Das ist das einzig richtige.«
»So, und warum?«
»Ja weil, ja sehen Sie, das wäre dann so ein schöner Ort, wohin wir andern am Sonntag gehen und dort so recht gemütlich sitzen könnten.«
»So recht gemütlich sitzen könnten«, wiederholte Mathilda mit einem leichten Blinzeln. »Nun, da bin ich doch ein wenig bedenklich. Denn – will das nicht heißen, daß ihr Flaschen mitbringen wollt?«
»Flaschen!« sagte der Mann feierlich mit einem beteuernden Augenaufschlag. »Nein, an dieses Grab würde nie und nimmer auch nur eine einzige Flasche mitgebracht werden!«
Und Mathilda, die wußte, daß ihre Gefangenen ihr gerne Rücksicht erweisen wollten, solange sie am Leben war, konnte sich nun darüber freuen, daß sie ihr auch solche Rücksicht nach dem Tode noch angedeihen lassen wollten.
Kurze Zeit nachher bekam sie auch wirklich einen Beweis davon, daß der Gedanke an sie größere Macht haben konnte, als die Flasche.
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Es ist ein sonnenheller, glühend heißer Augustnachmittag. Da kann einem der Hals schon trocken werden, und man kann sich wohl nach einem Labetrunk zur Abkühlung sehnen.
Dieser Meinung sind auch die beiden zerlumpten Männer, die sich aus dem grasbewachsenen Hügel, der zum Observatorium in Helsingfors hinaufführt, ausgestreckt haben.
Sie wollen das Bier aus der Flasche trinken – wie es sich gehört – aber es fällt ihnen schwer, die Korken herauszuziehen. Einesteils sind ihre Finger nicht so ganz sicher, andernteils haben sie keinen Korkzieher. Ist dieser verloren gegangen? Oder ist er versetzt worden gerade für die Flasche, deren Kork sie setzt eben mit einem langen, rostigen Nagel herausstochern wollen?
Je länger das dauert, desto größer wird der Durst, der ja ohnedies nicht mit einer oder zwei Flaschen – oder wieviele sie schon geleert haben mögen – gestillt wird, sondern jetzt seinen Höhepunkt erreicht hat, der herrisch Befriedigung verlangt.
Auf dem Hügelpfad taucht in diesem Augenblick eine dunkel gekleidete einzelne Frauengestalt auf.
Sie kommt langsam näher, wie jemand, der sich erschöpft und mutlos fühlt. Vielleicht ist sie beides. Vielleicht hat sie einen sehr anstrengenden Tag hinter sich – an dem sie nichts anderes als Enttäuschungen erlebt hat.
Es ist möglich, daß auch sie denkt, sie hätte einen Labetrunk recht nötig – das heißt, eine jener Freuden, die dem Mute Schwingen verleihen und die Kräfte erneuern.
Aber indem sie näher kommt und dabei einen hastigen Blick auf die beiden Männer wirft, wird ihr nur noch eine neue Enttäuschung zuteil – wie wenn sie nicht vorher schon schwer genug zu tragen gehabt hätte!
Ach, die beiden da am Hügelrain, die sich durch den Trunk zugrunde richten – die kennt sie, und was sie steht, verursacht ihr einen fast körperlichen Schmerz. Sie weiß ja, wohin das aller Wahrscheinlichkeit nach führen wird.
Soll sie stehen bleiben und mit ihnen reden? Nein – sie ist zu müde, – sie kann heute nicht mehr.
Aber indem sie vorübergeht, schaut sie die beiden an.
Da stößt der eine den andern in die Seite, und sie hört ihn sagen:
»Hast du die Augen gesehen – hu!«
»Jawohl«, versetzte der andere, »was wir hier Vorhaben – das ist nicht so recht nach ihrem Geschmack.«
Einen Augenblick schwiegen beide. Jetzt haben sie endlich den Kork aus der Flasche herausgebracht und sind im Begriff, den Inhalt in sich hinein zu gießen.
Aber dann ruft plötzlich der eine mit einer heiseren Stimme: »Fräulein! – Fräulein!«
Die weibliche Person bleibt stehen und wendet sich nach ihnen um.
Der Mann steht auf und hebt die Flasche hoch empor.
»Ein Hoch aus Mathilda Wrede!« ruft er überlaut. Zugleich wendet er die Bierflasche abwärts … Und der gelbe schäumende Trank sprudelt bis auf den letzten Tropfen über das Gras hin.
Es ist kein Königssaal, wo einer Königin mit perlendem Champagner gehuldigt wird. Aber sie, der diese Huldigung hier gilt, fühlt sich reicher, geehrter und stolzer als irgendeine Königin.
Mit ein paar hastigen Schritten ist sie wieder bei den beiden Männern. »Habt ihr es meinetwegen getan? Habt ihr wirklich meinetwegen den Trank ausgegossen, aus den ihr euch so gefreut hattet?« fragt sie.
»Jawohl«, sagt der eine von den beiden nachdrücklich. »Aber –« fährt er mit einem Kopfschütteln und einem seitlichen Blick nach dem Grase hin fort, »ich muß sagen, daß es doch eigentlich schade um all das gute Bier ist.«
Sie wendet ihm ihr strahlendes Gesicht zu und lacht.
»Nun will ich euch etwas sagen«, spricht sie nach einem Augenblick der Überlegung. »Ich habe heute einen strengen Tag gehabt, und ich war recht müde und abgespannt davon. Mir war, als müsse ich eine rechte Freude erleben, um wieder frisch zu werden. Und diese Freude habt ihr mir nun bereitet – eine größere und reichere, als ich mir denken konnte. Denn was ihr heute getan habt, ist vielleicht das Schönste in eurem ganzen Leben. Ihr habt euch selbst die Freude entzogen, um sie mir zu geben. – – Und nun müßt ihr mit mir kommen, dann trinken wir Kaffee miteinander.«
Die Männer sehen an sich herunter und murmeln etwas davon, daß sie nicht anständig genug angezogen seien, das Fräulein müßte sich ihrer ja schämen.
»O nein«, erwidert Mathilda, »Leute, die das tun konnten, was ihr heute getan habt, können mit jedermann gehen. Ihr seid vollkommen anständig genug, um mit mir Kaffee zu trinken.«
Dann geht sie mit ihnen nach einem kleinen Restaurant in der Nähe. –
Und wenn später wieder Augenblicke kommen, wo sie sich erschöpft und mutlos fühlt, dann wird sie wieder eine laute Stimme rufen hören: »Ein Hoch auf Mathilda Wrede!« und wird sehen, wie das Bier aus der nach abwärts gerichteten Flasche auf den Boden schäumt.
Das ist eine der Freuden, die viele Enttäuschungen aufwiegen, einer von den Augenblicken, wo sie zwischen Schutt und Geröll das Gold im Menschenherzen aufleuchten steht. Diesen Augenblick bewahrt sie sorgfältig auf, ihn hebt sie wie eine Siegestrophäe dem entgegen, der ihr die Gabe gegeben hat, in die verdunkelten Herzen den Weg zu finden und das Gold darin erklingen zu lassen.