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Shelley's Anmerkungen zur Königin Mab

I. S. 21.

Der helle Sonnenball
Schwamm durch die finstre Wölbung.

Jenseits unserer Atmosphäre würde die Sonne als ein strahlenloser Feuerball inmitten einer schwarzen Wölbung erscheinen. Die gleichartige Vertheilung ihres Lichts auf der Erde rührt daher, daß die Strahlen durch die Atmosphäre gebrochen und von anderen Körpern zurückgeworfen werden. Das Licht besteht entweder aus Schwingungen, welche sich durch ein subtiles Medium fortpflanzen, oder aus zahlreichen kleinen Theilchen, die der leuchtende Körper nach allen Richtungen hin abstößt. Seine Schnelligkeit übertrifft bei weitem die einer jeden uns bekannten Substanz; Beobachtungen, die man über die Verfinsterungen der Trabanten Jupiter's angestellt, haben gezeigt, daß das Licht nicht mehr als acht Minuten sieben Sekunden gebraucht, um von der Sonne nach der Erde zu gelangen, mithin eine Entfernung von 95,000,000 englischen Meilen zurückzulegen. Man kann sich von der ungeheuren Entfernung der Fixsterne einen Begriff machen, wenn man berechnet, daß viele Jahre vergehen würden, ehe das Licht des nächsten dieser Sterne die Erde erreichen könnte; und doch legt das Licht in einem Jahre einen Weg von 5,422,400,000,000 englischen Meilen zurück, – eine Entfernung, welche 5,707,600mal größer, als die der Sonne von der Erde, ist.

I. S. 21.

Indeß um das Gespann
Zahllose Welten kreisten.

Die Vielheit der Welten, die schrankenlose Unermeßlichkeit des Universums, ist ein Stoff zu den erhabensten Betrachtungen. Wer die geheimnißvolle Größe derselben recht empfindet, ist nicht in Gefahr, durch die Falschheit religiöser Systeme verführt zu werden, oder das Prinzip des Universums zu vergöttern. Es ist unmöglich zu glauben, daß der Geist, welcher dies unendliche Getriebe durchdringt, einen Sohn durch den Leib eines Judenweibs zeugte, oder sich über die Folgen einer Notwendigkeit erbost, welche synonym mit ihm selber ist. Die ganze jämmerliche Fabel vom Teufel, von Eva und von einem Mittler, nebst den kindischen Mummereien des Judengottes, ist unvereinbar mit der Sternkunde. Das Werk seiner Hände hat Zeugniß wider ihn abgelegt.

Der nächste der Fixsterne ist undenklich weit von der Erde entfernt, und wahrscheinlich ist die Entfernung der Fixsterne von einander verhältnißmäßig ebenso groß. Nach einer Berechnung der Schnelligkeit des Lichtes vermuthet man, daß der Sirius mindestens 54,224,000,000,000 englische Meilen von der Erde entfernt ist. Siehe Nicholson's Encyklopädie, Art. Light. Was uns nur wie eine dünne silberweiße Wolke erscheint, die sich streifenförmig über den Himmel zieht, besteht in Wirklichkeit aus zahllosen Haufen von Sonnen, deren jede von ihrem eigenen Licht erglänzt und eine Anzahl sie umkreisender Planeten erhellt. Millionen und aber Millionen Sonnen umschweben uns, alle von zahllosen Welten begleitet, dennoch aber ruhig, regelmäßig und harmonisch, alle den Bahnen unwandelbarer Nothwendigkeit folgend.

 

IV. S. 44.

Dies die gedungnen Bravos des Tyrannen,
Die Kron' und Scepter ihm vertheidigen.

Den Mord als ein Mittel der Gerechtigkeitspflege zu gebrauchen, ist ein Gedanke, bei welchem kein Mensch von aufgeklärtem Geiste gern verweilen wird. In Reih' und Glied zu marschiren, mit allem Prunk der Fahnen und Drommeten, um nach unsern Nebenmenschen, wie nach einer Scheibe, zu schießen; ihnen alle Arten von Wunden und Qualen zuzufügen; sie in ihrem Blute schwimmend zurückzulassen; über das Feld der Verheerung zu wandern und die Todten und Sterbenden zu zählen, – das sind Dinge, die wir theoretisch für nothwendig erklären mögen, auf die aber kein guter Mensch mit Befriedigung und Freude hinblicken wird. Wir nehmen an, eine Schlacht sei gewonnen: – dadurch ist die Wahrheit gesichert, dadurch die Sache der Gerechtigkeit bestätigt worden! Es bedarf wahrlich eines mehr als gewöhnlichen Scharfsinns, um den Zusammenhang zwischen dieser ungeheuren Summe von Unheil und der Behauptung der Wahrheit oder der Aufrechthaltung der Gerechtigkeit zu entdecken.

Könige und Staatsminister, die wirklichen Urheber des Unheils, sitzen unbelästigt in ihrem Kabinett, während Die, gegen welche die Wuth des Kriegssturmes losgelassen wird, meistens Leute sind, die man hinterlistig zum Dienste verlockt, oder wider ihren Willen aus ihren friedlichen Hütten auf das Schlachtfeld geschleppt hat. Ein Soldat ist ein Mann, dessen Geschäft es ist, Leute zu tödten, die ihm nie Etwas zu Leide gethan haben und die unschuldigen Märtyrer fremder Unbilden sind. Was auch immer aus der abstrakten Frage werde, ob der Krieg zu rechtfertigen sei: jedenfalls scheint es unmöglich, daß der Soldat etwas Anderes als ein verderbtes, unnatürliches Geschöpf sein kann.

Es mag geeignet sein, diesen ernstern und wichtigern Betrachtungen eine Erinnerung an die Lächerlichkeit des Militärwesens hinzuzufügen. Das Hauptelement desselben ist der Gehorsam; der Soldat ist von allen Menschenklassen am vollständigsten eine Maschine; dennoch lehrt sein Beruf ihn unvermeidlich eine gewisse Pedanterie, Prahlerei und Wichtigthuerei; er gleicht der Puppe eines Marionettentheaters, die, während man sie stolziren und sich spreizen und die possierlichsten Mienen annehmen läßt, doch, wie wir wissen, nicht die unbedeutendste selbständige Geberde machen, sich weder nach rechts noch nach links im mindesten anders bewegen kann, als wie sie vom Puppenkastenmanne gelenkt wird. – Godwin's Enquirer, Essay V.

Ich will hier ein kleines Gedicht einschalten, welches meinen Abscheu vor Despotismus und Lüge so kräftig ausdrückt, daß ich fürchte, denselben nie wieder so lebendig geschildert zu sehn. Diese Gelegenheit ist vielleicht die einzige, die sich mir jemals bieten wird, dasselbe vor der Vergessenheit zu bewahren.

Laster und Lüge.

Ein Gespräch.

Als Fürsten lachten auf den Thronen
Des Aechzens darbender Nationen,
Und an dem reichen Gut sich letzten,
Das Völkerblut und Thränen netzten, –
Den Thronen, auf Gebein erbaut,
Wo stier und bleich der Hunger schaut,
Wo Sklaverei die Geißel schwingt,
Geröthet von dem Blut der Brüder,
Wo in das Sterbewimmern klingt
Das Jauchzen toller Siegeslieder, –
Da standen ob dem Unglücksland
Einst Lüg' und Laster, Hand in Hand.

Die Lüge.

Auf, Schwester! vom leckeren Mahl empor,
Das Tausender Schweiß und Blut dir gebracht!
Ein bess'rer Schmaus für dein hungrig Ohr
Ist der Menschheit Jammer, den ich erdacht.

Das Laster.

Was thatst du, sprich! und was rühmst du dich
In eitlem Stolze, mir gleich zu sein?
Mir, deren Zug durch des Jahres Fluch
Verzweiflung folgte und Todespein!

Die Lüge.

Was ich gethan? Ich entriß das Gewand
Des Kindes »Wahrheit« nackter Gestalt,
Und trug durchs verödete Erdenland
Meines irreleitenden Banns Gewalt.
Es schlugen der Unschuld kühnen Muth
Meine Herrscher-Sklaven in Kerkerhaft,
Und stromweis fließt ihr befruchtend Blut
Aus der Wunde, die jäh aus der Brust ihr klafft
Und die mein sicherer Dolch ihr gab ...
Ich fürchte dies Blut nicht mehr – das Jetzt
Ist unser, ob ihr Strahl zuletzt
Auch scheint auf unser Grab.
Doch, stolzes Laster, hätt' ich das Gewand,
Das dem Himmel ich raubte mit frevler Hand,
Dir nicht verliehen, so täuschte nicht
Die Welt dein scheußliches Angesicht.

Das Laster.

Und hätt' ich gerastet thatenlos
In meiner widrigen Höhle Schooß,
Und den Himmelssöhnen niemals eben
Gold, Königthum und Mord gegeben,
So hättest du, Lüge, dein Spiel verloren,
Wie sehr du geprahlt auch und hoch dich verschworen,
Und jegliche List, gemein und verrucht,
Sammt all' deinen Künsten zu üben versucht.
Doch wozu streiten? – brüderlich
Nach Einem Ziel gehn du und ich;
Und drunten das Grab zu meinen Füßen
Wird unsre Hoffnung und Furcht umschließen.

Die Lüge.

Ich brachte der Erde die Religion,
Sie erschlug die Vernunft in der Wiege schon;
Doch sie scheute der Mutter strengen Blick, –
Das Krokodill wich schüchtern zurück,
Und sandt' ihre wilden Bluthunde hervor ...
Sie schreckten aus Träumen des Mords empor,
Und übten auf Erden ihr Werk der Wuth
Bei ihres giftigen Auges Gluth;
Es befleckte der Fackeln gräßlicher Duft,
Genährt von menschlichem Fett, die Luft!
Und Flüche, Wimmern und Wehgestöhn
Erschollen in klagendem, Schmerzgetön
Gen Himmel bei ihrem Erdengang,
Und kündeten meinen Siegsgesang.
Sprich, Schwester, was hast du gethan?

Das Laster.

Auslöscht' ich die Sonne auf meiner Bahn
In dem Blutbad-Dampf auf dem Schlachtenplan:
Mord, Hunger, Gewalt und Höllenschlich,
Sie letzten in jener Stunde sich,
Da des unerforschlichen Schicksals Macht
Mir seiner Gewißheit Kunde gebracht ...
Denn der prassende Schuft auf dem Throne dort
Befahl den blutigen Völkermord –
Er freute, gleich mir, sich der wilden Qual,
Die ein Stöhnen entlockte der Sterbenden Zahl;
Indeß die Schlangen, die ihn selbst befleckten,
In tückischer Lust die Zungen bleckten:
Sie wähnten, daß ihre, nicht mein die That,
Die Saat ist ihre, doch mein die Mahd,
Und Tausenden Tod und Verderben naht.
Sie träumen, daß Zwingherrn sie bethören,
Die Welt mit giftigem Krieg zu stören;
Doch auf dem Dornenpfühle sorgen
Die Zwingherrn nur um Mörderruhm,
Und sinnen vom Abend bis zum Morgen,
Zu feiern mich und mein Heldenthum.
Ich, ich thu' Alles! Hätt' ich geruht,
So hätte niemals dein Kind voll Wuth
Die giftige Geißel, von Hohn durchdrungen,
An einem Sterbelager geschwungen.

Die Lüge.

Gut, Schwester! unser ist die Welt;
Seist du, sei ich die Siegerin:
Ob Allem unterm Himmelszelt
Schwebt finster doch die Pest dahin.
Unsre Freuden, Mühn und Ehren einen
Sich in des Grabtuchs wurmigem Leinen: –
Ein kurzes Hoffen, rastloser Kummer,
Ein herzlos flüchtiges Stoßgebet,
Ein finstrer Fluch, ein Wahnsinnsschlummer,
Eh' der Schlund des Grabes geöffnet steht;
Was der Zwingherr träumt, was den Feigling schreckt,
Das Eis, das Priesterherzen deckt,
Des Höflings Lächeln, des Richters Dräun,
Sind das große Ziel, dem wir uns weihn;
Und wenig, Schwester, liegt daran,
Ob du, ob ich das Werk gethan;
Denn alle deine Müh' und Pein
Würd' ohne mich vergeblich sein;
Und nimmer säß' als Pförtnerin ich
Am Thor des Himmels ohne dich.

 

V. S. 47.

So steigen die Geschlechter dieser Erde
Ins Grab, und gehn aus ihrem Schooß hervor.

»Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt ewiglich. Die Sonne geht auf, und geht unter, und läuft an ihren Ort, daß sie daselbst wieder aufgehe. Der Wind geht gegen Mittag, und kommt herum zur Mitternacht, und wieder herum an den Ort, da er anfing. Alle Wasser laufen ins Meer, noch wird das Meer nicht voller; an den Ort, da sie herfließen, fließen sie wieder hin.«

Der Prediger Salomo, Kap. I, 4-7.

 

V. S. 47.

Dem Laube gleich,
Mit dem des Herbstes eisig scharfer Wind
Den Waldesgrund bestreut.

Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen;
Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann
Wieder der knospende Wald, wann neu auslebet der Frühling:
So der Menschen Geschlecht, dies wächst, und jenes verschwindet.

Ilias, VI, 146 ff.

 

V. S. 49.

Die Pöbelbrut der Bauern, Adligen,
Der Priester und der Könige.

Süß ist's, Anderer Noth bei tobendem Kampfe der Winde
Auf hochwogigem Meer vom fernen Ufer zu schauen;
Nicht als könnte man sich am Unfall Andrer ergötzen,
Sondern dieweil man sieht, von welcher Bedrängniß man frei ist.
Süß auch ist es, zu schaun die gewaltigen Kämpfe des Krieges
In der geordneten Schlacht, vor eignen Gefahren gesichert.
Aber süßer ist Nichts, als die wohlbefestigten heitern
Tempel inne zu haben, erbaut durch die Lehre der Weisen,
Wo du hinab kannst sehn auf Andere, wie sie im Irrthum
Schweifen, immer den Weg des Lebens suchen, und fehlen;
Streitend um Geist und Witz, um Ansehn, Würden und Adel;
Tag und Nacht arbeitend, mit unermüdetem Streben,
Sich zu dem Gipfel des Glücks, empor sich zu drängen zur Herrschaft.
O unseliger Geist, o blinde Herzen der Menschen!

Lucretius, Buch II, Vers 1 ff.

 

V. S. 50.

Und dennoch rühmt der Staatsmann
Des Völkerreichthums sich!

Es giebt keinen wahren Reichthum, außer der Arbeit des Menschen. Wären die Berge von Gold und die Thäler von Silber, so würde die Welt nicht um ein Getreidekorn reicher sein; nicht Ein Vortheil würde der Menschheit daraus erwachsen. In Folge des hohen Werthes, den wir den edlen Metallen beimessen, ist Ein Mensch im Stande, sich auf Kosten der Lebensbedürfnisse seines Nächsten mit Luxus zu umgeben; ein System, das wunderbar geeignet ist, all' die mannigfachen Arten von Krankheit und Verbrechen hervorzubringen, welche jederzeit die beiden Extreme von Reichthum und Armuth charakterisiren. Ein Spekulant ist stolz daraus, der Beförderer des Wohlstandes seiner Heimat zu sein, weil er eine Menge von Händen zur Bereitung von Gegenständen beschäftigt, die eingestandenermaßen keinen Nutzen haben oder nur den unheiligen Begierden des Luxus und der Prunksucht dienen. Der Edelmann, welcher die Bauern seiner Nachbarschaft verwendet, um ihm Paläste zu erbauen, bis » jam pauca aratro jugera regiae moles relinquent«, schmeichelt sich, den Titel eines Patrioten verdient zu haben, weil er den Trieben der Eitelkeit folgte. Der Prunk und Pomp der Höfe rechtfertigt seine Fortdauer mit denselben Vertheidigungsgründen; und manche Fête ward gegeben, manche Dame verdunkelte ihre Schönheit durch ihren Putz, um den armen Arbeiter zu unterstützen und den Handel zu befördern. Wer sieht nicht ein, daß Dies ein Heilmittel ist, welches die zahllosen Krankheiten der Gesellschaft nur verschlimmert, während es sie oberflächlich heilt? Die Armen werden veranlaßt, zu arbeiten, – wofür? Nicht für das Brot, nach dem sie hungern; nicht für die Decken, deren Mangel ihre Säuglinge in der Kälte ihrer elenden Hütten erfrieren läßt; nicht für jene Bequemlichkeiten der Civilisation, ohne welche der civilisirte Mensch weit elender als der niedrigste Wilde ist, da er von all' ihren tückischen Uebeln erdrückt wird, während man ihm täglich den verhöhnenden Anblick ihrer zahllosen Wohlthaten eifrigst vor Augen stellt; – nein, für den Hochmuth der Gewalt, für die elende Isolirung des Stolzes, für die falschen Freuden des hundertsten Theils der Gesellschaft. Es giebt keinen größern Beweis für die weitverbreiteten und tiefwurzelnden Fehlgriffe des civilisirten Menschen, als folgende Thatsache: – diejenigen Künste, die für sein wahres Sein wesentlich sind, werden am meisten verachtet; die Einträglichkeit der Beschäftigungen steht in umgekehrtem Verhältnisse zu ihrer Nützlichkeit Siehe Rousseau, De l'inégalité parmi les hommes, Anm. 7.; der Juwelier, der Galanteriewaarenhändler, der Schauspieler erwirbt Ruhm und Reichthum durch die Ausübung seiner unnützen und lächerlichen Kunst, während der Bebauer der Erde, ohne den die Gesellschaft aufhören muß zu bestehen, mit Verachtung und Armuth kämpft und durch den Hunger zu Grunde geht, der ohne seine unaufhörliche Anstrengung den übrigen Theil des Menschengeschlechts vernichten würde.

Ich will nicht den gesunden Menschenverstand dadurch beleidigen, daß ich auf der Lehre von der natürlichen Gleichheit der Menschen bestehe. Es handelt sich nicht darum, ob sie wünschenswerth, sondern ob sie ausführbar ist; so weit sie sich durchführen läßt, so weit ist sie wünschenswerth. Jener Zustand der menschlichen Gesellschaft, der sich einer gleichmäßigen Vertheilung ihrer Wohlthaten und Uebel am meisten nähert, sollte, ceteris paribus, vorgezogen werden; so lange wir aber wahrnehmen, daß eine muthwillige Vergeudung menschlicher Arbeit, nicht für die Lebensbedürfnisse, nicht einmal für den Luxus der Masse der Gesellschaft, sondern für den Egoismus und die Prunksucht einiger Wenigen ihrer Mitglieder, auf Grund öffentlicher Gerechtigkeit vertheidigt werden kann, so lange verabsäumen wir, uns der Erlösung des Menschengeschlechtes zu nähern.

Die Arbeit ist zum physischen, die Muße zum geistigen Fortschritte nöthig; von der ersteren sind die Reichen, von der letzteren die Armen durch die unvermeidlichen Bedingungen ihrer respektiven Lage ausgeschlossen. Ein Zustand, welcher die Vortheile beider vereinigte, wäre den Uebeln keiner von beiden unterworfen. Wem es an fester Gesundheit oder starker Geisteskraft fehlt, Der ist nur ein halber Mensch; daraus folgt, daß die arbeitenden Klassen zu unnöthiger Arbeit zwingen, sie jeder Gelegenheit zu geistiger Veredlung muthwillig berauben heißt, und daß die Reichen zu ihrem eigenen Unheil die Krankheit der Erschlaffung und Langeweile sich aufbürden, wodurch ihr Dasein zu einer unerträglichen Last wird.

Die englischen Reformer schreien gegen die Sinekuren, – aber die wahre Pensionsliste ist das Miethzinsbuch der Grundbesitzer; der Reichthum ist eine Macht, welche die Wenigen usurpirt haben, um die Vielen zu zwingen, für ihren Vortheil zu arbeiten. Die Gesetze, welche dies System stützen, schöpfen ihre Kraft aus der Unwissenheit und Leichtgläubigkeit ihrer Opfer; sie sind das Resultat einer Verschwörung der Wenigen gegen die Vielen, welche selber genöthigt sind, diese Bevorzugung durch den Verlust aller wahren Zufriedenheit zu erkaufen.

Die Bequemlichkeiten, welche wesentlich zur Erhaltung des Menschengeschlechts beitragen, lassen sich rasch aufzählen, sie beanspruchen nur einen geringen Theil unsres Gewerbfleißes. Würden nur diese, und zwar in ausreichender Menge, herbeigeschafft, so würde die Menschengattung fortbestehen. Würde die zu ihrer Herbeischaffung nöthige Arbeit gleichmäßig unter die Armen, oder, besser noch, gleichmäßig unter Alle vertheilt, so wäre der Antheil jedes Menschen an der Arbeit leicht, und sein Muße-Theil groß. Es gab eine Zeit, wo diese Muße einen verhältnißmäßig geringen Werth gehabt hätte; es steht zu hoffen, daß die Zeit kommt, wo sie zu den wichtigsten Zwecken verwandt werden wird. Diejenigen Stunden, welche nicht zur Erzeugung der Lebensbedürfnisse erforderlich sind, mögen der Ausbildung des Verstandes, der Bereicherung unsrer Kenntnisse, der Veredlung unseres Geschmacks gewidmet werden, und uns solchergestalt neue und gewähltere Quellen des Genusses eröffnen.

 

Vielleicht war es nothwendig, daß eine Periode der Bevorrechtung und Unterdrückung herrschte, bevor eine Periode gebildeter Gleichheit existiren konnte. Wilde wären vielleicht nie zur Entdeckung der Wahrheit und zur Kunsterfindung angeregt worden, außer durch die beschränkten Anlässe einer solchen Zeit. Aber nachdem der Zustand der uncivilisirten Wildheit aufgehört hat, und die Menschen die glorreiche Laufbahn der Entdeckung und Erfindung betreten haben, können sicherlich Vorrechte und Unterdrückung nicht mehr nothwendig sein, um sie vor dem Rückfall in einen Zustand der Barbarei zu bewahren. – Godwin's Enquirer, Essay II. Siehe auch Pol. Jus, Buch VIII, Kap. 11.

Dieser bewunderungswürdige Schriftsteller berechnet, daß alle Bedürfnisse des civilisirten Lebens erzeugt werden könnten, wenn die Gesellschaft die Arbeit gleichmäßig unter ihre Mitglieder vertheilte, und jeder Mensch täglich zwei Stunden in ihrem Dienst arbeitete.

 

V. S. 50.

Wenn sein Weib
Des Wahnsinns Raub durch Priestermärchen wird.

Ich kenne eine sehr gebildete Dame und Mutter einer zahlreichen Familie, welche durch die christliche Religion zu unheilbarem Wahnsinn geführt worden ist. Einen ähnlichen Fall hat, glaube ich, die Erfahrung jedes Arztes aufzuweisen.

Wurden am Vaterlande doch oft, an Freunden und Eltern,
Menschen Verräther, um nur zu entgehen des Acherons Schlünden!

Lucretius, Buch III, Vers 84.

 

V. S. 53.

Die Liebe selbst ist käuflich.

Nicht einmal der Verkehr der Geschlechter ist von dem Despotismus positiver Verordnungen befreit. Das Gesetz maßt sich sogar an, die unlenksamen Triebe der Leidenschaft zu beherrschen, den klarsten Schlußfolgerungen der Vernunft Fesseln anzulegen und, indem es an unsern Willen appellirt, die unwillkürlichen Neigungen unsrer Natur zu unterdrücken. Liebe ist eine unvermeidliche Folge der Wahrnehmung von Liebenswürdigkeit. Die Liebe welkt unter dem Zwang; ihr eigenthümliches Wesen ist Freiheit; sie verträgt sich weder mit Gehorsam, noch mit Eifersucht oder Furcht; sie ist dort am reinsten, vollkommensten und schrankenlosesten, wo ihre Jünger in Vertrauen, Gleichheit und offenherziger Hingebung leben.

Wie lange sollte denn die geschlechtliche Gemeinschaft währen? welches Gesetz hätte den Umfang der Leiden zu bestimmen, die ihre Dauer begrenzen sollten? Ein Ehemann und eine Ehefrau sollten so lange mit einander vereint bleiben, als sie einander lieben; jedes Gesetz, das sie zum Zusammenleben auch nur einen Augenblick nach dem Erlöschen ihrer Neigung verpflichtete, wäre eine unerträgliche Tyrannei, und höchst unwürdig zu ertragen. Als eine wie gehässige Bevormundung des Rechts individueller Urtheilsfreiheit würde man nicht dasjenige Gesetz betrachten, welches die Bande der Freundschaft unauflöslich machte, trotz der Launen, der Unbeständigkeit, der Fehlbarkeit und Vervollkommnungsfähigkeit des menschlichen Geistes? Und um so Viel würden die Fesseln der Liebe schwerer und unerträglicher als diejenigen der Freundschaft sein, als die Liebe heftiger und launenhafter, abhängiger von jenen zarten Besonderheiten der Einbildungskraft und unfähiger ist, sich mit den augenfälligen Vorzügen ihres Gegenstandes zu begnügen.

Der Zustand der Gesellschaft, in welchem wir uns befinden, ist ein Gemisch feudaler Wildheit und unvollkommener Civilisation. Die beschränkte und unaufgeklärte Moral der christlichen Religion verstärkt noch diese Uebel. Erst seit Kurzem hat die Menschheit eingeräumt, daß Glückseligkeit das alleinige Ziel der Ethik, wie aller andern Wissenschaften ist, und hat die fanatische Idee, das Fleisch aus Liebe zu Gott kreuzigen zu wollen, verworfen. Ich habe wirklich einen unwissenden Kollegiaten zu Gunsten des Christenthums dessen Feindschaft gegen jedes weltliche Gefühl anführen hören! Der erste christliche Kaiser gab ein Gesetz, wonach Verführung mit dem Tode bestraft ward; wenn das Frauenzimmer seine Einwilligung zugestand, wurde es gleichfalls mit dem Tode bestraft; suchten die Eltern die Schuldigen der Gerechtigkeit zu entziehen, so wurden sie verbannt und ihre Güter wurden konfiscirt; Sklaven, welche Helfershelfer gewesen, wurden lebendig verbrannt oder mußten geschmolzenes Blei trinken. Selbst der Sprößling einer ungesetzlichen Liebe mußte die Folgen des Urtheilsspruches mit erleiden. Gibbon's Decline and Fall etc., Bd. II, S. 210. – Siehe auch, in Betreff des Hasses der ersten Christen gegen die Liebe und selbst gegen die Ehe, S. 269.

Wenn aber Glückseligkeit das Ziel der Sittlichkeit, wie aller menschlichen Verbindungen und Trennungen ist; wenn der Werth jeder Handlung nach dem Grad angenehmer Empfindung geschätzt werden soll, den sie voraussichtlich hervorrufen wird, dann ist die Verbindung der Geschlechter so lange geheiligt, als sie zur Annehmlichkeit der Betheiligten beiträgt, und sie ist naturgemäß aufgelöst, sobald ihre Uebel größer als ihre Wohlthaten sind. Es liegt nichts Unsittliches in solcher Trennung. Die Treue hat an sich selbst nichts Tugendhaftes, das unabhängig von dem Vergnügen wäre, welches sie erzeugt, und sie nimmt Theil an dem sich in die Umstände schickenden Geiste des Lasters, je nachdem sie große moralische Fehler an dem Gegenstande ihrer unvorsichtigen Wahl gefügig erträgt. Die Liebe ist frei; das Versprechen abzugeben, ewig dasselbe Weib lieben zu wollen, ist nicht minder thöricht, als zu geloben, ewig demselben Glauben anhangen zu wollen; solch ein Gelübde schließt in beiden Fällen jede Untersuchung aus. Die Sprache des Gelobenden ist folgende: »Das Weib, welches ich jetzt liebe, mag unendlich tief unter vielen anderen stehen; der Glaube, den ich jetzt bekenne, mag ein Konglomerat von Irrthümern und Albernheiten sein; aber ich schließe mich gegen jede zukünftige Belehrung ab, sowohl in Betreff der Liebenswürdigkeit der Einen, wie in Betreff der Wahrheit des andern, fest entschlossen, ihnen blindlings und trotz meiner etwaigen Ueberzeugung anzuhangen.« – Ist das die Sprache des Zartgefühls und der Vernunft? Ist die Liebe eines so kalten Herzens mehr werth, als sein Glaube?

Das gegenwärtige Zwangssystem hat in den meisten Fällen nur die Wirkung, Heuchler oder offene Feinde zu schaffen. Leute von Zartgefühl und Tugend, die unglücklicherweise Jemandem verbunden sind, den sie unmöglich lieben können, verbringen die schönste Zeit ihres Lebens mit unfruchtbaren Bemühungen, anders zu erscheinen, als sie sind, um die Gefühle ihres Lebensgefährten oder die Wohlfahrt ihrer Kinder zu schonen; die minder Großmüthigen und Feinfühlenden gestehen offen ihre Enttäuschung, und verleben den Rest jener Verbindung, die nur der Tod lösen kann, in einem Zustand unheilbarer Zänkerei und Feindschaft. Die Erziehung ihrer Kinder erhält von frühester Zeit an ihre Färbung von dem Hader der Eltern; sie werden in einer systematischen Schule der Verstimmung, Gewaltthätigkeit und Lüge auferzogen. Hätte man diesen Leuten erlaubt, sich in dem Augenblick von einander zu trennen, wo Gleichgültigkeit ihnen ihre Verbindung zur Last machte, so würden ihnen viele Jahre des Elends erspart worden sein; sie hätten eine passendere Verbindung geschlossen und in der Gesellschaft gleichgestimmter Lebensgefährten jenes Glück gefunden, das ihnen durch den Despotismus der Ehe für immer versagt ist. Von einander getrennt, würden sie nützliche und glückliche Mitglieder der Gesellschaft gewesen sein, während sie durch ihre Verbindung mit einander elend waren, und das Elend sie zu Menschenhassern machte. Die Ueberzeugung, daß die Ehe unauflöslich ist, führt die Schlechten aufs stärkste in Versuchung; sie geben sich rücksichtslos der Bitterkeit und allen kleinen Tyranneien des häuslichen Lebens hin, da sie wissen, daß ihr Opfer an Niemand appelliren kann. Würde diese Verbindung auf eine vernünftige Grundlage gebracht, so wüßte Jeder, daß eine zur Gewohnheit gewordene üble Laune mit gegenseitiger Trennung enden müßte, und würde daher diesen lasterhaften und gefährlichen Hang bezähmen.

Prostitution ist das rechtmäßige Kind der Ehe und der Irrthümer, die in ihrem Gefolge sind. Weibliche Wesen werden für kein anderes Verbrechen, als weil sie den Geboten eines natürlichen Gelüstes gehorchten, mit Wuth von den Annehmlichkeiten und Sympathien der Gesellschaft ausgeschlossen. Solch ein Verbrechen ist minder verzeihlich, als Mord; und die Strafe, welche über Diejenige verhängt wird, die, um Vorwürfen zu entgehen, ihr Kind tödtet, ist leichter, als das Leben voll Todesqual und Krankheit, zu welchem die Prostituirte unwiderruflich verurtheilt ist. Hat ein Weib dem Triebe der nie irrenden Natur gehorcht, so erklärt die Gesellschaft ihr den Krieg, erbarmungslosen und ewigen Krieg; sie muß der gefügige Sklave sein, sie darf keine Repressalien ergreifen; der Gesellschaft steht das Recht der Verfolgung zu, Jener die Pflicht, zu dulden. Sie lebt ein Leben der Schande; das laute und bittere Hohngelächter verwehrt ihr jede Umkehr. Sie stirbt an langer und langsamer Krankheit; aber sie hat gefehlt, sie ist die Verbrecherin, sie das störrige und unlenksame Kind, – und die Gesellschaft die reine und tugendhafte Matrone, welche sie wie eine Fehlgeburt von ihrem unbefleckten Busen fortschleudert! Die Gesellschaft rächt sich an den Verbrechern, die sie selbst erschafft; man heißt sie heute dem Laster fluchen, das sie gestern aufs eifrigste zu lehren bemüht war. So wird ein Zehntel der Bevölkerung Londons gebildet; inzwischen ist das Uebel zwiefach. Junge Männer, welche durch eine fanatische Keuschheitsidee von dem Umgange mit züchtigen und gebildeten Frauenzimmern ausgeschlossen werden, lassen sich mit jenen lasterhaften und elenden Geschöpfen ein, wodurch sie alle hohen und zarten Gefühle, deren Dasein kaltherzige Weltmenschen geleugnet haben, zerstören, jede wahre Leidenschaft vernichten, und Das, was der höchste Grad von Großmuth und Hingebung ist, zu einem selbstsüchtigen Gefühl erniedern. Ihr Körper und ihr Geist verwittern beide zu einer scheußlichen Ruine des Menschenthums; Stumpfsinn und Krankheit werden in ihrer elenden Nachkommenschaft fortgepflanzt, und späte Geschlechter leiden für die bigotte Moral ihrer Vorfahren. Die Keuschheit ist ein mönchischer und evangelischer Aberglaube, ja selbst ein größerer Feind der natürlichen Mäßigung, als die geistlose Sinnlichkeit; sie nagt an der Wurzel alles häuslichen Glücks, und verdammt mehr als die Hälfte des Menschengeschlechts zum Elend, damit einige Wenige sich eines gesetzlichen Monopols erfreuen können. Es hätte sich nicht wohl ein System ersinnen lassen, das dem menschlichen Glücke mit raffinirterer Feindseligkeit entgegenträte, als die Ehe.

Ich glaube mit Bestimmtheit, daß aus der Abschaffung der Ehe das richtige und naturgemäße Verhältniß des geschlechtlichen Verkehrs hervorgehen würde. Ich sage keineswegs, daß dieser Verkehr ein häufig wechselnder sein würde; es scheint sich im Gegentheil aus dem Verhältniß der Eltern zum Kinde zu ergeben, daß eine solche Verbindung in der Regel von langer Dauer sein und sich vor allen andern durch Großmuth und Hingebung auszeichnen würde. Aber vielleicht ist es noch zu früh, diesen Gegenstand zu besprechen. Was immer aus der Abschaffung der Ehe entspringen mag, wird naturgemäß und recht sein, weil Wahl und Wechsel vom Zwange befreit sein werden.

In der That bilden Religion und Moral, wie sie gegenwärtig beschaffen sind, ein praktisches Gesetzbuch des Elends und der Knechtschaft; der Genius des menschlichen Glückes muß jedes Blatt aus dem verruchten Gottesbuche reißen, bevor der Mensch die Schrift in seinem Herzen lesen kann. Wie würde die in steifer Schnürbrust und Flitterprunk aufgeputzte Moral vor ihrem eignen widerwärtigen Bilde erschrecken, wenn sie in den Spiegel der Natur blickte!

 

VI. S. 56.

Zur düsterrothen Sonne,
Die dort unheimlich glimmt.

Der nördliche Polarstern, auf welchen die Erdachse in ihrer gegenwärtigen schiefen Stellung hinzeigt. Es ist, auf Grund vieler Beobachtungen, höchst wahrscheinlich, daß diese schiefe Stellung allmählich abnehmen wird, bis der Aequator mit der Sonnenbahn übereinstimmt; die Nächte und Tage werden dann auf der Erde das ganze Jahr hindurch gleich werden, und vermuthlich auch die Jahreszeiten. Es liegt keine große Ungereimtheit in der Annahme, daß der Fortschritt der Perpendikularität der Pole ebenso schnell wie der Fortschritt der Geistesbildung sein, oder daß eine völlige Uebereinstimmung zwischen der moralischen und physischen Vervollkommnung des Menschengeschlechts stattfinden werde. Es ist gewiß, daß Weisheit nicht mit Krankheit vereinbar ist, und daß bei dem gegenwärtigen Zustande der Erdklimen Gesundheit, im wahren und umfassenden Sinne des Wortes, nicht im Bereich des civilisirten Menschen liegt. Die Astronomie lehrt uns, daß die Erde jetzt in ihrem Fortschritt begriffen ist, und daß die Pole mit jedem Jahr eine senkrechtere Stellung zur Sonnenbahn annehmen. Der klare Beweis, den die Geschichte der Mythologie und geologische Untersuchungen liefern, daß ein Ereigniß dieser Art schon eingetreten ist, läßt stark vermuthen, daß dieser Fortschritt nicht blos eine Schwingung sei, wie von einigen neueren Astronomen angedeutet worden ist. Laplace, Système du Monde. Knochen von Thieren, welche der heißen Zone angehören, sind im Norden Sibiriens und an den Ufern des Ohio gefunden worden. Im Innern Deutschlands hat man versteinerte Pflanzen gefunden, welche gegenwärtig das Klima Hindostans zu ihrem Gedeihen erfordern. Cabanis, Rapports du Physique et du Moral de l'Homme, Bd. II, S. 406. Die Untersuchungen Bailly's Bailly, Lettres sur les Sceiences, à Voltaire. erweisen die Existenz eines Volkes, das einen Landstrich in der Tartarei unterm 49. Grad nördlicher Breite bewohnte, das älter war, als die Inder, die Chinesen oder die Chaldäer, und von welchem diese Völker ihre Wissenschaften und ihre Theologie ableiteten. Wir ersehen aus dem Zeugniß alter Schriftsteller, daß Britannien, Deutschland und Frankreich weit kälter waren, als jetzt, und daß ihre großen Ströme alljährlich zufroren. Die Astronomie lehrt uns gleichfalls, daß seit jener Zeit die schiefe Stellung der Erde sich beträchtlich vermindert hat.

 

VI. S. 60.

So daß
Nicht Ein Atom in diesem wilden Aufruhr
Ein unbestimmt gesetzlos Werk erfüllt,
Noch anders handelt, als es handeln muß.

Zwei Beispiele werden uns das hier aufgestellte Prinzip noch mehr verdeutlichen; wir entnehmen das eine der physischen, das andere der geistigen Welt. In einer Staubwolke, die ein heftiger Wind erregt und die unsern Augen als ein unordentliches Gewirr erscheinen mag; in dem schrecklichsten Sturme, den entgegengesetzte Winde, die Wellen aufwühlend, erzeugen mögen, ist kein Theilchen Staub oder Wasser, das durch Zufall hier- oder dorthin getrieben würde, das nicht genügenden Grund hätte, die Stelle, wo es sich befindet, einzunehmen, und das nicht streng in der Weise handelte, wie es handeln muß. Ein Meßkundiger, der genau die verschiedenen Kräfte, welche in diesen beiden Fällen wirken, und die Eigenschaften der in Bewegung gesetzten Theilchen kennte, würde nachweisen, daß, den gegebenen Ursachen entsprechend, jedes Theilchen genau so handelt, wie es handeln muß, und gar nicht anders handeln kann, als es handelt.

Bei den furchtbaren Convulsionen, welche zuweilen die staatlichen Gesellschaften aufregen und oftmals den Umsturz eines Reiches herbeiführen, giebt es keine einzige Triebkraft, kein einziges Wort, keinen einzigen Gedanken, keinen einzigen Willen, keine einzige Leidenschaft der handelnden Personen, welche bei der Revolution als Zerstörer oder als Opfer mitwirken, die nicht nothwendig wären, die nicht handelten, wie sie handeln müssen, die nicht untrüglich die Wirkung hervorbringen, welche sie nach der Stellung hervorbringen müssen, die sie in diesem geistigen Wirbelwinde behaupten. Dies würde einem Geiste völlig klar erscheinen, der alle Wirkungen und Rückwirkungen der Gemüther und Leibesbeschaffenheit Derer, die an dieser Revolution theilnehmen, zu erfassen und abzuschätzen vermöchte. – Système de la Nature, Bd. I, S. 44.

 

VI. S. 61.

Nothwendigkeit, des Weltalls Mutter du!

Wer die Lehre von der Nothwendigkeit ausstellt, meint damit, daß, wenn er die Ereignisse betrachtet, welche die geistige und materielle Welt ausmachen, er nur eine ungeheure und ununterbrochene Kette von Ursachen und Wirkungen sieht, von denen keine eine andere Stelle, als sie einnimmt, einnehmen, oder auf einer andern Stelle wirken könnte, als wo sie wirkt. Die Idee der Nothwendigkeit geht aus unsrer Erfahrung über den Zusammenhang der Dinge, über die Gleichmäßigkeit des Wirkens der Natur, über die stete Verbindung ähnlicher Ereignisse und über die folgerechte Entwicklung des Einen aus dem Andern hervor. Die Menschen sind sich daher einig in dem Zugestehen der Nothwendigkeit, wenn sie einräumen, daß diese beiden Umstände beim willkürlichen Handeln eintreten. Der Beweggrund ist für die willkürliche Handlung des menschlichen Geistes, was in der materiellen Welt die Ursache für die Wirkung ist. Das Wort »Freiheit« ist, auf den Geist angewandt, dem Worte »Zufall«, auf die Materie angewandt, analog; sie entspringen aus einer Unkenntniß der Gewißheit des Zusammenhangs zwischen dem Vorausgegangenen und dem daraus Erfolgenden.

Jedes menschliche Wesen wird unwiderstehlich getrieben, gerade so zu handeln, wie es handelt; in der Ewigkeit, welche seiner Geburt voranging, ward eine Kette von Ursachen geschaffen, die, als Beweggründe wirkend, es unmöglich machen, daß irgend ein Gedanke seines Geistes oder irgend eine Handlung seines Lebens anders sein könnten, als sie sind. Wäre die Lehre von der Nothwendigkeit falsch, so würde der menschliche Geist nicht länger ein berechtigter Gegenstand der Wissenschaft sein; es wäre nutzlos, wollten wir aus gleichen Ursachen gleiche Wirkungen erwarten; der stärkste Beweggrund würde nicht mehr die Handlungsweise bestimmen; alles Wissen wäre trüglich und unbestimmt; wir könnten nicht mit der mindesten Gewißheit voraussagen, daß wir Dem, von welchem wir heute Abend in Freundschaft geschieden sind, nicht morgen als einem Feinde begegnen würden; die wahrscheinlichsten Anlässe und die klarsten Vernunftgründe würden ihren unveränderlichen Einfluß verlieren. Das Gegentheil hievon ist erweislich der Fall. Aehnliche Umstände bringen dieselbe unabänderliche Wirkung hervor. Wenn der Charakter und die Beweggründe eines Menschen bei einer gewissen Gelegenheit genau feststehen, so könnte der Moralphilosoph seine Handlungen mit ebenso großer Gewißheit voraussagen, wie der Naturforscher die Wirkungen der Mischung bestimmter chemischer Substanzen. Weshalb ist der bejahrte Landwirth erfahrener, als der junge Anfänger? Weil eine gleichförmige, unleugbare Nothwendigkeit in der Wirkungsart der materiellen Welt liegt. Weshalb ist der alte Staatsmann geschickter, als der Neuling in der Politik? Weil er, sich auf den nothwendigen Zusammenhang zwischen Beweggrund und Handlung stützend, geistige Wirkungen durch Anwendung derjenigen geistigen Ursachen hervorzubringen sucht, welche die Erfahrung als wirksam erwiesen hat. Es mag einige Handlungen geben, denen wir keine Beweggründe beifügen können, allein diese sind Wirkungen von Ursachen, mit denen wir unbekannt sind. Daher ist die Beziehung, welche der Beweggrund zur willkürlichen Handlung hat, diejenige der Ursache zur Wirkung; und von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet ist sie auch weder jetzt, noch war sie jemals der Gegenstand populären oder philosophischen Streites. Niemand, außer den wenigen Fanatikern, die sich der herkulischen Arbeit unterziehen, die Gerechtigkeit ihres Gottes mit dem Elend der Menschen in Einklang zu bringen, wird fürder den gesunden Menschenverstand durch die Annahme eines ursachlosen Ereignisses, einer willkürlichen Handlung ohne Beweggrund beleidigen. Geschichte, Politik, Moral, Kritik, alle Vernunftgründe, alle Principien der Wissenschaft nehmen gleicherweise die Wahrheit der Lehre von der Nothwendigkeit an. Kein Bauer, der sein Korn zu Markte bringt, zweifelt daran, daß er dasselbe zum Marktpreise verkaufen wird. Der Fabrikherr bezweifelt ebenso wenig, daß er die für seine Zwecke erforderliche menschliche Arbeit erkaufen kann, als er bezweifelt, daß seine Maschinen wirken werden, wie sie zu wirken gewohnt sind.

Aber während Niemand Bedenken getragen hat, die Nothwendigkeit als die Materie beeinflussend zuzugeben, haben Viele ihre Herrschaft über den Geist bestritten. Abgesehen davon, daß sie den herkömmlichen Vorstellungen von der Gerechtigkeit Gottes widerspricht, leuchtet sie einer oberflächlichen Untersuchung keinesweges ein. Wenn der Geist seine eigene Thätigkeit betrachtet, so empfindet er keinen Zusammenhang von Beweggrund und Handlung; da wir aber »von der Ursächlichkeit nur die beständige Verbindung der Dinge mit einander und die folgerechte Entwickelung des Einen aus dem Andern wissen; da wir finden, daß diese beiden Umstände, wie allgemein zugestanden wird, bei der willkürlichen Handlung sich geltend machen, so werden wir leicht dahin geführt, einzuräumen, daß sie auch der allen Ursachen gemeinsamen Nothwendigkeit unterworfen sind«. Die Handlungen des Willens stehen in regelrechter Beziehung zu Verhältnissen und Charakteren; der Beweggrund ist für die willkürliche Handlung, was die Ursache für die Wirkung ist. Aber die einzige Vorstellung, welche wir uns von der Ursächlichkeit machen können, ist ein beständiger Zusammenhang ähnlicher Dinge, und die folgerechte Entwicklung des Einen aus dem Andern; wo Dies der Fall ist, da ist die Nothwendigkeit deutlich ans Licht gestellt.

Die Idee der Freiheit, welche man bildlich auf den Willen anwendet, ist aus einem Mißverstehen der Bedeutung entstanden, die das Wort »Macht« hat. Was ist Macht? – id quod potest, Das, was eine bestimmte Wirkung hervorbringen kann. Die Macht leugnen, heißt sagen, daß Nichts die Macht, zu sein oder zu handeln, haben kann, oder hat. Im allein wahren Sinne des Wortes »Macht« läßt sich dasselbe mit gleichem Rechte auf den Magnetstein wie auf den menschlichen Willen anwenden. »Glaubst du, daß die Beweggründe, die ich geltend machen werde, mächtig genug sind, ihn aufzurütteln?« ist eine ebenso gewöhnliche Frage, wie: »Glaubst du, daß dieser Hebel die Macht hat, dies Gewicht aufzuheben?« Die Vertheidiger des freien Willens behaupten, daß der Wille die Macht habe, den bestimmenden Einfluß des stärksten Beweggrundes zurückzuweisen; aber der stärkste Beweggrund ist derjenige, welcher, alle andern besiegend, zuletzt zur Herrschaft gelangt; jene Behauptung kommt also einer Ableugnung der Thatsache gleich, daß der Wille zuletzt durch dasjenige Motiv bestimmt wird, welches ihn bestimmt, – was doch absurd ist. Aber es ist ebenso gewiß, daß der Mensch dem stärksten Beweggrunde nicht widerstehen kann, wie es gewiß ist, daß er sich über eine physische Unmöglichkeit nicht hinwegzusetzen vermag.

Die Lehre von der Nothwendigkeit hat die Tendenz, eine große Veränderung in den herrschenden Moralbegriffen herbeizuführen und die Religion gänzlich zu zerstören. Lohn und Strafe müssen von dem Anhänger der Nothwendigkeitslehre nur als Beweggründe angesehn werden, deren er sich bedienen würde, um das Einschlagen oder Aufgeben einer bestimmten Handlungsweise zu veranlassen. Verdienst, in der jetzigen Bedeutung des Worts, würde keinen Sinn mehr haben; und wer einem Andern aus keinem besseren Grund, als weil er es verdiene, Schmerz zufügte, würde unter dem Vorwand, der Gerechtigkeit zu genügen, nur seine Rachlust befriedigen. Es ist nicht genug, sagt der Vertheidiger des freien Willens, daß der Verbrecher an einer Wiederholung seines Verbrechens gehindert werde; er muß Schmerz erleiden, und seine Qualen müssen, wenn sie gerecht zugetheilt sind, genau im Verhältniß zu seinem Vergehen stehn. Aber die Nützlichkeit ist Sittlichkeit; was unfähig ist, Glück hervorzubringen, ist unnütz; und obschon man das Verbrechen Damiens' verdammen muß, läßt sich doch nicht annehmen, daß die furchtbaren Qualen, welche die Rachsucht im Namen der Gerechtigkeit über diesen unglücklichen Mann verhängte, selbst bei ihrer langen Dauer, die Gesammtmasse erfreulicher Empfindungen in der Welt vermehrt haben. Gleichzeitig verringert die Lehre von der Nothwendigkeit nicht im mindesten unsere Mißbilligung des Lasters. Die von Allen gehegte Ueberzeugung, daß die Viper ein giftiges Thier sei, und daß der Tiger durch die unvermeidliche Bedingung seiner Existenz gezwungen werde, Menschen zu fressen, veranlaßt uns nicht, dieselben minder sorgfältig zu vermeiden oder auch nur anzustehen, sie zu vernichten; aber Der wäre gewiß hartherzig, welcher eine Schlange, die er auf einer wüsten Insel oder in einer Lage träfe, wo sie unfähig wäre zu schaden, muthwillig ihres Lebens berauben würde. Ein Anhänger der Nothwendigkeitslehre handelt wider seine eignen Grundsätze, wenn er sich dem Hasse oder der Verachtung hingiebt; zu dem Mitleid, das er mit dem Verbrecher empfindet, gesellt sich nicht der Wunsch, ihm Böses zuzufügen; er blickt mit erhabener und furchtloser Ruhe auf die Glieder der allgemeinen Kette, wie sie seinen Augen vorübergleiten, während Feigheit, Neugierde und Wankelmuth ihn nur im Verhältniß zu der Schwäche und Unbestimmtheit befallen, mit denen er die Täuschungen des freien Willens erkannt und verworfen hat.

Religion ist das Empfinden des Verhältnisses, in dem wir zum Prinzip des Weltalls stehen. Aber wenn das Prinzip des Weltalls kein organisches Wesen, kein Vorbild und Prototyp des Menschen ist, so ist ein Verhältniß zwischen ihm und menschlichen Wesen absolut nicht vorhanden. Ohne einige Kenntniß seines Willens in Betreff unsrer Handlungen ist Religion ein kindisches und eitles Ding. Aber der Wille ist nur ein Modus des thierischen Geistes; sittliche Eigenschaften kann gleichfalls nur ein menschliches Wesen besitzen; sie dem Prinzip des Weltalls zuschreiben, heißt ihm Eigenschaften beilegen, die mit jeder möglichen Definition seines Wesens unvereinbar sind. Es ist wahrscheinlich, daß das Wort »Gott« ursprünglich nur ein Ausdruck war, der die unbekannte Ursache der bekannten Ereignisse bezeichnete, welche die Menschen im Weltall wahrnahmen. Durch die gewöhnliche Verwechselung einer Metapher mit einem wirklichen Wesen, eines Wortes mit einer Sache, ward ein Mensch daraus, mit menschlichen Eigenschaften begabt und das Weltall lenkend, wie ein irdischer König sein Reich regiert. Die Anreden an dies imaginäre Wesen klingen in der That ähnlich, wie die Anreden der Unterthanen an einen König. Man erkennt sein Wohlwollen an, beschwört ihn, seinen Groll einzustellen, und fleht um seine Gunst.

Allein die Lehre von der Nothwendigkeit zeigt uns, daß in keinem Fall irgend ein Ereigniß anders hätte eintreten können, als es eintrat, und daß Gott, wenn er der Urheber des Guten ist, auch der Urheber des Bösen ist; daß, wenn er für das Eine unsern Dank, er für das Andere unsern Haß verdient; daß, wenn die Existenz dieses hypothetischen Wesens eingeräumt wird, dasselbe auch der Herrschaft einer unwandelbaren Nothwendigkeit unterworfen ist. Es ist klar, daß dieselben Argumente, welche beweisen, daß Gott der Urheber von Nahrung, Licht und Leben sei, ihn gleichfalls als Urheber von Gift, Finsterniß und Tod beweisen. Das verheerende Erdbeben, der Sturm, die Schlacht und die Tyrannei können diesem hypothetischen Wesen in demselben Maße beigelegt werden, wie die schönsten Gestaltungen der Natur, Sonnenschein, Freiheit und Frieden.

Aber die Nothwendigkeitslehre sagt uns, daß es im Weltall weder Gutes noch Böses giebt, außer insofern die Ereignisse, auf welche wir diese Beiwörter anwenden, auf unsere besondere Art, zu sein, Bezug haben. Noch minder, als mit der Voraussetzung eines Gottes, wird die Nothwendigkeitslehre mit dem Glauben an einen künftigen Zustand der Bestrafung harmoniren. Gott erschuf den Menschen so, wie er ist, und dann verdammte er ihn, weil er so ist; denn zu sagen, daß Gott der Urheber alles Guten und der Mensch der Urheber alles Bösen sei, heißt sagen, daß Ein Mensch eine grade und eine krumme Linie, und ein anderer Mensch die Inkongruenz derselben gemacht habe.

In einer mohammedanischen Geschichte, die gut hieher paßt, werden Adam und Moses eingeführt, wie sie vor Gott folgendermaßen streiten. »Du«, sagt Moses, »bist Adam, den Gott erschuf, und mit dem Odem des Lebens beseelte, und von den Engeln anbeten ließ, und ins Paradies setzte, aus welchem die Menschen um deines Vergehens willen vertrieben worden sind.« Worauf Adam antwortete: »Du bist Moses, den Gott zu seinem Apostel erwählte, und dem er sein Wort anvertraute, indem er dir die Gesetzestafeln gab, und dem er gestattete, mit ihm zu reden. Wie viele Jahre, findest du, war das Gesetz geschrieben, bevor ich erschaffen ward?« – »Vierzig«, sprach Moses. – »Und findest du nicht«, entgegnete Adam, »die Worte darin: Und Adam lehnete sich auf wider seinen Herrn und sündigte?« – Als Moses Dies zugestand, fuhr Adam fort: »Tadelst du mich also, Das gethan zu haben, wovon Gott vierzig Jahre vor meiner Erschaffung schrieb, daß ich es thun werde, – ja, was fünfzigtausend Jahre vor Erschaffung des Himmels und der Erde in Betreff meiner beschlossen ward?« – Sale's Einleitung zum Koran, S. 164.

 

VII. S. 63.

Es ist kein Gott!

Diese Verneinung ist lediglich in Betreff einer schaffenden Gottheit zu verstehen. Die Hypothese eines das Weltall durchdringenden und gleich ihm ewigen Geistes bleibt unangetastet.

Eine strenge Prüfung des Werthes der Beweise, die zur Unterstützung irgend einer Behauptung angeführt werden, ist der einzig sichere Weg, zur Wahrheit zu gelangen, über deren Nutzen wir nicht weitläuftig zu reden brauchen. Unsere Kenntniß von der Existenz einer Gottheit ist ein so wichtiger Gegenstand, daß er nicht sorgfältig genug untersucht werden kann; in Folge dieser Ueberzeugung schreiten wir dazu, kurz und unparteiisch die Beweise, welche aufgestellt worden sind, zu prüfen. Es ist nothwendig, zuerst das Wesen des Glaubens zu betrachten.

Wenn dem Geiste ein Satz dargeboten wird, so gewahrt er die Uebereinstimmung oder die Nichtübereinstimmung mit den Vorstellungen, aus welchen derselbe besteht. Die Wahrnehmung der Uebereinstimmung damit wird Glaube genannt. Oftmals verhindern mancherlei Hemmnisse, daß diese Wahrnehmung eine sofortige sei; der Geist sucht dieselben zu entfernen, damit die Wahrnehmung deutlich werde. Der Geist ist bei dem Forschen thätig, um die Art und Weise der Wahrnehmung des Zusammenhangs zu vervollkommnen, in welchem die den Satz bildenden Vorstellungen zu einander stehen. Diese Wahrnehmung ist passiver Art; daß man die Forschung mit ihr verwechselte, hat Viele zu dem Wahne verleitet, als sei der Geist beim Glauben thätig, – als sei Glaube ein Willensakt, – und könne demzufolge vom Geiste geregelt werden. Diesen Irrthum weiter verfolgend, haben sie den Unglauben zu einer Art von Verbrechen gestempelt, dessen er seiner Natur nach unfähig ist; ebenso wenig vermag er ein Verdienst zu sein.

Der Glaube ist also eine Leidenschaft, deren Stärke, wie bei jeder andern Leidenschaft, in genauem Verhältnisse zu dem Grade der Erregung steht.

Der Grade der Erregung sind drei.

Die Sinne sind die Quellen alles Wissens für den Geist; folglich erheischt ihr Ueberzeugtsein die stärkste Zustimmung.

Die auf unsre eigne Erfahrung gegründete, aus diesen Quellen hergeleitete Entscheidung des Geistes beansprucht den nächsten Grad.

Die Erfahrung Anderer, welche sich an die eben erwähnte wendet, behauptet den untersten Grad.

(Eine Stufenleiter, auf welcher bemerkt wäre, inwieweit jeder Satz durch das Zeugniß der Sinne bewiesen werden könnte, würde ein getreues Barometer des Glaubens sein, den jeder von ihnen verdiente.)

Folglich kann kein Zeugniß zugelassen werden, das der Vernunft widerspricht; die Vernunft ist auf der Ueberzeugung unsrer Sinne begründet.

Jeder Beweis läßt sich auf eine dieser drei Rubriken zurückführen; es muß in Betracht gezogen werden, welche Argumente wir durch jede derselben erhalten, die uns von der Existenz einer Gottheit überzeugen sollten.

1) Die Ueberzeugung der Sinne. Wenn die Gottheit uns erschiene, wenn Gott unsre Sinne von seiner Existenz überzeugte, so würde diese Offenbarung nothwendigerweise Glauben erheischen. Diejenigen, welchen Gott so erschienen ist, haben die denkbar stärkste Ueberzeugung von seiner Existenz. Aber der Gott der Theologen ist unfähig der örtlichen Sichtbarkeit.

2) Die Vernunft. Es wird geltend gemacht, der Mensch wisse, daß Alles, was ist, entweder einen Anfang gehabt, oder von aller Ewigkeit her existirt haben müsse; er weiß gleichfalls, daß Alles, was nicht ewig ist, eine Ursache gehabt haben muß. Wird dies Raisonnement auf das Weltall angewandt, so muß bewiesen werden, daß es geschaffen worden sei; bis Dies klar bewiesen worden ist, können wir vernünftigerweise annehmen, daß es von aller Ewigkeit her bestanden habe. Wir müssen den Plan nachweisen, bevor wir auf einen Planmacher schließen. Die einzige Vorstellung, welche wir uns von der Ursächlichkeit machen können, ist von dem beständigen Zusammenhang der Dinge und dem folgerechten Ergebniß des Einen aus dem Andern abzuleiten. In einem Falle, wo zwei Sätze einander schnurstracks entgegenstehen, glaubt der Geist denjenigen, der am mindesten unbegreiflich ist; – es ist leichter, vorauszusetzen, daß das Weltall von aller Ewigkeit her existirt habe, als sich ein Wesen außerhalb seiner Grenzen zu denken, das fähig wäre, es zu erschaffen; wenn der Geist unter dem Gewicht einer solchen Annahme niedersinkt, ist es dann eine Erleichterung, die Unerträglichkeit der Last zu vermehren?

Um das zweite Argument, welches auf der Kenntniß des Menschen von seinem eigenen Dasein beruht, steht es folgendermaßen. Der Mensch weiß nicht allein, daß er jetzt existirt, sondern auch, daß er einst nicht existirte; folglich muß eine Ursache vorhanden gewesen sein. Unsre Idee von der Ursächlichkeit ist aber allein von der beständigen Verbindung der Dinge mit einander und dem folgerechten Ergebniß des Einen aus dem Andern abzuleiten, und wenn wir erfahrungsgemäß folgern, können wir aus Wirkungen nur auf Ursachen schließen, welche jenen Wirkungen völlig adäquat sind. Allein es giebt sicher eine zeugende Kraft, welche durch gewisse Werkzeuge hervorgebracht wird; wir können nicht beweisen, daß sie ihnen inhärent sei, noch läßt sich die entgegengesetzte Annahme erweisen; wir geben zu, daß die zeugende Kraft unbegreiflich sei; aber anzunehmen, daß jene Wirkung durch ein ewiges, allwissendes und allmächtiges Wesen hervorgebracht werde, läßt die Ursache in demselben Dunkel, und macht sie nur noch unbegreiflicher.

3) Das Zeugniß. Es ist erforderlich, daß das Zeugniß nicht der Vernunft widerspreche. Das Zeugniß, daß die Gottheit die Sinne der Menschen von der Existenz Gottes überzeuge, kann nur dann von uns zugegeben werden, wenn unser Geist es für minder wahrscheinlich hält, daß jene Zeugen getäuscht worden seien, als daß Gott ihnen erschienen wäre. Unsere Vernunft kann niemals das Zeugniß von Menschen zugeben, welche nicht allein erklären, daß sie Augenzeugen von Wundern gewesen wären, sondern auch, daß Gott unvernünftig gewesen; denn er befahl, daß man ihm glauben solle, er setzte die höchsten Belohnungen auf den Glauben, ewige Strafen auf den Unglauben. Wir können nur willkürliche Handlungen befehlen; der Glaube ist kein Willensakt; der Geist verhält sich sogar passiv, oder ist unwillkürlich dabei thätig; hieraus geht klar hervor, daß wir kein genügendes Zeugniß besitzen, oder vielmehr, daß das Zeugniß ungenügend ist, das Dasein eines Gottes zu beweisen. Es ist vorhin schon gezeigt worden, daß dasselbe nicht durch die Vernunft bewiesen werden kann. Nur Diejenigen also, welche durch die Evidenz der Sinne überzeugt worden sind, können daran glauben. –

Es leuchtet hienach ein, daß der Geist, da wir keine Beweise aus einer der drei Quellen der Ueberzeugung besitzen, an die Existenz eines schaffenden Gottes nicht glauben kann. Es leuchtet gleichfalls ein, daß, da der Glaube eine Leidenschaft des Geistes ist, der Unglaube in keiner Weise sündhaft sein kann; und daß nur Diejenigen tadelnswerth sind, welche es verabsäumen, die falsche Vermittelung abzuweisen, durch welche ihr Geist jeden in Frage gestellten Gegenstand ansieht. Jeder nachdenkende Geist muß anerkennen, daß kein Beweis für die Existenz einer Gottheit vorhanden ist.

Gott ist eine Hypothese, und bedarf als eine solche des Beweises; die Beweislast fällt den Deisten zu. Sir Isaak Newton sagt: »Ich stelle keine Hypothesen auf; denn was nicht aus Erscheinungen bewiesen wird, ist Hypothese zu nennen, und Hypothesen, sowohl metaphysische, wie physische, wie auf verborgene Eigenschaften begründete, oder mechanische, finden in der Philosophie keinen Platz.« Auf alle Beweise von der Existenz eines schaffenden Gottes ist dieser treffliche Grundsatz anzuwenden. Wir sehen eine Menge von Körpern eine Menge von Kräften besitzen; wir kennen nur ihre Wirkungen; wir befinden uns im Zustande der Unwissenheit Betreffs ihres Wesens und ihrer Ursachen. Newton nennt dieselben die Erscheinungen der Dinge; aber der Stolz der Philosophie ist nicht gewillt, seine Unkenntniß ihrer Ursachen einzuräumen. Aus den Erscheinungen, welche die Gegenstände unsrer Sinne sind, suchen wir auf eine Ursache zu schließen, die wir Gott nennen, und statten dieselbe willkürlich mit allen negativen und sich widersprechenden Eigenschaften aus. Auf Grund dieser Hypothese erfinden wir diesen allgemeinen Namen, um unsre Unwissenheit Betreffs der Ursachen und der Wesenheit zu verbergen. Das Wesen, welches Gott heißt, entspricht in keiner Weise den von Newton ausgestellten Bedingungen; es trägt jegliches Kennzeichen eines von Philosophendünkel gewobenen Schleiers, der die Unwissenheit der Philosophen sogar ihnen selbst verhüllen soll. Sie entleihen die Fäden seines Gewebes dem Anthropomorphismus der Menge. Worte sind von Sophisten zu denselben Zwecken gebraucht worden, von den »verborgenen Eigenschaften« der Peripatetiker an bis zu dem effluvium Boyle's und den » crinities« oder nebulae Herschel's. Gott wird als unendlich, ewig, unbegreiflich dargestellt; er ist unter jedem verneinenden Prädikate enthalten, das die Logik der Unwissenheit zu ersinnen vermochte. Selbst seine Verehrer geben zu, daß es unmöglich sei, sich eine Vorstellung von ihm zu machen: sie rufen mit dem französischen Dichter aus:

»Zu künden, was er ist, muß man er selber sein.«

Lord Bacon sagt: »Der Atheismus läßt dem Menschen die Vernunft, die Philosophie, die angeborne Frömmigkeit, die Gesetze, den guten Ruf und Alles, was dazu dienen kann, ihn zur Tugend anzuhalten; allein der Aberglaube vernichtet alles Dieses und schwingt sich zum Tyrannen über den Verstand des Menschen auf; deshalb stört der Atheismus niemals die Lenkung der Staaten, sondern er schärft den Blick des Menschen, da Letzterer Nichts jenseit der Grenzen des jetzigen Lebens sieht.« – Bacon's Moral Essays.

»Die uranfängliche Theologie des Menschen ließ ihn zuerst die Elemente selbst, materielle und plumpe Gegenstände, fürchten und verehren; darauf zollte er seine Huldigung den die Elemente beherrschenden Agentien, niederen Genien, Heroen oder Menschen, die mit großen Eigenschaften begabt waren. Bei weiterem Nachdenken glaubte er die Dinge zu vereinfachen, indem er die ganze Natur einem einzigen Agens, einem Geiste, einer Weltseele unterwarf, welche jene Natur und ihre Theile in Bewegung setze. Von Ursache zu Ursache hinabsteigend, endeten die Sterblichen damit, Nichts zu sehen; und in dies Dunkel haben sie ihren Gott gestellt; in diesem finstern Abgrunde müht sich ihre unruhige Phantasie rastlos, sich Chimären zu erschaffen, welche sie quälen werden, bis die Erkenntniß der Natur die Schreckbilder verscheuchen wird, welche sie immer so thöricht verehrt haben.

»Wenn wir uns Rechenschaft von unsern Vorstellungen in Betreff der Gottheit ablegen wollen, so werden wir einräumen müssen, daß die Menschen mit dem Worte »Gott« niemals etwas Anderes zu bezeichnen vermochten, als die verborgenste, entfernteste, unbekannteste Ursache der Wirkungen, welche wir wahrnehmen; sie bedienen sich nur dieses Wortes, wenn das Getriebe natürlicher und bekannter Ursachen aufhört, ihnen sichtbar zu sein; sobald sie den Faden der Dinge verlieren, oder sobald ihr Verstand die Kette derselben nicht mehr verfolgen kann, zerhauen sie den Knoten der Schwierigkeit und endigen ihre Untersuchung damit, daß sie Gott die letzte Ursache nennen, d. h. diejenige, welche über allen Ursachen steht, die ihnen bekannt sind. Solchergestalt bezeichnen sie nur mit einem dunklen Namen eine unbekannte Ursache, vor welcher ihre Trägheit oder die Grenze ihres Wissens sie Halt zu machen zwingt. Allemal, wenn man uns sagt, daß Gott der Urheber irgend einer Erscheinung sei, bedeutet Solches nur, daß wir nicht wissen, wie solch eine Erscheinung vermittelst der uns bekannten natürlichen Kräfte oder Ursachen hervorgebracht werden kann. So kommt es, daß die große Mehrzahl der Menschen, deren Loos Unwissenheit ist, der Gottheit nicht blos die ihnen auffallenden ungewöhnlichen Wirkungen, sondern selbst die einfachsten Ereignisse zuschreibt, deren Ursachen Allen, welche Gelegenheit hatten, darüber nachzudenken, sehr leicht erkennbar sind. Mit Einem Worte, der Mensch hat immer die unbekannten Ursachen derjenigen überraschenden Wirkungen verehrt, welche zu entwirren seine Unwissenheit ihn hinderte. Auf den Trümmern der Natur haben die Menschen zuerst den imaginären Koloß der Gottheit errichtet.

»Wenn die Unkenntniß der Natur die Götter gebar, so ist die Kenntniß der Natur geeignet, sie zu vernichten. In dem Maße, in welchem der Mensch sich Belehrung verschafft, wachsen seine Kräfte und die Hilfsquellen seines Geistes mit seiner Erleuchtung; die Wissenschaften, die beschirmenden Künste, die Industrie leihen ihm Beistand; die Erfahrung flößt ihm Vertrauen ein oder verschafft ihm die Mittel, den Wirkungen vieler Ursachen zu widerstehen, die ihn zu beunruhigen aufhören, sobald er sie kennen gelernt hat. Mit Einem Worte, seine Angst verschwindet in demselben Maße, in welchem sein Geist erleuchtet wird. Ein wohlunterrichteter Mensch hört auf, abergläubisch zu sein.

»Nur auf Treu' und Glauben verehren ganze Völker den Gott ihrer Väter und ihrer Priester; Autorität, Vertrauen, Unterwürfigkeit und Gewohnheit ersetzen ihnen die Stelle der Ueberzeugung und der Beweise; sie strecken sich in den Staub und beten, weil ihre Väter sie Solches gelehrt haben; aber weshalb beugten diese ihre Knie? Weil in entlegenen Zeiten ihre Gesetzgeber und Führer es ihnen zur Pflicht gemacht. »Bete an«, sprachen sie, »und glaube an Götter, die du nicht begreifen kannst, verlaß dich auf unsere tiefe Weisheit, wir wissen mehr, als du, von der Gottheit.« – »Aber weshalb soll ich mich auf euch verlassen?« – »Weil es Gottes Wille ist, weil er dich strafen wird, wenn du dich widersetzest.« – »Aber ist es nicht eben dieser Gott, der in Frage steht?« Die Menschen haben sich jedoch immer mit diesem circulus vitiosus begnügt; die Trägheit ihres Geistes ließ es ihnen als das Kürzere erscheinen, sich auf das Urtheil Anderer zu verlassen. Alle religiösen Begriffe sind einzig auf Autorität begründet; alle Religionen der Welt verbieten die Prüfung und wollen kein Verstandesraisonnement gestatten; es ist die Autorität, welche verlangt, daß man an Gott glaube; dieser Gott selbst ist lediglich auf die Autorität einiger Menschen begründet, welche behaupten, daß sie ihn kennen und von ihm gesandt seien, ihn der Erde zu verkünden. Ein von Menschen erschaffener Gott bedarf unzweifelhaft der Menschen, um sich den Menschen bekannt zu machen.

»Wäre also nur den Priestern, den Inspirirten, den Metaphysikern die Ueberzeugung von dem Dasein eines Gottes Vorbehalten, von welcher man doch behauptet, daß sie dem ganzen Menschengeschlechte so nothwendig sei? Aber finden wir eine Uebereinstimmung der theologischen Ansichten unter den verschiedenen Inspirirten oder Denkern rings auf der Erde? Sind auch nur Diejenigen, welche vorgeben, denselben Gott zu bekennen, sich über ihn einig? Begnügen sie sich mit den Beweisen seiner Existenz, welche von ihren Kollegen vorgebracht werden? Unterschreiben sie einstimmig die Vorstellungen, welche sie in Betreff seines Wesens, seines Verfahrens und der Auslegung seiner angeblichen Orakel vorbringen? Giebt es ein Land auf Erden, wo die Kenntniß von Gott zu wahrhafter Vollkommenheit gediehen wäre? Hat sie irgendwo jene Haltbarkeit und gleichmäßige Uebereinstimmung erreicht, welche wir das menschliche Wissen, die geringfügigsten Künste, die verachtetsten Gewerke annehmen sehn? Die Worte »Geist«, »Immaterialität«, »Schöpfung«, »Prädestination«, »Gnade«, – diese Menge subtiler Unterscheidungen, an welchen die Theologie in einigen Ländern immer so reich ist, diese scharfsinnigen Erfindungen, welche die im Lauf der Jahrhunderte sich folgenden Denker ersannen, haben leider die Sache nur verwirrt, und niemals bis auf den heutigen Tag hat die den Menschen allernöthigste Wissenschaft die mindeste Dauer und Festigkeit gewinnen können. Seit Jahrtausenden haben diese müßigen Träumer beständig einander abgelöst in dem Geschäfte, über die Gottheit nachzusinnen, Gottes verborgene Wege zu errathen, Hypothesen zur Lösung dieses wichtigen Räthsels zu erfinden. Ihr geringer Erfolg hat die theologische Eitelkeit nicht entmuthigt; man hat immer von Gott geredet; man hat einander die Kehlen um seinetwillen abgeschnitten, und dies erhabene Wesen bleibt immer noch das unbekannteste und bestrittenste der Welt.

»Die Menschen würden sehr glücklich gewesen sein, wenn sie, sich auf die sie interessirenden sichtbaren Gegenstände beschränkend, die Hälfte der Anstrengungen, die sie ihren Untersuchungen über die Gottheit gewidmet haben, dazu verwandt hätten, ihre wirklichen Wissenschaften, ihre Gesetze, ihre Moral und ihre Erziehung zu vervollkommnen. Sie würden noch weiser und glücklicher gewesen sein, hätten sie sich entschließen können, ihre müßigen Führer unter einander streiten und die hirnverrückenden Tiefen ergründen zu lassen, ohne sich um ihren wahnwitzigen Hader zu kümmern. Aber es ist ein Hauptzug der Unwissenheit, Dem, was sie nicht begreift, Wichtigkeit beizumessen. Die menschliche Eitelkeit bewirkt, daß der Geist den Schwierigkeiten Trotz bietet. Jemehr ein Gegenstand sich unsern Augen entzieht, desto mehr strengen wir uns an, ihn zu erfassen, weil er alsdann unsern Stolz kitzelt, unsre Neugierde reizt, uns interessant erscheint. Indem er für seinen Gott kämpft, kämpft jeder in der That nur für die Interessen seiner eigenen Eitelkeit, welche von allen durch die schlechte Organisation der Gesellschaft erzeugten Leidenschaften sich am schnellsten beunruhigt und am leichtesten große Thorheiten gebiert.

»Wenn wir, für einen Augenblick die trüben Vorstellungen außer Acht lassend, welche die Theologie uns von einem launenhaften Gotte giebt, dessen parteiische und despotische Beschlüsse das Schicksal der Menschen bestimmen, unsern Blick nur auf die angebliche Güte richten, die alle Menschen, selbst während sie vor ihm zittern, diesem Gotte zuschreiben; wenn wir annehmen, daß er, wie man behauptet, nur die Absicht gehabt habe, für seinen Ruhm zu wirken, die Verehrung verständiger Wesen zu fordern, in seinen Werken nur die Wohlfahrt des Menschengeschlechts zu erstreben: – wie will man dann seine Absichten und Anordnungen mit der wahrhaft unüberwindlichen Unwissenheit in Einklang bringen, in welcher dieser ruhmvolle und große Gott die Mehrzahl der Menschen in Betreff seiner läßt? Wenn Gott will, daß man ihn kenne, liebe und ihm danke, warum zeigt er sich dann nicht unter günstiger Gestalt all' jenen verständigen Wesen, von welchen er geliebt und verehrt sein will? Warum offenbart er sich nicht der ganzen Erde in einer unzweideutigen Art, die uns weit eher zu überzeugen vermöchte, als jene besonderen Offenbarungen, welche die Gottheit einer häßlichen Parteilichkeit für einige ihrer Geschöpfe anzuklagen scheinen? Ständen dem Allmächtigen denn keine überzeugenderen Mittel zu Gebote, sich den Menschen zu enthüllen, als jene lächerlichen Metamorphosen, jene angeblichen Fleischwerdungen, welche uns von Schriftstellern bezeugt werden, die in ihrer Erzählung derselben so wenig mit einander übereinstimmen? Könnte der Beherrscher der Geister, statt so vieler Wunder, die erfunden sind, um die göttliche Sendung so vieler Gesetzgeber zu beweisen, welche von den verschiedenen Völkern der Welt verehrt werden, nicht sofort den menschlichen Geist von den Dingen überzeugen, die er ihnen bekannt machen wollte? Wäre es nicht, statt eine Sonne am Himmelsgewölbe aufzuhängen, statt die Sterne und Sternbilder, welche den Raum erfüllen, ordnungslos zu verstreuen, den Absichten eines Gottes, der eifersüchtig auf seinen Ruhm war und es so gut mit den Menschen meinte, entsprechender gewesen, auf eine nicht anzufechtende Art seinen Namen, seine Eigenschaften und seinen unwandelbaren Willen in unauslöschlichen und gleicherweise für alle Erdbewohner lesbaren Zügen hinzuschreiben? Niemand hätte dann die Existenz Gottes, seinen offenbaren Willen, seine deutlichen Absichten bezweifeln können. Unter den Augen dieses schrecklichen Gottes hätte Niemand die Kühnheit gehabt, seine Befehle zu verletzen; kein Sterblicher hätte gewagt, den Zorn desselben auf sich herabzuziehen; kein Mensch endlich hätte die Stirn gehabt, in seinem Namen zu betrügen, oder seine Gebote der eignen Laune gemäß auszulegen.

»In der That, selbst wenn man die Existenz des theologischen Gottes und die Wirklichkeit der so widerstreitenden Attribute einräumte, die man ihm zuertheilt, könnte man Nichts daraus folgern, um das Verfahren oder die Verehrungsweisen zu rechtfertigen, welche man ihm gegenüber verschreibt. Die Theologie ist in Wahrheit das Faß der Danaiden. Mittelst widersprechender Eigenschaften und kecker Behauptungen hat sie, so zu sagen, ihren Gott dermaßen geknebelt und gebunden, daß sie ihn in die Unmöglichkeit versetzt hat, zu handeln. Ist er grenzenlos gut, welchen Grund hätten wir dann, ihn zu fürchten? Ist er grenzenlos weise, weshalb sollten wir uns dann über unser Geschick beunruhigen? Weiß er Alles, wozu« ihn dann von unsern Bedürfnissen unterrichten, ihn mit unsern Gebeten belästigen? Ist er allgegenwärtig, wozu ihm Tempel errichten? Ist er der Herr aller Dinge, wozu ihn: Opfer und Gaben darbringen? Ist er gerecht, wie kann man dann glauben, daß er Geschöpfe bestrafen werde, die er voll Schwächen erschuf? Wirket die Gnade Alles in ihnen, welchen Grund hätte er dann, sie zu belohnen? Ist er allmächtig, wie können wir ihn beleidigen, wie uns ihm widersetzen? Ist er vernünftig, wie könnte er Blinden zürnen, denen er die Freiheit ließ, zu irren? Ist er unwandelbar, mit welchem Rechte maßen wir uns an, ihn zur Abänderung seiner Beschlüsse zu bestimmen? Ist er unbegreiflich, weshalb beschäftigen wir uns mit ihm? Hat er gesprochen, weshalb ist das Weltall nicht überzeugt? Ist die Kenntniß von einem Gotte die nothwendigste, warum ist sie nicht die augenscheinlichste und klarste?« – Système de la Nature, London 1781.

Der aufgeklärte und edle Plinius bekennt sich in folgenden Worten offen zum Atheismus: »Aus diesem Grunde halte ich dafür, daß es menschliche Schwache ist, nach dem Bilde und der Gestalt Gottes zu fragen. Wer und wo immer Gott sein möge (wenn überhaupt ein solcher existirt), er ist ganz Sinn, ganz Gesicht, ganz Gehör, ganz Leben, ganz Seele, ganz sein selbst ... Es ist aber ein hauptsächlicher Trost der unvollkommenen Menschennatur, daß nicht einmal Gott Alles zu thun vermag. Denn er kann sich weder, wenn er es auch wollte, den Tod zuertheilen, welchen er dem Menschen als die beste Gabe bei so vielen Leiden des Lebens verlieh; noch kann er den Sterblichen die Ewigkeit schenken, oder Verstorbene wieder ins Leben rufen; noch kann er bewirken, daß, wer lebte, nicht gelebt, wer Ehren trug, dieselben nicht getragen hat; er hat keine Macht über das Vergangene, außer der Macht des Vergessens, und (um auch ein scherzhaftes Argument in diese Reihe von Beispielen zu mischen) er kann nicht verhindern, daß zweimal zehn zwanzig macht, und vielerlei ähnliche Dinge. Hieraus geht unzweifelhaft hervor, daß die Naturkraft auch Dasjenige ist, was wir Gott nennen.« – Plinius' Naturgeschichte, im Kapitel über Gott.

Der konsequente Newtonianer ist nothwendigerweise ein Atheist. Vergl. Sir William Drummond's Academical Questions, cap. III. – Sir William scheint den Atheismus, zu welchem das Gravitationssystem führt, als einen hinlänglichen Beweis für die Irrthümlichkeit desselben zu betrachten; aber sicherlich entspricht es mehr der philosophischen Ehrlichkeit, einer Folgerung aus Thatsachen beizupflichten, als einer unerweislichen Hypothese, obschon erstere den hartnäckigen Vorurtheilen des Pöbels widerstreiten mag. Hätte, dieser Schriftsteller, anstatt wider die Strafbarkeit und Unsinnigkeit des Atheismus zu peroriren, die Irrthümlichkeit desselben nachgewiesen, so würde sein Verfahren besser zu der Bescheidenheit des Skeptikers und der Toleranz des Philosophen gestimmt haben.

»Denn alle Dinge sind durch die Macht Gottes erschaffen, und zwar weil die Macht der Natur keine andere als die Macht Gottes ist; in so weit aber vermögen wir die Macht Gottes nicht zu begreifen, als die natürlichen Ursachen uns unbekannt sind, und deshalb sprechen wir thörichterweise von der Macht Gottes, so oft wir die natürliche Ursache irgend einer Sache, d. h. eben die Macht Gottes, nicht kennen.« – Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, Kap. I, S. 14.

 

VII. S. 65.

Erscheine, Ahasver!

Aus einem finsteren Geklüfte Karmels
Kroch Ahasver. Bald sind's zweitausend Jahre,
Seit Unruh' ihn durch alle Länder peitschte.
Als Jesus einst die Last des Kreuzes trug
Und rasten wollt' vor Ahasveros' Thür,
Ach, da versagt' ihm Ahasver die Rast
Und stieß den Mittler trotzig von der Thür,
Und Jesus schwankt' und sank mit seiner Last.
Doch er verstummt'. Ein Todesengel trat
Vor Ahasveros hin und sprach im Grimme:
»Die Ruh' hast du dem Menschensohn versagt;
Auch dir sei sie, Unmenschlicher, versagt,
Bis daß er kommt!«

Ein schwarzer, höllentflohner
Dämon geißelt nun dich, Ahasver,
Von Land zu Land. Des Sterbens süßer Trost,
Der Grabesruhe Trost ist dir versagt!

Aus einem finsteren Geklüfte Karmels
Trat Ahasver. Er schüttelte den Staub
Aus seinem Barte; nahm der aufgethürmten
Todtenschädel einen, schleudert' ihn
Hinab vom Karmel, daß er hüpft' und scholl
Und splitterte. »Der war mein Vater!« brüllte
Ahasveros. Noch ein Schädel! Ha,
Noch sieben Schädel polterten hinab
Von Fels zu Fels! »Und die – und die«, mit stierem,
Vorgequollnem Auge rast's der Jude:
»Und die – und die – sind meine Weiber – ha!«
Noch immer rollten Schädel. »Die und die«,
Brüllt Ahasver, »sind meine Kinder, ha!
Sie konnten sterben! – Aber ich Verworfner,
Ich kann nicht sterben! Ach, das furchtbarste Gericht
Hängt schreckenbrüllend ewig über mir.

»Jerusalem sank. Ich knirschte dem Säugling,
Ich rannt' in die Flamme. Ich fluchte dem Römer; Doch, ach! doch, ach! der rastlose Fluch
Hielt mich am Haar, und ich starb nicht.

»Roma, die Riesin, stürzte in Trümmer,
Ich stellte mich unter die stürzende Riesin
Doch, sie fiel und zermalmte mich nicht.
Nationen entstanden und sanken vor mir;
Ich aber blieb und starb nicht!
Von wolkengegürteten Klippen stürzt' ich
Hinunter ins Meer; doch strudelnde Wellen
Wälzten mich ans Ufer, und des Seins
Flammenpfeil durchstach mich wieder.
Hinab sah ich in Aetna's grausen Schlund
Und wüthete hinab in seinen Schlund:
Da brüllt' ich mit den Riesen zehn Monden lang
Mein Angstgeheul und geißelte mit Seufzern
Die Schwefelmündung. Ha! zehn Monden lang!
Doch Aetna gohr und spie in einem Lavastrom
Mich wieder aus. Ich zuckt' in Asch' und lebte noch!

»Es brannt' ein Wald. Ich Rasender lief
In den brennenden Wald. Vom Haare der Bäume
Troff Feuer auf mich –
Doch sengte nur die Flamme mein Gebein,
Und verzehrte mich nicht.

»Da mischt' ich mich unter die Schlächter der Menschheit,
Stürzte mich dicht ins Wetter der Schlacht,
Brüllte Hohn dem Gallier,
Hohn dem unbesiegten Deutschen:
Doch Pfeil und Wurfspieß brachen an mir.
An meinem Schädel splitterte
Des Sarazenen hochgeschwungnes Schwert.
Kugelsaat regnete herab an mir,
Wie Erbsen auf eiserne Panzer geschleudert.
Die Blitze der Schlacht schlängelten sich
Kraftlos uni meine Lenden,
Wie um des Zackenfelsen Hüften,
Der in Wolken sich birgt.
Vergebens stampfte mich der Elephant;
Vergebens schlug mich der eiserne Huf
Des zornfunkelnden Streitrosses.
Mit mir borst die pulverschwangre Mine,
Schleuderte mich hoch in die Luft,
Betäubt stürzt' ich herab und fand mich geröstet
Unter Blut und Hirn und Mark
Und unter zerstümmelten Aesern
Meiner Streitgenossen wieder.

»An mir sprang der Stahlkolben des Riesen.
Des Henkers Faust lahmte an mir;
Des Tigers Zahn stumpfte an mir;
Kein hungriger Löwe zerriß mich im Cirkus.
Ich lagerte mich zu giftigen Schlangen;
Ich zwickte des Drachen blutrothen Kamm;
Doch die Schlange stach, und mordete nicht!
Mich quälte der Drach', und mordete nicht!

»Da sprach ich Hohn dem Tyrannen,
Sprach zu Nero: Du bist ein Bluthund!
Sprach zu Christiern: Du bist ein Bluthund!
Sprach zu Muley Ismael: Du bist ein Bluthund!
Doch die Tyrannen ersannen
Grausame Qualen und würgten mich nicht.

»Ha! nicht sterben können! nicht sterben können!
Nicht ruhen können nach des Leibes Mühn!
Den Staubleib tragen! mit seiner Todtenfarbe
Und seinem Siechthum! seinem Gräbergeruch!
Sehen müssen durch Jahrtausende
Das gähnende Ungeheuer Einerlei!
Und die geile, hungrige Zeit,
Immer Kinder gebärend, immer Kinder verschlingend!
Ha! nicht sterben können! Nicht sterben können!
Schrecklicher Zürner im Himmel,
Hast du in deinem Rüsthause
Noch ein schrecklicheres Gericht?
Ha, so laß es niederdonnern auf mich!
Mich wälz' ein Wettersturm
Von Karmels Rücken hinunter,
Daß ich an seinem Fuße
Ausgestreckt lieg' –
Und keuch' – und zuck' und sterbe!« –

(So weit theilt Shelley das bekannte Gedicht Schubart's »Der ewige Jude« in einer englischen Prosaübersetzung mit, die er, beschmutzt und zerrissen, einige Jahre zuvor in Lincoln's Inn Fields gefunden hatte, ohne den Titel des Werkes und den Namen des Verfassers ermitteln zu können, – Anm. des Uebersetzers.)

 

VII. S. 67.

Ich werd' erzeugen einen Sohn; der soll
Die Sünden tragen dieser ganzen Welt.

Als Kindern giebt man uns ein Buch in die Hände, das die Bibel heißt und dessen Inhalt in Kürze folgender ist: – In sechs Tagen erschuf Gott die Erde, und pflanzte daselbst einen köstlichen Garten, in welchen er das erste Menschenpaar setzte. In der Mitte des Gartens pflanzte er einen Baum, dessen Frucht zu berühren ihnen verboten war, obschon sie dieselbe erreichen konnten. Der Teufel, in Gestalt einer Schlange, beredete sie, von dieser Frucht zu essen; dafür verdammte Gott sowohl diese Menschen, wie ihre noch ungeborene Nachkommenschaft, seiner Gerechtigkeit durch ihr ewiges Elend Genüge zu thun. Viertausend Jahre nach diesen Ereignissen (während welcher Zeit das Menschengeschlecht unerlöst ins Verderben hinabgesunken war) schwängerte Gott die Verlobte eines Zimmermanns in Judäa (deren Jungfräulichkeit nichtsdestoweniger unverletzt blieb), und zeugte einen Sohn, dessen Name Jesus Christus war, und der gekreuzigt wurde und starb, damit keine Menschen mehr dem Höllenfeuer überantwortet würden, indem er die Last der Ungehaltenheit seines Vaters als Stellvertreter auf sich nahm. Das Buch besagt ferner, daß die Seele eines Jeden, der nicht an dies Opfer glaubt, in ewigem Feuer brennen werde.

Während vieler Jahrhunderte des Elends und der Finsterniß fand diese Geschichte unbedingten Glauben; allein endlich standen Männer auf, welche argwöhnten, daß sie Fabel und Betrug sei, und daß Jesus Christus, weit entfernt, ein Gott zu sein, nur ein Mensch, gleich ihnen selbst, gewesen. Aber eine zahlreiche Menschenklasse, welche enormen Gewinnst aus jener Meinung, in der Gestalt eines bei dem Volk herrschenden Glaubens, zog und immer noch zieht, sagte der Menge, wenn sie nicht an die Bibel glaube, werde sie ewiglich verdammt werden, und verbrannte, verhaftete und vergiftete alle vorurtheilsfreien und vereinzelten Forscher, welche gelegentlich aufstanden. Sie unterdrückt dieselben noch immer, soweit das Volk, welches jetzt aufgeklärter geworden ist, Solches gestatten will.

Der Glaube an Alles, was die Bibel enthält, wird Christenthum genannt. Ein römischer Statthalter von Judäa kreuzigte, auf das Ansuchen eines von Priestern geleiteten Pöbels, vor achtzehnhundert Jahren einen Mann, Namens Jesus. Derselbe war ein Mensch von reinem Lebenswandel, welcher seine Landsleute von der Tyrannei ihres rohen und entwürdigenden Aberglaubens zu befreien wünschte. Das gewöhnliche Loos Aller, welche der Menschheit Gutes thun wollen, erwartete ihn. Der Janhagel, aufgehetzt von den Priestern, verlangte seinen Tod, obwohl sein eigentlicher Richter offen bekannte, daß er keine Schuld an ihm fände. Jesus wurde zu Ehren des Gottes geopfert, mit welchem man ihn später in Eins zusammenschmolz. Es ist deshalb von Wichtigkeit, zwischen dem vorgeblichen Charakter dieses Wesens als Sohn Gottes und Heiland der Welt und seinem wirklichen Charakter als Mensch zu unterscheiden, der für einen vergeblichen Versuch, die Welt zu reformiren, jener übermüthigen Tyrannei, welche seitdem die Erde so lange in seinem Namen verheert hat, mit dem Preis seines Lebens büßen mußte. Während der Eine ein heuchlerischer Dämon ist, der sich als den Gott des mitleidigen Erbarmens und des Friedens ankündigt, indeß er seine blutgeröthete Hand mit dem Schwerte der Zwietracht ausstreckt, um die Erde zu verwüsten, welchen Verwüstungsplan er eingestandenermaßen von Ewigkeit her ersonnen hat, steht der Andre in der vordersten Reihe jener wahren Helden, die in dem glorreichen Märtyrerthume der Freiheit gestorben sind, und um der leidenden Menschheit willen der Folter, der Verachtung und Armuth getrotzt haben. Seitdem ich die obige Anmerkung schrieb, sind mir Gründe aufgestoßen, die mich argwöhnen lassen, daß Jesus ein ehrgeiziger Mensch war, der nach dem Throne von Judäa trachtete. Shelley.

Die stets zu Extremen geneigte Menge beredete man, die Kreuzigung Jesu als ein übernatürliches Ereigniß zu betrachten. An Zeugnissen über Wunder, die in unaufgeklärten Zeiten so häufig sind, fehlte es nicht, um zu beweisen, daß er etwas Göttliches sei. Dieser Glaube, welcher durch den Lauf der Jahrhunderte sich fortpflanzte, begegnete den Träumereien Plato's und den Spekulationen des Aristoteles, und gewann Kraft und Verbreitung, bis die Göttlichkeit Jesu ein Dogma ward, das zu leugnen Tod, das zu bezweifeln Schmach und Schande brachte.

Das Christenthum ist jetzt die herrschende Religion. Wer dasselbe anzufechten versucht, muß es sich gefallen lassen, daß die öffentliche Meinung Mörder und Verräther ihm vorzieht; obschon, wenn sein Genie seinem Muthe gleicht und ein besonderes Zusammentreffen der Verhältnisse ihm zu Statten kommt, künftige Zeiten ihn zu einer Gottheit erheben und Andre in seinem Namen verfolgen dürften, wie er verfolgt ward im Namen seiner Vorgänger in der Anbetung der Welt.

Dieselben Mittel, welche jeden anderen volksthümlichen Glauben gestützt haben, haben das Christenthum gestützt. Krieg, Einkerkerung, Meuchelmord und Lüge; Thaten beispielloser und unvergleichlicher Roheit haben es zu Dem gemacht, was es ist. Das Blut, welches die Bekenner des Gottes der Barmherzigkeit und des Friedens seit der Einführung seiner Religion vergossen haben, würde wahrscheinlich genügen, um die Anhänger aller anderen Sekten, die jetzt auf der Erdkugel wohnen, zu ersäufen. Wir überkommen von unsern Vorfahren einen also gepflegten und gestützten Glauben; wir streiten, verfolgen und hassen, um ihn aufrecht zu erhalten. Selbst unter einer Regierung, die, während sie das Recht des Denkens und der Rede gröblich verletzt, damit prahlt, daß sie volle Preßfreiheit gestatte, wird ein Mensch an den Pranger gestellt und eingekerkert, weil er ein Deist ist, und Niemand erhebt seine Stimme in dem edlen Zorne beschimpfter Menschlichkeit. Aber hierin liegt immer ein Beweis, daß die Falschheit einer Lehre von Denen empfunden wird, welche Zwang, nicht Vernunftgründe gebrauchen, um ihr Eingang zu verschaffen; und ein leidenschaftsloser Beobachter würde sich stärker zu Gunsten eines Menschen interessirt fühlen, der, sich auf die Wahrheit seiner Ansichten verlassend, einfach seine Gründe für dieselben anführte, als zu Gunsten seines Gegners, der, frech seine Ungeneigtheit oder Unfähigkeit, sie durch Gründe zu widerlegen, bekennend, die Kraft ihres Verkünders durch jegliche Folter und Einkerkerung, die er über ihn verhängen könnte, zu lähmen und seinen Geist zu brechen suchte.

Analogie scheint die Meinung zu unterstützen, daß das Christenthum, da es gleich andern Religionssystemen entstanden ist und sich ausgebreitet hat, auch gleich diesen in Verfall gerathen und untergehen werde; daß, da Gewalt, Finsterniß und Betrug, nicht Vernunftgründe und Ueberzeugung, ihm Eingang bei dem Menschengeschlechte verschafft haben, es veralten werde, wenn die Begeisterung geschwunden ist und die Zeit, diese untrügliche Widerlegerin irriger Ansichten, seine vorgeblichen Beweisstücke in das Dunkel des Alterthums gehüllt hat; daß nur Milton's Gedicht der Erinnerung an seine Absurditäten Dauer verleihen, und daß man über »Gnade«, »Glauben«, »Erlösung« und »Erbsünde« ebenso herzlich lachen werde, wie man jetzt über die Metamorphosen Jupiter's, die Wunder der römischen Heiligen, die Wirksamkeit der Zauberei und das Erscheinen abgeschiedener Geister lacht.

Hätte die christliche Religion mittelst der bloßen Macht von Vernunftgründen und Ueberzeugung begonnen und fortbestanden, so würde die eben erwähnte Analogie unzulässig sein. Wir würden nimmer Betrachtungen über das künftige Veralten eines Religionssystems anstellen, das völlig mit der Natur und Vernunft in Einklang wäre; dasselbe würde so lange dauern wie diese; es würde eine so unbestreitbare Wahrheit wie das Licht der Sonne, die Sündhaftigkeit eines Mordes und andere Thatsachen sein, deren Gewißheit, auf unserer Organisation und relativen Verhältnissen beruhend, so lange als ausgemacht gelten wird, als der Mensch Mensch ist. Es ist eine unumstößliche Thatsache, deren Berücksichtigung den voreiligen Schlüssen der Gläubigkeit Einhalt thun oder ihren Eifer, sie aufrecht zu halten, abkühlen müßte, daß, wenn die Juden nicht ein fanatischer Menschenschlag gewesen wären, oder wenn nur der Richterspruch des Pontius Pilatus seiner aufrichtigen Ueberzeugung entsprochen hätte, die christliche Religion niemals hätte die herrschende werden, ja nicht einmal existiren können – an einem so schwachen Faden hängt die gehätscheltste Meinung eines Sechstels der Menschheit! Wann wird die große Menge Demuth lernen? Wann wird der Stolz der Unwissenheit darüber erröthen, daß er geglaubt hat, bevor er begreifen konnte?

Entweder, die christliche Religion ist wahr, oder sie ist falsch; ist sie wahr, so kommt sie von Gott, und ihre Authenticität läßt weiter keinen Zweifel und keine Anfechtung zu, als ihr allmächtiger Urheber zu gestatten Willens ist. Entweder die Macht oder die Güte Gottes wird in Frage gestellt, wenn er diejenigen Lehren, welche am wesentlichsten für die Wohlfahrt des Menschen sind, in Anfechtung und Zweifel läßt; – gerade die einzigen, welche seit ihrer Verkündung der Gegenstand unablässigen Zwistes, die Ursache unversöhnlichen Hasses gewesen sind. Warum ist das Weltall nicht überzeugt, wenn Gott gesprochen hat?

Eine Stelle in den christlichen Urkunden besagt: »Diejenigen, welche Gott nicht gehorchen, und der Botschaft seines Sohnes nicht glauben, sollen mit ewiger Verdammniß bestraft werden.« Dies ist das Grundprinzip, auf welchem alle Religionen beruhen; sie nehmen alle an, daß es in unserer Macht stehe, zu glauben oder nicht zu glauben; während doch der Geist nur glauben kann, was er für wahr hält. Ein menschliches Wesen kann doch nur für solche Handlungen verantwortlich sein, auf welche sein Wille einen Einfluß übt. Der Glaube aber ist völlig verschieden von der Willenskraft und steht mit ihr in keinerlei Verbindung; er ist das Gefühl der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit den Vorstellungen, aus welchen eine Lehre besteht. Der Glaube ist eine Leidenschaft oder eine unwillkürliche Geistesthätigkeit, und, wie bei anderen Leidenschaften, steht seine Stärke genau im Verhältnisse zu dem Grade der Erregung. Verdienst oder Schuld ist undenkbar ohne Willensthätigkeit. Aber die christliche Religion schreibt den höchsten Grad von Verdienst und Schuld Demjenigen zu, was weder die eine noch die andere Benennung verdient, und in durchaus keinem Zusammenhang mit der eigenthümlichen Geisteskraft steht, ohne deren Vorhandensein sie nicht denkbar sind.

Es war die Absicht des Christenthums, die Welt zu reformiren; hätte ein allweiser Gott dasselbe ersonnen, so ist Nichts unwahrscheinlicher, als daß seine Absicht vereitelt worden wäre; die Allwissenheit hätte unfehlbar die Nutzlosigkeit eines Systems vorausgesehen, das, wie die Erfahrung lehrt, bis auf den heutigen Tag völlig erfolglos gewesen ist.

Das Christenthum lehrt die Nothwendigkeit, die Gottheit anzuflehen. Man kann das Gebet unter zwei Gesichtspunkten betrachten: als eine Bemühung, die Absichten Gottes zu ändern, oder als ein formelles Zeugniß unsres Gehorsams. Der erste Fall aber setzt voraus, daß die Launen einer beschränkten Einsicht gelegentlich den Schöpfer der Welt belehren könnten, wie er das All zu lenken habe; und der letzte Fall erfordert einen gewissen Grad knechtischer Gesinnung, analog der Loyalität, welche irdische Tyrannen verlangen. Gehorsam ist in der That nur der jämmerliche und feige Egoismus Desjenigen, welcher glaubt, er könne etwas besser machen, als die Vernunft.

Das Christenthum beruht, wie alle andern Religionen, auf Wundern, Weissagungen und Märtyrerthum. Es hat niemals eine Religion gegeben, die nicht ihre Propheten, ihre beglaubigten Wunder, und vor Allem zahlreiche ergebene Jünger besessen hätte, welche geduldig die schrecklichsten Martern ertrugen, um ihre Wahrhaftigkeit zu beweisen. Man sollte meinen, daß in keinem Falle ein kritischer Geist die Echtheit eines Wunders bestätigen könnte. Ein Wunder ist eine Verletzung des Naturgesetzes durch eine übernatürliche Ursache, durch eine Ursache, welche außerhalb jenes ewigen Kreises wirkt, der alle Dinge umschließt. Gott bricht das Gesetz der Natur, um das Menschengeschlecht von der Wahrheit jener Offenbarungslehre zu überzeugen, welche, trotz seiner Vorsichtsmaßregeln, seit ihrer Einführung der Gegenstand unaufhörlicher Glaubensspaltung und Zwistigkeit gewesen ist.

Wunder kommen auf folgende Frage hinaus Siehe Hume's Essays, Bd. II, S. 121.: – Ist es wahrscheinlicher, daß die bisher so unwandelbar harmonischen Naturgesetze verletzt worden sind, oder daß ein Mensch eine Lüge gesagt hat? Ist es wahrscheinlicher, daß wir die natürliche Ursache eines Ereignisses nicht kennen, oder daß wir die übernatürliche kennen? Ist es eher anzunehmen, daß in alten Zeiten, wo die Kräfte der Natur minder bekannt waren als jetzt, eine gewisse Menschenklasse selbst getäuscht wurde oder einen verborgenen Grund hatte, Andere zu täuschen, oder daß Gott einen Sohn zeugte, der in seinem Sittengesetz, das Verdienst nach dem Glauben abmessend, sich der Kräfte des menschlichen Geistes – Dessen, was willkürlich und Dessen, was unwillkürlich ist – völlig unkundig erwies?

Wir haben viele Beispiele davon, daß Menschen gelogen haben,– keines aber von einer Ueberschreitung der Naturgesetze, jener Gesetze, von deren Herrschaft wir allein einige Kenntniß oder Erfahrung besitzen. Die Geschichte aller Völker liefert zahllose Beispiele von Menschen, welche Andere aus Eitelkeit oder aus Eigennutz täuschten, oder durch die Beschränktheit ihrer Ansichten und ihre Unkenntniß der natürlichen Ursachen selber getäuscht wurden; aber wo ist der beglaubigte Fall, daß Gott auf Erden erschienen wäre, um seine eigenen Schöpfungen Lügen zu strafen? Das Erscheinen eines Geistes würde etwas wirklich Wunderbares sein; aber die Versicherung eines Kindes, es habe einen solchen über den Kirchhof schreiten sehen, wird allgemein als minder wunderbar betrachtet.

Doch selbst angenommen, ein Mensch erweckte einen Leichnam vor unsern Augen ins Leben, und gründete hierauf seinen Anspruch, als der Sohn Gottes angesehen zu werden, so ist zu erwidern: – die Humanitäts-Gesellschaft ruft Ertrunkene ins Leben zurück, und weil sie aus dem von ihr angewandten Verfahren kein Hehl macht, werden ihre Mitglieder nicht fälschlich für Gottes Söhne gehalten. Alles, was wir aus unsrer Unkenntniß der Ursache eines Ereignisses zu schließen berechtigt sind, ist die Thatsache, daß wir dieselbe nicht kennen; hätten die Mexikaner diesen einfachen Grundsatz befolgt, als sie die Kanonen der Spanier hörten, so würden sie Letztere nicht für Götter gehalten haben; die Experimente der modernen Chemie hätten die weisesten Philosophen des alten Griechenland und Rom nicht auf natürliche Grundlagen zurückzuführen vermocht. Ein Schriftsteller von sehr gesundem Menschenverstande hat die Bemerkung gemacht, daß »ein Wunder kein Wunder aus zweiter Hand ist«; er hätte hinzufügen können, daß ein Wunder in keinem Falle ein Wunder ist; denn so lange uns nicht alle natürlichen Ursachen bekannt sind, haben wir keinen vernünftigen Grund, andere Ursachen anzunehmen.

Es erübrigt, einen andern Beweis des Christenthums zu betrachten, – die Weissagung. Vor dem Eintreten eines gewissen Ereignisses ist ein Buch geschrieben worden, in welchem dies Ereigniß vorhergesagt wird; wie konnte der Prophet es ohne Inspiration vorherwissen? wie konnte er außer durch Gott inspirirt sein? Der größte Nachdruck wird auf die Prophezeiungen Mosis und Hosea's über die Zerstreuung der Juden und auf die Weissagung des Jesaias von der Ankunft des Messias gelegt. Die Prophezeiung Mosis ist ein Konglomerat von allem erdenklichen Fluch und Segen, und es ist so wenig wunderbar, daß die eine Weissagung der Zerstreuung in Erfüllung gegangen ist, daß es weit erstaunlicher gewesen wäre, wenn von ihnen allen keine sich bewahrheitet hätte. Im fünften Buch Mosis, Kap. 28, V. 64, wo Moses deutlich die Zerstreuung der Juden vorhersagt, bemerkt er, daß sie in derselben Göttern von Holz und Stein dienen würden: »Denn der Herr wird dich zerstreuen unter alle Völker, von einem Ende der Welt bis ans andere; und wirst daselbst andern Göttern dienen, die du nicht kennest, noch deine Väter, Holz und Steinen.« Nun halten aber die Juden bis aus den heutigen Tag mit bemerkenswerther Zähigkeit fest an ihrer Religion. Moses sagt ferner, sie würden aus Ungehorsam gegen sein Ritual einer Reihe von Flüchen unterworfen sein: »Wenn du aber nicht gehorchen wirst der Stimme des Herrn, deines Gottes, daß du haltest und thust alle seine Gebote und Rechte, die ich dir heute gebiete, so werden alle diese Flüche über dich kommen und dich treffen.« Ist dies der wahre Grund? Das dritte, vierte und fünfte Kapitel Hosea's sind ein Stück schlüpfriger Beichte. Das unanständige Bild kann in hunderterlei Bedeutung auf hunderterlei Dinge angewandt werden. Das dreiundfünfzigste Kapitel des Jesaias ist deutlicher, übertrifft aber dennoch an Klarheit nicht die delphischen Orakel. Der historische Beweis, daß Moses, Jesaias und Hosea ihre Schriften zu der Zeit verfaßt haben, zu welcher sie dieselben verfaßt haben sollen, ist weit davon entfernt, klar und erschöpfend zu sein.

Aber die Weissagung erfordert den Beweis ihrer Qualität als Wunder; wir haben kein Recht, anzunehmen, daß ein Mensch künftige Ereignisse im Voraus von Gott erfahren habe, solange nicht erwiesen ist, daß er sie weder durch seine eigenen Bemühungen wissen konnte, noch daß die Schriften, welche die Voraussagung enthalten, möglicherweise nach dem angeblich vorausgesagten Ereignisse verfaßt sein könnten. Es ist wahrscheinlicher, daß Schriften, welche eine göttliche Eingebung prätendiren, nach der Erfüllung ihrer angeblichen Voraussagung verfaßt worden sind, als daß sie wirklich auf göttlicher Eingebung beruhen sollten, wenn wir bedenken, daß die letztere Annahme Gott gleichzeitig als den Schöpfer des menschlichen Geistes und als unkundig seiner vornehmsten Kräfte hinstellt, besonders da wir zahlreiche Beispiele falscher Religionen und fälschlich geschmiedeter Weissagungen längst geschehener Dinge haben, während uns kein beglaubigter Fall vorliegt, daß Gott mittelbar oder unmittelbar mit Menschen gesprochen habe. Es ist auch möglich, daß die Schilderung eines Ereignisses seinem Eintritt vorhergegangen sein könne; dies ist aber durchaus kein vollgültiger Beweis göttlicher Offenbarung, da viele Menschen, welche nicht den Charakter eines Propheten für sich in Anspruch nahmen, nichtsdestoweniger in diesem Sinne geweissagt haben.

Lord Chesterfield wurde noch niemals für einen Propheten gehalten, nicht einmal von einem Bischof, und doch machte er folgende merkwürdige Prophezeiung: »Die despotische Regierung Frankreichs ist auf die höchste Spitze getrieben; eine Revolution naht schnell heran; ich bin überzeugt, daß diese Revolution eine radikale und blutige sein wird.« Solches schrieb der Prophet in seinen Briefen lange vor der Erfüllung dieser wunderbaren Weissagung. Sind nun diese Ereignisse eingetreten, oder nicht? Wenn sie eingetreten sind, wie konnte der Graf sie ohne göttliche Eingebung vorherwissen? Geben wir die Wahrheit der christlichen Religion auf solches Zeugniß wie dieses zu, so müssen wir kraft desselben Beweises zugeben, daß Gott die höchsten Belohnungen für den Glauben und die ewigen Qualen des nie sterbenden Wurmes für den Unglauben ausgesetzt hat, welche doch beide als unwillkürlich erwiesen wurden.

Der letzte Beweis der christlichen Religion beruht auf dem Einflusse des heiligen Geistes. Die Theologen zerlegen den Einfluß des heiligen Geistes in die gewöhnliche und in die außergewöhnliche Art seines Wirkens. Man nimmt an, daß letztere diejenige sei, welche die Propheten und Apostel inspirirt habe; und erstere die Gnade Gottes, welche die Wahrheit seiner Offenbarung Denen, deren Geist durch ein demüthiges Studium seines Wortes für ihre Aufnahme empfänglich gemacht worden sei, summarisch bekannt mache. Personen, die auf solche Art überzeugt worden sind, können den Grund für ihre Ueberzeugung nicht angeben, noch die Zeit nennen, zu welcher dieselbe eintrat, oder die Art, wie sie über sie kam. Man nimmt an, sie dringe durch andre Kanäle, als diejenigen der Sinne, in den Geist, und behaupte daher, der Vernunft, die sich auf die Erfahrung jener gründet, überlegen zu sein.

Räumen wir jedoch die Nützlichkeit oder Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung ein, so muß, wenn nicht die Grundlagen alles menschlichen Wissens zerstört werden sollen, unsre Vernunft vorher die Echtheit jener Offenbarung beweisen; denn ehe wir die sichere Leuchte der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes auslöschen, ziemt sich's, daß wir ermitteln, ob wir nicht ohne ihren Beistand auskommen können, ob ein Anderer da ist oder nicht, der uns mit genügender Sicherheit durch das Labyrinth des Lebens zu führen vermag Siehe Locke's Abhandlung über den menschlichen Verstand, Buch IV, Kap. 19, über die Begeisterung.; denn wenn ein Mensch unter allen Umständen inspirirt sein soll, wenn er einer Sache gewiß sein soll, weil er ihrer gewiß ist, wenn die gewöhnlichen Tätigkeiten des Geistes nicht als sehr außergewöhnliche Beweismethoden zu betrachten sind, wenn die Begeisterung die Stelle des Beweises, und die Tollheit die Stelle des gesunden Verstandes einnehmen soll, so ist alles Denken überflüssig. Der Mohammedaner stirbt, indem er für seinen Propheten kämpft, der Indier opfert sich, indem er sich von Brahma's Wagenrädern zermalmen läßt, der Hottentot betet ein Insekt an, der Neger einen Federbusch, der Mexikaner bringt Menschenopfer dar! Der Grad ihrer Ueberzeugung muß sicherlich sehr stark sein; er kann nicht aus der Ueberzeugung, sondern muß aus Gefühlen hervorgehen, welche der Lohn ihrer Gebete sind. Wenn sie Alle, im Gegensatz zu den denkbar stärksten Argumenten, versichern sollten, daß die Inspiration innere Beweiskraft enthalte, so fürchte ich, ihre inspirirten Brüder, die orthodoxen Missionäre, würden so lieblos sein, sie für starrköpfig zu erklären.

Wunder können nicht als Zeugnisse für eine bestrittene Thatsache gelten, weil alles menschliche Zeugniß stets ungenügend gewesen ist, die Möglichkeit von Wundern festzustellen. Was selbst nicht zu beweisen ist, kann nicht als Beweis für etwas Anderes dienen. Die Weissagung ist ebenfalls auf dem Probiersteine der Vernunft verworfen worden. Also sind nur Diejenigen, welche wirklich inspirirt waren, die einzig wahren Bekenner der christlichen Religion.

Bald, nachdem sie die Gottheit gesehen,
Schwoll der Jungfrau Leib, und die unvermählete Mutter
Fand erstaunt sich geschwängert mit einem unheimlichen Sprößling,
Denn sie sollte gebären den eigenen Schöpfer. Des Himmels
Bildner umfing ein sterblicher Leib, und es barg sich in Einem
Schooße die Kraft, die rings den gesammten Erdkreis umschließet.

Claudiani Carmen Paschale

Trägt eine so ungeheuerliche und widerwärtige Absurdität nicht ihre eigene Schmach und Widerlegung in sich?

 

VIII. S. 78.

Indeß von Hoffnung er zu Hoffnung stets
Dem Segen nacheilt, den der reiche Schatz
Des Menschenwohls dem Tugendhaften spendet,
Verleihen die Gedanken, die entstehen
In zeitzerstörender Unendlichkeit,
Ein ewig Wesen ihm, das in sich selbst
Verschlossen ruht, etc.

Die Zeit ist unser Bewußtsein von der Aufeinanderfolge der Gedanken in unserm Geiste. Lebhaftes Gefühl, von Schmerz wie von Lust, läßt uns die Zeit lang erscheinen, wie die gewöhnliche Redensart lautet, weil es uns unsrer Gedanken schärfer bewußt macht. Wenn ein Geist sich während einer Minute eines Hunderts, und während einer andern Minute zweier Hunderte von Gedanken bewußt wäre, so würde der letztere dieser Zeitabschnitte thatsächlich einen um so viel größeren Umfang im Geiste einnehmen, als Zwei Eins an Quantität übertrifft. Würde daher der menschliche Geist durch irgend eine künftige Vervollkommnung seiner Empfänglichkeit, sich einer unendlichen Zahl von Gedanken innerhalb einer Minute bewußt werden, so würde diese Minute Ewigkeit sein. Ich schließe hieraus nicht, daß der wirkliche Zeitraum zwischen der Geburt und dem Tod eines Menschen jemals verlängert werden wird; wohl aber, daß seine Empfänglichkeit vervollkommnungsfähig, und daß die Zahl von Gedanken, welche sein Geist aufzunehmen vermag, unbegrenzt ist. Ein Mensch liegt zwölf Stunden auf der Folterbank ausgestreckt, ein anderer schläft ruhig in seinem Bette; der Zeitunterschied, den diese Beiden wahrnehmen, ist ungeheuer; der Eine wird kaum glauben, daß eine halbe Stunde verstrichen sei, der Andere könnte sich überzeugt halten, daß Jahrhunderte während seiner Todesqual dahingezogen seien. So ist das Leben eines tugendhaften und begabten Menschen, der in seinem dreißigsten Jahr stürbe, seinen eignen Gefühlen nach länger, als das Leben eines elenden, von Pfaffen beherrschten Sklaven, der ein Jahrhundert voll Stumpfsinn verträumt. Der Eine hat fortwährend seine geistigen Fähigkeiten ausgebildet, hat sich zum Herrn seiner Gedanken gemacht, und kann inmitten der einschläfernden Alltagsgeschäfte sich zu Abstraktionen und Verallgemeinerungen erheben; – der Andere kann die schönsten Augenblicke seines Daseins verschlummern, und ist unfähig, sich der glücklichsten Stunde seines Lebens zu erinnern. Vielleicht erfreut sich die schnell hinsterbende Eintagsfliege eines längeren Lebens als die Schildkröte.

Dunkle Fluth der Zeit,
Roll hin, wie dir's gefällt! Ich messe nicht
Nach Monden und Sekunden deinen Lauf.
Mag neben mir, wer will, am Ufer stehn,
Der Blase nachzuschaun, die, ihm entschwindend,
Verweilt zu meinen Füßen. Das Gefühl
Der Liebe, Thatendurst und Gluthgedanken
Verlängern meinen Tag. Wach' ich nicht mehr,
So wird mein Leben mehr doch Leben sein,
Als manches kalten Graukopfs öde Jahre,
Die ungenützt verstreichen, nie erhellt
Von einem Strahl begeisterten Empfindens.

(Siehe Godwin's Pol. Just., Bd. I, S. 411; und Condorcet's
Esquisse d'un tableau historigue des progrès de l'esprit humain,
époque IX.
)

 

VIII. S. 78.

Nicht mehr das Lamm, das ihm ins Antlitz schaut,
Erschlägt er, sich an seinem Fleisch zu letzen.

Ich bin der Ansicht, daß die Verderbtheit der physischen und moralischen Natur des Menschen aus seinen unnatürlichen Lebensgewohnheiten hervorgegangen ist. Der Ursprung des Menschen ist, gleich dem Ursprung des Weltalls, von welchem er einen Theil bildet, in undurchdringliches Geheimniß gehüllt. Seine Geschlechter hatten entweder einen Anfang oder keinen. Das Gewicht der Beweise zu Gunsten einer jeden dieser beiden Annahmen scheint ziemlich gleich zu sein; und es ist für das vorstehende Argument völlig unerheblich, welche derselben man für richtig hält. Die Sprache jedoch, welche von der Mythologie fast aller Religionen geführt wird, scheint zu beweisen, daß in einer entlegenen Zeit der Mensch den Pfad der Natur verließ, und die Reinheit und das Glück seines Daseins unnatürlichen Gelüsten opferte. Das Datum dieses Ereignisses scheint zugleich das eines großen Wechsels in den Erdklimen gewesen zu sein, mit denen es in offenbarem Zusammenhange steht. Die Allegorie von Adam und Eva, welche vom Baum der Erkenntniß aßen und auf ihre Nachkommenschaft den Zorn Gottes und den Verlust ewigen Lebens vererbten, läßt keine andre Erklärung zu, als daß Krankheit und Verbrechen aus einer unnatürlichen Lebensweise hervorgegangen sind. Milton erkannte dies so gut, daß er Raphael folgendermaßen dem Adam die Folgen seines Ungehorsams vorhalten läßt:

Sofort erschien ein Ort
Vor seinen Blicken, widrig, finster trüb,
Gleich einem Hospital, wo Kranke lagen,
Zahllos, behaftet mit jedwedem Siechthum,
Mit grausem Krampf und Folterpein, mit Fiebern,
Anfällen herzzerreißender Todesqual,
Mit fallender Sucht und hitzigem Katarrh,
Mit Blasenstein, Geschwüren und Kolik,
Mit tollem Wahnsinn, brütend finstrer Schwermuth,
Mondsücht'gem Wahnwitz, schleichender Schwind- und Dörrsucht,
Mit Wassersucht, und weitverheerender Pest,
Mit Asthma und der Gliederquälerin Gicht.

– Und wie viel tausend Krankheiten mehr ließen sich nicht dieser schrecklichen
Liste hinzufügen!

Die Geschichte von Prometheus ist ebenfalls, obschon man allgemein zugiebt, daß sie allegorisch sei, nie genügend erklärt worden. Prometheus stahl das Feuer vom Himmel, und ward für dies Verbrechen an den Berg Kaukasus geschmiedet, wo ein Geier ihm beständig die Leber zerfraß, welche stets wieder wuchs, um besten Hunger zu stillen. Hesiod sagt, daß die Menschen vor der Zeit des Prometheus keinem Leid unterworfen waren, daß sie sich einer kräftigen Jugend erfreuten, und daß der Tod, wenn er endlich erschien, sich wie der Schlummer nahte und ihnen sanft die Augen schloß. Diese Meinung war ferner so allgemein verbreitet, daß Horaz, ein Dichter des Augustischen Zeitalters, schreibt:

Tollkühn, Jegliches auszustehn,
Stürzt durchs Frevelverbot rennend der Menschenstamm.
Tollkühn trug des Japetus
Sproß durch schnöden Betrug Feuer den Völkern zu.
Als ätherischem Sitz entwandt
War sein Feuer, befiel Zehrung die Länder und
Neuaufkeimende Fieberschaar,
Und sonst ferneren Tods zögernder Zwang ergriff
Nun schnelleilenden Flügelschritt.

Eine wie klare Sprache liegt in Allediesem! Prometheus (welcher das Menschengeschlecht repräsentirt) bewerkstelligte irgend einen großen Wechsel in dem Zustande seiner Natur, und verwandte das Feuer zu Zwecken der Kochkunst, indem er solchergestalt ein Mittel erfand, die Schrecken der Fleischerbank vor seinem Ekel zu verhüllen. Von diesem Augenblick an wurden seine edlen Theile vom Geier der Krankheit zerfressen. Letztere verzehrte sein Wesen unter jeder Gestalt ihrer widerwärtigen und unendlichen Mannichfaltigkeit, und führte die seelenmörderische Kräfteabnahme eines vorzeitigen und gewaltsamen Todes herbei. Alles Laster entstand aus dem Untergange gesunder Unschuld. – Tyrannei, Aberglaube, Handel und Ungleichheit wurden erst damals bekannt, als die Vernunft fruchtlos versuchte, die Verirrungen krankhaft aufwallender Leidenschaft zu leiten. Ich schließe diesen Theil meines Themas mit einem Auszuge aus Herrn Newton's »Vertheidigung der vegetabilischen Lebensweise«, welcher ich diese Auslegung der Prometheussage entlehnt habe.

»Wenn man solche Versetzung der allegorischen Ereignisse berücksichtigt, welche die Zeit hervorbringen mochte, nachdem die wichtigen Wahrheiten vergessen waren, die dieser Theil der alten Mythologie überliefern sollte, scheint der Kern der Sage folgender zu sein: – Der Mensch war bei seiner Erschaffung mit der Gabe fortwährender Jugend ausgestattet; d. h. er war nicht gebildet, um ein krankhaft leidendes Geschöpf zu sein, wie wir ihn jetzt sehen, sondern um sich der Gesundheit zu erfreuen, und langsam und allmählich ohne Krankheit oder Schmerz in den Schooß seiner Mutter Erde hinabzusinken. Prometheus lehrte zuerst den Gebrauch thierischer Nahrung ( primus bovem occidit Prometheus) Prometheus schlachtete zuerst einen Ochsen. Plinius' Naturgeschichte, Buch VII, Abschnitt 57. und des Feuers, um jene mittelst desselben verdaulicher und wohlschmeckender zu machen. Jupiter und die übrigen Götter, welche die Folgen dieser Erfindungen voraussahen, fühlten sich durch die kurzsichtigen Einfälle des neugeschaffenen Geschöpfes erheitert oder erzürnt, und überließen es ihm, die traurige Wirkung davon zu erfahren. Durst, der nothwendige Begleiter einer Fleischdiät (und vielleicht jeder durch Küchenzubereitung verdorbenen Nahrung) stellte sich ein; man nahm seine Zuflucht zum Wasser, und der Mensch verwirkte das unschätzbare Gut der Gesundheit, das er vom Himmel empfangen hatte; er wurde krank, sein Leben ward ein unsicher schwankendes, und er stieg nicht mehr langsam ins Grab Return to Nature. Cadell, 1811.

Der Schwelgerei folgt Krankheit sicherlich,
Und jeder Tod erzeugt den Rächer sich;
Die wilde Gier entsproß aus diesem Blut,
Und hetzte Mensch auf Mensch in toller Wuth.

Nur der Mensch und diejenigen Thiere, die er mit seiner Gesellschaft angesteckt oder durch seine Herrschaft verdorben hat, sind krank geworden. Das wilde Schwein, das Mufflon, der Bison und der Wolf sind frei von jeder Krankheit, und sterben ausnahmslos entweder durch äußere Gewalt oder durch natürliches hohes Alter. Aber das zahme Schwein, das Schaf, die Kuh und der Hund sind einer unglaublichen Menge verschiedenartiger Erkrankungen unterworfen, und haben, gleich den Verderbern ihrer Natur, Aerzte, die sich durch ihre Leiden ernähren und bereichern. Der Vorrang des Menschen ist, wie derjenige Satans, der Vorrang der Leiden; und die Mehrzahl seines Geschlechtes, zu Armuth, Krankheit und Verbrechen verdammt, hat alle Ursache, das widerwärtige Ereigniß zu verfluchen, das ihn durch die Befähigung, seine Empfindungen mitzutheilen, über die Sphäre seiner Nebenthiere erhob. Aber die Schritte, die gethan worden sind, lassen sich nicht ungeschehn machen. Die Summe aller menschlichen Wissenschaft ist in der einen Frage enthalten: – Wie lassen sich die Vortheile der Bildung und Civilisation mit der Freiheit und den reinen Genüssen eines naturgemäßen Lebens versöhnen? Wie können wir uns der Wohlthaten des Systems versichern, das jetzt mit allen Fibern unsres Wesens verflochten ist, und zugleich dessen Uebel verbannen? – Ich glaube, daß das Enthalten von thierischer Nahrung und geistigen Getränken uns in hohem Grade zu der Lösung dieses wichtigen Problems befähigen würde.

Es ist wahr, daß geistige und körperliche Zerrüttung zum Theil anderen Abweichungen vom richtigen Wege und von der Natur zuzuschreiben sind, als solchen, welche die Diät betreffen. Die von der Gesellschaft gehätschelten Mißbräuche hinsichtlich des Verkehrs der Geschlechter, aus welchen das Elend und die Krankheiten unbefriedigter Ehelosigkeit, freudelose Prostitution und das verfrühte Eintreten der Mannbarkeit nothwendig entstehen; die unreine Luft dichtbevölkerter Städte; die Ausdünstungen chemischer Prozesse; das Verhüllen unsres Körpers mit überflüssiger Kleidung; die vernunftlose Behandlung der Kinder – alle diese und unzählige andere Ursachen tragen ihr Scherflein zu der Gesammtsumme menschlicher Uebel bei.

Die vergleichende Anatomie lehrt uns, daß der Mensch in Allem den pflanzenfressenden, in Nichts den fleischfressenden Thieren gleicht; er hat weder Klauen, um seine Beute zu packen, noch besondere und zugespitzte Zähne, um die lebendige Faser zu zerreißen. Ein Mandarin »erster Klasse« mit zwei Zoll langen Nägeln würde diese allein wahrscheinlich nicht ausreichend finden, auch nur einen Hasen festzuhalten. Unsrer Schwelgerei willen muß durch eine widernatürliche und unmenschliche Operation der Stier zum Ochsen und der Widder zum Hammel erniedrigt werden, damit die schlaffe Faser der rebellischen Natur geringeren Widerstand entgegensetze. Nur indem wir todtes Fleisch durch Küchenzubereitung erweichen und umgestalten, wird dasselbe kaubar und verdaulich gemacht, und ruft der Anblick seines blutigen Saftes und seiner rohen Widerlichkeit keinen unerträglichen Ekel und Abscheu mehr hervor. Möge der Vertheidiger thierischer Nahrung sich selbst zu einem entscheidenden Versuch ihrer Angemessenheit zwingen, und, wie Plutarch empfiehlt »Ihr nennt Schlangen, Panther und Löwen grausam, und doch mordet ihr selbst ohne Scheu, und gebt ihnen an Grausamkeit Nichts nach; denn sie morden, um sich Nahrung zu verschaffen, ihr aber bloß der Zukost wegen ...
»Daß der Genuß des Fleisches dem Menschen nicht natürlich ist, erhellt fürs erste aus der Einrichtung und dem Bau seines Körpers. Denn der Leib des Menschen hat mit den zum Fleischessen bestimmten nicht die mindeste Aehnlichkeit. Er ist nicht mit gebogenem Schnabel, nicht mit scharfen Krallen und spitzigen Zähnen, nicht mit der Stärke des Magens und der Wärme der Lebensgeister ausgestattet, welche ihn befähigten, die schweren Fleischspeisen zu kochen und zu verdauen. Die Glätte der Zähne, die Kleinheit des Mundes, die Weichheit der Zunge und die Schwäche der Verdauungskraft beweisen vielmehr, daß die Natur uns von Anfang her das Fleischessen untersagt hat. Bestehst du gleichwohl darauf, daß du zu solchen Speisen geschaffen seist, so tödte erstlich selbst, was du essen willst, aber durch eigene Kraft, ohne ein Schlachtmesser, eine Keule oder ein Beil zu gebrauchen, sondern wie Wölfe, Bären und Löwen die Thiere tödten, die sie verzehren. Erwürge einen Stier durch den Biß, oder zerreiß ein Schwein, ein Lamm, einen Hasen mit dem Rachen, und verzehre, wie jene, deine Beute noch halb lebend ...
»Wir aber schweifen in der Mordlust so sehr aus, daß wir das Fleisch nur eine Zukost nennen, und dann zum Fleische wieder andere Zukost brauchen, indem wir Oel, Wein, Honig, Fischtunke, Essig, auch syrische und arabische Gewürze dazu mischen, und es gleichsam als einen wirklichen Leichnam einbalsamiren. Das auf diese Art aufgelöste, erweichte, und gewissermaßen in Fäulniß übergegangene Fleisch läßt sich äußerst schwer verdauen, und wenn auch der Magen stark genug ist, es zu bewältigen, so verursacht es doch gar oft Unverdaulichkeiten und andere unangenehme Beschwerden ...
»Zuerst wurde irgend ein wildes schädliches Thier gegessen, dann ein Vogel oder Fisch zur Speise gebraucht. Die an diesen Geschöpfen geübte und erregte Mordsucht ging dann zum arbeitenden Rinde, zu dem uns kleidenden Schafe und zum wachsamen Haushahn fort, und so verstärkten die Menschen ihre Unersättlichkeit immer mehr, bis sie endlich gar zum Kriege, zum Schlachten und Würgen ihrer Nebenmenschen, schritten.« – Plutarch, Ueber das Fleischessen.
, ein lebendiges Lamm mit seinen Zähnen zerreißen, und, seinen Kopf in dessen Eingeweide steckend, seinen Durst mit dem dampfenden Blute stillen; noch triefend von dieser Schreckensthat, möge er umkehren zu dem unwiderstehlichen Triebe der Natur, die anklagend wider ihn aufstehen würde, und sagen: »Die Natur erschuf mich zu solchem Werke.« Dann, und nur dann, würde er konsequent sein.

Der Mensch gleicht keinem fleischfressenden Thiere. Es giebt von der Regel, daß kräuterfressende Thiere zellige Grimmdärme haben, keine Ausnahme, es sei denn der Mensch wäre eine solche.

Der Orangutang gleicht völlig dem Menschen, sowohl in der Ordnung wie in der Zahl seiner Zähne. Der Orangutang ist der menschenähnlichste unter dem Affengeschlechte, welches sich ausschließlich von Früchten nährt. Es giebt keine andere Thiergattung, die verschiedenes Futter frißt, bei welcher diese Analogie existirte Cuvier, Leçons d'Anatomie comparative, Bd. III, S. 169, 373, 448, 465 und 480. – Rees' Encyklopädie, Artikel »Mensch«.. Bei vielen fruchtfressenden Thieren sind die Hundszähne spitzer und ausgeprägter, als beim Menschen. Auch die Aehnlichkeit des menschlichen Magens mit demjenigen des Orangutang ist größer, als mit dem irgend eines anderen Thieres.

Die Eingeweide sind ebenfalls denen der kräuterfressenden Thiere völlig gleich, welche eine breitere Fläche für die Entleerung aufweisen und weite, zellige Grimmdärme haben. Auch der Blinddarm ist, obschon kurz, doch größer als bei fleischfressenden Thieren, und selbst hier bewahrt der Orangutang seine gewohnte Aehnlichkeit.

Der Bau der menschlichen Gestalt ist also der Bau eines Geschöpfes, das sich in jedem wesentlichen Punkte zu einer rein vegetabilischen Nahrung bestimmt zeigt. Es ist wahr, daß die Abneigung, sich thierischer Nahrung zu enthalten, bei Denen, welche lange an dies Reizmittel gewöhnt waren, mindestens bei einigen Leuten von schwacher Energie, so groß ist, daß er sich kaum überwinden läßt; aber dies spricht nicht im entferntesten zu Gunsten jener Nahrung. Ein Lamm, das eine Zeitlang von der Mannschaft eines Schiffes mit Fleisch gefüttert worden war, wies am Ende der Reise sein natürliches Futter zurück. Man hat zahlreiche Beispiele von Pferden, Schafen, Ochsen und sogar von wilden Tauben, die an das Fleischfressen gewöhnt wurden, bis sie Ekel vor ihrer naturgemäßen Nahrung empfanden. Kleine Kinder ziehen augenscheinlich Backwerk, Apfelsinen, Aepfel und andere Früchte dem Fleische von Thieren vor, bis durch die allmähliche Korruption der Verdauungsorgane der freie Gebrauch der Vegetabilien für eine Zeitlang ernstliche Unannehmlichkeiten erzeugt hat; – für eine Zeitlang, sage ich, weil niemals ein Beispiel vorgekommen ist, daß der Uebergang von geistigen Getränken und thierischer Nahrung zu Vegetabilien und reinem Wasser schließlich verfehlt hätte, den Körper zu stärken, indem sie seine Säfte mild und rein machten, und dem Geiste jene Heiterkeit und Schwungkraft wiederzugeben, die bei der jetzigen Lebensweise nicht Einer unter Fünfzig besitzt. Ebenso wird die Liebe zu starken Getränken Kindern nur schwer beigebracht. Fast Jeder entsinnt sich des schiefen Gesichtes, welches das erste Glas Portwein ihn schneiden ließ. Der unverfälschte Instinkt täuscht sich niemals; aber wenn man über die Angemessenheit thierischer Nahrung nach dem verderbten Geschmack urtheilen will, den ihre gezwungene Annahme erzeugt, so heißt Das, den Verbrecher zum Richter in seiner eigenen Sache machen; ja, es ist noch schlimmer, es heißt bei der Frage über die Zuträglichkeit des Branntweins an den verblendeten Trunkenbold appelliren.

Was ist die Ursache der krankhaften Thätigkeit in unserm animalischen System? Nicht die Luft, die wir athmen, denn unsre Mitgeschöpfe in der Natur athmen dieselbe ungeschädigt; nicht das Wasser, das wir trinken (wenn es von der Beschmutzung des Menschen und seiner Erfindungen freigehalten wird) Die Nothwendigkeit, sich einiger Mittel zur Reinigung des Wassers zu bedienen, und die Krankheiten, welche aus seiner Verunreinigung in civilisirten Ländern entstehen, sind einleuchtend genug. Siehe Dr. Lambe's Reports on Cancer. Ich behaupte nicht, daß der Gebrauch des Wassers an sich unnatürlich sei, wohl aber, daß der unverdorbene Gaumen keine Flüssigkeit genießen würde, die Krankheit erzeugen kann., denn die Thiere trinken es gleichfalls; nicht die Erde, auf der wir wandeln; nicht der ungetrübte Anblick der hehren Natur in Wald, Feld oder im Bereich des Himmels und Meeres; Nichts, das wir mit den krankheitsfreien Bewohnern des Waldes gemein haben oder gleich ihnen thun; aber Etwas also, worin wir von ihnen abweichen: unsre Gewohnheit, unsre Speise durch das Feuer zu verändern, so daß unser Appetit nicht mehr einen richtigen Maßstab für die Angemessenheit seiner Befriedigung abgeben kann. Ausgenommen bei Kindern, bleibt keine Spur jenes Instinktes übrig, der bei allen anderen Thieren entscheidet, welche Nahrung naturgemäß ist oder nicht; und so völlig abgestumpft ist derselbe bei den philosophirenden Erwachsenen unsrer Gattung, daß es nöthig geworden ist, zu Darlegungen der vergleichenden Anatomie seine Zuflucht zu nehmen, um zu beweisen, daß wir von Natur Fruchtesser sind.

Verbrechen ist Wahnsinn. Wahnsinn ist Krankheit. Sobald die Ursache der Krankheit entdeckt ist, wird die Wurzel alles Lasters und Elends, das so lange den Erdball verfinstert hat, bis zum Kerne entblößt daliegen. Alle Bemühungen des Menschen werden von jenem Augenblick an den offenbaren Vortheil seines Geschlechtes zum Zweck haben. Kein gesunder Geist in einem gesunden Körper entschließt sich zu einem wirklichen Verbrechen. Nur ein Mensch von heftigen Leidenschaften, mit blutunterlaufenen Augen und geschwollenen Adern, kann den Mordstahl ergreifen. Das System einer einfachen Lebensweise verspricht keine utopischen Vortheile. Es ist keine bloße Reform der Gesetzgebung, wobei die tollen Leidenschaften und bösen Neigungen des menschlichen Herzens, in denen sie ihren Ursprung hatte, ungesänftigt bleiben. Es trifft die Wurzel alles Uebels, und ist ein Versuch, der mit sicherm Erfolg nicht nur von Völkern, sondern von kleinen Gesellschaften, Familien, und selbst von einzelnen Personen gemacht werden kann. In keinem Falle hat eine Rückkehr zur vegetabilischen Nahrung den mindesten Nachtheil zur Folge gehabt; meistens hat sie unleugbar wohlthätige Veränderungen hervorgebracht. Würde jemals ein Arzt mit dem Genie Locke's geboren, so könnte er – davon bin ich überzeugt – alle körperlichen und geistigen Zerrüttungen eben so klar auf unsre unnatürliche Lebensweise zurückführen, wie jener Philosoph alles Wissen auf die sinnlichen Eindrücke zurückführte. Welche fruchtbare Quellen der Krankheit sind nicht jene mineralischen und vegetabilischen Gifte, welche zu ihrer Ausrottung eingeführt worden sind! Wie viele Tausende sind Mörder und Räuber, Frömmler und Haustyrannen, liederliche und verlorene Abenteurer geworden durch den Gebrauch gegohrener Getränke, während sie, wenn sie ihren Durst bloß mit reinem Wasser gestillt hätten, nur gelebt haben würden, um das Glück ihrer eigenen unverdorbenen Gefühle auf Andere auszuströmen. Wie viele grundlose Ansichten und abgeschmackte Einrichtungen haben nicht durch die Trunkenheit und Unmäßigkeit einzelner Leute allgemeine Anerkennung erhalten! Wer will behaupten, daß die Bevölkerung von Paris, wenn sie ihren Hunger an der stets gedeckten Tafel der vegetabilischen Natur gestillt hätte, der Proscriptionsliste Robespierre's ihre brutale Zustimmung würde gezollt haben? Könnte ein Menschenschlag, dessen Leidenschaften nicht durch unnatürliche Reizmittel verderbt wären, mit kalter Gelassenheit auf ein Autodafé blicken? Ist es zu glauben, daß ein Wesen von sanftem Gefühl, das von seinem Wurzelmahl aufstünde, Lust am Blutvergießen finden könnte? War Nero ein Mann von mäßiger Lebensweise? Konnte man ruhige Gesundheit auf seiner Wange erblicken, die von unbezähmbaren Trieben des Hasses gegen das Menschengeschlecht erglühte? Schlug Muley Ismael's Puls gleichmäßig, war seine Haut durchsichtig, strahlte aus seinen Augen Gesundheit und deren stete Begleiter, Frohsinn und Milde? Obgleich die Geschichte keine dieser Fragen entschieden hat, könnte doch selbst ein Kind nicht anstehen, sie mit Nein zu beantworten. Gewiß sprechen die galligen Wangen Bonaparte's, seine gefurchte Stirn, sein gelbes Auge, die beständige Unruhe seines Nervensystems, nicht minder deutlich den Charakter seines rastlosen Ehrgeizes aus, als seine Mordthaten und Siege. Es ist unmöglich, daß Bonaparte, wenn er aus einem Geschlechte von Pflanzen- und Fruchtessern entsprossen wäre, die Neigung oder die Macht gehabt haben könnte, den Thron der Bourbons zu besteigen. Eine Gesellschaft, die weder durch Trunkfälligkeit närrisch gemacht, noch durch Krankheit ohnmächtig und vernunftlos geworden ist, könnte schwerlich in dem einzelnen Individuum das Verlangen nach der Tyrannenherrschaft erwecken, und würde ihm sicherlich die Macht, zu tyrannisiren, nicht anvertraut haben. Unerschöpfliche Trübsal geht in der That aus der Mißachtung des Instinktes hervor, da unsre physische Natur davon berührt wird; die zahlreichen Quellen der Krankheit im civilisirten Leben vermag die Rechenkunst nicht aufzuzählen, vielleicht nicht einmal der Verstand zu ahnen. Selbst das gewöhnliche Wasser, dies anscheinend unschädliche Getränk, ist, wenn es durch den Schmutz volkreicher Städte verdorben ward, ein lebensgefährlicher und heimtückischer Zerstörer Lambe's Reports on Cancer.. Wen kann es Wunder nehmen, daß alle Lockmittel zur Tugend, welche Gott selbst in der Bibel darbot, sich nutzloser denn ein Ammenmärchen erwiesen, und daß man jene Dogmen, durch welche er dort die wildesten Triebe erweckte und rechtfertigte, allein für wesentlich gehalten hat, da die Christen in ihrer täglichen Lebensweise sich all' jener Gewohnheiten befleißigen, welche mit Krankheit und Verbrechen nicht allein die verworfenen Söhne, sondern die begünstigten Schooßkinder der Liebe des gemeinsamen Vaters angesteckt haben! Die Allmacht selbst konnte sie nicht retten vor den Folgen dieser allgemeinen Ur- und Erbsünde.

Es giebt keine körperliche oder geistige Krankheit, welche die Rückkehr zu vegetabilischer Diät und reinem Wasser nicht unfehlbar gelindert hat, sobald der Versuch nur ernstlich gemacht worden ist. Hinfälligkeit ist nach und nach in Kraft verkehrt worden, Krankheit in Gesundheit, Tollheit in all ihren schrecklichen Abstufungen, von dem Toben des gefesselten Wahnsinnigen bis zu den unerklärlichen Verirrungen eines verstimmten Gemüths, welche das häusliche Leben zur Hölle machen, in eine ruhige und bedachtsame Gleichmäßigkeit des Gemüths, welche allein ein sicheres Unterpfand der künftigen moralischen Veredlung der Gesellschaft zu gewähren vermag. Bei einem naturgemäßen Diätsystem würde das Greisenalter unsre letzte und einzige Krankheit sein; die Dauer unsrer Existenz würde verlängert werden; wir würden das Leben genießen, und nicht mehr Andere vom Genusse desselben ausschließen; alle sinnlichen Freuden würden unendlich erlesener und vollkommener sein; das Gefühl des Daseins selbst würde dann eine fortdauernde Lust sein, wie wir dieselbe heutigen Tags in einigen wenigen und bevorzugten Augenblicken unsrer Jugend empfinden. Bei Allem, was heilig ist in unsren Hoffnungen für die Menschheit, beschwör ich Diejenigen, welche Glückseligkeit und Wahrheit lieben, einen ernstlichen Versuch mit dem vegetabilischen System zu machen. Es ist gewiß überflüssig, lang und breit über einen Gegenstand zu reden, dessen Vorzüge eine sechsmonatliche Erfahrung für immer ins Klare setzen würde. Freilich nur von den Aufgeklärten und Wohlmeinenden läßt sich ein so großes Opfer des Appetits und des Vorurtheiles erwarten, selbst wenn seine schließliche Vortrefflichkeit keinen Zweifel zuließe. Die kurzsichtigen Opfer der Krankheit finden es bequemer, ihre Schmerzen durch Arzeneien momentan zu lindern, als denselben durch Diät vorzubeugen. Die große Masse in allen Ständen ist immer sinnlich und schwer zu belehren; dennoch kann ich mich nur überzeugt halten, daß, wenn die Wohlthaten vegetabilischer Diät mathematisch erwiesen sind, wenn es eben so klar ist, daß die, welche naturgemäß leben, vor einem frühzeitigen Tode geschützt sind, wie daß eins nicht neun ist, auch der einfältigste Mensch einem langen und ruhigen Leben vor einem kurzen und schmerzerfüllten den Vorzug geben wird. Durchschnittlich sterben von sechzig Personen vier in drei Jahren. Es steht zu hoffen, daß im April 1814 ein Bericht erscheinen werde, daß sechzig Personen, die sämmtlich mehr als drei Jahre lang von Vegetabilien und reinem Wasser gelebt haben, sich alsdann völlig gesund befinden. Mehr als zwei Jahre sind jetzt verflossen; nicht Einer von ihnen ist gestorben; kein ähnliches Beispiel wird sich bei sechzig Personen finden lassen, die man aufs Gerathewohl herausgreift. Siebzehn Personen des verschiedensten Alters (die Familien des Dr. Lambe und des Herrn Newton) haben sieben Jahre lang nach dieser Diät ohne einen Sterbefall und fast ohne die mindeste Unpäßlichkeit gelebt. Wenn wir bedenken, daß einige von ihnen Kinder waren und daß Einer am Asthma litt, das nun beinahe gewichen ist, so können wir gewiß beliebige siebzehn Personen dieser Stadt, welche aufs Gerathewohl herausgegriffen sind, auffordern, einen gleichen Fall nachzuweisen. Diejenigen, welche sich durch diese flüchtigen Bemerkungen angeregt fühlen sollten, die Richtigkeit der von ihnen eingehaltenen Lebensweise zu bezweifeln, thäten wohl daran, Herrn Newton's lichtvollen und beredten Aufsatz darüber Return to nature, or Defence of vegetable regimen. Cadell, 1811. zu Rathe zu ziehen.

Wenn diese Beweise der Welt hinlänglich zu Gesicht kommen, und von Allen, welche sich aufs Rechnen verstehen, deutlich erkannt werden, so ist es kaum möglich, daß das Verzichtleisten auf erweislich schädliche Nahrungsmittel nicht allgemein werden sollte. – Die Stärke der Beweiskraft wird im Verhältnisse zu der Zahl der Proselyten stehen; und wenn tausend Personen aufgeführt werden können, die, von Vegetabilien und gereinigtem Wasser leben, und keine Krankheit, außer dem Greisenalter, zu befürchten haben, so wird die Welt genöthigt sein, Thierfleisch und gegohrene Getränke als langsam, aber sicher wirkende Gifte zu betrachten. Die Veränderung, welche durch einfachere Lebensweise für die Staatswirthschaft herbeigeführt werden würde, ist beachtenswerth genug. Der sich seines Monopols erfreuende Verzehrer von Thierfleisch würde nicht länger seine Konstitution zerstören, indem er einen Acker in einer Mahlzeit verschlingt, und mancher Laib Brot würde aufhören, in Gestalt eines Krugs Porter oder eines Glases Schnaps zu Gicht, Wahnsinn und Schlagfluß beizutragen, statt den lang sich hinquälenden Hunger der verschmachtenden Kinder des hart arbeitenden Bauern zu stillen. Die Quantität nahrhafter vegetabilischer Stoffe, welche verbraucht wird, um das Geripp eines Ochsen zu mästen, würde zehnmal soviel Lebensmittel liefern, die unverdorben und unfähig wären, Krankheit zu erzeugen, wenn man sie unmittelbar dem Schooß der Erde entnähme. Die fruchtbarsten Strecken der bewohnbaren Erde werden jetzt thatsächlich von den Menschen für Thiere angebaut, mit einer absolut unberechenbaren Verschwendung von Zeit und Nahrungsmitteln. Nur die Wohlhabenden können in größerem Maßstabe selbst jetzt das unnatürliche Verlangen nach todtem Fleische befriedigen, und sie zahlen den Preis für die größere Ausdehnung dieses Vorrechts, indem sie überzähligen Krankheiten unterworfen sind. Ferner würde der Geist derjenigen Nation, welche in dieser großen Reform voranschritte, unmerklich sich dem Ackerbau zuwenden; der Handel, mit all seinen Lastern, seiner Selbstsucht und Verderbtheit, würde allmählich abnehmen; die natürlichere Lebensweise würde mildere Sitten hervorbringen, und die übertriebene Verwicklung der politischen Verhältnisse würde so weit vereinfacht werden, daß jeder Einzelne fühlen und begreifen könnte, weshalb er sein Vaterland liebe und ein persönliches Interesse an der Wohlfahrt desselben nehme. Wie würde England z. B. von den Launen fremder Herrscher abhängig sein, wenn es in sich selbst alle Bedürfnisse enthielte und Alles verachtete, was Jene an Luxusgegenständen des Lebens besäßen? Wie könnten sie es durch eine Art Aushungerungssystem zur Einwilligung in ihre Forderungen zwingen? Von welcher Wirkung würde es sein, daß sie sich weigerten, ihm seine Wollfabrikate abzunehmen, wenn große und fruchtbare Landstriche der Insel aufhörten, zu Viehweiden verschwendet zu werden? Bei einer naturgemäßen Diät würden wir keiner Gewürze aus Indien bedürfen; keiner Weine aus Portugal, Spanien, Frankreich oder Madeira; keines von all' jenen zahlreichen Luxusartikeln, um derentwillen jeder Winkel der Erde ausgeplündert wird, und welche die Ursache so vieler persönlicher Nebenbuhlerschaft, so unheilvoller und blutiger Völkerzwiste sind. In der Geschichte der neueren Zeit scheint die Habgier des kaufmännischen Monopols nicht minder, als der Ehrgeiz schwacher und verderbter Führer, die allgemeine Zwietracht angefacht, den Mißgriffen der Kabinette die Halsstarrigkeit und der Verblendung des Volkes die Bornirtheit hinzugefügt zu haben. Möge man sich stets daran erinnern, daß der Handel unmittelbar den Einfluß übt, die Kluft zwischen dem Reichsten und dem Aermsten zu erweitern und unausfüllbarer zu machen. Möge man sich erinnern, daß derselbe ein Feind von Allem ist, das im menschlichen Charakter wahren Werth und wahre Vortrefflichkeit besitzt. Die verhaßte und widerwärtige Aristokratie des Reichthums ist auf den Trümmern alles Dessen erbaut, was Ritterthum oder Republikanerthum Gutes an sich haben; und der Luxus ist der Vorläufer eines Barbarenthums, von dem es kaum eine Heilung giebt. Ist es unmöglich, einen Gesellschaftszustand zu verwirklichen, wo alle Thatkraft des Menschen darauf gerichtet ist, ihm eine dauernde Glückseligkeit zu verschaffen? Wenn dieser Gewinn (der Gegenstand aller politischen Spekulation) irgendwie erreichbar ist, so ist er sicherlich nur durch ein Gemeinwesen zu erreichen, das der Habgier und Ehrsucht einiger Wenigen keine künstlichen Lockmittel darbietet, sondern von Grund aus auf die Freiheit, die Sicherheit und das Wohlergehen der großen Mehrzahl berechnet ist. Niemand darf mit Macht betraut werden (und Geld ist die umfassendste Art der Macht), der nicht verpflichtet ist, sie ausschließlich zum allgemeinen Besten anzuwenden. Aber der Gebrauch thierischen Fleisches und gegohrener Getränke widerstreitet direkt dieser Gleichheit der Menschenrechte. Der Bauer kann nicht diese Gelüste der höheren Stände befriedigen, ohne seine Familie der Gefahr des Verhungerns preiszugeben. Ohne Krankheit und Krieg, diese verheerenden Verminderer der Bevölkerung, wären Viehweiden eine zu große Ländereiverschwendung, als daß man sie gestatten dürfte. Die zum Unterhalt einer Familie erforderliche Arbeit ist weit leichter Der Verfasser weiß aus eigener Erfahrung, daß einige Damm-Arbeiter in Nord-Wales, die wegen Zahlungsunfähigkeit des Eigenthümers selten ihren Lohn empfingen, große Familien dadurch unterhielten, daß sie bei Mondlicht kleine Strecken schlechten Bodens bebauten. In den Anmerkungen zu Pratt's Gedicht: »Brot, oder die Armen« wird von einem erfinderischen Arbeiter erzählt, der eine beneidenswerthe Unabhängigkeit dadurch erlangte, daß er vor und nach seinem Tagewerk einen kleinen Garten bearbeitete., als man gewöhnlich annimmt. Die Bauern arbeiten nicht allein für sich selbst, sondern auch für die Aristokratie, das Heer und die Fabrikanten.

Der Nutzen einer Reform in der Diät ist offenbar größer, als derjenige jeder andern Reform. Er trifft die Wurzel des Uebels. Die Mißbräuche der Gesetzgebung heilen, ehe wir die Neigungen ertödten, durch welche sie herbeigeführt werden, heißt voraussetzen, daß die Ursache aufhören werde zu wirken, wenn man die Wirkung beseitigt. Aber der Erfolg dieses Systemes beruht gänzlich darauf, daß die Einzelnen sich zu ihm bekehren, und gründet sein Verdienst, als eine Wohlthat für das Gemeinwesen, auf die völlige Veränderung der diätetischen Gewohnheiten bei seinen Mitgliedern. Es schreitet mit Sicherheit von einer Anzahl besonderer Fälle zu einem allgemeinen fort, und hat vor dem entgegengesetzten Verfahren den Vorzug, daß Ein Irrthum nicht Alles, was vorhergegangen ist, entkräftet.

Erwarte man jedoch nicht zu Viel von diesem Systeme. Der Gesündeste unter uns ist nicht von erblicher Krankheit frei. Der ebenmäßigste, kräftigste und langlebendste Mensch ist ein unaussprechlich untergeordnetes Wesen im Verhältniß zu Dem, was er gewesen sein würde, wenn nicht die naturwidrige Lebensweise seiner Vorfahren eine gewisse Dosis Krankheit und Verunstaltung für ihn angehäuft hätte. Bei dem vortrefflichsten Exemplar civilisirter Menschheit wird die physiologische Kritik doch stets Etwas vermissen. Kann also eine Rückkehr zur Natur auf der Stelle Anlagen ausrotten, welche während unzähliger Jahre stillschweigends Wurzel gefaßt haben? Unzweifelhaft nicht. Alles, was ich behaupte, ist, daß von dem Augenblick an, wo man allen naturwidrigen Gewohnheiten entsagt, keine neue Krankheit mehr erzeugt wird; und daß die Anlage zu erblichen Krankheiten allmählich entschwindet, weil ihr die gewohnte Unterstützung entzogen wird. Bei Schwindsucht, Krebs, Gicht, Asthma und Skrofeln wird eine Diät von Vegetabilien und reinem Wasser unabänderlich in dieser Richtung wirken.

Diejenigen, welche sich durch diese Bemerkungen veranlaßt finden, es einmal ernstlich mit dem vegetabilischen System zu versuchen, sollten vor Allem mit der Befolgung desselben von dem Augenblick ihres Ueberzeugtseins an beginnen. Alles hängt davon ab, entschlossen und sofort einer schädlichen Gewohnheit zu entsagen. Dr. Trotter, Trotter, On the nervous temperament. versichert, daß noch niemals ein Trunkenbold durch allmähliches Aufgeben seines Schnapstrinkens gebessert worden ist. Thierfleisch ist, Betreffs seiner Wirkungen auf den menschlichen Magen, dem Schnapse analog. Es ist demselben ähnlich in der Art, wenn auch nicht in dem Grade, seiner Wirkung. Wer sich zu einer reinen Diät bekehrt, muß sich darauf gefaßt machen, eine zeitweilige Verminderung seiner Muskelkraft eintreten zu sehen. Die Entziehung eines starken Reizmittels wird zur Erklärung dieses Umstandes genügen. Aber diese Wirkung ist nur vorübergehend, und es folgt ihr eine gleichmäßige Fähigkeit zur Anstrengung, welche seine frühere, verschiedenartig wechselnde Kraft weit übertrifft. Vor Allem wird er jene Leichtigkeit des Athmens erlangen, durch welche derartige Anstrengungen hervorgebracht werden, und wird auffallend frei sein von jenem schmerzlichen und schweren Keichen, das jetzt fast Jeden befällt, wenn er schnell einen gewöhnlichen Berg erstiegen hat. Er wird vor wie nach seiner einfachen Mahlzeit gleicherweise körperlicher Anstrengung oder geistiger Arbeit fähig sein. Er wird keine der narkotischen Wirkungen gewöhnlicher Diät verspüren. Reizbarkeit, die unmittelbare Folge erschlaffender Reizmittel, würde der Gewalt naturgemäßer und ruhiger Impulse weichen. Er wird nicht länger unter dem einschläfernden Joche der Langeweile seufzen, jener unbezwinglichen Lebensmüdigkeit, die mehr als der Tod selber zu fürchten ist. Er wird der epidemischen Tollheit entgehen, die über ihren eigenen argen Ansichten von der Gottheit brütet, und »die Hölle verwirklicht, welche Pfaffen und alte Betschwestern annehmen«. Jedermann bildet durchgehends seinen Gott nach seinem eignen Charakter; der Gottheit eines Menschen von einfacher Lebensweise würde keine Opfergabe angenehmer sein, als das Glück ihrer Geschöpfe. Er würde unfähig sein, Andere um der Liebe Gottes willen zu hassen oder zu verfolgen. Ja, er wird sogar finden, daß ein System einfacher Diät ein wahrhaft epikuräisches System ist. Er wird nicht mehr unablässig bemüht sein, diejenigen Organe, von welchen er seinen Genuß erwartet, zu schwächen und zu zerstören. Die Geschmacksvergnügungen, welche aus einer Mahlzeit von Kartoffeln, Bohnen, Erbsen, Rüben, Salat, mit einem Nachtische von Aepfeln, Stachelbeeren, Erdbeeren, Johannisbeeren, Himbeeren, und im Winter Orangen, Aepfeln und Birnen, erwachsen, sind weit größer, als man glaubt. Diejenigen, welche warten, bis sie diese einfache Kost mit der Würze des Appetits essen können, werden schwerlich mit dem heuchlerischen Sensualisten bei einem Lordmayors-Diner übereinstimmen, der wider die Tafelfreuden deklamirt. Salomo hielt tausend Kebsweiber, und gestand verzweiflungsvoll, daß Alles eitel sei. Der Mann, dessen Glück in der Gesellschaft eines liebenswürdigen Weibes besteht, würde es ziemlich schwer finden, mit der Enttäuschung jenes ehrwürdigen Lüstlings zu sympathisiren.

Ich wende mich nicht bloß an den jungen Enthusiasten, den eifrigen Verehrer der Wahrheit und Tugend, den reinen und leidenschaftlichen Moralisten, der noch unverderbt ist durch die Befleckung der Welt. Er wird ein reines System um seiner abstrakten Wahrheit, Schönheit, Einfachheit und seiner Verheißung weitgreifenden Segens willen annehmen; falls nicht die Gewohnheit Gift in Nahrung verwandelt hat, wird er die rohen Freuden der Jagd aus innerem Triebe hassen; es wird für sein Gemüth ein Gedanke voll Grausen und Ekel sein, daß Wesen, die der zartesten und bewundrungswürdigsten Sympathien fähig sind, an der Todesqual und den letzten Zuckungen sterbender Thiere sollten Freude haben können. Allein auch der ältere Mann, dessen Jugend durch Unmäßigkeit vergiftet ward, oder der anscheinend mäßig gelebt hat, und mit einer Reihe schmerzlicher Krankheiten behaftet ist, würde bei einem wohlthätigen Wechsel, der ohne die Gefahr giftiger Arzeneien hervorgebracht wird, seine Rechnung finden. Die Mutter, für welche die beständige Unruhe der Krankheit und das unerklärliche Dahinwelken ihrer Kinder die Ursachen unheilbarer Trauer sind, würde bei dieser Diät die Genugthuung haben, sie beständig gesund und munter zu sehen, wie die Natur es gewollt hat Siehe das Buch des Herrn Newton. Seine Kinder sind die schönsten und gesündesten Geschöpfe, die man sich denken kann; die Mädchen sind vollendete Modelle für einen Bildhauer; ihre Sinnesart ist die sanfteste und freundlichste; die vernünftige Behandlung, welche sie in anderen Stücken erfahren, mag eine mitwirkende Ursache davon sein. In den ersten fünf Jahren ihres Lebens sterben von 18,000 Kindern, die geboren werden, 7500 an verschiedenen Krankheiten; und wie viele mehr von denen, die am Leben bleiben, werden durch nicht sofort tödtende Krankheiten unglücklich gemacht! Die Beschaffenheit und Menge der Milch bei Frauen wird durch den Genuß todten Fleisches wesentlich alterirt. Auf einer Insel bei Island, wo keine Vegetabilien zu erhalten sind, sterben die Kinder sämmtlich am Starrkrampfe, bevor sie drei Wochen alt sind, und die Bevölkerung wird vom Festlande ergänzt. – Sir G. Mackenzie's Geschichte von Island.– Siehe auch Rousseau's Emil, Kap. I, S. 53, 54 und 56.. Manches werthvolle Leben wird täglich durch Krankheiten zerstört, welche durch Arzeneien nur mit Gefahr nothdürftig erstickt, und unmöglich gründlich durch sie geheilt werden können. Wie lange noch wird der Mensch fortfahren, dem Heißhunger des Todes, seines arglistigsten, unversöhnlichsten und ewigen Feindes, in die Hände zu arbeiten?

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