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Nichts ist furchtbarer für die Seele, als wenn nach einer Reihe aufregender Ereignisse die Totenstille der Untätigkeit eintritt und sie der Fähigkeit zu hoffen oder zu fürchten beraubt. Justine war tot und hatte ihre Ruhe, aber ich lebte. Das Blut floß frei in meinen Adern, aber auf mir lag ein schweres Gewicht von Leid und Reue, dessen ich nicht ledig werden konnte. Es floh mich der Schlaf und ich wanderte umher wie ein böser Dämon, denn ich hatte Verbrechen begangen, die über die Maßen gräßlich waren, und mehr, viel mehr noch lag vor uns, das wußte ich gewiß. Und doch war ich nicht schlecht. Ich hatte mein Leben mit den besten Absichten begonnen und hatte gehofft, all meine edlen Pläne in Wirklichkeit umzusetzen und meinen Mitmenschen nützlich zu sein. Aber das war alles dahin. Anstatt jener Ruhe des Gewissens, die uns mit Genugtuung zurückblicken läßt auf unser bisheriges Leben und uns Kraft gibt zu neuem Schaffen, wohnte in mir das Gefühl der Schuld und verursachte mir Qualen, die ein Menschenmund nicht zu beschreiben vermag.
Dieser Gemütszustand wirkte natürlich auf meine Gesundheit sehr nachteilig ein, die vielleicht sich noch gar nicht ganz von dem ersten heftigen Stoß erholt hatte, den sie erlitten. Ich scheute das Antlitz der Menschen und jeder Laut der Lust und Freude tat mir weh. Einsamkeit – tiefe, dunkle, totengleiche Einsamkeit war mein einziger Trost, mein einziger Wunsch.
Mein Vater bemerkte mit Sorge den Wechsel in meinem Befinden und meinen Gewohnheiten und bemühte sich, mit Argumenten, die er aus seinem makellosen Leben und seinem reinen Gewissen schöpfte, mir Mut einzuflößen und die düsteren Wolken zu zerstreuen, die über meiner Seele brüteten. »Glaubst du, Viktor,« sagte er, »daß ich nicht ebenso leide wie du? Niemand konnte das Kind lieber haben als ich,« (hier füllten sich seine Augen mit Tränen), »aber ist es nicht eine Pflicht unserer Umgebung gegenüber, ihr Unglück nicht noch durch den Anblick ungezügelten Schmerzes zu vergrößern? Aber auch uns selbst sind wir es schuldig, denn wenn wir unseren Schmerz nicht beherrschen, sind wir unfähig, uns zu betätigen und uns wieder zu freuen; Dinge, ohne die wir nicht ins Leben passen.«
Dieser Rat war zwar gut, hatte aber gar keine Wirkung auf mich. Wie gern hätte ich selbst mein Leid verborgen und meine Lieben getröstet, wenn nicht das schlechte Gewissen all meine anderen Gefühle unterdrückt hätte. Die einzige Antwort, die ich jetzt meinem Vater zu geben vermochte, war ein verzweiflungsvoller Blick und das Bestreben ihm auszuweichen, wo ich konnte.
Zu jener Zeit zogen wir uns in unsere Wohnung in Belrive zurück. Dieser Wechsel war einigermaßen wohltuend für mich. Der Umstand, daß die Stadttore allnächtlich um zehn Uhr geschlossen wurden und die Unmöglichkeit, mich nach dieser Stunde noch am See aufzuhalten, hatten mir den Aufenthalt in Genf sehr verleidet. Nun war ich frei. Oftmals, wenn sich die Familie zur Nachtruhe begeben hatte, bestieg ich ein Boot und verbrachte noch manche Stunde auf dem Wasser. Manchmal hißte ich die Segel und ließ mich vom Winde über die Flut tragen; manchmal ruderte ich mich weit hinaus und ließ dann das Boot treiben, um mich meinen trostlosen Gedanken ungestört hingeben zu können. Ich war oft versucht, wenn es so friedlich rund um mich her war und ich das einzige ruhelose Geschöpf – die Fledermäuse ausgenommen, die über meinem Kopfe hinweghuschten, oder die Frösche, die am Ufer ihr rauhes, unharmonisches Konzert ertönen ließen – ich war versucht, sage ich, mich in die dunkle Flut gleiten zu lassen, damit sie sich über mir und meinem Elend schlösse auf alle Zeit. Aber der Gedanke an meine tapfere Elisabeth, die ich zärtlich liebte und deren Existenz mit der meinen so eng verknüpft war, hielt mich vor diesem Äußersten zurück. Ich gedachte auch meines Vaters und meines Bruders. Sollte ich als feiger Deserteur sie ungeschützt den Angriffen des tückischen Feindes überlassen, den ich selbst geschaffen?
In solchen Augenblicken weinte ich bitterlich und flehte zu Gott, das er wieder Friede in meine Seele senke, damit ich meinen Lieben ein Trost und eine Stütze sein könnte. Aber es war vergebens. Meine Gewissensbisse waren stärker als alles Hoffen. Ich war der Urheber all dieses Leides und lebte in steter Furcht, daß das Ungeheuer, dem ich das Leben gegeben, irgend eine neue Grausamkeit verüben könnte. Ich hatte ein dunkles Gefühl, daß noch lange nicht alles vorüber war und daß mein Feind ein Verbrechen im Schilde führe, dessen Schrecklichkeit die Erinnerung an das schon begangene verblassen lassen müßte. So lange ich noch jemand besaß, den ich lieb hatte, war Ursache zur Sorge vorhanden. Mein Haß gegen das Scheusal kannte keine Grenzen. Wenn ich nur daran dachte, kochte es in mir und meine Zähne knirschten, meine Augen brannten und mein ganzes Innere lechzte danach, dieses Leben zu vernichten, das ich gedankenlos geschaffen. Wenn ich an das grausame, boshafte Wesen dachte, steigerte sich mein Haß und mein Rachedurst ins Ungemessene. Hätte ich doch eine Wanderung auf die höchsten Schroffen der Anden nicht gescheut, wenn ich es dort hätte antreffen und in die tiefsten Abgründe hätte schleudern können. Ich dürstete danach mit ihm zusammenzutreffen, um Rache zu nehmen für den Tod Wilhelms und Justines.
Unser Haus war ein wirkliches Trauerhaus. Mein Vater war gänzlich gebrochen von all den schrecklichen Ereignissen. Elisabeth war traurig und still. Sie hatte keine Freude mehr an ihren Pflichten; jeder frohe Augenblick schien ihr ein Sacrileg gegen das Andenken der Toten. Sie war nicht mehr das heitere Mädchen, das einst mit mir an den Gestaden des Sees hingewandert war und selige Zukunftsträume mit mir spann. Der erste von jenen Schicksalsschlägen, die uns allmählich der Erdenfreude unzugänglich machen, hatte sie getroffen und nahm ihr das Lächeln von ihrem Antlitz.
»Wenn ich an den Tod von Justine Moritz denke, Liebster,« sagte sie, »sehe ich die Welt und was in ihr ist mit ganz anderen Augen an als früher. Wenn ich ehemals in den Zeitungen von Verbrechen und Schlechtigkeiten las oder wenn mir davon erzählt wurde, war es mir, als seien das Phantasiegebilde oder Märchen aus vergangenen Zeiten. Wenigstens lagen sie mir fern und gaben mehr dem Nachdenken als dem Gefühl zu schaffen. Aber heute hat uns das Elend selbst heimgesucht und die Menschen erscheinen mir wie Bestien, die nach dem Blute der Anderen dürsten. Sicherlich bin ich hierin ungerecht! Jedermann hielt das arme Mädchen für schuldig, und wenn sie imstande gewesen wäre, das furchtbare Verbrechen zu begehen, wegen dessen sie leiden und sterben mußte, dann wäre sie die verruchteste aller Kreaturen gewesen. Um einiger glänzender Steine willen den Sohn ihres Freundes und Wohltäters zu morden, ein Kind, das sie von seiner Geburt an kannte und liebte wie ein eigenes! Ich könnte zum Tode eines Menschen nicht meine Zustimmung geben, und dennoch muß ich mir sagen, daß ein Geschöpf, das eines solchen Verbrechens fähig ist, nicht länger ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft bleiben darf. Aber sie war unschuldig! Ich weiß, ich fühle es, sie war unschuldig. Du bist derselben Überzeugung, und das bestärkt mich in meinem Glauben an die Tote. Viktor, wenn Schlechtigkeit so sehr die Maske der Güte tragen könnte, wer möchte je noch eines Glückes froh werden? Mir ist, als stände ich am Rande eines Abgrundes und als drängten Tausende auf mich ein, um mich hinabzustoßen. Wilhelm und Justine sind hingemordet worden, und der Mörder ist frei, vielleicht geachtet unter den Menschen. Aber selbst wenn ich um der gleichen Verbrechen willen das Schafott besteigen müßte, ich möchte nicht an seiner Stelle sein.«
Ich lauschte ihren Worten und eiskalt lief es mir über den Rücken. War doch ich der Mörder, wenn ich auch nicht mit eigenen Händen meine Opfer gewürgt hatte. Elisabeth mußte die Qualen, die ich litt, aus meinen Zügen erkennen, denn sie ergriff meine Hand und sagte zärtlich: »Liebster, du mußt dich aber beruhigen. Die Ereignisse haben auch mich, weiß Gott, aufs Tiefste erschüttert; aber ich bin doch nicht so elend daran, wie du. In deinem Gesicht lese ich Verzweiflung und Rachedurst, die mich erzittern machen. Liebster, banne diese finsteren Gefühle. Denke daran, daß wir alle unsere Hoffnung auf dich setzen. Sind wir denn nicht imstande, dich wieder glücklich zu machen? Wenn wir uns lieb haben, wenn wir treu zu einander halten, hier in dem Lande der Schönheit und des Friedens, in deinem Heimatlande, sollten wir da nicht wieder zufrieden werden können, sollte da nicht auch dir neues Leben erblühen?«
Und trotzdem sie die Worte sprach, sie, die ich über alles liebte, konnte ich doch des Feindes nicht Herr werden, der sich in meiner Brust eingenistet hatte. Ich zog sie an mich, als müßte ich fürchten, daß jetzt, gerade in diesem Augenblick, der Zerstörer kommen und sie von mir reißen könnte.
Nicht die zarteste Freundschaft, nicht die Schönheit meiner Umgebung vermochten mich von dem drückenden Alp zu befreien, und selbst für das Flehen der Liebe hatte ich kein Verständnis. Ich glich dem verwundeten Wild, das seine blutenden Glieder mühsam in das tiefste Dickicht schleppt und, auf den Pfeil in der Todeswunde starrend, sein Leben aushaucht.
Manchmal gelang es mir, auf Augenblicke der düsteren Wolken Herr zu werden, die auf meiner Seele lagerten, indem ich durch weitausgedehnte Spaziergänge meinen Körper ermüdete. Einmal verließ ich plötzlich unser Heim und suchte in der ewigen Schönheit der Berge mein vergängliches Menschenleid zu vergessen. Meine Wanderung ging in das Tal von Chamounix, das ich als Knabe öfters besucht hatte. Sechs Jahre waren seitdem verflossen. Ich war vernichtet, aber nichts hatte sich an den überwältigenden, unvergänglichen Schönheiten dieses Erdenstriches geändert.
Den ersten Teil der Reise machte ich zu Pferde. Später mietete ich mir ein Maultier, das sicherer auf den Füßen war und auch weniger unter den schlechten Wegverhältnissen litt. Das Wetter war wunderschön. Es war Mitte August, beinahe zwei Monate, seit Justine von uns gegangen, seit mein furchtbarer Zustand seinen Anfang genommen. Je tiefer ich in das Tal der Arve vordrang desto leichter wurde mir ums Herz. Die mächtigen Berge und steilen Abstürze zu beiden Seiten meines Pfades, das Rauschen des Flusses, der sich zwischen den Felsen seinen Weg suchte, und das Dröhnen der Wasserfälle, das alles sprach zu mir wie ein Flüstern der Allmacht. Und ich hörte auf zu fürchten, mich vor Mächten zu beugen, die schwächer waren als sie, die die Elemente schuf und ihnen gebietet. Je höher ich kam, desto wilder und herrlicher wurde das Tal. Burgruinen hingen kühn an den bewaldeten Bergwänden; die tosende Arve und die Hütten, die da und dort aus den Bäumen hervorlugten, boten ein unvergleichlich schönes Bild. Und darüber ragten die weißen, schimmernden Kuppeln und Pyramiden der Alpen in überirdischer Pracht, wie Wohnungen von Wesen, die so ganz anders sind als wir.
Ich passierte die Brücke von Pelissier, von wo sich der Blick auf die Schlucht der Arve öffnet, und erklomm dann den Berg, der mich noch vom Tal von Chamounix trennte. Dieses Tal ist mächtiger und erhabener als das von Servox, das ich eben erst verlassen, aber nicht so wild und malerisch. Es wird von hohen Schneebergen eingeschlossen, aber es fehlen ihm die Schloßruinen und die fruchtbaren Erdstreifen. Ungeheure Gletscher drängen sich bis dicht an die Talstraße. Ich hörte das Brüllen der stürzenden Lawinen und erkannte den Schneestaub, den sie im Falle aufwirbelten. Im Hintergrunde des Tales erhob sich der herrliche, unvergleichliche Montblanc wie ein König.
Oft durchzog mich während dieser Reise das langentbehrte Gefühl der Freude. Jede Wendung der Straße, jeder neue Anblick rief mir die Jugend mit ihrem leichtherzigen Frohsinn in die Erinnerung zurück. Die Winde schienen mir beruhigend zuzuflüstern und Mutter Natur bat mich, nicht mehr zu klagen. Wenn aber der Einfluß der mich umgebenden Schönheit einen Augenblick aussetzte, dann überwältigte mich wieder der Gram und ich versenkte mich von neuem in meine schmerzlichen Grübeleien. Dann trieb ich mein Tier zu rascherer Gangart an, um so die Welt, meine Sorgen und vor allem mich selbst zu vergessen, oder ich stieg ab und warf mich zur Seite des Pfades auf die Erde, niedergedrückt von Entsetzen und Leid.
Schließlich kam ich nach Chamounix, wo die tiefste Erschöpfung den außerordentlichen körperlichen und seelischen Anstrengungen folgte. Kurze Zeit stand ich noch am Fenster meines Gasthofes und sah hinauf zum Montblanc, um dessen majestätisches Haupt bleiche Blitze zuckten, und horchte auf das Rauschen der Arve, die unermüdlich ihren rauhen Weg ins Tal verfolgte. Dieses gleichmäßige Geräusch wirkte einschläfernd auf meine erregten Gefühle, und als ich dann meinen Kopf auf die Kissen bettete, empfand ich, wie der Schlaf, der Tröster, langsam auf meine Augen sank.