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Vierzehntes Kapitel.

»Was ist eigentlich in Gertrude gefahren?« sagte Agatha eines Tages zu Lady Brandon.

»Wie? Ist etwas mit ihr geschehen?«

»Ich weiß es nicht. Sie ist nicht mehr dieselbe, seit sie sich vergiftet hat. Und warum hat sie nichts davon erzählt? Wenn Trefusis nicht wäre, wüßten wir es gar nicht.«

»Gertrude hat immer aus allem ein Geheimnis gemacht.«

»Sie war die zwei folgenden Tage in abscheulicher Laune, und jetzt ist sie ganz verändert. Sie versinkt in langes Brüten und hört kein Wort von allem, was um sie herum gesprochen wird. Dann kommt sie wieder zur Besinnung und bittet einen mit der größten Sanftmut um Verzeihung, weil sie nicht verstanden hat, was man gesagt hat.«

»Ich kann sie nicht leiden, wenn sie höflich ist, das liegt nicht in ihrer Natur. Und daß sie so ins Träumen versinkt, das kommt von dem Schierling. Wir kennen einen Mann, der in einem Bad einen Löffel Strychnin nahm, und er war nachher nie wieder derselbe.«

»Ich glaube, sie hat sich entschlossen, Erskine zu ermutigen,« sagte Agatha. »Als ich hierher kam, durfte er es kaum wagen, mit ihr zu sprechen – wenigstens behandelte sie ihn sehr verächtlich. Jetzt läßt sie ihn reden, so viel er will. Sie schickt ihm sogar Nachrichten und läßt ihn ihre Sachen tragen.«

»Ja. So eine wie Gertrude habe ich in meinem Leben nicht gesehen. Wenn in London Männer aufmerksam gegen sie waren, warf sie ihnen Zudringlichkeit vor. Ließ man sie in Ruhe, so fühlte sie sich vernachlässigt. Nach meiner Meinung kann sie mit Erskine sehr zufrieden sein.«

Hier erschien Erskine an der Türe und sah sich im Zimmer um.

»Sie ist nicht hier,« sagte Jane.

»Ich suche Sir Charles,« bemerkte er und zog sich etwas steif zurück.

»Welch eine Lüge!« sagte Jane und war mißvergnügt, weil er ihren Scherz so aufgenommen hatte. »Er hat noch vor zehn Minuten mit Sir Charles im Billardzimmer gesprochen. Die Männer sind solche eingebildete Narren.«

Agatha ging langsam an das Fenster und sah unzufrieden über die Landschaft. Früher, auf der Schule, tat sie das oft, wenn sie allein war, jetzt auch manchmal in der Gesellschaft. Die Türe wurde wieder geöffnet, und Sir Charles erschien. Auch er sah sich um, aber als sein flüchtiger Blick Agatha erreicht hatte, ließ er ihn an ihr haften und trat herein.

»Haben Sie jetzt was vor, Miß Wylie?« fragte er.

»Ja,« sagte Jane schnell. »Sie wollte grade einen Brief für mich schreiben.«

»Wirklich, Jane,« sagte er. »Ich denke, du bist doch alt genug und kannst deine Briefe schreiben, ohne erst Miß Wylie zu bemühen.«

»Wenn ich meine Briefe selbst schreibe, findest du immer Fehler daran,« entgegnete sie.

»Ich dachte, Sie würden vielleicht Lust haben, mit mir ein Duett zu singen,« sagte er zu Agatha.

»Gewiß,« antwortete sie und hoffte es gut zu machen, indem sie ihm willfahrte. »Der Brief wird schon vor der Postzeit fertig werden.«

Jane errötete und sagte kurz: »Ich will ihn selbst schreiben, wenn du es nicht tun willst.«

Sir Charles verlor jetzt seine Selbstbeherrschung. »Wie kannst du so verflucht roh sein?« fragte er seine Frau. »Was hast du dagegen einzuwenden, wenn ich mit Miß Wylie Duette singe?«

»Das ist eine hübsche Sprache!« sagte Jane. »Ich habe nie behauptet, ich hätte etwas dagegen. Und du hast kein Recht, sie zum Klavier zu holen, wenn sie grade einen Brief für mich schreiben will.«

»Ich will nur, daß Miß Wylie das tut, was ihr am besten gefällt. Aber Briefe an deine Handwerker zu schreiben, das scheint mir keine angenehme Beschäftigung zu sein.«

»Bitte, nehmen Sie auf mich keine Rücksicht,« sagte Agatha. »Es macht mir durchaus keine Mühe. Auf der Schule pflegte ich alle Briefe für Jane zu schreiben. Ich denke, ich schreibe jetzt zuerst den Brief, und dann singen wir das Duett. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn Sie fünf Minuten warten?«

»Ich kann natürlich so lange warten, wie es Ihnen paßt. Aber es scheint mir so ein unvernünftiger Mißbrauch Ihrer Gutmütigkeit, daß ich unbedingt protestieren –«

»Oh, laß den Brief warten!« schrie Jane. »Wie kann man nur solch einen lächerlichen Unsinn reden, weil ich Agatha bitte, mir einen Brief zu schreiben, grade wenn du von ihr deine Duette gespielt haben willst. Ich bin sicher, sie hat sie so von Herzen satt, daß es ihr übel davon wird.«

Um diesem Streit zu entfliehen, ging Agatha auf die Bibliothek und schrieb den Brief. Als sie in das Gesellschaftszimmer zurückkehrte, fand sie niemand mehr vor, doch kehrte Sir Charles gleich zurück.

»Es tut mir leid. Miß Wylie,« sagte er, als er ihr den Flügel aufmachte, »wenn Sie durch die lächerliche Eifersucht meiner Frau belästigt werden.«

»Eifersucht!«

»Natürlich. Es ist blödsinnig!«

»Oh, Sie irren sich,« sagte Agatha ungläubig. »Wie könnte sie nur auf mich eifersüchtig sein?«

»Sie ist auf jeden und auf alles eifersüchtig,« antwortete er bitter. »Und sie kehrt sich an niemand und an gar nichts. Sie wissen nicht, was ich manchmal von ihr ausstehen muß.«

Agatha hielt es für das Beste, sich sofort hinzusetzen und anzufangen: »Ich wollt, daß meine Liebe.« Während sie sang und spielte, dachte sie darüber nach, was Sir Charles grade gesagt hatte. Sie liebte seine Gesellschaft. Er war fröhlich, hatte Sinn für Musik und Spaß, war höflich und aufmerksam. Er wußte ihre Anlagen zu schätzen, war schlagfertig, ohne zu überlegen zu sein, und als verheirateter Mann ungefährlich in seiner Zuneigung. Aber jetzt schien es ihr doch, als ob sie in der letzten Zeit etwas zuviel zusammengewesen seien.

Sir Charles war jetzt in ihre Tonart hineingekommen. Er erinnerte sie wieder an die Musik, indem er innehielt und sie fragte, ob er richtig spiele. Sie kannte schon aus Erfahrung die Fehler, die er gewöhnlich machte. Sie gab ihm seinen Ton an und spielte weiter. Sie hatten aber noch nicht lange gesungen, als Jane zurückkam und sich hinsetzte, wobei sie die Hoffnung ausdrückte, sie würde wohl nicht stören. Aber sie störte sie. Agatha hatte das Gefühl, sie sei nur gekommen, um sie zu überwachen, und Sir Charles wußte es. Und dann war Lady Brandon stets unruhig in ihren Bewegungen, selbst wenn sie innerlich nichts bewegte. Wegen der Musik konnte sie nicht sprechen, und obgleich sie ein aufgeschlagenes Buch in der Hand hielt, konnte sie nicht zu gleicher Zeit lesen und beobachten. Sie gähnte und lehnte sich über das eine Ende des Sofas, bis sie im Begriff war, das Gleichgewicht zu verlieren und sich mit einem mächtigen Ruck wieder aufrichtete. Der Boden zitterte bei jeder Bewegung, die sie machte. Zuletzt konnte sie nicht mehr länger schweigen.

»Lieber Himmel!« sagte sie laut gähnend. »Es muß mindestens schon fünf Uhr sein.«

Agatha drehte sich auf dem Klavierstuhl herum. Sie fühlte, daß die Musik und Lady Brandon sich nicht vereinigen ließen. Sir Charles gab sich seines Gastes wegen die größte Mühe, seine Erregtheit zu unterdrücken.

»Das kannst du leicht auf deiner Uhr sehen,« sagte er.

»Danke für die Auskunft,« sagte Jane. »Agatha, wo ist Gertrude?«

»Aber Jane, wie in aller Welt kann dir denn Miß Wylie sagen, wo sie ist? Ich glaube, du bist heute verrückt geworden.«

»Sie spielt wahrscheinlich mit Mr. Erskine Billard,« sagte Agatha schnell, um einer Antwort Janes und der dann unvermeidlichen Auseinandersetzung zuvorzukommen.

»Ich halte es für sehr merkwürdig, daß Gertrude den ganzen Tag mit Chester im Billardzimmer ist,« sagte Jane unzufrieden.

»Es ist auch nicht im geringsten etwas Unpassendes dabei,« sagte Sir Charles. »Wenn Miß Lindsay als unser Gast nicht über jede Vermutung erhaben ist, dann sollten wir uns etwas schämen. Was würdest du sagen, wenn sonst jemand eine solche Bemerkung machte?«

»Ach, Unsinn,« sagte Jane verdrießlich. »Du machst wegen jeder Kleinigkeit solch ein großes Geschwätz. Ich habe gar nicht behauptet, daß sich Gertrude unpassend benehme. Sie ist nach meiner Meinung viel zu förmlich, um eine angenehme Gesellschaft zu sein.«

Sir Charles war nicht imstande, sich noch länger zu beherrschen. Er machte ein finsteres Gesicht und verließ das Zimmer, während Jane ihm ein verächtliches Lachen nachsandte.

»Mache niemals die Dummheit und verheirate dich,« sagte sie, als er gegangen war. Sie blickte, während sie das sagte, auf und wurde ängstlich, weil Agatha, die auf dem Flügel saß, wie in der Schulzeit eine schwingende Bewegung mit den Füßen machte.

»Jane,« sagte sie und warf ihrer Wirtin einen kühlen Blick zu, »weißt du, was ich an Sir Charles' Stelle täte?«

Jane wußte es nicht.

»Ich würde einen dicken Stock nehmen, dich braun und blau schlagen und dich dann eine Woche lang bei Wasser und Brot einsperren.«

Jane erhob sich etwas mit rotem, ärgerlichem Gesicht. »Wa–was?« fragte sie und sank wieder auf das Sofa zurück.

»Wenn ich ein Mann wäre, ich ließe mich nicht aus einfacher Galanterie wie ein lästiger Hund behandeln. Du brauchst eine gesunde Tracht Prügel.«

»Ich möchte den sehen, der mich schlägt,« sagte Jane. Sie hatte sich wieder erhoben und reckte ihren gewaltigen Körper. Dann brach sie in Tränen aus und sagte: »Ich will mir so etwas nicht in meinem eigenen Hause sagen lassen. Wie kannst du es wagen?«

»Du verdienst es, weil du auf mich eifersüchtig bist,« sagte Agatha.

Janes Augen erweiterten sich vor Zorn. »Ich – ich! – eifersüchtig auf dich!« Sie sah sich nach einem Wurfgeschoß um. Da sie nichts fand, setzte sie sich wieder hin und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Eif–eifersüchtig auf dich, herrlich!«

»Du hast guten Grund dazu, denn er hat mich lieber als dich.«

Jane riß krampfhaft ihren Mund und die Augen auf, aber sie konnte nur nach Luft schnappen, und Agatha fuhr ruhig fort: »Ich bin höflich gegen ihn, und das bist du nie. Wenn er mit mir spricht, lasse ich ihn seinen Satz beendigen, ohne daß ich wie du ihn mit einer vorgefaßten Meinung unterbreche, die nicht des Anhörens wert ist. Ich gähne und spreche nicht, während er singt. Wenn er sich mit mir über Kunst und Literatur unterhält, wovon er zweimal so viel versteht als ich und wenigstens zehnmal so viel als du« – Jane schnappte wieder nach Luft – »dann gebe ich ihm keine verrückte Antwort oder wende mich an meinen Nachbar auf der andern Seite mit einer Bemerkung über den Pferdestall oder das Wetter. Wenn er bereit ist, sich zu unterhalten, und das ist er immer, dann bin ich unterhaltend. Und deswegen hat er mich gern.«

»Er hat dich nicht gern. Er ist gegen jeden Menschen so.«

»Mit Ausnahme seiner Frau. Er hat mich so gern, daß du wie eine wirkliche Gans – was du ja auch bist – hereinkamst, um unsere Duette zu überwachen. Und du machtest dich so unangenehm, wie du nur konntest, während ich mich angenehm machte. Der arme Mann schämte sich deiner.«

»Das tat er nicht,« sagte Jane schluchzend. »Ich habe nichts getan und nichts gesagt. Ich laß mir das nicht gefallen. Ich will mich scheiden lassen. Ich will –«

»Du wirst dein Benehmen bessern, wenn du noch etwas Vernunft hast,« sagte Agatha ohne Reue. »Mach nicht solchen Lärm, sonst kommt jemand und sieht, was es gibt, und ich muß von dem Flügel herunter, wo ich sehr bequem sitze.«

»Du bist eifersüchtig.«

»Oh, wirklich, Jane? Ich habe bisher Sir Charles nicht gestattet, sich in mich zu verlieben, aber ich kann das sehr leicht tun. Was willst du wetten, daß er mich vor morgen abend küßt?«

»Es wird sehr gemein und schmutzig von dir sein, wenn er es tut. Du denkst wohl, ich ließe mich wie ein Kind behandeln?«

»Du bist auch ein Kind,« sagte Agatha. Sie stieg von ihrem Sitz herunter und schickte sich an, hinauszugehen. »Ein gelegentlicher Klaps ist dir ganz gut.«

»Es geht dich nichts an, ob ich mich mit meinem Manne gut stehe oder nicht,« sagte Jane in plötzlicher Wut.

»Solange ihr euch zankt, wenn ihr allein seid, wie das gut erzogene Paare tun, gewiß nicht. Aber wenn es in meiner Gegenwart vorkommt, dann macht es mir Unbehagen, und das lasse ich mir nicht gefallen.«

»Du würdest überhaupt nicht hier sein, wenn ich dich nicht eingeladen hätte.«

»Stell dir nur vor, Jane, wie langweilig ohne mich das Haus wäre.«

»Wirklich! Es war vor deiner Ankunft gar nicht langweilig. Gertrude hat sich wenigstens immer wie eine Dame benommen.«

»Es tut mir leid, daß ihr Beispiel so gar keine Wirkung auf dich ausgeübt hat.«

»Ich ertrage das nicht,« sagte Jane schluchzend und ließ sich auf das Sofa fallen, daß die Glasprismen an dem Kronleuchter klirrten. »Ich würde dich nie eingeladen haben, wenn ich gedacht hätte, du könntest so gehässig sein. Ich werde dich nie wieder bitten.«

»Ich werde veranlassen, daß sich Sir Charles wegen der Unverträglichkeit deines Charakters von dir scheiden läßt, und ihn dann heiraten. Dann habe ich das ganze Haus für mich allein.«

»Er kann sich Gott sei Dank deswegen nicht scheiden lassen. Du weißt nicht, was du redest.«

Agatha lachte. »Komm, Jane,« sagte sie gutmütig. »Sei kein alter Esel. Wasch dein Gesicht, bevor es jemand sieht, und denk daran, was ich dir über Sir Charles gesagt habe.«

»Es ist sehr hart, in seinem eigenen Hause ein Esel genannt zu werden.«

»Es ist noch härter, als ein solcher behandelt zu werden, wie es deinem Mann geschieht. Ich werde im Billardzimmer nach ihm sehen.«

Jane lief hinter ihr her und faßte sie beim Ärmel. »Agatha,« bat sie, »versprich mir, daß du nicht gemein bist. Sage, daß du dich nicht in ihn verliebst.«

»Ich will es mir überlegen,« entgegnete Agatha ernst.

Jane sank stöhnend in einen Sessel, der unter ihrem Gewicht krachte. Agatha wandte sich auf der Schwelle um, und als sie sah, wie Jane den Kopf schüttelte, die Augen zusammenpreßte und in unterdrückter Wut mit den Absätzen auf den Boden hämmerte, sagte sie schnell:

»Da kommen die Waltons und die Fitzgeorges und Mr. Trefusis die Treppe herauf. Wie geht es Ihnen, Mrs. Walton? Lady Brandon wird sich sehr freuen, Sie zu sehen. Guten Abend, Mr. Fitzgeorge.«

Jane sprang auf, wischte sich die Augen und lief zu einem Spiegel, während sie sich mit den Händen die Haare ordnete. Da aber keine Besucher erschienen, begriff sie, daß sie wieder und vielleicht zum hundertstenmal in ihrem Leben einem Schelmenstreich Agathas zum Opfer gefallen war. Diese war befriedigt, weil ihr Versuch, die alte Herrschaft über Jane wiederzugewinnen, geglückt war. Sie hatte es selbst nicht geglaubt, obgleich sie sich ganz ruhig gestellt hatte. Jetzt ging sie hinunter in die Bibliothek, wo Sir Charles in traurigem Brüten saß und versuchte, seinen häuslichen Ärger durch Beschäftigung mit der Kunstkritik zu vergessen.

»Ich dachte, Sie wären im Billardzimmer,« sagte Agatha.

»Ich habe nur flüchtig hineingeschaut,« entgegnete er. »Aber es scheint da etwas Besonderes vorzugehen, und ich hielt es für das Beste, mich davonzuschleichen. So bin ich die ganze Zeit allein geblieben.«

Das Besondere, was Sir Charles nicht unterbrechen wollte, war weiter nichts als eine Partie Billard. Es war die erste Gelegenheit, die Erskine jemals gehabt hatte, mit Gertrude allein und in Muße zu sprechen. Doch war ihre Unterhaltung noch nie eine so alltägliche gewesen. Sie liebte das Spiel und spielte gut, während sie gleichgültig plauderte. Er spielte schlecht und brachte gegen seinen Willen die trivialsten Gesprächsstoffe vor. Nachdem sie anderthalb Stunden gespielt hatten, sagte Gertrude, daß jetzt das letzte Spiel komme. Er dachte voller Verzweiflung, wenn er so weiter die Bälle ausließ, dann mußte die Partie bald zu Ende sein, und dann hatte er eine Gelegenheit, die vielleicht niemals wiederkam, unbenutzt vorbeigehen lassen. Er beschloß, ihr ohne weitere Einleitung zu sagen, daß er sie anbete. Als er aber seine Lippen öffnete, kam ganz von selbst eine Frage über die persische Art, Billard zu spielen, heraus. Gertrude war nie in Persien gewesen, aber sie hatte im Indischen Museum einige orientalische Queues gesehen. Hatten nicht die Hindu eine wunderbare Fähigkeit, Filigranarbeit, Teppiche und dergleichen anzufertigen? Ob er nicht auch der Ansicht sei, daß die Verschrobenheiten ihrer Teppichmuster ein Mangel seien? Viele Leute gäben vor, grade das zu bewundern, aber sei das nicht alles Unsinn? War nicht ein moderner, gebohnter Fußboden mit einem Teppich in der Mitte viel besser als der alte Teppich, der in den Ecken des Zimmers angebracht wurde? Ja. Viel besser. Unendlich –

»Aber, woran denken Sie heute, Mr. Erskine? Sie haben mit meinem Ball gespielt.«

»Ich denke an Sie.«

»Was sagten Sie?« fragte Gertrude, die den ernsten Sinn, den er der Unterhaltung gegeben hatte, noch nicht begriff und ihr Queue zu einem Stoß anlegte. »Oh, ich spiele so schlecht wie Sie. Das war, glaube ich, der schlechteste Stoß, den ich je gemacht habe. Verzeihen Sie, Sie sagten grade etwas.«

»Ich weiß es nicht mehr. Es war nichts Wichtiges.« Und er stöhnte über seine eigene Feigheit.

»Ich schlage vor, wir hören auf,« sagte sie. »Es hat keinen Zweck, die Partie zu Ende zu spielen, wenn unsere Hände unsicher sind. Ich bin ziemlich müde geworden.«

»Gewiß – ganz, wie Sie wünschen.«

»Wenn Sie wollen, können wir auch zu Ende spielen.«

»Durchaus nicht. Was Ihnen gefällt, gefällt mir auch.«

Gertrude machte ihm eine leichte Verbeugung und stieß müßig mit ihrem Queue nach den Bällen. Erskines Augen wanderten umher, seine Lippen bewegten sich unentschlossen. Er war mit sich darüber im klaren gewesen, daß er eine offene Erklärung geben wollte – Herz gegen Herz. Er hatte es sich genau ausgemalt, wie er in zarter Weise ihre Hand ergriff und sagte: »Gertrude, ich liebe Sie! Darf ich Ihnen das ewig versichern?« Aber diese Form schien ihm jetzt gar nicht ausführbar.

»Miß Lindsay.«

Gertrude, die sich über das Billard neigte, blickte beunruhigt auf.

»Dieser Augenblick ist eine gute Gelegenheit, denn ich will – ich soll – ich will –«

» Soll,« wiederholte Gertrude. »Haben Sie jemals die Lehre von der Notwendigkeit studiert?«

»Die Lehre von der Notwendigkeit?« fragte er verwirrt.

Gertrude folgte einem Ball an die andere Seite des Billards. Sie erriet jetzt, was kommen sollte, und wollte es erwarten. Nicht weil sie die Absicht hatte, ja zu sagen, sondern weil sie wie andere junge Damen, die in solchen Auftritten Erfahrungen haben, die Heiratsanträge, die man ihr machte, zählte, wie die Rothäute die abgeschnittenen Skalpe.

»Wir haben hier eine sehr schöne Zeit verlebt,« sagte er und legte die wichtige Lehre von der Notwendigkeit als unerklärbar zur Seite. »Wenigstens habe ich es getan.«

»Nun,« meinte Gertrude schnell, die leicht eine verborgene Anspielung auf ihre persönliche Unzufriedenheit vermutete, »ich auch.«

»Ich bin sehr glücklich darüber – viel mehr, als ich Ihnen in Worten ausdrücken kann.«

»Was geht das Sie an?« fragte sie und gab ihrer üblen Laune nach, die er, ohne es zu wissen, in ihr wachgerufen hatte. Sie vermutete auch Mitleid in seinem Bemühen, teilnehmend zu sein.

»Ich wollte, es dürfte mich etwas angehen. Das Glück dieses ganzen Aufenthalts habe ich nur Ihnen zu verdanken.«

»Wirklich,« sagte Gertrude und zuckte zusammen. Denn alle bösen Dinge, die ihr Trefusis über sie gesagt hatte, traten jetzt wieder in ihre Erinnerung, als Erskine seine unglückselige Anspielung auf ihre Macht, andere zu erfreuen, vorbrachte.

»Hoffentlich quäle ich Sie nicht,« sagte er mit Ernst.

»Ich weiß nicht, worüber Sie reden,« entgegnete sie und richtete sich in plötzlicher Ungeduld auf. »Sie scheinen zu glauben, es sei sehr leicht, mich zu quälen.«

»Nein,« sagte er furchtsam und war ganz verwirrt durch den Eindruck, den er hervorgebracht hatte. »Ich fürchte, Sie mißverstehen mich. Ich bin sehr unbeholfen. Vielleicht ist es besser, wenn ich nichts weiter sage.«

Gertrude wandte sich weg und nahm ihr Queue wieder auf. Sie wollte ihm dadurch zeigen, daß es seine Sache sei, darüber nachzudenken. Sie beabsichtigte nicht, sich deshalb stören zu lassen. Als sie ihn wieder ansah, stand er bewegungslos und ängstlich da, mit einem traurigen Gesichtsausdruck, wie ihn ein Hund zeigt, der eine Zärtlichkeit angeboten hat und getreten worden ist. Reue und ein unbestimmtes Gefühl, in ihrem Benehmen gegen ihn liege etwas Niedriges, überkamen sie. Sie sah ihn einen Augenblick an und verließ das Zimmer.

Ihr Blick erregte ihn. Er verstand ihn nicht und wagte auch nicht, ihn zu verstehen. Aber es war ein Blick, den er nie vorher auf ihrem Gesicht oder auf dem Gesicht einer anderen Frau gesehen hatte. Es packte ihn als eine plötzliche Offenbarung eines Wortes aus den Patriotischen Märtyrern: »Das köstliche Geheimnis eines Frauenherzens« – und es gab ihm das Gefühl, daß er sich jetzt keiner gewöhnlichen gesellschaftlichen Unterhaltung widmen dürfte. Er eilte aus dem Hause und ging schnell die Allee hinunter nach der Hütte, in der er sein Rad stehen hatte. Er hinterließ Bescheid, daß er einen Ausflug mache und wahrscheinlich nicht zum Essen zurück sein werde. Dann bestieg er sein Rad und fuhr den Riverside Road hinunter. In weniger als zwei Minuten passierte er die Pforte zu Sallusts Haus, wo er beinahe ein altes Weib überrannt hatte, das mit einem Korb Kohlen beladen war. Sie stellte ihre Last hin und schickte Verwünschungen hinter ihm her. Das brachte ihn zur Besinnung, daß seine unvernünftige Schnelligkeit gefährlich sein könnte. Er ließ etwas nach und sah gleich darauf Trefusis, der hingestreckt am Flußufer lag, das Gesicht auf die Ellbogen gestützt, und aufmerksam las. Erskine hatte ihm vor ein paar Tagen ein Exemplar: »Die patriotischen Märtyrer und andere Dichtungen« verehrt, und er versuchte jetzt, einen Blick auf das Buch zu werfen, in dem Trefusis so ernsthaft las. Es war ein Blaubuch, voll von Zahlen. Erskine fuhr enttäuscht weiter und tröstete sich mit der Erinnerung an Gertrudes Gesicht.

Die Landstraße entfernte sich jetzt vom Fluß und stieg zu einer steilen Anhöhe empor, auf deren Gipfel er Halt machte und sich umsah. Das Tageslicht bekam einen rötlichen Schein, und die Schatten wurden länger. Trefusis lag noch hingestreckt in dem Grase, und das alte Weib war auf dem Felde und sammelte Schierling.

Erskine fuhr in vollem Schwung den Hügel hinunter und sah sich nicht mehr um, bis er bei Sonnenuntergang eine kleine Stadt erreichte. Er ließ sich Bier und Butterbrot geben und aß ohne großen Appetit. Gertrude hatte ihn in eine Aufregung versetzt, die ihm die Geduld zum Essen nahm.

Es war jetzt dunkel. Er befand sich viele Meilen von Brandon Beeches und kannte nicht einmal genau den Rückweg. Plötzlich beschloß er, heute abend noch seinen abgebrochenen Heiratsantrag zu vollenden. Er konnte nicht schnell genug zurückfahren, um seine Ungeduld zu befriedigen. Er versuchte den Weg abzuschneiden, verlor sich und verbrachte fast eine Stunde damit, die Landstraße wieder aufzufinden. Endlich kam er an eine Eisenbahnstation und konnte grade noch einen Zug erreichen, der ihn bis auf eine Meile an seinen Bestimmungsort brachte.

Als er aus den Polstern des Eisenbahnwagens herausstieg, fühlte er sich doch etwas ermüdet und bestieg steif sein Fahrrad. Aber sein Entschluß stand so fest wie vorher, und sein Herz klopfte heftig, als er in dem Häuschen sein Rad zurückließ und durch den tiefen Schatten der Buchen die Allee hinaufging. Nahe beim Hause erreichten ihn die ersten Noten von › Crudel perche finora‹, und er ging mit leisen Schritten auf den Rasen zu, damit das Geräusch seiner Fußtritte auf dem Kies nicht die Hunde aufschreckte, die durch ihr Bellen die Musik gestört haben würden. Ein Rascheln veranlaßte ihn, stehenzubleiben und zu lauschen. Dann flüsterte Gertrudes Stimme durch die Dunkelheit:

»Was meinten Sie mit dem, was Sie mir da drinnen sagten?«

Eine ganz seltsame Empfindung überkam Erskine, verwirrte Ideen aus einem Feenland flogen durch seine Phantasie. Dann folgte eine bittere Enttäuschung, als ob er aus einem glücklichen Traum erwachte, als Trefusis' Stimme in weicherem Tone, als er sie jemals gehört hatte, antwortete:

»Einfach, daß das Reich der Sterne, die über uns funkeln, nicht unbegrenzter ist als meine Verachtung für Miß Lindsay und nicht strahlender als mein Vertrauen auf Gertrude.«

»Bitte, Mr. Trefusis, für Sie bin ich immer Miß Lindsay.«

»Für mich sind Sie niemals Miß Lindsay. Das sind Sie für die, die nicht in Ihre Seele hineinblicken können, die Gertrude ist. Es gibt Tausende Miß Lindsays auf der Welt, die alle förmlich und unecht sind. Aber es gibt nur eine Gertrude.«

»Ich bin ein schutzloses Mädchen, Mr. Trefusis, und Sie können mich nennen, was Sie wollen.«

Einen Augenblick kam Erskine der Gedanke, dies sei eine gute Gelegenheit, vorzuspringen und Trefusis, dessen Gestalt er jetzt undeutlich unterscheiden konnte, ein blaues Auge zu schlagen. Aber er zauderte, und die Gelegenheit ging vorbei.

»Schutzlos!« sagte Trefusis, »Aber Sie sind doch rings umzäunt und eingeriegelt in Sitten, Vorschriften und Lügen, die die Wahrheit von den Lippen eines jeden Mannes zurückschrecken würden, dessen Glaube an Gertrude weniger stark wäre als der meine. Gehen Sie zu Sir Charles und erzählen Sie ihm, was ich zu Miß Lindsay gesagt habe. In zehn Minuten werde ich außerhalb dieses Tores sein, mit einer Warnung, mich ihm nie mehr zu nähern. Ich bin in Ihrer Gewalt, und wäre ich nur in der Gewalt von Miß Lindsay, ich hätte wenig mehr zu sagen. Glücklicherweise sieht Gertrude ein, obgleich sie es nur dunkel fühlt, daß Miß Lindsay ihre bitterste Feindin ist.«

»Das ist lächerlich. Ich bestehe nicht aus zwei Personen, ich bin nur eine. Was mache ich mir daraus, ob Ihre Verachtung für mich so grenzenlos wie die Sterne ist?«

»Ah, Sie erinnern sich dieser Worte. Wenn Sie einen Mann über die Sterne reden hören, dann können Sie sicher sein, daß er entweder ein Astronom oder ein Narr ist. Aber Sie und eine schöne Sternennacht können aus jedem Mann einen Narren machen.«

»Ich verstehe Sie nicht. Ich gebe mir alle Mühe, aber es gelingt mir nicht. Oder wenn ich Sie verstehe, dann weiß ich nicht, ob Sie ernst reden oder nicht.«

»Ich rede im vollen Ernst. Lassen Sie doch ein für allemal diese Befürchtungen fallen, ich scherzte mit Ihnen, oder ich wollte eine müßige Stunde vertändeln, wie das Männer tun, die in Gesellschaft einer schönen Frau sind. Was ich sage, meine ich wörtlich und im tiefsten Ernst. Sie zweifeln an mir, wir haben ja die Gesellschaft so weit gebracht, daß wir uns gegenseitig mißtrauen. Aber die Wahrheit erzwingt sich von denen, die imstande sind, sie zu begreifen, früher oder später doch Glauben. Jetzt darf ich wohl Miß Lindsay zur Besinnung bringen, indem ich sie daran erinnere, daß wir schon zehn Minuten hier draußen sind und daß unsere Wirtin nicht die Frau ist, die unser Fortbleiben ohne Bemerkung zuläßt.«

»Wir wollen hineingehen. Ich danke Ihnen, daß Sie mich daran erinnerten.«

»Ich danke Ihnen, daß Sie es vergaßen.«

Erskine hörte, wie sich ihre Fußtritte entfernten, und sah die zwei gleich darauf in den Lichtschein hineintreten, der aus der offenen Türe des Billardzimmers hervorleuchtete, durch das sie ins Haus gingen. Trefusis, ein Mann, der heute in der wunderschönen Landschaft gelegen hatte, blind für alles außer den Ziffern eines Blaubuchs, war sein erfolgreicher Nebenbuhler, obgleich man schon an dem Klang seiner Stimme hören konnte, daß er Gertrude nicht liebte – daß er sie nicht lieben konnte. Nur ein Dichter konnte das. Trefusis war kein Dichter, sondern ein schmutziger, roher Patron, der höchstens in einer Volksversammlung Interesse erregen konnte, aber nicht bei einem Weibe, und am allerwenigsten bei einem so zarten Weibe wie Gertrude. Dabei war sie noch stolz, und doch hatte sie dem Burschen erlaubt, sie zu beschimpfen – hatte es ihm verziehen, weil er ihr ein paar grobe Komplimente machte. Erskine wurde zornig und spöttisch. Der Vorfall beleidigte sein poetisches Gefühl. Anstatt daß sein Herz von einem tragischen Schmerz erfüllt war, wie ihn ein patriotischer Märtyrer unter ähnlichen Umständen empfunden hätte, fühlte er sich verhöhnt und verspottet. Und was ihm zuerst als ganz selbstverständlich erschienen war, daß Trefusis tief unter ihm stehe, das war ihm jetzt gar nicht mehr so sicher.

Er blieb unter den Bäumen stehen, bis Trefusis wieder erschien, um nach Hause zu gehen. Er machte dabei, wie Erskine dachte, mit seinen Absätzen auf dem Kies ein Geräusch, das ein ganzes Regiment fein erzogener Menschen nicht hervorgebracht hätte. An dem Wärterhäuschen fragte er noch etwas und ging dann hinaus, und seine Schritte erstarken in der Dunkelheit.

Erskine war steif und erfroren und hatte eine Empfindung, als ob er sich eine böse Erkältung zugezogen hätte. Als er ins Haus hineinkam, war er froh, daß sich Gertrude schon zurückgezogen hatte und daß Lady Brandon, trotzdem sie bestimmt glaubte, er sei in der Dunkelheit in den Fluß hineingefahren, doch ein warmes Abendessen für ihn bereit gehalten hatte.


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