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Sechstes Kapitel

Das Jahr ging weiter, und es begannen die langen Winterabende. Die lernbegierigen jungen Damen in der Alton-Anstalt saßen an ihren Pulten, auf die Ellbogen gestützt und den Kopf in den Händen vergraben, und fröstelten in ihren Pelzkragen. Sie überluden ihr Gedächtnis mit Darlegungen der Moralphilosophen oder schwammen, wie Menschen auf Korkgürteln, auf den Grundproblemen der Mathematik herum. Hierbei geschah es denn oft, je vernünftiger eine Schülerin in der Mathematik war, desto unvernünftiger war sie im wirklichen Leben, weil es da keine feststehenden Grundsätze gab, nach denen man sich richten konnte.

Agatha, die nicht lernbegierig war und auch keine Lust hatte, im Winter zu frieren, begann mit wachsendem Eifer die Vorschrift Nr. 17 zu brechen. Die Vorschrift Nr. 17 verbot den Schülerinnen, die Küche zu betreten, oder irgendwie die Dienstmädchen in ihrer häuslichen Tätigkeit zu stören. Agatha brach sie, weil sie gerne braunen Kandiszucker machte und ihn aß, weil sie ein warmes Feuer liebte und alles, was verboten war, und weil ihr die Bewunderung gefiel, mit der die Dienstmädchen ihren musikalischen und Bauchredekünsten lauschten. Gertrude begleitete sie, weil sie ebenfalls Zuckerzeug liebte, und weil sie sich etwas auf ihre Herablassung zu tiefer Stehenden einbildete. Jane ging hin, weil ihre beiden Freundinnen hingingen, und Abenteuerlust, böses Beispiel und Liebe zu Süßigkeiten brachten oft mehr Freiwillige zu diesen Expeditionen, als Agatha für sicher hielt, mitzunehmen. Eines Abends ging Miß Wilson allein in ihren Privatweinkeller hinunter und wurde in der Nähe der Küche durch einen Lärm ausgelassener Lustigkeit aufgehalten. Sie blieb lauschend stehen und hörte zuerst den Kastagnettentanz, der sie an den Nachdruck erinnerte, mit dem Agatha über Mrs. Miller mit dem Finger geschnipst hatte. Dann kam die Biene an der Fensterscheibe, Robin Adair (in dessen Refrain die Dienstmädchen einstimmten) und eine Verspottung ihrer eigenen Person, wie sie Jane Carpenters bessere Natur anflehte, sich auf die Aufnahmeprüfung für Cambridge vorzubereiten. Sie wartete, bis die Kälte und die Furcht, hier beim Spionieren entdeckt zu werden, sie zwangen, wieder hinaufzusteigen. Sie schämte sich, daß sie an einer törichten Unterhaltung ihre Freude gehabt hatte, aber sie sah doch lieber über eine Verletzung der Vorschriften hinweg, als daß sie einen neuen Streit mit Agatha gewagt hätte.

Es war besonders eine Sache, in der Agatha sich nicht mehr so an die Schuldisziplin hielt wie früher. Obgleich sie eine unverhältnismäßig große Zahl von Eintragungen in das Sündenbuch geliefert hatte, war jenes Bekenntnis, das beinahe zu ihrer Austreibung geführt hatte, ihr letztes geblieben. Nicht, daß ihre Aufführung eine bessere geworden wäre, sie hatte sich im Gegenteil verschlechtert. Miß Wilson erwähnte nicht mehr die Angelegenheit, und so blieb das Sündenbuch eine geheiligte Sache, auf die nie angespielt wurde. Aber sie bemerkte, daß Agatha, obgleich sie nicht ihre eigenen Sünden bekennen wollte, doch den andern bei der Entlastung ihres Gewissens half. Die Witzigkeit, mit der Jane unerwarteterweise die Seiten des Sündenbuchs anfüllte, war dafür bezeichnend genug.

Smilasch hatte jetzt auch ein Gewerbe angefangen. An den letzten Herbsttagen hatte er sein Häuschen weiß getüncht, Türen, Fenster und Veranda angestrichen, das Dach und das Innere ausgebessert und den Platz so sehr verschönert, daß ihm der Grundbesitzer mitteilte, er müßte nach Ablauf der zwölfmonatlichen Pachtung die Rente erhöhen. Ein Mieter könne vernünftigerweise ein hübsches, regendichtes Wohnhaus nicht für dasselbe Geld haben wie eine kaum bewohnbare Ruine. Smilasch hatte ihm sofort versprochen, es am Ende des Jahres so zu verderben, daß es wieder wie früher aussähe. Am Tor hatte er eine Anschlagtafel angebracht mit einer Inschrift, die er von gedruckten Karten abgeschrieben hatte. Er zeigte diese Karte den Leuten, die sich zufällig mit ihm unterhielten.

 

Jefferson Smilasch

Maler, Dekorateur, Glaser, Klempner und Gärtner.
Klaviere werden gestimmt. Hausreparaturen aller Art.
Servieren bei Tisch und Bedienung.

Villa Chamounix,
Lyvern

Auskunft gratis.
Kein vernünftiges Angebot wird abgeschlagen.

 

Das auf diese Weise angekündigte Geschäft, so umfassend es war, blühte doch nicht. Wenn er von Neugierigen nach einem Zeugnis für seine Tüchtigkeit und Achtbarkeit gefragt wurde, verwies er sie sorglos an Fairholme, an Josephs und besonders an Miß Wilson, die, wie er sagte, ihn von seiner frühesten Kindheit her gekannt hatte. Fairholme war froh, wenn er beweisen konnte, daß er kein glattzüngiger Pfaffe war, und erklärte auf jede Anfrage, Smilasch sei der größte Halunke in der ganzen Gegend. Josephs sagte teils aus Wohlwollen, teils aus Furcht, Smilasch möchte einmal etwas gegen ihn wegen Verleumdung unternehmen, er sei jedenfalls ein wirklich billiger Arbeiter, und es würde eine gute Tat sein, wenn man ihm zur Aufmunterung eine kleine Beschäftigung gäbe. Miß Wilson bestätigte Fairholmes Bericht, und der Organist der Kirche, der seit fast einem Vierteljahrhundert alle Klaviere in der ganzen Umgegend einmal im Jahre gestimmt hatte, schwärzte ihn als einen Menschen an, der alles anfange und nichts könne.

Hierauf begannen die Radikalen in Lyvern, eine kleine und verrufene Partei, zu versichern, an dem Mann sei nichts Böses, und die Geistlichen und Miß Wilson, die in einem feinen Hause wohnte und nur ganz reiche Mädchen als Pensionärinnen aufnahm, könnten ihre freie Zeit besser ausfüllen, als damit, einem armen Arbeiter das Brot aus dem Mund zu nehmen. Aber da keiner aus dieser Gesellschaft häusliche Reparaturen hatte, machte ihn ihre Unterstützung durchaus nicht reicher, und der einzige Kunde, den er fand, war ein Hausmädchen, das seine Stellung in einem Landhaus in der Umgegend aufgab. Sie wollte ihren Koffer ausgebessert haben, dessen Deckel abgefallen war. Smilasch verlangte eine halbe Krone für den Auftrag, aber auf ihr Zögern bat er sie gleich um Verzeihung und ging auf einen Schilling herunter. Hierfür strich er den Koffer neu an, malte die Anfangsbuchstaben ihres Namens darauf, brachte neue Scharniere, ein Bramahschloß und Messinggriffe an. Er hatte selbst für zehn Schillinge Ausgaben und mehrere Stunden Arbeit. Dem Hausmädchen gefiel die Farbe des Anstrichs nicht, sie ließ ihn die Griffe abnehmen, die sie, wie sie sagte, an einen Sarg erinnerten, und beklagte sich, daß ein Schloß mit solch einem schmalen Schlüssel für einen so schweren Koffer nicht stark genug sein könnte. Schließlich gab sie zu, es sei ihre eigene Schuld, weil sie sich keinen Mann genommen hatte, der etwas von der Sache verstand. Es sprach sich bald rund, er habe daran ein gutes Geschäft gemacht, und da er, wenn man es ihm vorwarf, das noch ausdrücklich bestätigte, so erhielt er weiter keinen Auftrag. Sein Schild diente von jetzt ab nur zur Erheiterung von Spaziergängern und Hirtenjungen, die gerne mit Steinen danach warfen.

Ein starker Sturm blies eines Nachts über Lyvern, und die jungen Damen im Alton-Institut, die sich meistens vor Blitzen fürchteten, sprachen mit einigem Ernst ihre Gebete. Um halb eins machten Regen, Wind und Donner einen solchen Lärm, daß Agatha und Gertrud sich Halstücher umschlugen und sich nach dem Flurfenster vor Miß Wilsons Arbeitszimmer hinabstahlen, wo sie die Blitze beobachteten, die mit zuckendem Schimmer die Landschaft erhellten. Dabei unterhielten sie sich im Flüstertone darüber, ob es gefährlich sei, nahe am Fenster zu stehen, und ob die messingenen Läuferstangen auf der Treppe die Blitze anziehen könnten. Agatha, die bei einer einzelnen Gefährtin ebenso ernsthaft und freundlich sein konnte, wie sie in einer größeren Gesellschaft mutwillig und spöttisch wurde, genoß ruhig das Schauspiel. Das Blitzen schreckte sie nicht, da sie wenig von dem Ernst des Lebens wußte und sich etwas darauf einbildete, gleichgültig dagegen zu sein. Sie zuckte zusammen, wenn stärkere Blitzschläge aufzuckten, aber das brachte ihr nur ihren eigenen Mut zum Bewußtsein und ihren Gegensatz zu der ängstlichen Gertrude, die endlich vor einer gespaltenen Zickzacklinie von blauem Licht zurückfuhr und sagte:

»Wir wollen wieder zu Bett gehen, Agatha. Wir sind hier durchaus nicht sicher.«

»Grade so sicher wie im Bett, und da können wir nichts sehen. Wie das Haus zittert! Ich glaube, der Regen wird gegen die Fenster schlagen, ehe –«

»Still,« flüsterte Gertrude und ergriff voll Schrecken ihren Arm. »Was war das?«

»Was?«

»Ich habe bestimmt die Klingel gehört – die Gartenklingel. Oh, wir wollen wieder zu Bett gehen.«

»Unsinn! Wer wird in einer solchen Nacht ausgehen? Vielleicht hat sie der Wind in Bewegung gesetzt.«

Sie warteten einige Augenblicke. Gertrude zitterte, und Agatha hatte in der Dunkelheit ein Gefühl, wie es Leute haben, die sich vor Gespenstern fürchten. Dann vermischte sich ein undeutlicher Klang in das Brausen des Windes.

Ein paar scharfe und durchdringende Töne kamen unverkennbar von der Gartenklingel auf dem Vorplatz. Es war eine laute Klingel, die bestimmt war, die Dienstmädchen im Hause anzurufen, wenn das Tor geöffnet werden sollte. Denn das Pförtnerhäuschen war unbewohnt.

»Was in aller Welt kann das sein?« fragte Agatha. »Können sie nicht das Törchen finden, die Idioten?«

»Hoffentlich nicht! Bitte, komm herauf, Agatha.«

»Nein, ich will nicht. Geh nur, wenn du willst.«

Aber Gertrude fürchtete sich, allein zu gehen. »Es ist am besten, wenn wir Miß Wilson wecken und es ihr sagen,« fuhr Agatha fort. »Es ist schrecklich, in solch einer Nacht jemand nicht hereinzulassen.«

»Aber wir wissen ja nicht, wer es ist.«

»Nun, ich weiß jedenfalls, daß du keine Angst vor ihnen hast,« sagte Agatha, obgleich sie das Gegenteil wußte. Aber sie benutzte die Gelegenheit, Gertrude zu beschämen und zum Schweigen zu bringen.

Sie lauschten wieder. Der Sturm wütete jetzt besonders laut, und sie konnten die Glocke nicht hören. Plötzlich klopfte jemand heftig an die Haustüre. Gertrude schrie, und ihr Schrei erhielt aus den oberen Räumen ein Echo. Verschiedene Mädchen hatten auch das Klopfen gehört und waren dadurch so erschreckt worden, als hätten sie Alpdrücken. Eine Kerze flackerte auf der Treppe, und man hörte Miß Wilsons Stimme, die beruhigend fest klang.

»Wer ist da?«

»Das bin ich. Miß Wilson, und Gertrude. Wir haben uns das Wetter angesehen, und da klopft jemand an die –« Ein wütendes Hämmern mit dem Türklopfer unterbrach sie. Dann folgte ein Laut, der durch den Sturmwind übertönt wurde, als ob ein Mann etwas riefe.

»Sie sollten lieber nicht die Tür öffnen,« sagte Miß Wilson etwas beunruhigt. »Und Sie, Agatha, sind sehr unvernünftig, daß Sie hier stehen. Sie werden sich zu Tod – O Gott! Was kann da sein?«

Sie eilte, gefolgt von Agatha, Gertrude und einigen mutigeren Schülerinnen, auf den Flur hinunter. Ein paar zitternde Dienstmädchen standen neben der Haushälterin, die jammernd durch das Schlüsselloch fragte, wer denn da wäre. Man hörte sie offenbar draußen nicht, denn das Klopfen begann, während sie sprach, von neuem, und sie fuhr zurück, als ob sie einen Schlag gegen den Mund bekommen hätte. Miß Wilson rasselte jetzt mit der Kette und fragte von neuem, wer da wäre.

»Lassen Sie uns ein!« schrie jemand dumpf durch das Schlüsselloch. »Hier ist eine sterbende Frau und drei Kinder. Macht die Tür auf!«

Miß Wilson verlor ihre Geistesgegenwart. Um Zeit zu gewinnen, antwortete sie: »Ich – ich kann nicht verstehen. Was sagten Sie?«

»Verdammt!« rief die Stimme und richtete sich diesmal an jemand, der sich draußen befand. »Sie können uns nicht verstehen.« Und das Klopfen begann von neuem und mit verstärkter Heftigkeit. Agatha faßte erregt Miß Wilson an ihrem Morgenkleid und wiederholte ihr, was die Stimme gesagt hatte. Miß Wilson hatte es deutlich genug gehört, und sie fühlte auch irgendwie, daß sie die Türe öffnen müsse, aber sie war fast überwältigt von einer unbestimmten Furcht vor dem Kommenden. Sie begann die Kette abzuhängen, und Agatha half ihr bei dem Aufriegeln. Zwei Dienstmädchen erklärten, sie würden sicher alle in ihren Betten ermordet werden, und liefen davon. Einige von den Schülerinnen schienen geneigt, ihrem Beispiel zu folgen. Bis endlich die freigewordene Tür weit aufflog und Miß Wilson und Agatha zurückwarf. Ein Wirbelwind fuhr in den Hausflur, riß an den Kleidern der Mädchen und blies die Kerzen aus. Agatha sah beim Aufzucken eines Blitzstrahls zwei Männer, die sich an der Türe abmühten, wie Matrosen an einer Ankerwinde. Dann hörte der Wind auf, und sie wußte, daß die Türe geschlossen war. Streichhölzer wurden angezündet, die Kerzen in Brand gesetzt, und man konnte jetzt die Ankömmlinge deutlich erkennen.

Smilasch stand in bloßem Kopf und ohne Rock da, seine Manchesterweste und Hose waren schwer vom Regen. Neben ihm stand ein struppig aussehender Mann im mittleren Alter, der die ärmliche Kleidung eines Viehhirten trug und gleichfalls ganz durchnäßt war. Er hatte das armselige, geduldige und verzweifelte Gesicht eines Menschen, der vom Unglück hart verfolgt und am Ende seiner Kräfte ist. Zwei kleine Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, die fast nackt waren, verbargen sich unter einem alten Sack, den sie als Schirm gebraucht hatten. Auf der Polsterbank aber lag ein Bündel abgetragener Kleidungsstücke, Sackleinen und zerrissener Decken, das mit Smilaschs Rock und Südwester bedeckt war. Unter diesem Haufen Lumpen verbarg sich ein erschöpftes Weib mit einem armseligen Säugling an der Brust. Smilaschs Gesicht bekam einen grimmigen Ausdruck, als er nach ihr hinsah.

»Verzeihen Sie, daß wir Sie stören, Lady,« sagte der Mann nach einem ängstlichen Blick auf Smilasch, da er erwartete, daß dieser sprechen würde. »Aber mein Dach und eine Wand von dem Haus sind bei dem Sturm eingestürzt, und meine Frau hat noch ein anderes kleines Kind gehabt, und es tut mir so leid, daß wir Sie belästigen, Miß. Aber – aber –«

»Belästigen!« schrie Smilasch. »Es ist das höchste Vorrecht einer Dame, Ihnen zu helfen – das höchste Vorrecht.«

Der kleine Junge begann hier vor lauter Elend zu weinen, und die Frau erhob sich, indem sie sagte: »Schäme dich, Tom! Hier vor der Lady.« Dann aber sank sie zusammen, zu schwach, um sich noch um etwas zu bekümmern, was jetzt geschehen konnte.

Smilasch sah ungeduldig Miß Wilson an, die zauderte und ihn endlich fragte: »Was erwarten Sie denn, daß ich tun soll?«

»Helfen sollen Sie uns,« antwortete er. Dann fügte er mit einem Ausbruch nervöser Energie hinzu: »Tun Sie, was Ihr Herz Ihnen gebietet. Geben Sie dem Weibe Ihr Bett und Ihre Kleider und lassen Sie die Mädchen auf ein paar Tage ihre Bücher zum Teufel werfen, damit sie für die armen, kleinen Geschöpfe etwas Kleidung anfertigen. Die Armen haben schwer genug gearbeitet, um sie zu bekleiden. Lassen Sie jetzt die Mädchen auch einmal die Armen bekleiden.«

»Nein, nein. Alles was recht ist, Master,« sagte der Mann, augenscheinlich sehr bedrückt durch ein Gefühl, unwillkommen zu sein, und er trat einen Schritt vor, um Miß Wilson günstig zu stimmen. »Die Ladys haben keine Schuld. Wenn ich so kühn sein darf, Sie um was zu bitten, dann geben Sie nur meiner Frau bis morgen Obdach. Irgend ein Platz genügt, sie ist dran gewöhnt, sich durchzuschlagen. Wenn sie nur ein Dach über dem Kopf hat, bis ich im Dorf ein Zimmer finde, wo wir einziehen können.« Hier brachten ihn seine eigenen Worte dazu, an die Zukunft zu denken, und er blickte verzweifelt an dem Säulengebälk des Flures vorbei, als ob da ein Gefach sei, in dem vielleicht jemand eine passende Unterkunft für ihn gelassen hätte.

Miß Wilson wandte entschlossen und verächtlich Smilasch den Rücken zu. Sie hatte ihre Fassung wiedergefunden. »Ich will Ihr Weib hier behalten,« sagte sie zu dem Mann. »Es wird für sie in jeder Weise gesorgt werben. Die Kinder können auch hier bleiben.«

»Dreimal hoch die moralische Beeinflussung!« schrie Smilasch begeistert und fiel wieder in seine rohe Sprache zurück, die er in seinem Zorn ganz vergessen hatte. »Was sagte ich, Nachbar, als ich sagte, Sie sollten Ihre Frau zu der Anstalt bringen, und Sie sagten ironisch, ›Ach ja, die werden verflucht froh sein, wenn sie uns da sehen.‹ Sagte ich nicht, die Lady hat ein nobles Herz, und sie zeigt es auch, wenn solch ein Malheur an sie herantritt?«

»Wie können Sie meine übereilten Worte hier gegen mich vorbringen, Master, da die Lady so freundlich ist?« entgegnete der Mann erregt. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Miß, und Beß auch. Wir fühlen, wie lästig wir –«

Miß Wilson, die sich mit der Haushälterin beraten hatte, schnitt seine Rede kurz ab, indem sie ihm sagte, er solle jetzt sein Weib zu Bett bringen. Er tat das auch mit Hilfe Smilaschs, der jetzt jubelte. Während sie fort waren, weigerte sich ein Dienstmädchen, eine Bettdecke in das Zimmer der Frau zu bringen, und sagte, solche Menschen wollte sie nicht bedienen. Miß Wilson gab ihr im heftigsten Tone Bescheid, sie könnte am nächsten Tag die Anstalt verlassen. Das war aber auch der einzige Fall von Übelwollen gegen die Ankömmlinge. Die jungen Damen wurden dann gebeten, wieder zu Bett zu gehen.

Unterdessen hatte der Mann seine Frau untergebracht. Es war das reine Palastzimmer im Vergleich mit dem, das durch den Sturm über ihr zusammengebrochen war. Er gratulierte ihr zu ihrem Glück und bedrohte die Kinder mit der strengsten Züchtigung, wenn sie sich nicht ganz brav aufführten, solange sie in diesem Hause blieben. Bevor er sie verließ, küßte er seine Frau. Sie hatte sich etwas erholt und bat ihn, noch einmal den Säugling zu betrachten. Er tat es und gab ihm dabei ein böses Schimpfwort, denn er dachte an die Zeit, da der Appetit des Kleinen nicht mehr an der Brust der Mutter gestillt werden könnte, da man für ihn im Laden einkaufen müßte. Sie lachte und machte ihm Vorwürfe, und so schieden sie fröhlich voneinander. Als er mit Smilasch zur Halle zurückkehrte, standen da zwei Krüge Bier für sie. Die Mädchen hatten sich entfernt, nur Miß Wilson und die Haushälterin waren zurückgeblieben.

»Zur Gesundheit, Madame,« sagte der Mann, bevor er trank. »Mögen Sie auch so jemand finden, wenn Sie einmal in Sorgen kommen, was der Herr verhüte.«

»Ist Ihr Haus ganz zerstört?« fragte Miß Wilson. »Wo wollen Sie denn die Nacht verbringen?«

»Denken Sie nicht an mich, Madame. Hier Master Smilasch nimmt mich bis morgen auf.«

»Seine Gesundheit!« sagte Smilasch, indem er den Krug mit seinen Lippen berührte.

»Das Dach und die südliche Wand sind ganz fortgeweht,« fuhr der Mann fort, nachdem er einen Moment geschwiegen und über Smilaschs Worte gegrübelt hatte. »Ich zweifle, ob noch ein Stein auf dem andern steht.«

»Aber Sir John wird es für Sie wieder aufbauen. Sie sind doch einer von seinen Hirten, nicht wahr?«

»Jawohl, Miß. Aber er baut nicht. Er wird nur zu froh sein, daß es glücklich zusammengebrochen ist. Er hat es nicht gern, wenn Leute auf dem Felde wohnen. Ich hab es ihm immer und immer wieder gesagt, daß das Häuschen einfallen würde. Aber er meinte, ich könnte doch nicht verlangen, daß er für ein Haus Geld ausgäbe, das ihm keine Miete einbrächte. Sie wissen, Miß, ich bezahlte keine Miete. Ich bekam einen niedrigen Lohn, und das bißchen Hütte wurde mir dafür angerechnet, weil ich weniger erhielt als die anderen Leute. Ich konnte es nicht instand setzen lassen, obgleich ich nach Kräften daran ausbesserte. Und jetzt werde ich sicher Vorwürfe bekommen, weil ich es einstürzen ließ. Ich werde in der Stadt ein halbes Zimmer bewohnen müssen und zwei oder drei Schillinge Miete die Woche bezahlen, abgesehen davon, daß ich jeden Tag drei Meilen hin und zurück zu meiner Arbeit gehen muß. Ein Gentleman wie Sir John weiß schwerlich, welchen Wert ein Penny für das arbeitende Volk hat und wie schwer diese Gutsvorschriften und dergleichen auf uns lasten.«

»Sir Johns Gesundheit!« sagte Smilasch und berührte den Krug wie vorher. Der Mann trank unterwürfig einen Schluck, und Smilasch fuhr fort: »Das ist der glorreiche Landadel von Altengland. Gott erhalte ihn!«

»Master Smilasch spaßt nur,« sagte der Mann entschuldigend. »Er ist einmal so.«

»Sie sollten keine Kinder auf die Welt setzen, wenn Sie so arm sind,« sagte Miß Wilson streng. »Sehen Sie denn nicht ein, daß Sie sich dadurch nur ärmer machen, um die Sache von einem höheren Gesichtspunkt zu betrachten.«

»Hochwürden Mr. Malthus' Gesundheit!« bemerkte Smilasch und wiederholte seine Bewegung mit dem Kruge.

»Einige sagen, es kommt durch die Kinder, andere sagen, es kommt durch das Trinken, Miß,« sagte der Mann demütig. »Aber so weit ich sehe, Familie oder nicht Familie, betrunken oder nicht betrunken, mit jedem Tag werden die Armen ärmer und die Reichen reicher.«

»Ist es nicht widerwärtig, wenn ein Mann eine so krasse Unwissenheit über die gehobene Lebenslage seiner Klasse verrät?« fragte Smilasch, indem er sich an Miß Wilson wandte.

»Wenn Sie beabsichtigen, den Mann mit nach Hause zu nehmen,« sagte sie und sah ihn scharf an, »dann tun Sie es am besten jetzt gleich.«

»Ich finde es gütig von Ihnen, daß Sie mich bitten, etwas zu tun, Früher waren Sie doch so erzürnt und sagten Mr. Wickens, ich sei die letzte Person in Lyvern, der Sie eine Arbeit anvertrauen würden.«

»Das sind Sie auch – die allerletzte Person. Warum trinken Sie Ihr Bier nicht?«

»Nicht weil ich Ihr Gebräu verachte, Lady. Aber ich bin nur ein gewöhnlicher Mann, und Wasser ist gut genug für mich.«

»Ich wünsche Ihnen gute Nacht, Miß,« sagte der Mann. »Und ich danke auch vielmals wegen Beß und der Kinder.«

»Gute Nacht,« sagte sie und ging an die Seite, um jede Begrüßung durch Smilasch zu vermeiden. Aber er trat zu ihr hin und sagte mit leiser Stimme, indem er wieder das Benehmen und den Ausdruck des Trefusis annahm:

»Gute Nacht, Miß Wilson. Sollten Sie jemals die Dienste eines Hundes, eines Mannes oder eines Hausingenieurs gebrauchen, dann erinnern Sie Smilasch an Beß und die Kinder, und er wird sofort zur Stelle sein.«

Sie öffneten vorsichtig die Türe und fanden, daß der Sturm, durch den Regen überwältigt, nachgelassen hatte. Miß Wilsons Kerze flackerte zwar in dem Zugwinde, aber sie wurde diesmal nicht ausgelöscht. Die beiden Frauen waren jetzt allein. Sie schlossen und verriegelten die Türe und lauschten auf die Fußtritte, die auf dem Kiesboden knirschten und langsam in dem gleichmäßigen Gießen des Regens erstarben.


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