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Neapel ist die einzige Stadt Italiens, die den Strich verboten hat. Dessen um das Ende des vorigen Jahrhunderts ganz unverhältnismäßiges Überhandnehmen bedingte diese gewiß sehr erstaunliche Maßnahme, die, einmal getroffen, beibehalten wurde, weil sie der großen Frömmigkeit der Bevölkerung entsprach, vor allem aber, weil man bemerkte, daß es auch so ging. Zwar etablierten sich in der Folge allenthalben neue Bordelle und die Kupplerinnen tauchten in ganzen Rudeln auf, aber der eigentliche Zweck war doch erreicht: die direkte Verlockung fehlte. Allerdings nur während einiger Jahre. Denn allgemach bildete sich ein gänzlich neuer Brauch heraus, der nicht sowohl das Verbot erfolgreich umging, als auch eine gewisse Gewähr dafür bot, daß er beschränkt bleiben würde.
Die Sängerinnen der Kabaretts, die fast ausnahmslos ihre Gunst verkaufen, fuhren nämlich nach Schluß der Vorstellung, meist erst nach Mitternacht, in Mietdroschken nach Hause und wurden unterwegs von ihren zahlreichen Verehrern stets mehrmals angehalten, mit Blumen und Liebesworten überschüttet. Und manchmal kam es auch vor, daß einer das Glück hatte, im Wagen mitgenommen zu werden. Bald wurden die Droschken der Sängerinnen immer häufiger angehalten und immer häufiger wurden Glückliche mitgenommen. Und nach Verlauf einiger Monate konnten besonders aufmerksame Beobachter bereits feststellen, daß auch Damen, die allem menschlichen Ermessen nach keine Sängerinnen waren, gegen Mitternacht sehr langsam nach Hause fuhren, immer wieder die Via Roma passierten und erst verschwanden, wenn sie glücklich einen ergattert hatten.
So kam es, daß Neapel den vornehmsten Strich der Welt bekam: den Droschken-Strich. Seine Exklusivität erwies sich allerdings erst nach einiger Zeit. Die Regiekosten waren nämlich sehr hoch und mußten auf den Kavalier abgewälzt werden, so daß einerseits dem hohen Preis eine schöne Dame entsprechen mußte, andererseits der schönen Dame ein zahlungsfähiger Kavalier. Deshalb bildete sich zunächst folgende Gepflogenheit heraus: die Droschke anhalten, um mit der Insassin zu reden und sie zu begutachten, war gratis; wer aber, ohne sich schon endgültig entschlossen zu haben, die Droschke bestieg, war, wenn er nachträglich gleichwohl sich zurückziehen wollte, verpflichtet, die mitgefahrene Strecke zu 98 bezahlen. Daß in solchen Fällen nicht nur die bis dahin von der Dame allein zurückgelegte Strecke angerechnet wurde, sondern oft das Vielfache, war ebenso verständlich wie die Folge davon: die Herren wurden überaus vorsichtig und stiegen überhaupt erst ein, wenn man sich über den Gesamtpreis geeinigt hatte. Da diese langwierigen Unterhandlungen vom Wagen aus zum Trottoir hinab weder nach dem Geschmack der Damen waren oder nach dem der Herren, vollzog sich die definitive Siebung: die Droschken wurden nurmehr von Herren angehalten, die jeden Preis zu zahlen willens waren, und nur jene Damen, die darauf verzichten konnten, täglich Erfolg zu haben, fuhren auf den Strich.
Die Königin dieses allnächtlichen Wagen-Korsos war jahrelang die schöne Maria Cappi gewesen, deren geheimnisvoller Tod viel von sich reden machte. Sie wurde eines Nachts an der Ecke der Via Chiaia durch einen Flintenschuß in den Hals getötet. Der Mörder wurde nicht entdeckt; sei es, weil die Richtung, aus der der Schuß gekommen war, nicht mit Sicherheit festgestellt werden konnte, sei es, weil der Kutscher nach dem Schuß, den er nicht gehört hatte, noch minutenlang weiterfuhr. Erst als der Körper der Ermordeten bei einer holprigen Stelle fast aus dem Wagen fiel, hielten Passanten den Kutscher auf.
Dieses Ereignis gab umso mehr Grund zu den unglaublichsten Kommentaren, als die einzige Tochter der Ermordeten, die siebzehnjährige Concetta, die fast noch schöner war als ihre Mutter, nach deren Begräbnis ihre Verlobung mit dem jungen Principe Faradossi, der, um sie gegen den Willen seines Vaters heiraten zu können, Bankbeamter geworden war, brüsk löste und noch in derselben Nacht im Wagen ihrer Mutter auf den Strich fuhr. Als man es Faradossi hinterbrachte, rannte er wie ein Toller auf die Via Roma. Zufällig war der Wagen Concettas einer der ersten, die ihm begegneten. Faradossi blieb aufbrüllend stehen und schoß dreimal. Als der Wagen hielt und Concetta ihn wachsbleich, aber unverletzt verließ, feuerte Faradossi vor ihren Augen sich eine Kugel in den Mund. Und nun geschah das Allerunglaublichste. Concetta stieg wieder in den Wagen, ohne ihren toten Bräutigam auch nur berührt zu haben, und gab ihrem Kutscher barsch den Befehl weiterzufahren. Man erzählte sich, daß sie bis gegen fünf Uhr morgens die Via Roma auf und ab fuhr. Niemand wagte, den Wagen anzuhalten, weil alle sie kannten, alle wußten, was sich ereignet hatte, und alle die Jungfrau Concetta Cappi für wahnsinnig hielten. Als sie aber nachts darauf wieder auf der Via Roma erschien und die folgenden Nächte wieder, war der Bann gebrochen. Dennoch war der erste, der ihren Wagen anhielt, ein unbekannter Fremder gewesen.
99 Kersuni war kaum zwei Tage in Neapel, als ein Bekannter, mit dem er spät nach Mitternacht über die Via Roma heimging, beim Erscheinen des Wagens Concettas ihm deren Geschichte erzählte.
Kersuni, für den sie weniger romantisch sich ausnahm als für den Erzähler, wurde immerhin so neugierig, daß er sich vornahm, obwohl ihm Concettas hoher Preis genannt worden war, diese Frau kennenzulernen und vielleicht, koste es, was es wolle, ihr Geheimnis.
Schon in der nächsten Nacht wartete er vor einer kleinen Bar in der Nähe der Piazza Dante. Gegen Mitternacht trabte der elegante Dogcart Concettas vorbei. Kersuni, der nicht wußte, daß Concetta gewöhnt war, es ihren Liebhabern nicht leicht zu machen, erreichte deshalb zu spät den Fahrdamm. Er wartete nun hart am Rande des Trottoirs, bis der Wagen zurückkam, und gab schon von weitem dem Kutscher ein Zeichen mit dem Stock. Der Wagen hielt kurz vor ihm.
Kersuni grüßte mit einem leichtem Kopfneigen und stieg wortlos ein. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.
»Sie sind Ausländer?« fragte Concetta französisch und mit einer Stimme, die Kersuni durch ihren gebrochenen Klang aufhorchen machte.
»Ja.«
»Sie zahlen zweitausend Lire?«
»Ja.«
»Für jede weitere Stunde zahlen Sie ebenso viel?«
»Ja.«
»Geben Sir mir bitte Ihren Paß.«
Kersuni, der stets auch einen falschen bei sich trug, gab ihr diesen.
Nach einer Weile sagte sie: »Damit es keine Differenzen gibt.«
Kersuni nickte höflich. Es fiel ihm auf, daß sie kein anderes Bijou trug als um den Hals ein kleines Kruzifix aus schwarzen Steinen.
Von Zeit zu Zeit stellte sie noch allerlei Fragen, unterließ es aber bald, da Kersuni nur ausweichend oder gar nicht antwortete.
Sobald die Via Roma passiert war, nahm der Kutscher scharfen Trab und hielt nach einer Viertelstunde vor einer versteckt liegenden kleinen Villa auf dem Vomero.
Das Weitere vollzog sich in der üblichen Weise. Kersuni war lediglich darüber erstaunt, daß Concetta das schwarze Kruzifix nicht ablegte, obwohl sie sich völlig ausgekleidet hatte. Als er nach etwa einer Stunde das Bett verließ, fragte er nach dem Grund.
100 Concetta bewegte verächtlich ablehnend die Lippen. »Sie haben ja bisher überhaupt sehr hartnäckig geschwiegen. Wollen Sie doch bitte auch weiterhin dabei bleiben.« Sie dehnte ihren schlanken ebenmäßigen Körper und warf dann rasch einen rotseidenen Peignoir über.
Kersuni hatte sich bereits zuvor im Zimmer, das aussah wie alle eleganten italienischen Boudoirs, umgesehen und soeben auf dem Toilette-Tisch einen dunklen, durch einen runden Bilderrahmen halb verdeckten Gegenstand bemerkt, der seine Aufmerksamkeit dadurch fesselte, daß er zu irisieren schien.
Noch bevor Concetta es hätte verhindern können, hielt Kersuni eine längliche Bronze-Statuette in der Hand, darstellend einen geschwänzten bocksbeinigen Teufel, dem ein nacktes kleines Mädchen ehrerbietig den Hintern küßte.
Doch da riß Concetta ihm auch schon die Statuette aus der Hand und schleuderte sie in eine offenstehende Wäsche-Schublade, die sie hastig zustieß und versperrte. »Was sind das plötzlich für Manieren?« rief sie empörter, als es dem Vorfall entsprach.
Kersuni beobachtete sie unbeweglich. »Was sind das für Steine, die Sie um den Hals tragen?«
»Schwarze Brillanten.« Concettas Lippen verschoben sich drohend. »Wünschen Sie noch . . .«
»Sie legen dieses Kruzifix niemals ab?«
»Niemals.« Concetta schrie es fast. »Hier haben Sie Ihren Paß.« Sie warf ihn in ein Fauteuil. »Wünschen Sie noch zu bleiben?«
Kersuni steckte seinen Paß ein und setzte sich. »Ja.«
»Sie erinnern sich an unsere Vereinbarung?«
»Ja.«
»Für jede weitere Stunde . . .«
»Ja.«
Concetta, die ihn während ihrer Fragen wild angeblitzt hatte, ließ sich achselzuckend in ein Fauteuil fallen, schlug ein Bein über und sah, das Kinn in der Hand, zum Plafond empor.
Kersuni, Knie und Fäuste rechtwinklig an einander gepreßt, saß ihr gegenüber und starrte sie unausgesetzt an . . .
Nach drei Viertelstunden bewegte Concetta sich zum ersten Mal. »Es dürfte die zweite Stunde um sein.«
Kersuni blickte auf seine Armbanduhr. »Es fehlen noch fünfzehn Minuten. Aber wollen Sie sich nicht vergewissern?«
»Danke.«
Kersuni schwieg und starrte sie weiter an.
Nach einer halben Stunde nahm Concetta ihren Kopf aus der 101 Hand, wandte Kersuni voll das Gesicht zu und fragte rauh: »Was wollen Sie eigentlich noch?«
»Einige Fragen an Sie richten.«
»Gehört das zu unserer Vereinbarung?« Ihre Stimme zitterte vor Wut.
»Nein.«
»Es freut mich, daß Sie wenigstens ein Gentleman sind.«
»Danke.«
Concetta senkte die Augen. Dann riß sie ihr Fauteuil mit einem heftigen Ruck beider Hände zur Seite, so daß Kersuni nicht einmal ihr Profil sah.
Nach einer weiteren halben Stunde folgerte Kersuni, der Concetta nach wie vor, nur vielleicht noch verbissener, angestarrt hatte, aus nahezu unmerklichen Bewegungen, daß seine Suggestion zu wirken begann. Da er immerhin mit einer unvorhergesehenen Störung rechnen mußte, hielt er es für angezeigt, sofort zu sprechen. »Ich weiß«, sagte er laut, aber mit tunlichst gleichmäßiger Stimme, »daß Ihre Mutter erschossen wurde. Daß der Principe Faradossi . . . Ich weiß, was alle Welt weiß. Ich weiß aber auch, daß das Geheimnis, das noch heute jene Ereignisse umgibt, durchaus nicht so undurchdringlich ist und keineswegs auf das Konto einer Maffia zu setzen ist oder gar Gefühlvolles oder Leidenschaftliches verbirgt, sondern . . .«
»Sondern?« kreischte Concetta halblaut und riß ihr Fauteuil mit einem mühsamen Ruck in die frühere Lage zurück.
»Sondern es ist ein kleines schwarzes Kreuz und ein Teufel.« Kersuni hustete erregt.
»Schweigen Sie!« Concetta war schwerfällig aufgestanden und taumelte nun zu Kersuni, dessen Arm sie erfaßte und zitternd umspannte. »Schweigen Sie zu jedermann!« Ihre Stimme hatte fast keinen Klang mehr. Ihre schwarzen unruhigen Augen waren trüb geworden und glotzten ins Leere. »Sie haben es erraten. Meine Mutter wurde erschossen, weil sie nach Spanien fliehen wollte. Ich hätte ihr Schicksal geteilt, wenn ich – jenem Mann nicht gehorcht hätte. Faradossi wollte mich töten, weil er mich liebte und nichts begriff. Es brachte ihn um den Verstand. Meine Mutter wollte, daß ich ihn heirate. Heute weiß ich, warum. Jetzt aber fällt mir das – andere schon so schwer wie meiner Mutter. Wenn das Maß voll sein wird, werde ich mich selbst töten. Nun wissen Sie es. Schweigen Sie, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.« Sie ließ sich erschöpft zu Boden gleiten.
Kersuni hielt ihre Hand fest. »Die schwarze Messe.«
102 »Ja. Wir haben unsere eigene Synagoge. Eine grauenhafte Parodie der Peterskirche. Und mehr als vierhundert Satanisten und Satanistinnen.« Concetta hielt gepeinigt inne. Ihr Blick schien gänzlich zu erlöschen. »Anfangs war ich wie rasend . . . Hören Sie, wie es war. Faradossi war mein Erster. Es war mir zu wenig. Und da ereignete sich jener Mord. Es war um ein Uhr nachts. Ich erfuhr es eine Viertelstunde später von – jenem Mann, den ich für den Geliebten meiner Mutter hielt. Ich warf mich schluchzend auf den Divan und er sich über mich . . . und diesmal war es mir nicht zu wenig. So daß ich ihm blindlings gehorchte und zwei Tage später auf den Strich fuhr. Am nächsten Nachmittag brachte er mich in die Synagoge und las die Messe auf meinem Bauch. Ich mußte eine junge Katze in der Luft zerreißen. Ich mußte einem Hahn die Kehle durchbeißen. Ich mußte den Kelch mit Urin und Menstruationsblut leeren. Und ich tat es. Tat es mit Vergnügen. Glauben Sie mir, Grausamkeit und Ekel sind das größte Vergnügen . . .« Sie lächelte irr.
»Weiter . . . weiter . . .« flüsterte Kersuni gierig.
»Anfangs war ich wie rasend darüber, daß ich das alles tat und daß ich es mit Vergnügen tat. Doch diese Abscheulichkeiten retteten mich vor dem Abscheu vor mir selber. Aber man hält es nicht aus. Und wenn der Körper es nicht mehr hergibt, das ist das Ende. Man ist zum Brechen voll und soll weiter essen . . .« Concettas Kopf fiel, wie im Genick gebrochen, auf die Brust.
Kersuni streichelte ihre Hand, ihre Haare. »Nur noch eins. Wer pißt auf den verhaßten Philipp?«
»Jedesmal ein anderer.«
»Ich meine . . . wer ist euer Katharer?«
Concetta schloß schläfrig die Augen. »Derselbe.« Sie sank in sich zusammen. »Jener Mann.«
Kersuni hob ihr Kinn. »Wer?« Er starrte ihr lange und fest in die Pupillen. Concettas Augen füllten sich plötzlich mit einem solch seltsam müden alten Haß, daß Kersuni erschauerte.
Dann zischte sie einen in Neapel gefürchteten Namen.
Kersuni schwieg lange. »Warum schickt er Sie auf den Strich?«
»Wir müssen alle huren. Aber auch wegen der Irreführung.«
»Müssen Sie ihm Geld geben?«
»Der Synagoge. Aber er hat auch schon von mir . . .«
»Warum haben Sie meinen Paß verlangt?«
»Wir müssen alle spitzeln. Und dann für alle Fälle . . .« Concettas Lippen schlossen sich nicht mehr. Ihre Augäpfel verdrehten sich.
103 Kersuni rieb ihr die Schläfen, bis sie einschlief. Dann trug er sie ins Bett und deckte sie bis ans Kinn zu . . .
Es gelang Kersuni, ungesehen das Haustor zu erreichen. Der Schlüssel steckte von innen.
Auf der Straße blieb Kersuni stehen. Doch das Lächeln darüber, daß er nicht bezahlt hatte, erstarb vor der jähen Einsicht, so rasch wie möglich abreisen zu müssen. 104