Walter Serner
Zum blauen Affen
Walter Serner

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Peinliche Betriebsstörung

»Ist Lusi epileptisch?« Bovier saß plötzlich wie seit einer Stunde am Tisch. Er hatte traumhafte Übung darin. Es fand stets so rasch und geräuschlos statt, daß Rey immer wieder lächeln mußte.

»Nicht daß ich wüßte.« Rey zuckte neugierig sein Pincenez herunter.

»Du exhibitionierst mit deiner Nase.« Boviers haarige Hände wanderten weich über seine fettig glitzernde Glatze.

»Seit wann Komplimente?« Rey gähnte. »Aber bei Bedarf macht Lusi auch Epileptisches. Entre nous: wenn du von ihr Derartiges serviert bekommen hast, bieg diese klinischen Beziehungen ab. Das sind semitische Chichis. Oder kannst du mit dieser Dame bezahlen?«

»Ich halluziniere nicht einmal davon, geschweige . . .« entrüstete sich Bovier lax.

»Bov, du weißt, daß ich für strikte Aufrechterhaltung des guten Rufs bin. Dahinter läßt es sich doch beiweitem tüchtiger sein, pas?« dozierte Rey müde. »Auch Madame Merlen, die dir doch etwas zu sagen scheint, kann nicht begreifen, daß du mit diesem kleinen mosaischen Laster von Lusi so publik herumlotterst.«

»Pah, ich auch nicht. Deshalb tue ich es vielleicht.«

Rey schepperte vor Vergnügen. Dann schwippte er das Pincenez mit zwei geübten Griffen wieder in den Sattel.

»Voilà, Madame Merlen mit Lusi!« Bovier erstarrte gewissermaßen. »Da glaube, wer's trifft, noch an die Menschheit! . . . Ssssst! Komponier deine Visage, Rey!« Die Augen Boviers bemühten sich plötzlich, einen Löffel zu schlucken.

Aus dieser Beschäftigung stieß ihn jedoch schnell ein Stups Lusis, der er sofort, Rey wortlos seinen Kaffee anvertrauend, mit den Fingern schnippend nachstrammte.

Vor dem Café schoß Lusi an seinen Leib, drängte ihn ein paar Schritte von Madame Merlen ab und lächelte vorerst introduktiv. »Du gehst mit in die Maxime-Bar, fertig.«

Bovier prustete seine Lieblingsfrage durch die platzenden Lippen: »Bist du krank?«

»Nicht daß ich wüßte.«

Bovier stutzte: ›Reys Redensart?‹ und probierte: »Du hast mit Rey geschlafen?«

»Schaf! . . . Da nimm! Zahl auch für Madame! Details später!«

87 Unterwegs stellte Bovier fünfzig Francs fest und beschloß deshalb, leicht entzückend zu sein.

Es gelang ihm besonders, da Madame Merlen, schön, doch von phantastischer Kuhhaftigkeit, bei jeder Gelegenheit die Pleureusen schaukelte, als bestürmten sie tausend Reflexionen. Dieser Kontrast erfrischte sein Herz; auch weil Lusi andauernd sprach, als foltere man sie. Dies schien ihm zu bestätigen, daß es sich um Ernstlicheres handle.

In der Bar steckte ihm Lusi, nachdem sie des Längeren das Kabinett benützt hatte, zwei Finger in die Westentasche.

Bovier betastete alsbald einen Zettel, den er in seine Kappe praktizierte und also las:

Sitze seit Tagen in Madames Busen. Heute bereits in diesem Labyrinth nebbich spazieren gegangen. Das Fettstück hat en masse Schulden. Ahnst du den Kitt, schwerstgedreht? Etwa Agent! Rendevuzze sie dir für morgen, abends fünf, ins Café de la Roseraie.

Bovier warf heftig ein Bein über und hieb mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte, daß es pfitschte.

Später nickte er vag grinsend, als Lusi von einem abermaligen absichtsträchtigen Luftwechsel zurück war. Zufrieden leckte sie denn auch sofort die Unterlippe und rieb sie an den Schneidezähnen.

Irrtümlicher Weise. Denn Bovier, ein ganz Schlauer, hatte sich für vier Uhr bei Madame Merlen angesagt.

Als dann auf dem Rückweg Madame Merlen Lusi bat, noch ein Viertelstündchen bei ihr zu verbringen, überließ Bovier sie ihr deshalb besonders freudig; nachdem er übrigens Lusis flink geäußertem Wunsch, sie morgen mittags zwecks genauer Befädelung von Madame zu besuchen, die Erledigung für vier Uhr verhießen hatte, um vor der Busenfreundin sicher zu sein.

Da Bovier der Cocktails mehrere im Bauche glühten, vermochte er, als er Sibi begegnete, sich nicht zu widerstehen; auch nicht, als sie, die Situation scharf erfassend, selbstverständlich weil eine Freundin schwer krank darniederläge, ausgerechnet vierundzwanzig Francs benötigte . . .

Am nächsten Morgen erwachte Bovier, als es vom Turm der Montparnasse-Kirche zwei bloch.

Um zwei Uhr fünf bemerkte er stieren Blicks, daß seine Gesundheit einigermaßen gelitten hatte. Sekundenlang zitterte er vor Wut: Lusi!

88 Sofort klingelte er Sibi an, fand sie vor und steckte, sie orientierend, einige ›cochons‹ und ›salauds‹ blöde kichernd ein.

Um vier Uhr neigte er sich schmatzend auf Madame Merlens fettgepolstertes Pfötchen. Seine Verlegenheit machte ihn leider verführerischer denn je: um vier einhalb entkleidete sich Madame spontan, und Bovier, der naturgemäß in voller Dress geblieben war, vermochte sie nicht ganz zufrieden zu stellen.

Die Schuldenangelegenheit konnte daher nicht sehr hoffnungsvoll beredet und noch weniger spesendrall begonnen werden. Immerhin aber gelang es Bovier durch die Mitteilung, daß Lusi Tribade wäre, sie aus dem Busen Madames auszunisten.

Im besonderen sowohl wie im allgemeinen sehr enttäuscht, bewirtete Madame Merlen ihr neues Schoßkind nicht allzu opulent und überdies sogar zögernd, so daß gegen fünf Uhr Lusi, ziemlich erregt, am Telephon sich einfand.

Da Bovier feixend am linken Hörer hing, verleugnete ihn Madame Merlen so ungeübt, daß Komplikationen zu befürchten waren.

Bovier sah ihnen höhnischen Herzens entgegen und verließ triumphierend, wenn auch sehr langsam das ungastliche Haus.

Schon nach wenigen Schritten überfiel ihn von hinten Lusis dunkelgesoffenes Organ: »Hein, du Dreckkerl, wie war's?«

Bovier blieb erfreut stehen, ließ seine Rechte die Zigarette der Linken reichen und jene bestimmungsdeutlich herabbaumeln. »Wie es war? Natürlich günstige Gegend!«

»Quatsch nicht, das weiß ich.«

»Bist du krank?« Diesmal lispelte Bovier seine Lieblingsfrage.

»Nicht daß ich . . .«

»Kusch, Gelotter! Aber ich weiß es!« Ein kleines, jedoch sehr deutliches Lächeln huschte unter Boviers Nasenflügel.

Lusi, die sofort begriff, warf die Hände hinüber an seinen Hals und krallte sich fest. Ihr Atem flog an seinem Mund empor, heiß und schnell: »Liebling, glaub mir, ich wußte es nicht . . . Ich weiß es erst seit heute . . . O, das war Rey, dieses Schwein!«

Bovier stieß sie sehr empört weg und spie, nicht schlechter, im Bogen aus.

Lusi weinte stoßweise und tränenlos, also besonders zweifelhaft. Gleichwohl zuckten ihn ihre Arme noch einmal jäh heran. Abermals abgeschmettert, wankte sie ein wenig nach hinten. Dann kam ein weicher, wunder Schrei.

Ihre Arme umarmten fest die Brust. Ihre Hände wurden 89 zuckende Fäuste. Sie fiel in sich zusammen. Für Boviers Blick zu langsam.

Er fing sie gemächlich auf und schleifte sie mit einiger Anstrengung auf eine Bank.

»So serviert man Epileptisches!« Grinsend überließ Bovier Lusi einer alten dicken parfümierten Dame und begab sich so schnell wie möglich ins Café de la Roseraie.

»Lusi ist nicht epileptisch.«

Reys Mütze stieg aus dem ›Intransigeant‹ empor. Und wieder mußte er über Boviers plötzliche Anwesenheit lächeln. »Sie hat also einen Anfall gefixt?«

»Hat sie.« Boviers Augen höhnten in die Reys.

Der zuckte tief beunruhigt sein Pincenez fester. »Warum?«

Bovier machte eine verächtliche Geste, die unmißverständlich auf sein Leiden hinwies.

»Ich auch.« Rey reichte ihm die Hand.

»War es Dienstag?« fragte Bovier.

»Warum interessiert dich denn das?«

»Weil ich wissen möchte, seit wann du es weißt . . .«

»Ja, aber weshalb denn, zum Teufel!« Reys Gesicht entrutschte seiner Beherrschung.

»Du hättest mich vielleicht vorher warnen können, da du doch wußtest, daß ich mit Lusi . . .« Bovier bändigte mühsam seine Stimme.

»Lusi?« Rey wunderte sich maßlos. »Sie hat sich allerdings gewaltig angestrengt. Aber bei mir war es Sibi . . .« verplapperte er sich.

»Sibi? Da soll, wer's trifft, noch an die Menschheit glauben!«

Dann lachten beide wild, aber nicht ohne leise Wehmut.

»Zwanzig Francs!« Bovier stemmte sich am Tisch empor. »Sogar vierundzwanzig! Unverschämt! Und noch ›cochons‹ und ›salauds‹ einstecken! Dieses Luder!«

»Wir haben klinische Beziehungen, was?« Rey lachte immer noch. »Zwanzig Francs, sagtest du? Ich verstehe nicht . . .«

»Diese Sibi!« stöhnte Bovier, sich selbst parodierend. »Ich war heute Nacht bei ihr . . . Sie verlangte für eine kranke Freundin . . . Der alte Schmus . . . Aber mich dann noch beschimpfen, wenn ich warne, anstatt mir zu sagen, daß sie selbst . . . Unverschämt!«

»Das kann man nun nicht gut von ihr erwarten. Aber Bov, das bleibt unter uns. Du weißt, daß ich für strikte Aufrechterhaltung des guten Rufs bin.«

»Was geht dich denn Sibi an? . . . Nein, die soll an mich denken!«

90 »Ich bezahle doch mit ihr.«

»Auch du, mein Sohn?« Bovier fiel erschüttert auf den Stuhl.

»Auch du? Also auch du?« Rey zuckte neugierig sein Pincenez herunter. »Das bleibt also unter uns. Hier hast du deine zwan . . .«

» Vierundzwanzig!«

». . . vierundzwanzig Francs. Aber mit Sibi laß mich die Sache ordnen.«

»Man muß es den Weibern verbieten. Sonst spricht es sich herum. Und ein anderes Arrondissement hat seine Schwierigkeiten.«

»Peinliche Betriebsstörung!«

»Und ob! . . . Aber du und Sibi! . . . Großartig!« Boviers haarige Hände rieben heftig über seine fettig glitzernde Glatze.

Rey schepperte vor Vergnügen. 91

 


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