Willy Seidel
Das siebenköpfige Tier
Willy Seidel

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IV

Molk erwachte in seiner Kammer; es war Mitternacht.

Es war gegen alle Gewohnheit und Vernunft, daß er erwachte. Es mochte ein Traum gewesen sein, der ihm im Schädel gespukt; ein Bild, das sich nicht recht vertrug mit seinem taktfesten Schnarchen ... Und mählich trat des Meisters Töchterlein aus dem Dunkel. Er lag und stierte zur Decke; dann schloß sich seine Hand schier krampfhaft zur Faust. Er dachte an ein Knie, das diese Hand ausgefüllt mit Glätte und Rundung.

Das kleine Fensterviereck schimmerte. Draußen hing der Mond auf der Höhe der Bahn, und die weiße Scheibe durchtränkte alles mit Verzauberung. Das Schlapfen des Rades zog durch die schwarze Erregtheit des Hauses, Knacken war im Holz; die Bretter lebten – und das Wasser, das Wasser drunten gluckste und redete wie ein Sermon der Warnung, der kein Ende findet.

Plötzlich war es Molk, als höre er leichte Schritte auf der Treppe zum Speicher. Er setzte sich auf. – Ja, die Bretter krachten unter nackten Sohlen; es klang wie winzige Schüsse. War das Seraphine? Was hatte sie jetzt, zu nachtschlafender Zeit, auf dem Speicher zu suchen? Wenn das Kind mondsüchtig war und umging, so mußte man achthaben, daß ihm kein Unglück zustieß.

Er schlüpfte in seine Drillichhose und ging leise aus der Kammer. Richtig: dort oben schimmerte Weißes. Das war Seraphine. Sie trat in den Speicher; er folgte. Offenbar schlief sie, denn sie schien das lautere Krachen seiner Schritte nicht zu hören. Als er hinaufkam, saß sie schon dort bei der runden Luke und starrte hinaus.

Sie war im Hemd; der Mond durchdrang es und machte den dunklen Umriß ihres jungen Leibes erkennbar. Langsam kroch sie noch näher zur Luke und beugte sich hinaus, als werde zum Ruf der Käuzchen eine silberne Fangleine geworfen – herab sich spindelnd von der Himmelskugel. Als Seraphine so fast mit halbem Leibe draußen hing, erfaßte und rüttelte er sie. Sie fuhr zusammen; dann kam Besinnen in ihre Augen.

»Ach, Ihr seid es, Molk«, flüsterte sie.

»Ich hab' nicht schlafen können«, sagte er rauh. »Da hab' ich die Jungfer hinaufgehen hören und seh nun, daß Sie Anstalten macht, in den Mond zu fliegen. Da Sie aber im Kohlbeet gelandet wär', statt im Mond, und sich die Rippen gebrochen hätt', hab' ich Sie noch eingefangen.«

Seraphine lachte lautlos und schüttelte das Haar, das ganz dunkel aussah im silbernen Dämmer. Glatt und gelenkig entwand sie sich seinem nur zögernd weggleitenden Arm, sich wieder niederhockend bei der Luke.

»Ihr mögt es glauben, Molk, oder nicht, ich hab' wirklich geschlafen und weiß nicht, wie ich hier heraufgekommen bin. Nun aber« – und ihr zischelndes Stimmlein geriet sacht ins Singen – »sind wir wach, hellwach, und können beten zusammen.«

Molk schob den Arm wieder heran und fing sie ein. »Geb' Sie den Ton an«, flüsterte er – und das Wort klang heiser –, »bei dem Gebet, Jungfer.«

Er riß die sich leicht Anschmiegende auf seinen Schoß. Sie stieß einen spitzen Schrei aus; ihr Körper ward wie aus Holz. Und während seiner plumpen Liebkosung spürte er auf einmal einen Biß. Einen scharfen Biß an der Schulter. Mit grollendem Laut ließ er sie fahren; zappelnd strebte sie hinweg; ihre Brüstlein zitterten von gejagtem Atem.

Aber sie floh nicht. Schier lauernd, die Oberlippe gekraust mit vorgestrecktem Kopf, eines neuen Angriffs gewärtig wie ein halbzahmes Tier, beobachtete sie ihn. Zwei Blutströpfchen versickerten in seinem Hemd.

»Gott's Donner, Jungfer, was macht Sie da!« zischte er. »Sie ist des Teufels! Hat Ihre Mutter Sie das gelehrt?«

Eine Träne, wie eine silberne Perle, glomm auf dem weißen Antlitz auf. »Verzeiht mir, Molk«, klang es leise wie herübergeweht.

Er bewegte die Lippen. »Zigeunerbrut«, sagte er unhörbar. Doch dann lachte er wegwerfend und sprach: »Komm Sie näher. Ich tu Ihr nichts.«

Sie rührte sich nicht.

»Mutter«, sagte sie nach einer Weile und schüttelte wie grübelnd den Kopf. Er sah, daß alles in dem kleinen Gesicht lebendig wurde; wie das Näslein bebte; wie der dunkle Schopf hin und her rückte, als lausche sie. Auch er horchte auf.

Die Minuten rannen, und aus all den unbestimmten Geräuschen, die das Haus gebar, schälten sich bestimmte Laute. Harte, kleine, tastende Laute. Wie zögerndes Schaben, wie mahlendes Knistern. – Der Mond baute eine weiße Gasse quer durch den Speicher.

Und in diesem hellen Band saß auf einmal – eine Ratte.

Seraphine wiegte den Kopf, als habe Schlafsucht sie wieder übermannt. Die Ratte verhoffte; ihre schwarzen Äuglein glitzerten.

Das Mädchen stieß eine Art von Lockruf aus, mit halbgeschlossenen Augen. Es ging wie eine Lähmung aus von ihrer Gebärde: Molk starrte und rührte sich nicht.

Sichernd, schnuppernd – dann wieder sprunghaft, kam die Ratte näher. Und mit derselben Anheimgabe, mit der sie ins Silber hatte hineintappen wollen und allem ans Herz sinken, was da unter dem Monde lebte – mit demselben Armspreizen, mit dem sie wie schwimmend hatte aus der Luke dringen wollen – ohne eine Spur von Ekel oder Abscheu schob Seraphine die Hand dem nächtlichen Tier entgegen.

Und das Erstaunlichste geschah: es schreckte nicht zurück, sondern ward zusehends zahmer.

Seraphines Bein hielt völlig still, als der Besuch an ihm emportastete mit klammernder Klaue und sich hinaufschwang in die Mulde, die das gespannte Hemd über dem Schoß formte. Sanft erweiterte das Kind die Mulde. Die Ratte, ein großes graues Tier, nun auch vom Mond versilbert wie alle Kreatur, hob ihren pendelnden Kopf mit den putzigen Bartgrannen, und ihr Schnüffeln und winziges Fauchen ward hörbar – während Molks Atem schier stehenblieb vor entsetztem Staunen.

Seraphines nackter Arm schob sich übers Knie mit offenen Fingern: sie streichelte die Ratte. Das Tier ward keineswegs vergrämt, sondern blieb, tastete im Kreis und rollte sich rund zusammen, den Schwanz mit leisem Schnurren um sich ziehend ... Still und gleichmäßig waren die Streichelbewegungen Seraphines – dann tat sie etwas nie Dagewesenes. Sie ergriff die Ratte mit hohlen Händen und hielt sie hoch. Sie hing ihr in den Händen wie erschlafft ... Sie setzte sie neben sich.

Einen Augenblick verharrte die Ratte wie verdutzt. Dann schoß sie davon.

Die Augen Molks traten aus dem Kopf.

»Gott steh mir bei«, stieß er hervor. »Kann Sie hexen?«

Beim Klang seiner Stimme fuhr sie zusammen, als ob sie aus tiefstem Schlaf schrecke. Plötzlich lachte sie leis und süß and sprach: »Molk, hab' ich geträumt? Mir war so, ich spielt' mit – Mutters Hündlein!«

Eine Gänsehaut überlief ihn.

»Nun«, sagte er und ermannte sich, »jetzt ist Sie's ja innegeworden, Jungfer, welcher Art diese Hündlein sind. Ein schönes Vermächtnis der Frau Mutter! 's ist Satans Spielzeug, und ich werd' schauen, daß Sie die Hände davon läßt. Ich werd' die Hündlein vertilgen.«

Da fragte Seraphine in wehem Ton: »Ihr werdet sie vertilgen?«

»Darauf kann Sie sich verlassen«, bestätigte er grimmig. »Wo ich auch ihrer habhaft werd'.«

»Dann muß ich Euch hassen, Molk.«

Er schüttelte sich und lauschte. Es huschte in den Ecken; es wanderte. – »Sind ihrer grausam viel«, flüsterte er. »Ob sie wohl ihren König haben hier?«

»Ihren König?«

»Jawohl. Den füttern und dem dienen sie. Davon werden sie so zahm. Und er – er wird groß davon und bekommt viele Köpfe.«

»Saht Ihr ihn schon einmal, Molk?«

»Gott soll mich bewahren! Gesehen hab' ich ihn nie. Wo er sich zeigt, gibt's Krankheit und Mißwuchs. Den letzten erschlugen sie in Eßlingen in Württemberg beim Förster; der starb nachher an der Pockenseuche. Man sagt, der König stirbt nicht. Er wird andernorts wieder lebendig.«

»Macht Euch nicht zum Narren, Molk. 's ist Altweibersprache.«

»So nimmt Sie des Teufels Partei, Jungfer?« Er sprach jetzt laut und grob, wie in Angst, und zog sich von ihr zurück. »Geh' Sie hinab; wasch' Sie sich. Und bet', bet' Sie recht von Herzen! Mag sein, daß dann der HErr den Fluch nimmt von Ihr.«


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