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Kehmerdill sitzt allein mit Kersten an der Tafel.
Für eine ganze Minute herrscht jene unheimliche Stille, wie sie nach großen verwüstenden Explosionen erfolgt – voll jenes noch ungesagten Grauens, das sich erst langsam, ruckweise, rührt und meldet . . . Und doch ist alles wie sonst. Die Flaschenscherben sind von den nacktfüßigen, stets vorhandenen kleinen Dienerinnen zauberhaft schnell beseitigt worden.
Im Garten gackert und zirpt verschlafenes Vogelwesen. Matte Luftzüge treten ins Haus und ganz in der Nähe hinter schwülen Mauern klimpert ein Gambang.
Vom Aloen-Aloen, nicht lauter als den Puls im eigenen Ohr, hört man das rhythmische Pochen einer Trommel.
Ein tiefer ruhiger Baß, von einer hellen Stimme kurz unterbrochen, tönt von der vorderen Veranda leise den Gang bis zum Speisezimmer hinab. Kehmerdill weiß, es ist sein Schicksal, was dort verhandelt wird.
Kersten wirft auf einmal beide Arme in die Höhe und ruft unter lebhaftem Händespreizen: »Das ist sehr bös! Doktor, das ist sehr bös!« – Seine 195 Äuglein fahren haltlos, wie gejagt, umher; jede Behäbigkeit ist weggeblasen aus seinem Wesen.
»Aber Sie wissen, Kersten, daß Erdbrinks Besuch über kurz oder lang erfolgen mußte. Wie Sie sehen, nimmt diese Aussprache (auch zu meiner Erleichterung) vernünftige Formen an. Erdbrink ist nicht umsonst Kaufmann, der mit einem fαιτ-αχχομπλι zu rechnen weiß.«
»Sie verstehen nicht, Doktor. – Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet. Ich kann wohl sagen, Sie haben mir einmal das Leben gerettet. Aber Sie haben das Gastrecht verletzt! Ich bin ganz außer mir!«
»Man schnüffelt mir hier nach! Ich wehre mich!«
»Sie haben es schlimm verletzt, das Gastrecht . . . Den Krach dieser Flasche hört man im Kraton! Man hört ihn in Batavia! Er ist in meinem Haus erfolgt! Mann! Sie sind zehn Jahre hier. Sie müßten Bescheid wissen. Indien ist ein Land der Worte, nicht aber der Fäuste. Kusuma ist kein kleiner Kutscher. Selbst bei einem solchen noch wäre es nicht unbedenklich gewesen. Ich muß mit dem Susuhunan sprechen. Mein Gott, welch ein Skandal! Sechsundsechzig Jahre lebe ich in Indien, und nun dies . . .«
Kehmerdill dreht sich mitsamt seinem Stuhl herum und sieht sich den Hofarchitekten voll an.
»Mijnheer van Kersten! Sind Sie Holländer?«
Der Greis streift ihn mit seinen huschenden Augen; mehrmals setzt er zum Sprechen an; sein Händezappeln wächst . . .
»Eine Frage! Eine verdammt seltsame Frage! 196 Was wollen Sie damit sagen! Meine Eltern sind aus Nymwegen, aus Utrecht . . . Ich bin hier in Java geboren . . .«
»Und gerade das meinte ich!« sagt Kehmerdill mit Betonung. »Daher meine Frage.«
»Ändert das etwas daran, gestatten Sie?«
»Es ändert viel,« sagt der Doktor erblassend. »Gewöhnlich zieht man das nicht ganz in Rechnung.«
Er vergräbt den Kopf in den Händen. –
Plötzlich berührt ihn die kleine rötliche, blondbeflaumte Hand ganz zart am Ärmel.
»Sie hatten recht mit Ihrer Frage, ob ich noch Europäer bin,« sagt der Hofarchitekt mit sehr leiser Stimme, fast liebkosend. »Ich weiß nicht, wie es in Rotterdam ist; aber ich sehe meine Landsleute (wenn ich sie so nennen darf!) frisch importiert, fröhlich, ein wenig rauflustig . . . Und was sind ihnen diese dreißig Millionen Menschen hier? Besiedlungsmaterial, woran man achtzig Prozent Arbeitsgewinn verdient . . . Bestechung, Wucher, Provisionen, – damit regiert man, und eine Tasche füllt die andere, bis zum Dorfschulzen hinab. Und die Chinesen machen es genau so! So setzt man diese Malaien, das nette törichte talentierte Volk, unter zwei Daumenschrauben, und weiter tändelt es, singt, träumt, hungert und stiehlt . . . Und Sie nehmen es diesem Kusuma übel, wenn er unsere Praktiken kopiert? Was müßte der für ein Engel sein, der nicht zugriffe! Er hat keine mächtigen Tatzen und keine grobe Stimme, nein. Er hat nur Händchen; damit fischt er kleine Vorteile und versetzt uns Nadelstiche. Vergessen Sie nicht, daß er letzten Endes Volksmann ist und zum 197 Volk gehört. In Bantam reden sie ihn nicht stehend an. Nur sitzend. – Das machte den Residenten dort zu nervös; so hat man den Raden nach Batavia geholt; dort fällt es weniger auf. Und diesen Mann haben Sie bei mir hinausgejagt! Bei mir!!«
Noch immer hat Kehmerdill den Kopf nicht erhoben.
»Verzeihen Sie, Mijnheer,« sagt er endlich und schüttelt langsam den Kopf. »Ich bin ein Esel.«
»Sehr richtig! Das heißt, Sie waren ein Esel!« kräht Kersten auf einmal ganz lustig, und schenkt nach . . . »Nicht an sich, teurer Doktor, waren Sie das . . . Aber in bezug auf Indien . . . Sie werden dies Land nie begreifen; nie! – Zur Gesundheit!«
Und während sie anstoßen, kommt Nora langsam den Gang herabgeschritten, dem Speisezimmer zu. Sie geht sehr aufrecht und ist sehr blaß.
»Sie sind lustig . . .« sagt sie mit wankender Stimme. »Ich freue mich, Otto, daß dein Humor nicht gelitten hat! – Erdbrink ist fort. – Gib mir dein Glas.«
Sie nimmt einen großen Schluck. Es ist etwas ungeheuer Pathetisches in dem Lächeln, mit dem sie das Glas niedersetzt.
»Komm . . .,« sagt sie mit einem Blick des Abschieds auf den Gastgeber, »wir wollen in unser Zimmer gehen.«
»Mach kein Licht,« sagt sie. »Ziehen wir uns aus. Es ist furchtbar schwül.«
Das Fenster, das die ganze Breite der Außenwand einnimmt, steht offen. Und doch stagniert die Luft in dem geräumigen Gemach wie in einem Keller. 198 Vor der fahlen Himmelshelle bewegt sich leise knirschend ein ungeheures Bananenblatt. Die weißen Mückennetze leuchten wie große Würfel in der halben Dunkelheit. Vom Aloen-Aloen schluchzen ununterbrochen wie gequälter Herzschlag die Gamelangpauken. Die Luft siedet von Moskitos.
Ihr mattweißer Leib, der sich aus den weißen Kleidern schält, schimmert wie Kalk. Es ist, als habe er sein eigenes Leuchten. Sie bewegt sich still wie ein Geist; sie salbt sich mit einer harzig riechenden Flüssigkeit, die ihre Haut vor den Blutsaugern schützen soll. Er starrt sie an. Das blasse Wunder regt sich langsam und geschmeidig geraume Zeit. Dann reicht sie ihm das Fläschchen und er sieht ihre Glieder langsam erlöschen: sie zieht die braunseidenen Pyjamas an, die sie damals trug; – in »Daendels Hotel« . . . Dann sinkt sie mit hochgezogenen Knieen in einen breiten Korbstuhl.
Er folgt ihrem Beispiel. Sein Blut ist beklommen wie von schwerer Musik. Zunächst verschränkt sie die Arme im Nacken und grübelt; dann fühlt er ihr kleines blasses Gesicht starr auf sich gerichtet. Einer ihrer Arme streckt sich plötzlich aus.
»Gib mir deine Hand!«
Er tut's.
»Wie gut, daß deine Hand warm ist. Gerade jetzt ist das gut,« flüstert sie. »Vor allem mußt du mir jetzt aber einen Eid schwören. Wirf das . . . weiße Pulver weg!«
Er zuckt zusammen und will seine Hand aus der ihren lösen. Sie hält sie fest mit erstaunlicher Kraft.
199 »Du mußt nicht denken, daß ich blind bin. Ich verstehe gut, wie du dazu gekommen bist. Kusuma hat mir keine Neuigkeit gesagt. Aber ich wenigstens glaube, daß von dir noch eine ganze Menge übrig bleibt, wenn man es dir wegnimmt. Ich glaube, wenn man dir Indien wegnimmt, kann ein sehr schöner Mensch aus dir werden. – Gib es mir, Otto.«
Er nimmt die Dose aus der Jackentasche und reicht sie ihr herüber. Sie steht auf und geht zum Fenster. Dort schüttelt sie sie aus.
»Ein elegantes Döschen,« sagt sie und befühlt den Gegenstand. »Du erlaubst, daß ich mir ein Puderbüchschen daraus mache?«
Halb vom Fenster zurückgekehrt, zögert sie. Dann sinkt sie ihm plötzlich auf die Kniee.
»Ich liebe dich,« flüstert sie. Aneinandergepreßt, atmen sie schwer. »Schwörst du mir den Eid?«
»Ja,« haucht er heiser.
»Es ist nicht leicht, du Armer,« beschwichtigt sie ihn und streichelt seinen Kopf. »Aber ich muß dich schon so haben, wie ich dich will. Es macht nichts, daß du in den nächsten Wochen Hunger verspürst, großen Hunger. Du kannst ihn dir mit Alkohol kurieren; in Gottes Namen! Irgendwas muß der Mensch hier haben; das sehe ich ein. Und den Alkohol kurierst du dir dann mit der Seeluft weg, mit den fünf Wochen Seeluft . . . In Hamburg setze ich dich schon auf eine vernünftige Ration.«
Sie schlüpft plötzlich von seinem Schoß und begibt sich wieder zum Stuhl zurück.
200 »Jetzt höre einmal, wie die Sache steht. Der große Kapitalmonarch ließ mit sich plaudern; er war sogar fast menschlich. Auf jeden Fall riß er mir nicht gleich zu Anfang den Kopf ab. – Zunächst stellte ich einmal fest, daß ich mit dir durchgegangen sei, und nicht du mit mir. – So behielt er, wenn er einen Revolver trug, diesen gleich in der Tasche. Er trug aber keinen. Das wäre ja auch schließlich nicht nötig gewesen. Er kann ja boxen. Zwischen zwei Fingern kann der Mann einen Menschen zerquetschen. Ich muß es wissen. So ein Stündchen im Bärenzwinger ist kein Vergnügen. Doch er machte keinen Gebrauch von seinen Pranken. Ich denke, ich kann jetzt mit ihm fertig werden. Und deshalb ging ich auf seinen Vorschlag ein.«
»Einen Vorschlag machte er dir?«
»Geduld! – Er sähe ein, er wäre nicht der Richtige für mich. Er hätte das klar erkannt. Nicht zu deuteln sei daran, nicht zu rütteln. Er wolle nicht riskieren, daß ich es noch einmal mit einer Schlafmittelkur versuche. Aufreibend sei das und ermüdend. – Ich sagte ihm in aller Freundschaft, sein Typ sei sicher das Massive. Es gäbe nette kräftige Frauen (ich dachte dabei an die blonden breithüftigen im »Des Indes«), die an seinen Methoden Gefallen finden würden. Ich wolle deshalb seinem Glück nicht im Wege sein. Das Gleiche aber erwarte ich von ihm, dann sei alles in Ordnung. – – Was ich da sage, hätte was für sich, meinte er. Also er erkläre sich bereit, in die Scheidung zu willigen. Die Schuld sei auf beiden Seiten; auch das sei ihm recht. Er 201 bäte mich nur darum, gemeinsam mit ihm zurückzufahren und die Fassade zu wahren. Darin hätten wir ja auch früher schon einiges geleistet. Er verschwöre sich, mich gänzlich in Ruhe zu lassen. Es sei aber seinen Geschäften hier unzuträglich und verderbe ihm sein gesellschaftliches Renommee, wenn er allein abdampfe und mich hier als Freundin eines gewissen Haut- und Nervenarztes zurücklasse. In Hamburg arrangiere er dann unauffällig die Trennung und das äußere Drum und Dran. – Er ist nobel, er macht Halbpart. – Schließlich bin ich das ja auch wert gewesen für ihn.«
Sie lacht merkwürdig kindlich und froh.
»Also es war alles so logisch, daß ich einverstanden war. Er war seiner Logik so sicher, daß er in Soerabaja schon telegraphisch zwei Plätze belegt hatte. Getrennte Kabinen. Ich war starr. – Aber reg' dich nicht auf, Otto! Wir beide trennen uns nicht lang'! Morgen fahre ich von hier weg. Aber ich gehöre dir, das weißt du.«
In ihrer Stimme ist auf einmal eine tiefe schwingende Wärme und überflutet ihn; er stürzt zu ihr hinüber und vergräbt seinen Kopf in ihren Schoß. Elastisch und stark fühlt er ihre Mütterlichkeit ihn umfangen. Sie beugt sich herab; er küßt ihre Brust.
»Weißt du, was er tat?« flüstert sie. »Er brachte mir meinen Sonnenschirm. – ›Apropos,‹ sagte er, ›du hast deinen Schirm stehen lassen auf dem Tjibodas. Habe auch oft meinen Stock vergessen. Nichts zu danken.‹ – – Das war nun eine ganz perfide Dickhäuterei, eine grundalberne Angelegenheit, und ich 202 warf den Schirm übers Verandageländer. Ich weiß ganz gut, daß er mich damit wieder kleinkriegen wollte. Solche Sachen hat er früher oft gemacht. Zuerst haust er wie ein Berserker, und dann bläst er ein Tönchen auf der Schalmei und wundert sich, daß das Opfer nicht tanzt. – Doch was schwatze ich da! Er ist es nicht wert, daß man so viele Worte darüber verschwendet.«
»Wie werde ich es aushalten, dich so lange nicht zu sehen . . .«
»Es sind nur zwei Monate, Otto. Nach drei Wochen geht dein Schiff. Und wenn du ankommst, gehöre ich dir. Auch jetzt schon . . . Für immer! Für immer!«
Sie versinken in ein zeitloses Schweigen, in tiefste Hingabe, in einen dumpfen, qualbefreiten, grundlosen Schacht voll unausgesprochener Worte und tastender Empfindung.
Um sie herum ist Indien. Es huscht, wispert, singt näselnd, schlüpft vogelfüßig, stöhnt und träumt.
Es ist unsagbar fremd.
Es pocht verlockend mit endloser Trommel an die Wand ihrer Seelen. 203