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Ja, nämlich sozusagen, posito, gesetzt den Fall!« sagte Mudrach zu mir, als er mir in seiner guten Stube auf dem alten Lehnstuhl gegenübersaß, und nachdem er mich eine Weile mit seinen fürchterlichen Augen ohne großen Erfolg durchbohrt hatte. Das war aber so gekommen. Als ich am Tage vorher nachmittags aus der Schule kam und vor einem kleinen Laden stehen blieb, in dessen Schaufenster unter der poetischen Inschrift: »Bilderbogen aus Neu-Ruppin sind zu haben bei Gustav Kühn« die neuesten Werke dieser berühmten Firma mit ihren koloristischen Wirkungen aus knallrot, eiergelb und blitzblau ausgehängt zu sein pflegten, und mir in Erinnerung jüngster Taten das Bombardement von Sebastopol betrachtete, auf dem eine stattliche Anzahl Granaten platzte, anzusehen wie an die Wand geworfene Eier, und aus fürchterlichen gelben Kanonen rote Siegellackstangen hervorkamen, mit schwarzgrauen Federwischen an ihrem Ende geziert, wo ein in die Luft fliegendes Pulvermagazin im Hintergrunde grasgrünes Russenklein in die Luft spie, während ich also ganz in dieses Meisterwerk volkstümlicher Kunst vertieft war, bemerkte ich, daß sich etwas dünnes, lang aufgeschossenes neben mich stellte und an dem danebenhängenden Sturm auf den Malakow eine gleiche Teilnahme zeigte. Ein Seitenblick zeigte mir, daß es Alwine Mudrach war. Sie legte aber die Hand auf den Mund und schüttelte mit dem Kopf, zum Zeichen, daß diese Zusammenkunft unter dem Schleier des Geheimnisses stattfinde, und sagte zu dem Offizier, der mit gezogenem Degen die Verbündeten zum Sturme führte: »Papa läßt dich sagen, du möchtest ihm doch morgen mal besuchen. Um dieselbe Zeit wie damals. In sein Haus!«
»Schön!« sagte ich zu dem Kanonier, der die größte Kanone abfeuerte.
»Und keinen was sagen. Keinen!« fuhr sie fort und legte die Hand auf den Mund.
»Bong!« antwortete ich, denn das galt in der Schule für die feinste Beteuerung. Dann schwand sie hinweg, und als ich mich nach ihr umsah, war sie schon um die Ecke.
So war es gekommen, daß ich Herrn Mudrach gegenübersaß und er mir folgende Rede hielt: »Ja, nämlich sozusagen, posito, gesetzt den Fall, es wäre hier in der Gegend ein See, und an dem See wäre ein hohes Ufer mit vielem Gebüsch, und darin hätten sich eventualiter gewisse junge Leute so quasi eine Räuberhöhle angelegt mit allerhand Geschirr und Kram und Flitzbogens und so was. Und posito, gesetzt den Fall, diese gewissen jungen Leute hätten dort allerhand Unfug betrieben mit Feuerböten und Indianerspielen und Schießen und Hauen und Stechen und schrecklichem Geheul und Bahndammzertrampeln und ehrliche Leute mit Pfannkuchen zum besten haben und all so was, so muß ich der Wahrheit gemäß die Aussage machen, daß mich das alles gar nichts angilt, denn es ist nicht mein Revier. Damit hab' ich absolutemang sozusagen gar nichts zu tun. Eventualiter aber könnten zwei andere gewisse Leute, die es mehr angilt, und wovon der eine Beamtenqualität hat und der andere so quasi eine Art von gerichtlicher Persönlichkeit vorstellt, es könnte also nämlich sozusagen eventualiter der Fall sein, daß sie sich so quasi an einen gewissen Polizeibeamten gewendet hätten, von wegen zur Anzeige bringen und gerichtlichem Nachspiel. Die Möglichkeit liegt vor, daß sie durch eine ganz insubordinationsmäßige Knallerei, die man in der ganzen Stadt gehört hat, zu diesem Entschluß animiert worden sein könnten. Es ist nun anzunehmen, daß der gewisse Polizeibeamte es für die Pflicht seines Amtes gehalten hat, sich alles genau erzählen zu lassen, und da könnte er eventualiter sein Urteil abgegeben haben. Nämlich sozusagen, mit der Knallerei, das wäre ein notorischer grober Unfug. Aber wo sind die Beweise? Es ist niemand gesehen, und Indiziums sind nicht gefunden worden. Es ist auch wahrscheinlich, daß der gewisse Polizeibeamte die gewissen anderen beiden Leute darauf aufmerksam gemacht hat, daß sie sich bei der Verfolgung dieser Angelegenheit selber haben Delikte zuschulden kommen lassen und sich gegen Paragraphen vergangen haben, die sozusagen unter die Rubrik Sachbeschädigung und böswillige Zerstörung fremden Eigentums fallen. Wer anderer Leute Wirtschaftsutensilien auf Steinen kaput schmeißt und Sachen, die ihm nicht gehören, mit Feuer verbrennt, das sind Gravamina! Da können sie eventualiter auf angezapft werden, und solche Überschreitung der Machtbefugnis könnte ihnen sozusagen sauer aufstoßen.
Auf diese juristische Konklusion hin haben sie sich nun, wie zu vermuten steht, hinter die Ohren gekratzt und so präter propter die unmaßgebliche Meinung gefaßt, daß sie sich bei diesem Erkenntnis beruhigen wollten. Ja, nämlich sozusagen. Posito nun aber, gesetzt den Fall, ein junger Mensch von krimineller Begabung hätte dies alles auf irgend eine Art in Erfahrung gebracht, so würde er große Klugheit beweisen, wenn er darüber schwiege wie das Grab. Ja, sozusagen wie das Grab.«
Dazu machte er Augen, als lägen alle furchtbaren Geheimnisse des Jenseits offen vor ihnen aufgedeckt, und als starrten sie in ein Gemisch von Verwesung, Höllenqualen, Grauen und Zerstörung. Dann senkte er milde ein wenig den Vorhang seiner Lider und fuhr mit sanfter Stimme fort: »Will aber mein junger Freund seinen ganzen Einfluß aufwenden, fernere Ungesetzlichkeiten dieser Art zu verhindern, so reiche er mir die Hand so quasi als Dokument.«
Ich konnte dies um so freudiger tun, als sich der Stamm der Comanchen bereits aufgelöst und seinen Jagdgründen für immer Lebewohl gesagt hatte. Ich hatte somit gar keinen Anlaß, von meinen mir so vorsichtig eingeflößten Kenntnissen Gebrauch zu machen, und konnte die Angelegenheit ruhig ihrer natürlichen Entwicklung überlassen. Wir drückten uns also die biederen Rechten, und Mudrach wiederholte noch einmal feierlich: » In puncto puncti also nochmals: Wie das Grab!«
Nach Erledigung dieser Förmlichkeit nahmen seine Züge wieder den Ausdruck menschlichen Wohlwollens an, und um seinen Mund lag ein schmunzelnder Zug wollüstiger Erinnerung. »Apropos, was ich sagen wollte. Nämlich die Wurst, weißt du wohl, die bewußte Wurst von der bewußten Dame. Alabonnöhr! Ich habe so'n altes Buch, wo ich manchmal 'n bißchen in lese, wenn ich sozusagen gar nichts anders zu tun hab', da steht drin, die alten Heidengötter hätten immer egal weg Ambrosia gegessen und Nektar dazu getrunken. Na, das weiß ich aber, hätten sie solche Wurst gehabt und solchen richtigen, alten, veritablen Korn, wie dazu gehört, dann hätten sie ihre Ambrosia verschimmeln lassen und ihren Nektar in die Drangtonne gegossen. Ja, nämlich sozusagen. Und weißt du, wo der veritable alte Korn herstammt? Siehst du wohl, das weißt du nicht. Der stammt von Herrn Wohland her. Der hat das wohl erfahren, daß Fräulein Kallmorgen mir die Wurst geschickt hat, als ein weihevolles Erinnerungskadoh sozusagen, und ist hier abgegeben worden von dem Semmelmann, der alle Tage nach dem Uhlenberge kommt, und war auch ein richtiges grobes Brot bei und zwei Pfund von der allerfeinsten Butter und ein kleiner Zettel, darauf stand: »Zu der Wurst. Gruß. Wohland.« Na, viel Worte macht er ja sozusagen nicht, hat ja auch keinen Zweck. Das aber muß ich dir sagen, mein junger Freund: So'n richtiges Grobbrot mit fett Nußkernbutter auf und dazu solche Wurst und ein veritabler, alter, fünfzigjähriger Korn, das ist ein würkliches Göttermahl, da kann einem Nektar und Ambrosia im Mondschein begegnen. Und das sag' ich! Loco sigilli. Mudrach! Ja, nämlich sozusagen. Natürellemang. Ich habe ja in meinem mühevollen und undankbaren Beruf so viel mit den kriminellen Schattenseiten der menschlichen Population zu tun gehabt, daß ich im allgemeinen der Ansicht bin, sie ist keinen Schilling wert, aber doch muß ich sagen: Alabonnöhr, edle Menschen gibt es doch! Und auf der Insel Uhlenberg wohnen allein zwei.«
Seine Augen weiteten sich, aber ihr Ausdruck war nicht furchtbar – sondern milde – sie waren ein Spiegel sanfter Gefühle. Er sah an dem einen spärlichen Gummibaum vorbei durch das Fenster auf einen kleinen, nahrungslosen Laden, dessen Besitzer in der Haustür stand und gähnte, ohne seine rote Hand vorzuhalten. Aber irdische Dinge waren kein Hindernis. Schon dem Auge des Gesetzes ist nichts undurchdringlich, und gar die Augen des Geistes der Liebe und der Erinnerung schauen durch Mauern von Erz. So schweiften auch die seinen über Wälder, Felder, Tal und Hügel zu einer Insel im See, wo zwei edle, hilfreiche und gute Ausnahmen die Regel bestätigten, daß die Menschheit im allgemeinen keinen Schilling wert sei.
»Nun klingt Mamsell Kallmorgen das rechte Ohr!« sagte ich.
»Woso, woans?« fragte Mudrach, aus seinem Traum plötzlich erwachend.
»Na, wenn jemand an sie denkt, sagt sie, dann klingt ihr immer das rechte Ohr.«
»Der Jung!« sagte Mudrach mit einer gewissen Verwunderung, verbesserte sich aber gleich: »Mein junger Freund, du hast würklich kriminelle Begabung. Ja nämlich sozusagen! Du hast ja einen physiologischen Blick. Du bist ja ein Seelenleser. Alabonnöhr. Du mußt würklich mal Geheimer werden. Nu kuck mal einer an!«
Unter Geheimer verstand er aber nicht Geheimrat, sondern Geheimpolizist, der für ihn den Gipfel menschlicher Schläue und Geistesbildung bezeichnete.
»Ja, nämlich sozusagen,« fügte er dann nachdenklich hinzu, »die großen Ferien, die sind ja am Ende nun nicht mehr so weit hin. Na, wenn du dann wieder hinkommst an den bewußten Ort, zu der bewußten Dame, ist dir da auch alles Bewußte bewußt? Hast du dir alles sozusagen in dein Herz geschrieben, in deinen Kopf, in deine Seele und in dein Gemüt?«
Ich versicherte, es stünde in allen diesen Körperteilen wie mit eisernen Buchstaben verankert.
»Na, das ist gut,« sagte er und lächelte verklärt. »Bewahre es dort wie ein wichtiges Dokument und mache davon Gebrauch, wenn die Zeit gekommen ist. Und was die Hauptsache ist: Ich wäre immer da und immer bereit und immer derjenige welcher! Natürellemang, sozusagen!«
Dann legte er mir die Hand mit einer großartigen Bewegung auf den Kopf und sprach mit pastoraler Salbung: »Friede sei mit dir, mein junger Freund. Möge es dir wohlergehen und du lange leben auf Erden. Ja, nämlich, sozusagen.« Hierbei hatte er die Kraft seiner Augen bis zum äußersten gedämpft und sah durch einen schmalen Spalt der herabgelassenen Lider mit fast väterlicher Liebe auf mich herab, nun aber riß er sie wieder zur vollen Größe auf mit einem so fürchterlichen Ausdruck, daß ihm zu einem Gorgonenhaupte nur noch die Schlangenhaare fehlten, legte mit hörbarem Klapp die Hand auf seinen Mund und sprach dann mit einer Stimme wie der Geist von Hamlets Vater um Mitternacht: »Im übrigen aber, mein junger Freund – wie das Grab!« Dann schüttelte er mir großartig die Hand und entließ mich.
* * *
Ich hatte mir durch das Abenteuer mit der Feuersbrunst einen ungeheuren Schnupfen zugezogen, so daß mir der Kopf dick war, die Augen tränten und ich die Nächte zum großen Teil mit Husten verbrachte. Mir war schon gar nicht besonders gut zumute, während Mudrach seine weisheitsvollen Reden hielt, und ich sah ihn zuweilen nur wie durch einen Schleier und hörte seine Stimme wie aus weiter Ferne. Als ich nach Hause ging, war mir alles wie ein Traum. Zu Mittag gab es abgerührte saure Klöße, ein Gericht, dem sowohl Adolf als ich mit begeisterter Hingabe zugetan waren, aber siehe da: Ruhig konnt ich sie erscheinen, ruhig gehen sehn. Nur ein sanfter Kummer darüber, daß ich diese Entsagung gar nicht als Schmerz empfand, war die verwickelte Empfindung meiner Seele. »Und die Mutter blicket stumm an dem ganzen Tisch herum,« konnte man auch von der meinen sagen, denn dies war ein höchst bedenkliches Symptom. Als mich dann nachher ein Frösteln mit nachfolgender Hitze befiel, wurde ich ins Bett gesteckt und sehr viele schöne weiche Federbetten auf mich gepackt. Dann wurde soviel heißer Kamillentee in mich hineingefüllt, wie nur Platz hatte, und nun sollte ich schwitzen, denn auf diese Weise versuchte man damals noch allgemein, den bösen Krankheitsstoff aus dem Körper wieder herauszuschmoren. Da diese Kur mißlang und sich die Hitze und das Fieber steigerten, wurde der Doktor geholt. Er mißbilligte meine Zunge und sagte zu der Eile meines Pulses: »Hm, hm!«; dann behorchte und beklopfte er mich ein wenig und holte seinen Stock herbei, der in der Ecke stand, um aus seinem Knopfe die Idee zu einer schrecklichen Medizin zu saugen, die er aufschrieb. Man sagte, wenn er seinen Stock nicht bei sich habe, fiele ihm nichts ein. Dann meinte er, man hätte es hier mit einer interessanten Mischung zu tun, halb gastrisch, halb Lungenentzündung, es würde am Ende nicht viel auf sich haben und hoffentlich ohne Blutegel abgehen; er würde morgen wiederkommen. Es wäre aber doch am Ende gut, wenn welche da wären, er wolle sie lieber gleich mit aufschreiben. Worauf er die Anzahl sechs aus seinem Stockknopfe sog und auf dem Rezepte ein halbes Dutzend Blutegel notierte. Denn es war damals noch die Zeit, wo eine anständige Krankheit nach der Anzahl der Blutegel geschätzt wurde, die bei ihr zur Verwendung kamen, und ich hörte im Geiste den »borstigen Igel« deutlich sagen: »P! das ist noch gar nichts. Als mein Bruder die häutige Bräune hatte, da haben allein an seinem Hals dreizehn Blutegel gesogen!«
Von den nächsten acht Tagen weiß ich nicht viel, ich habe nur eine dumpfe Erinnerung, daß ich zuzeiten ein sehr bewegtes Leben geführt habe, unter schreckhaften Naturereignissen, angstvollen Abenteuern, Bombardements und Überfällen durch die Franzosen. Diese vollführten unter dem Kriegsgeschrei: »Nix Swartsuer!« schauderhafte Taten, banden alte Großmütter an den Marterpfahl und bombardierten sie mit Backobst und Klößen. Dann trabte ich wieder in tödlicher Angst, ohne recht aus der Stelle zu kommen, im strömenden Regen die Chaussee entlang. Vor mir war Feuerschein und das Krachen einstürzender Gebäude, und hinter mir her rannten Mudrach, der Feldhüter und das Bleichgesicht und riefen in schrecklich blutgierigem Ton immer nur: »Wumm, wumm! Wumm, wumm!« Dann war mit einem Male Mamsell Kallmorgen da und sang, während ihr die Tränen stromweis über das Gesicht liefen, mit zitternder Klagestimme immer nur: »Weil ich so einsam bün, weil ich so einsam bün.« Und hatte plötzlich eine drei Fuß lange Wurst in der Hand und phantasierte von einem Engel mit einem feurigen Säbel und sagte mit einem Ton, der aus dem Innersten ihrer Seele kam: »Christiane, ich wache for dir!«
Aber wer die Wurst in der Hand hatte, das war ja gar nicht Mamsell Kallmorgen, das war ja Mudrach, und in der andern Hand trug er eine Flasche alten Korn und auf dem Kopf eine Butterkiepe als Helm und machte Augen wie der größte Hund aus Andersens Märchen vom Feuerzeug und versicherte mit einer Stimme, so tief, als käme sie aus dem Mittelpunkt der Erde, er sei immer da und immer bereit und immer derjenige, welcher – wie das Grab. Ja, nämlich, sozusagen!
Dann wieder suchten Adolf und ich die Streichhölzer. Wir mußten sie haben, das Schicksal der Welt hing davon ab. Fünf Minuten hatten wir nur Zeit, aber wir suchten schon eine halbe Stunde. Wir suchten in allen Taschen und krochen durch die Büsche und drehten alle Steine um. Wir suchten Müllhaufen durch und zogen unzählige Schubladen auf und packten fortwährend Kisten aus. Darin waren tausend Sachen, indianische Waffen und Federkronen und Tassen ohne Henkel, Teller mit Eierkuchen, Schulbücher, Indianergeschichten, Knackwürste, alte Semmeln, Hemdenkragen, Glaskugeln, Bleisoldaten und alles mögliche Spielzeug, Kristalle und Vogeleier, aber keine Streichhölzer. Endlich hatte ich ein Stückchen Lederkäse und ein Endchen Wurstpelle erwischt und versuchte mit einem Taschenkamm, Feuer daraus zu schlagen. Da wurde Adolf die Zeit lang, er sprang auf das Sattelpferd eines Viergespannes und jagte davon. Da die Wurstpelle aber durchaus nicht Feuer fangen wollte, so wandte ich mich einer großen runden Kiste zu, daraus holte ich endlos Feuereimer hervor, die waren aber ganz weich, wie von Flanell, und legten sich in Falten und schnitten mir Gesichter. Ich aber merkte, daß ich im Wasser stand, und die Kiste war eine Kufe und ganz leer. Und ich füllte und füllte endlos Wasser hinein; aber es half nichts, sie blieb, wie sie war. Da muß mir wohl eine Erinnerung an Markus Curtius durch den Sinn gegangen sein, denn ich sprang selbst hinein, und gleich stand mir das Wasser bis zum Halse. Da tat Adolf, der natürlich auf dem Sattelpferde saß, einen furchtbaren Knall mit seiner Peitsche, die Vorderpferde stiegen in die Luft und schnaubten Feuer, und dann ging es mit heftigem Getrappel den Abhang hinauf und in rasender Hast über den unebenen Hof. Die Kufe schwankte hin und wider, bald hier, bald da stürzte mir das schwankende Wasser über den Kopf, und so ging es in vollem Jagen mitten hinein ins Feuer, daß die Brände auseinanderstoben und Flammen und Funken wie ein waberndes Gewölbe über uns standen. »Fein! Was?!« sagte Adolf und sah sich mit einem Ausdruck, gemischt aus seelischem Gleichmut und künstlerischem Behagen, nach mir um. Ich aber, im Begriff, einen ungeheuren Schrei auszustoßen, brachte keinen Ton hervor, und dann war alles dunkel und still.
Mit solchen Unternehmungen muß ich mich in dieser Zeit wohl sehr viel beschäftigt haben, wie man aus den wilden und unbestimmten Reden schloß, die ich führte, und aus dem Umstande, daß ich von Zeit zu Zeit mit sanfter Gewalt wieder in mein Bett gebracht werden mußte, wenn ich in Verfolgung meiner mannigfachen Abenteuer hinausgesprungen war.
An meinem Lager stand ein alter, bequemer Lehnstuhl mit Ohrenklappen, und es ist mir wie ein Traum, als wenn dort immer verschiedene Personen gesessen hätten. Einmal war es der Doktor, der offenbar aus seinem Stockknopf die Idee zu einer neuen Medizin sog, dann sah ich dort wieder das ernste Gesicht meines Vaters oder das freundlich besorgte meiner Mutter und hörte im Geiste, wie Mamsell Kallmorgen sagte: »So sanft und so solide und so furchbar gemütvoll.« Einmal aber, bei dem ungewissen Schein eines Nachtlichtes, saß dort Driebenkiel, der schreckliche Einbrecher, in der ganzen Pracht, mit der ihn der geniale Krempelsetzer, als er im »Djum« war, für zweiunddreißig Schillinge und eine halbe Buddel Kümmel für Mudrach gemalt hatte, und sein schreckliches Schimpansengesicht grinste schadenfroh auf mich hin. Ich muß wohl unwillkürlich einen Schrei ausgestoßen haben, denn plötzlich ging Driebenkiels Gesicht auseinander, und ein anderes kam aus ihm hervor, das wirkte wie der milde Mond. Das war ja die gute alte Pommerehnken, die mich nachts bewachen sollte, dabei aber ein wenig eingenickt war und mir mit der vornübergeneigten alten Fleduse, die sie des Nachts trug, den Anblick des bösen Feindes vorgetäuscht hatte. Sie begütigte mich, gab mir Medizin ein und strich mir die Decke glatt, und ich werde mich wohl gleich wieder in die wilde Wirklichkeit meiner tollen Träume gestürzt haben. Denn wie ich mich noch heut erinnere, erschienen mir nur diese als das Wahre, und jeder Ausblick in die Welt, wie sie war, glich einem wunderlichen Traum.
Eines Tages aber war die wirkliche Welt mit einmal wieder da.
»Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,« – und ich schwamm, wie in einem sanften Kahne, an den weichen Sand des Ufers. Es war noch früh, als ich die Augen öffnete, und die Morgensonne lag außen auf den Fenstervorhängen und sandte durch die Lücken neugierige Lichtstreifen in das dämmrige Zimmer. Ich lag da mit offenen Augen, fühlte mich wohl, und geborgen und hatte keinen Wunsch, sondern war einzig erfüllt von der behaglichen Empfindung: zu sein. Daß ich so lag und daß ich da war, genügte mir. Bei meiner Rückenlage sah ich nur die Decke und die wimmelnden Stäubchen in den Lichtstreifen, und dieser Anblick sagte mir doch auf die Dauer nicht zu; so wandte ich denn den Kopf seitwärts und wunderte mich, daß das eine Anstrengung war. Auch war der Anblick, den ich gewann, nicht erfreulich, denn ich sah an der nahen Wand des schmalen Zimmers das obere Ende eines Tischchens, auf dem ein Glas Wasser stand, mit einem silbernen Löffel darin, und zwei Medizinflaschen, eine hohe und eine niedrige, die, mit langen spanischen Mäntelchen angetan, einander gegenüberstanden, als wären sie in eine ärztliche Konsultation vertieft, so daß mir der lange Doktor Sangrado und der kurze Doktor Cuchillo aus dem Gil Blas einfielen, von denen ich ja in Steinhusen in meinem »Menschenneste« gelesen hatte. Daneben stand ein anderes Glas mit Wasser und Öl, auf dem ein verglimmendes Nachtlicht schwamm und im Sterben seine Seele als ein schnurgrades Fädchen Rauch fast bis an die Decke sendete. In dieses liebliche Stillleben mit seinen blinkenden Glanzlichtern fügte sich ein zusammengeballtes Strickzeug von blauer Wolle passend ein, und dieses menschliche Erzeugnis rief wieder die Neugier nach seinem Urheber wach, zumal da ein leises, taktmäßiges Blasen hinter mir die Vermutung erweckte, dieser könne nicht weit sein. Außer dem bescheidenen Summen einer Fliege am sonnigen Fenster war dieses feine, säuselnde Püi der einzige Ton, den ich vernahm. Ich konnte aber vor der Erhöhung der Seitenwand des Bettes nicht gut dorthin sehen und faßte den Entschluß, mich aufzurichten, eine Unternehmung, deren Schwierigkeiten ich unterschätzt hatte, die mir aber doch soweit gelang, daß ich einen Blick auf den alten Lehnstuhl werfen konnte, auf dem wieder der schreckliche Driebenkiel saß und mich nicht allein höhnisch angrinste, sondern auch mit seinem Kopfe wunderliche Vorstöße machte, als wolle er jeden Augenblick aufspringen und sich über mich hermachen. Aber ich erschrak nicht mehr, denn es war schon zu hell, und ich erkannte gleich die vornübergeneigte wunderliche Fleduse der guten alten Pommerehnken, die wohl die ganze Nacht treu an meinem Lager gewacht hatte und nun gegen Morgen ein wenig eingenickt war. Pommerehnken war sehr alt, und man hatte das Gefühl, sie sei das immer gewesen und habe niemals eine Jugend gehabt. Sie hatte meinem Vater die Wirtschaft geführt, als er noch nicht verheiratet war, und war damals schon die alte Pommerehnken gewesen. Jetzt lebte sie in einem kleinen sauberen Stübchen von den geringen Zinsen ihrer Ersparnisse, strickte den ganzen Tag Strümpfe und las dabei ein wenig in der Bibel, im Gesangbuch oder in alten Kalendern, von denen sie viele Jahrgänge besaß. Sie war nicht zu bewegen, Armenunterstützung anzunehmen, die man ihr gern verschafft hätte, aber verdienen tat sie sich gerne etwas, und immer noch, trotz ihres hohen Alters, »sprang sie in die Bucht«, wenn es eine Arbeit gab, die sie bewältigen konnte, und war dann mit der geringsten Entschädigung zufrieden, stolz, daß sie sich noch etwas verdienen konnte. Ich habe nie ein altes Gesicht gesehen, das eine größere Ähnlichkeit gehabt hätte mit einer Landkarte, als das ihre. Ihre Stirn war ein Hügelland, von Furchentälern durchzogen, und zu den blaßblauen Seen ihrer Augen, die am Fuße der Schneegebirgszüge ihrer Brauen lagen, führten unzählige Runsen zusammen, wie sie die stürzenden Regenwässer an den Talhängen ausspülen, während die rosige Ebene ihrer Wangen von vielverzweigten Flußnetzen seinen blauen Geäders mannigfach durchzogen wurde.
Ich muß wohl ein Geräusch gemacht haben, als ich mich wieder niedergelegt hatte, denn plötzlich verstummte das sanfte Blasen, und im Lehnstuhl rührte sich was. Da ich mich aber ganz ruhig verhielt, hörte ich ein leises Krabbeln und gleich darauf ein zartes Klirren der Stricknadeln. Sie pflegte in einer solchen Nacht immer einen ganzen Strumpf fertig zu bringen, und da fehlte wohl noch etwas. Offenbar war sie schon beim Zeh, denn ich hörte sie zuweilen leise vor sich hinzählen. Dabei soll man ja nun niemals stören, denn es ist der wichtige Augenblick, wo das wunderbare Kunstwerk des Strumpfes seiner Vollendung entgegengeht, allein von dergleichen frommer Scheu war damals noch wenig in mir zu finden, und ich konnte der Lust nicht widerstehen, mich bemerklich zu machen. Doch wollte ich es recht zart anfangen und besann mich auf die Gewohnheiten einer weitentlegenen Kinderzeit. »Piep!« sagte ich plötzlich. Die Alte fuhr in die Höhe und sagte nachher, sie hätte sich furchtbar erschrocken. Das alte gute Landkartengesicht beugte sich besorgt über mich, und ich lächelte es ganz vergnügt an.
»Mein Jünging, mein Jünging,« sagte sie, »kannst schon wieder ›Piep!‹ sagen? Und ganz blanke Äugings. Aber so blassing, so blassing. Da muß ich woll man gleich die schöne Medeßin holen. Ach sonne schöne Medeßin, macht mein Jünging ganz wieder gesund.« Ich schüttelte mit dem Kopfe, allein sie ließ sich nicht irre machen, ging hin, nahm dem kurzen Herrn Doltor Cuchillo den Kopf ab und ließ sein rosinfarbiges Blut in den Löffel fließen. Aber ich weigerte mich, ich kannte den Doktor Cuchillo schon – sein Blut war bitter und schmeckte wie griechische Vokabeln. Ich brauchte keine Medizin mehr, ich wäre ganz gesund, sagte ich. »Ach Jünging, Jünging!« rief sie, »die schöne Medeßin, die is ja so teuer, und die Buddel is ja noch über halb voll. Ich hab ihr ja selbst geholt, ßwölf Schilling kost't das bischen, un ich hab gesehen, wie der Provisor das in eine halbe Minut ßusammengegossen hat. Davon werden die Apothekers auch alle reich. Mir hat mal einer erzählt, was sie als Mückenfett verkaufen in sonne kleine Schachtel wie'n Fingerhut groß für'n Schilling, das wär all man Schweineschmalz. Da soll woll einer reich bei werden.« Dann redete sie mir noch einmal eifrig zu, doch ich blieb fest und verwies sie auf das Urteil des Doktors, dem ich mich fügen würde. Sie füllte betrübt mit zitternder Hand die Flüssigkeit in die Flasche zurück und hielt diese prüfend gegen das Licht. »Is ja'n Jammer, is ja'n Jammer,« sagte sie dann, »für acht Schilling is da ja noch ein.« Als mir nachher der Doktor recht gab, war sie fast untröstlich, denn nichts schmerzte sie mehr, als etwas umkommen zu sehen, das soviel Geld gekostet hatte, und als ihre Dienste nicht mehr gebraucht wurden und sie hörte, die Medizin sollte weggegossen werden, hat sie sich das Fläschchen ausgebeten und noch lange, wenn ihr mal »nicht recht extra« war, ein Löffelchen davon genommen. Geschadet hat es ihr offenbar nicht, denn sie ist uralt geworden.
Die Genesung ging nur langsam vor sich, und auch der Hunger stellte sich erst allmählich ein. Als er aber da war, ward er auch gleich zu einer Riesenbestie, die alles für sich in Anspruch nahm, zumal da mich der Doktor in der seltsamen Verbohrtheit seiner Berufsvorurteile nur mit Suppen und weichem Brei ernährt wissen wollte. Mein Leben bestand nur noch aus mangelnder Befriedigung durch die eine und süßer Hoffnung auf die andere Mahlzeit, und von dem köstlichen Frühstückstisch der Mamsell Kallmorgen träumte ich Tag und Nacht. Meine Phantasie schwelgte in der Ausmalung kulinarischer Ungeheuerlichkeiten, wie sie im Gastmahl des Trimalchio dargestellt werden oder im Don Quijote bei Gelegenheit der Hochzeit des Camacho, wo man einen Ochsen briet, mit zwölf jungen Säugeschweinchen gefüllt, und wo der Koch dem überglücklichen Sancho Pansa den einen Riesenkochtopf abschäumte, in welchem Schaum sich drei Hennen und zwei Gänse vorfanden.
Ein wenig von so köstlichem Schaum sollte doch endlich an mich kommen. Nach acht Tagen schrecklicher Hungersnot erweichte der Doktor seinen harten Sinn und verordnete mir als nächstes Mittagsessen eine Hühnersuppe mit etwas eingeschnittenem Brustfleisch und dickem Reis dazu. Es würde wieder nicht genug sein, das wußte ich schon, aber es war doch eine Wendung zum Besseren, und ich freute mich auf diese Hühnersuppe mehr als auf Weihnachten, denn so ein Genesungshunger ist ein strenger Herr und kennt keine Götter neben sich. Und dann kam er, der große Augenblick; da war das stattliche Suppenhuhn, zart, gelblichweiß und lecker, da war der Topf mit Suppe und der Wasserreis, fein mit Petersilie bestreut. Meine Mutter zerschnitt die Hälfte des Brustfleisches, füllte einen großen Teller mit Brühe, Reis und den köstlichen weißen Würfelchen und stellte ihn mir auf ein Brett, das auf meinem Schoße lag. Das andere Fleisch des zerlegten Huhnes tat sie zur Aufbewahrung in den Topf mit Brühe und ging dann, um an der Familientafel den Vorsitz zu führen, nachdem sie mit wohlwollender Andacht eine Weile zugeschaut hatte, wie ich aß.
»Ach wie bald, ach wie bald schwindet Schönheit und Gestalt,« klagte es melancholisch in mir, als der Teller so schnell leer war. Das war für meinen sorgfältig herangezüchteten Wolfshunger nur ein Lickup gewesen, wie man bei uns sagt, nur ein Mosesblick in das selige Land der Erfüllung, nur ein grausames »Fortsetzung folgt« an der Stelle, wo der Roman am spannendsten wurde. Ich lehnte mich zurück in die aufgestützten Kissen und dachte über mein trauriges Schicksal nach. Reis kann doch am Ende nicht schädlich sein, ergab sich als die Summe dieses Nachdenkens, und Reis füllt so schön. Ich holte mir also den Reis. Für sich allein war das aber ein trockenes Essen, mit ein wenig Brühe rutschte es besser, und Fleischsuppe galt doch auch für sehr gesund. Als ich aber den Topf beim Eingießen etwas stark kippte, flutschte ein Hühnerschenkel mit auf den Teller. »Mitgefangen, mitgehangen,« dachte ich, »was kann das kleine Beinchen schaden!« und verzehrte das Ganze mit Behagen. Da ich davon keine üblen Folgen spürte, nur daß die Sehnsucht meines Innern noch immer nicht gestillt war, so musterte ich mit kritischem Blick das noch Vorhandene. Der Reis war alle, und in dem Topfe fand sich nur noch wenig Brühe, nicht der Mühe wert, sie aufzuheben. Na, und das bißchen Fleisch, das halbe Huhn, das noch da war, mußte sich dann doch sehr vereinsamt fühlen, ich empfand ja nur zu deutlich, wie es sich sehnte, mit seiner anderen Hälfte vereinigt zu werden. Diesem magnetischen Zuge zu widerstehen, war ich zu schwach; der Rest ist Schweigen.
Mein körperliches Befinden nach dieser Tat ließ nichts zu wünschen übrig und konnte bezeichnet werden als ein Zustand himmlischer Befriedigung; zum ersten Male nach einer Zeit asketischen Märtyrertums fühlte ich mich wieder einmal richtig satt. Mein seelisches Gleichgewicht ließ aber zu wünschen übrig, denn es war von einem Zuschuß bösen Gewissens einseitig beschwert, und nur der besitzesfreudige Gedanke: »Wat einer hett, dat hett hei!« gewährte mir einigen Trost. Unter solchen Erwägungen in meine Kissen zurückgelehnt, schlief ich sänftlich ein und erwachte nicht eher, als bis es Zeit zur nächsten Mahlzeit war.
Im Zimmer herrschte eine feierliche, gedämpfte Stimmung, als ich die Augen auftat. Mein Vater und meine Mutter waren zugegen und blickten sorgenvoll auf mich hin; an meinem Bette saß der Doktor mit der Uhr in der Hand und zählte meine Pulsschläge. »Hm, hm!« sagte er, als er damit fertig war, und ließ sich dann die Zunge zeigen. »Hm, hm!«
Darauf holte er sich seinen Stock, der hinter ihm stand, sog an dem Knopf und betrachtete mich mit einem feindseligen Blick. »Ist er noch zu retten?« rief meine Mutter. »Junge, wie ist dir zumute?« fragte der Doktor.
»Hunger hab' ich!« war meine Antwort. »Dacht' ich mir doch!« sagte der Doktor. »Sehen Sie, Frau Pastorin, das sind die Wunder einer verständigen Diät. Nun haben wir ihn durch!« »Gott sei Dank!« seufzte meine Mutter erleichtert.
Der Doktor verfiel wieder in stummes Brüten, betrachtete mich mit einem Blick, als überlege er, wie ein Bauchschnitt am besten auszuführen sei, und sog offenbar eine ungeheure Idee aus seinem Stockknopf. »Morgen Mittag wollen wir ihm ein Beefsteak geben!« sagte er dann plötzlich, »... mit Bratkartoffeln ... und Backpflaumen ... nicht zu knapp.« Dies war seine vorletzte Verordnung in dieser Krankheit, die einzige bis jetzt, für die er meines innigen Dankes gewiß war und deren hohen Wert ich einsah. Doktor Cuchillo und Doktor Sangrado waren für immer abgetan, und von Ugolinos Hungerturm war keine Rede mehr.
Seit ich so meine Verpflegungsgesetze selber geregelt hatte, ging meine Genesung schnell vorwärts, ich durfte bald aufstehen, und nach acht Tagen spazierte ich zum ersten Male ein wenig im Garten herum. Es war am Anfang des Juli, und nach wenigen Tagen hätte ich die Schule wieder besuchen können, und zwar noch auf etwa vierzehn Tage, denn die Ferien begannen erst am zweiundzwanzigsten Juli. Das aber verhinderte des Doktors letzte Verordnung, und diese machte alles wieder gut, was er mir bisher angetan hatte. Ich verzieh ihm den Doktor Sangrado und den Doktor Cuchillo und sämtliche Blutegel und grollte ihm nicht mehr wegen Ugolinos Hungerturm. Ja, ich war geneigt, ihn für eine Zierde seines Standes und eine Leuchte der Wissenschaft und für ein Füllhorn ärztlicher Weisheit zu halten, denn er riet davon ab, mich vor den Ferien wieder in die Schule gehen zu lassen. »Schicken Sie ihn aufs Land,« sagte er, »sein Organismus muß in guter Luft gekräftigt werden.« Himmel, was war das für eine prachtvolle Verordnung! War es wohl irgendwo schöner als auf dem Lande, und dabei weiter nichts zu tun, als den Organismus zu kräftigen, was von jeher meine Lieblingsbeschäftigung gewesen war!
Ein glücklicher Zufall ließ kurz nach dieser Zeit Herrn Pastor Liborius aus Borna in die Stadt kommen, bei welcher Gelegenheit er meinen Vater, seinen Studienfreund, besuchte. Pastor Liborius war, eine Seltenheit bei seinem Stande, Junggeselle und lebte mit einer Schwester und ungeheuer vielen Büchern allein in seinem großen Hause. Denn er war ein Bücherfreund von jener Art, die Bücher an und für sich lieben, und kaufte alles zusammen, was ihm nur irgend einen Wert zu haben schien, aus allen möglichen Gebieten. So hatte ihn auch diesmal eine Bücherauktion nach der Stadt gezogen, bei welcher Gelegenheit er sich wieder eine halbe Wagenladung der unglaublichsten Schmöker angeeignet hatte.
Als nun Pastor Liborius von dem Plan hörte, mich aufs Land zu schicken, damit dort mein Organismus in guter Luft gekräftigt werde, man aber nicht wußte, wohin, da es in Steinhusen zur Zeit nicht passe, da sagte er: »Morgen Nachmittag fahre ich, da kann ich ihn gleich mitnehmen. Was gute Luft betrifft, da kommt er da oben bei uns an die richtige Quelle. Für unsern Wind sind wir im ganzen Lande berühmt. Wenn er aus Südwesten geht, da haben wir manchmal so viel gute Luft da oben, daß ich meinen Johann als Vorspann nehmen muß, wenn ich in meine Kirche will, denn allein komme ich da nicht gegen an, noch dazu im Chorrock. Großmutter Kiliansch hat mal hinter der Kirchhofsmauer in'n Überwind sechsmal Kraft gesammelt und es immer wieder versucht, in die Kirche zu kommen, aber schließlich hat sie es aufgegeben und ist mit'm Wind in fünf Minuten nach Hause gesegelt, wo sie sonst eine Viertelstunde braucht. Also gute Luft ist genügend da, und was den Organismus betrifft, dem wollen wir schon unter die Arme greifen, zum Beispiel Milch. Kuhwarme Milch und dicke Milch und abgedeckte Milch und Süßmilch und Buttermilch, soviel er will und kann und mag. Buttermilch ist fabelhaft gesund. Und dann Mehlspeisen. Meine Schwester und ich sind nicht sehr für Fleisch, aber für Mehlspeisen. Nahrhaft und gesund. Saure Klöße und abgerührte Klöße, Semmelklöße, Kartoffelklöße und Pudding und Auflauf und Pfannkuchen, Plinsen und Ochsenaugen, ist das dein Fall, mein Junge? Hast du dafür was übrig?« Ich nickte mit dem Ausdruck tiefer innerer Überzeugung.
»Gut!« sagte Pastor Liborius, »dann ist mir um deinen Organismus nicht bange.«
Man war dem freundlichen Manne für diese angenehme Lösung der Land-, Luft- und Organismusfrage sehr dankbar, und am nächsten Nachmittag hielt der Wagen mit Herrn Pastor Liborius und seinem Kutscher vor der Tür. Es war kein pomphaftes Gefährt, sondern ein strohdurchflochtener Leiterwagen, auf dem als Sitze zwei ebenfalls mit Stroh gefüllte Säcke lagen. Der hintere Teil, das sogenannte Krett, war ganz mit Büchern gefüllt unter einer wasserdichten Decke, und allerlei Einkäufe des sorgsamen Johanns waren überall verstaut, so gut es ging. Ich konnte nur mühsam meine Reisetasche und meine Beine unterbringen, so vollgestopft war alles. »Komm!« sagte Johann, und der federlose Wagen ratterte und schmetterte auf dem holprigen Pflaster davon. »Furchtbar gesund!« sagte Pastor Liborius, indem er mit der Hand über die erschütterte Magengegend und seinen negativen Bauch hinstrich, »beinah so gut wie Reiten, animiert die Eingeweide, sehr gut für den Organismus.«
Bald darauf begegnete ich Adolf mit einigen der früheren Comanchen, die aus der Schule kamen. Sie schwenkten für meinen Begleiter die Mützen und nickten mir heftig zu, und unter dem erhebenden Gefühle, ein Gegenstand des allgemeinen Neides zu sein, ratterte ich dem Tore zu.
Draußen auf der Chaussee, auf dem sogenannten Sommerwege, fuhr es sich besser, der Pastor holte eine kurze Studentenpfeife heraus, deren Kopf mit feinem Korbgeflecht umsponnen war, pinkte Feuer und dampfte vergnüglich seinen Petum Optimum subter solem in den Sommerwind hinaus. Dabei mochten ihm wohl aus der altgedienten Pfeife allerlei Erinnerungen aufsteigen, denn er summte merkwürdige Verse vor sich hin, die jedenfalls nicht aus dem Gesangbuche stammten. Dann fragte er ganz plötzlich und unvermittelt: »Mein Sohn, rauchst du?«
»Eigentlich nicht!« antwortete ich verlegen auf diese indiskrete Frage.
»So, also eigentlich nicht? Weißt du, mein Sohn, was man eigentlich nicht tut, das tut man. Das tut man sogar manchmal sehr!«
»Ach nein, nur manchmal die Friedenspfeife, und das auch nicht oft!« sagte ich.
Die Friedenspfeife und das dazugehörige Indianerspiel interessierten ihn sehr, besonders wohl, weil er darin gleich Blüte und Frucht eines neuen Literaturzweiges erkannte. Ich mußte erzählen, und er lockte allerlei aus mir heraus über die Sitten und Gebräuche der Comanchen und ihre Kriegs- und Friedenstaten, wobei ich mich aber wohl hütete, den Schleier der Stammesgeheimnisse zu lüften.
»Das kannten wir noch nicht,« sagte er, »die Indianergeschichten waren noch nicht erfunden. Wir spielten Räuber und Soldat, oder, wenn man sehr gebildet sein wollte, Griechen und Perser. Es ist übrigens alles dasselbe. ›Gut, so werden wir im Schatten kämpfen!‹ könnte auch ein Indianer sagen.«
Dann zog er schnell hintereinander einige Züge aus seiner Pfeife, wendete sich und klopfte mit der Hand auf die Wachstuchdecke, unter der seine eingekauften Bücher lagen, und sagte: »Dadrin habe ich übrigens den ganzen Cooper. Die kleine Frankfurter Duodezausgabe aus den zwanziger und dreißiger Jahren, wohlerhalten und sehr billig. Habe überhaupt gut gekauft diesmal.« Damit strich er mit einer zärtlichen Handbewegung über die vielgebrauchte Decke hin.
Nun kam es wie eine Unruhe über ihn, er fing an, heftig zu rauchen, »as wenn'n lütt Mann backt«, und als wenn er dafür bezahlt kriegte. Endlich war die Pfeife leer. Dann drehte er sich mit jugendlicher Geschicklichkeit auf seinem Sack herum, so daß er den Büchern gegenüber saß, und schob mit dem lüsternen Ausdruck eines Feinschmeckers, der den Deckel von einer Lieblingsschüssel hebt, die Decke zurück.
»Ich wollte nur mal ...« sagte er wie entschuldigend, und hatte auch schon den nächsten Band in der Hand und öffnete ihn, nicht ohne ihn vorher einmal auf- und zuzuklappen und etwaigen Staub von seinem Schnitt zu blasen. So durchblätterte er ein Buch nach dem andern, häufte sie auf, wo er Platz fand, grub sich immer tiefer in den Haufen ein und war für die Welt verloren.
Und die Welt war doch gerade so schön, wo wir fuhren, auf der hohen Chaussee, wo sie durch den Wald ging. Zur Rechten, wo alles im Sonnenschein lag, stieg ein Hügel an, mit mächtigen Steinblöcken besät. Dazwischen waren stattliche Tannen aufgeschossen und junges Laubholz, in den Lücken drängte sich das Farnkraut, Brombeergerank spann sich über die besonnten Steine hin, und zwischen den nickenden Rispen des hohen Waldgrases leuchtete allerlei Blumenwerk. Es war schon die Zeit, wo der Silberstrich oder Kaisermantel fliegt, und in ganzen Wolken spielten die stattlichen Schmetterlinge über den blühenden Brombeeren. Die wilden Möhren hatten am schrägen Abhang des Chausseegrabens zahlreiche weiße Teller aufgetan, darüberhin schwenkte zuweilen taumelnden Fluges ein Schwalbenschwanz, und überall war das lautlose Geschwebe anderen kleinen, bunten Volkes, dessen Element der Sonnenschein ist.
Zur Rechten aber war Schatten und Buchenwald, der mit schlanken, grausilbernen Stämmen eine steile Schlucht hinabstieg und zwischen seinen durcheinanderwimmelnden Säulen weiße Blitze eines Sees tief unten im Grunde emporglänzen ließ. Dann ging der See zu Ende, und in dem grünen Talkessel der auslaufenden Schlucht schimmerte eine Silberschlange auf, ein starker Quell, der aus sumpfigen Rinnsalen von unsäglichem Grün zusammenfloß und sich zwischen verstreuten Steinblöcken und himmelhohen Buchen lustig rieselnd dem langgestreckten See zuwand.
Der Kutscher deutete mit seinem Peitschenstiel auf den tiefen Grund, wo sich die silberne Schlange wand durch verstreute Felsblöcke und saftiges Grün und wo die mächtigen Buchen, um es den Genossen, die an den steilen Wänden der Schlucht emporstiegen, gleich zu tun, lichthungrig ihre Kronen auf schlanken Stämmen aus der Tiefe zu gleicher Höhe emportrugen; er deutete hinab in diese mächtige Halle und sagte: »Dat is dei Düwelsborn, dor späukt dat.«
Das war seine Art, sich mit diesem anmutigen Orte abzufinden, der früher wohl einmal, wie die an ihm hängende Teufelssage vermuten ließ, ein heidnisches Heiligtum und eine Kultusstätte gewesen sein mochte. Doch will ich mich nicht überheben und nur einfach gestehen, daß ich auch weiter nichts dachte, als, es müßte sich dort unten und an den Abhängen der Schlucht prachtvoll Indianer spielen lassen.
Der Wald ging nun zu Ende, und man sah von der hochliegenden Chaussee weit ins Land hinein, zur Rechten auf eine tiefer liegende Ebene, wo bepflanzte Wege von einer Dorfinsel zur anderen wanderten, wo hier und da ein See aufblitzte oder sich ein Wiesengrund dahinwand, von Kropfweiden umstanden, oder sich ein Wäldchen auf flacher Hügelkuppe wölbte. Zur Linken hinderte sanft ansteigendes Hügelland zunächst den Blick in die Gegend, doch dahinter zeigte sich ein dämmernder Landrücken, der auf seinem höchsten Punkte die mir so wohlbekannten Umrisse der Kirche von Borna erkennen ließ.
»Dor liggt uns' Kirch!« sagte Johann, »dei süht'n doch allerwegt; wir dor nich dat olle Holt wäst, denn harren wir ehr all lang' seihn könnt.«
»Ja,« sagte ich, »dei Thurn liggt jo äwer verkiehrt rüm.«
»Wat denn?« fragte Johann, »verkiehrt rüm, woans?«
»Na,« sagte ich, »ick bün doch ut Steinhusen un dor süht'n dei Kirch doch ok, dor liggt dei Thurn äwer up dei anner Siet.«
Johann lachte kurz auf.
»Ja, dat glöw ick sacht,« sagte er. »Steinhusen liggt jo ok up dei anner Siet, dat liggt jo von hier ut achter Borna.«
So belehrte mich Johann in der Topographie seiner Heimat und fuhr damit fort, indem er mir die Namen der umliegenden Dörfer und Höfe und der entsprechenden Gutsbesitzer und Pächter nannte und allerlei kritische Bemerkungen hinzufügte. Wir hatten die Chaussee verlassen und fuhren auf einer alten Landstraße, von Nußhecken, wilden Rosen und Dornbüschen eingezäunt, durch eine ziemlich ebene Gegend. Sie war kahl und baumlos, nur die Wiesengründe waren von alten Kropfweiden eingefaßt. Aber auf den weiten, eintönigen Feldern stand mannshoher Roggen, und mächtige Weizenschläge mit schweren Ähren wogten bis in die Ferne. Der Raps war schon geerntet und dehnte weithin seine öde Stoppel aus. Nahe am Wege hatte man ihn ausgeritten, und neben der runden, ebenen Tenne, wo dies geschehen war, lagerte berghoch das graubraune, büschelige Stroh. Es war eine Gegend, die jeglichen Zierats entbehrte, wo sich alles nur in wohl abgezirkelter, fruchtbarer Nützlichkeit in die Ferne dehnte und überall nur stand, was da sollte, und nirgendwo, was da wollte. Johann hatte schon eine ganze Weile seine wohlwollenden Blicke über die Landschaft schweifen lassen, und nun brach bei ihm die Begeisterung aus. »Eine tau schöne Gegend!« sagte er, »eine ganze wunnerschöne Gegend. Dei Lür seggen jo, in'n Klützer Urt, dor sall dat noch schöner sien, äwer dat kann'k mi gornich denken. Dit is hier so'n richtigen Klai. Wo schön dat utsüht, wenn so'n rechten groten Slag frisch pläugt un egt is, so glatt un schier un swartbrun as Schockelor, dat glöwst du gornich. Denn'n süht'n dat Fett ollig an. Weck Lür seggen jo, wenn hier einer up dei Knei föllt, denn kriegt hei Fettplacken in dei Büxen. Na, un wat dor för Weiten waßt, dat sühst du jo. Un hest du woll dei Rappstoppel seihn? Dat sünd jo luter Böm wäst. Dor kann Herr Nägendank in Siemitz« – dabei zeigte er mit dem Peitschenstiel auf einen stattlichen Gutshof, der in einer Bauminsel zwischen den Feldern lag – »dor kann hei, wenn hei will, alle Dag Rappwater (Champagner) supen.«
Ich war schon vorher, um besser verstehen zu können, zu Johann auf den vordersten Sack geklettert, was der Pastor mit Beifall begrüßt hatte, da er dadurch Platz gewann, sich mit seinen Büchern auszubreiten, und da sich der Kutscher durch dies Zeichen der Teilnahme geehrt fühlte, so fuhr er in seinen Mitteilungen weiter fort.
»Du möst nu äwer nich denken«, sagte er, »wat dat bi uns dor baben ok so fein is. Ne, gegen hier is dat man swack. Wenn Besäuk ut dei Stadt kümmt, un wenn sei denn up unsen Gautsbesitter Herrn Wangelin siene Utkiek stahn, wo'n dat ganze Gaud seihn kann, wo sick dat den Barg daltrekt bet an dei groten Wischen an'n Steinhuser See un dor achter in den See, den Uhlenberg, wo Herr Wohland wahnt, wat unsern Herrn sien Swiegervadder is, un Steinhusen, wo du her büst, an't anner Enn von den See, dat kann'n jo ok seihn un dei Barg dor achter. Na, wenn sei dat seihn, denn swögen sei jo ümmer von dei schöne Gegend. Äwer ick segg, wat hübsch utsüht, 's noch lang kein schöne Gegend. Dat geiht na dei Boniteh. Un wo dei Boniteh in dei ierste Klaß is, dor is dat schön, un wo mit dei Boniteh nix los is, dor is dat nich schön.«
Aber nichts in dieser Welt ist beständig, und so nahm denn auch Johanns so geschätzte schöne Gegend ein Ende, ein hügeliges Waldland von offenbar sehr mäßiger »Boniteh« nahm uns auf, und wir verloren durch die emporragenden Baumwipfel unser schon nahes Ziel, die seitwärts liegende Kirche von Borna, auf ihrem steilen, mit Steinen bestreuten und mit Besenstrauch und Buschwerk bewachsenen Hügel, aus den Augen.
Der Pastor sah sich plötzlich um und stopfte dann, so gut es ging, die überall herumliegenden Bücher wieder unter die Decke, setzte sich herum, brachte mit großem Eifer eine neue Pfeife in Brand und rauchte ungemein. Im Geiste aber war er wohl noch immer mit seinen neu erworbenen Schätzen beschäftigt, denn von Zeit zu Zeit sah er sich über die Schulter hinweg liebevoll nach ihnen um.
Wir fuhren eine ganze Weile durch gemischten Wald, und dies blieb auch so, als unser Weg einen Bogen nach rechts machte und in eine Chaussee einmündete, die sich zwischen zwei Hügelreihen in sanfter Steigung bergan zog. Johann deutete mit seiner Peitsche auf das reichliche Steingeröll von kleineren und größeren Blöcken, das zu beiden Seiten die Abhänge bedeckte und zuweilen in Bodenvertiefungen zu Haufen angesammelt worden war, und sagte mißbilligend: »Dit is nu all dei richtige Bornasche Gegend. Wat hier tau'n besten waßt, dat sünd Stein.«
»Na, dei wassen doch nich!« sagte ich.
»Wenn sei ierst baben dei Jerd liggen,« sagte Johann, »denn wassen sei nich mihr, äwer binnen dei Jerd, dor wassen s'. Wo süllen dei woll herkamen, wenn dei nich wassen dehren, grar so, as dei Getüffel, blot dat dei Gelüffel in einen Sommer farig sünd, un mit dei Stein duert dat Johr. Wat segg ick Johr? Johrén duert dat, Johrendén kann dat duern. Na, hier hett dei Düwel dei ganze Gegend mit Steinsaat tauseiht. Dei Lür seggen, wil dat hei dei Bornasch' Kirch nich utstahn kann, dei'n allerwegt süht, un wovon dei Klocken so wiet in't Land tau hüren sünd. Hürst du woll?« sagte er dann plötzlich, offenbar erfreut über das zufällige Zusammentreffen, und deutete mit der Peitsche nach oben. Durch die leise flüsternden Baumwipfel ging in abgemessenen Pausen ein summender Glockenton, zwei schnellere Schläge folgten, und dann war es still. »Dei Klock is söß,« sagte er, »Köster Pagels stödd dei Bärklock.«
Dann entwickelte er seine wunderliche Theorie vom Wachsen der Steine weiter und führte als Beweis an, daß auf Feldern, die man seit Jahrhunderten beackert und jedesmal sorgfältig abgelesen habe, der Pflug doch immer wieder neue Steine zum Vorschein brächte. »Dei Stein,« sagte er, »wassen nich blot in dei Dickte, ne, sei wassen ok inne Höcht, un tauletzt kamen sei rut ut dei Jerd as dei Poggenstäuhl, un denn sünd sei riep, un denn wassen sei nich mihr.«
Nun war die Höhe der Chaussee erstiegen, und der Wald ging zu Ende. Der niedere Hügel zur Linken schwang sich zur Seite, und es öffnete sich ein rundes grünes Wiesental vor uns, mit einem von Schilf und Rohrbomben fast zugewachsenen See, auf dessen schwarzem Gewässer die glänzenden Blätter und die weißen Blüten der Wasserrosen in der Abendsonne schimmerten. Jenseits hinter diesem See ragten aus Baumwipfeln eines Parkes Giebel und Aussichtsturm eines Herrenhauses hervor, diesseits aber zur Rechten des Weges zogen sich im Bogen die strohgedeckten Katen des Dorfes Borna dahin, dessen Obstbaumgärten den Hügelhang hinaufstiegen. Darüber, auf dem kahlen Rücken des Berges schwebte die wohlbekannte Kirche von Borna. Wie sie dahin gekommen war, konnte ich mir zwar nicht ganz klar machen, jedenfalls aber hatte sie sich gegen vorhin herumgedreht, und der Turm lag so, wie ich ihn von Steinhusen aus zu sehen gewohnt war. Johann hatte seine Pferde in eine schärfere Gangart versetzt und fuhr nun durch ein Tor in einer breiten Feldsteinmauer in schönem Bogen um einen Rasenplatz herum und hielt mit scharfem Ruck vor dem Pastorhause. Wir waren an dem Ort unserer Bestimmung angelangt.