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Onkel Simonis reichte noch fast in die Zeit der ewigen Kandidaten hinein, die wegen der Überfüllung des Berufes nie eine Pfarre bekamen, die sich gleichsam in einem endlosen Puppenzustande befanden und schließlich, ohne ausgekrochen zu sein, grau und betagt in die Grube fuhren. Sie wandten sich meist dem Lehrberuf zu und blieben entweder ihr Lebelang Hauslehrer oder gründeten besonders in den Städten, die kein Gymnasium hatten, Privatunternehmungen, die sogenannten Kandidatenschulen. Die angehenden Jünglinge, die dort von ihnen in den Humanioribus dressiert wurden, sagten dann: »Ick gah bi'n Kannedaten« oder »inne Kannedatenschaul!« Diese Leute erreichten meist ein hohes Alter und waren sehr oft Sonderlinge. Gemeinsam aber war ihnen fast allen, daß sie in der Handhabung ihres hauptsächlichsten gelehrten Handwerkszeuges, des sogenannten »Gelben«, eine große Geschicklichkeit besaßen. Fritz Reuter selbst hat damals, obwohl er kein ewiger Kandidat der Theologie war, das typische Leben eines solchen eine Zeitlang geführt, bis er den plattdeutschen Dichter in sich entdeckte und dieser ihn plötzlich berühmt und wohlhabend machte.

Auch Onkel Simonis war eigentlich einer dieser ewigen Kandidaten, doch ließ er sich nicht gern so nennen, weil ihm der Stempel der Unfertigkeit, den ihm dieser Titel aufdrückte, nicht behagte und weil er, wie er sagte, seinen ganzen früheren Beruf an einen sehr hohen Nagel gehängt hatte. Er pflegte diesen Nagel auch zu zeigen, denn gelegentlich deutete er auf den höchsten Punkt des Dorfes, den Kirchenturm, und sagte dann: »Seht ihr den kleinen Haken dicht unter dem Turmknopf? Seht ihr ihn? Dort hängt der Kandidat mit allem, was dazu gehört. Hängt da für ewige Zeiten. Wenn der Wind aus Westen weht, bammelt er nach rechts, und wenn der Wind aus Osten weht, bammelt er nach links. Laßt ihn bammeln.« Ich hörte einmal, wie er einem fremden Mann, der als Bote an ihn geschickt war und eben die ständige Botenbewirtung »'n Snaps un'n Bodderbrod« in Empfang nahm und ihn einmal übers andere Herr Kannedat nannte, solches verwies. Dieser, ein wißbegieriger Mann, traf gleich darauf den Radmacher des Dorfes und fragte ihn: »Segg mal Rarmaker, wat heit dat eigentlich: Kannedat?« Dieser, der wie fast alle Rademacher bei seiner einsamen und nachdenklichen Arbeit ein Stück Philosoph geworden war, wußte das genau: »Seebohm,« sagte er, »dat will'k di seggen. Szü mal, wenn so'n Herr lang naug up dei hogen Schaulen wäst is, denn kümmt hei in den Exament und denn ward hei exanimiert, wat hei in dei biblische Geschicht ok ollig Bescheid weit, un wo dat mit dat Döpen un Trugen un Begraben un all den annern Pasterkram sinen richtigen Schick hett, un kann'e dat, denn ward'e dat, un kann'e dat nich, denn ward'e dat nich. Sühst du, dorvon kümmt dat her: Kannedat.« Das schien dem fremden Manne sehr einzuleuchten, und er kehrte wissenschaftlich bereichert in seine Heimat zurück, zugleich allerdings in dem festen Glauben, daß Herr Simonis ein Kannedatnich sei.

Dieser hatte sich aber den sonst abgestreiften Kandidaten wieder vom Kirchturmhaken heruntergeholt, als er in den Weihnachtsferien nach der Hauptstadt gereist war, und hatte sich dem Direktor des Gymnasiums als solcher vorgestellt, um sich des genaueren nach den für die Quarta erforderlichen Leistungen zu erkundigen. Da hatte er denn erfahren, daß unsere Kenntnisse schon jetzt für diese Klasse, die etwa der heutigen Tertia entsprach, vollständig ausreichten, ja daß wir in manchen Dingen schon etwas weiter waren. Dies stimmte ihn sehr fröhlich und kam uns zugut, als der Unterricht wieder begann, denn es galt nur noch, den Bau unserer Bildung zu befestigen und auszuputzen, und er ließ es wieder sachte angehn. Als wir dann am Beginn der Osterferien mit ihm in die Hauptstadt fuhren, bestanden wir die Prüfung denn auch mit Leichtigkeit, was ihn so erfreute, daß er mit uns in die Konditorei ging, wo wir in Othellos, Schaumtorten und Brauselimonade eine wahre Orgie feierten, die, wie ich fürchte, unpädagogisch war. Am Abend gingen wir beide zum ersten Male mit ihm ins Theater, wo zu seinem Leidwesen kein klassisches Stück, sondern die Rädersche Zauberposse »Robert und Bertram« oder »Die lustigen Vagabunden« gegeben wurde, und spendierte uns im Zwischenakt ein Glas köstlichen Punsches, wofür das Theaterbüfett berühmt war. Ich denke, beides war wieder eminent unpädagogisch, aber uns gefiel es vortrefflich, und obwohl wir für die nächste Zeit die Ansicht hatten, ein Theater sei ein Ort, wo das Unsinnmachen mit großem Aufwande geschäftsmäßig betrieben würde, so ging uns beiden doch diese Vorstellung wie ein schöner Traum nach. Als wir hinausgingen, sagte Adolf: »Horre! das war fein! Und wie die beiden Kerls fix zu Bein waren!« Beide waren wir aber von diesem Tage ab der Meinung, daß das städtische Leben doch einige recht bemerkenswerte Vorzüge besitze. Unsere stille Hoffnung, Herrn Mudrach auf der Straße zu begegnen und ihm Mamsell Kallmorgens Grüße bestellen zu können, ging aber nicht in Erfüllung. Zwar hatten wir ihn einmal von ferne gesehen. Als wir uns am Nachmittag ohne Herrn Simonis die Stadt ein wenig besehen hatten, waren wir auch an den Mönchsteich gekommen, einen kleinen See, der mitten in der Stadt lag und zum Teil von einer Promenade umgeben war. Um den Mönchsteich zu gehen, war der gewohnte Spazierweg vieler alten Herren und auch anderer sinnigen Leute. Im Sommer wehte dort unter den Lindenbäumen des reinlichen Fußweges ein erfrischender Luftzug, und man konnte den Möwen zuschauen, die sich kreischend über dem spiegelnden Wasser schwenkten, oder den Schwänen, die wie stolze Fregatten hinsegelten, während hier und dort ein Zug Enten wie eine Armada kleiner Schiffe vorüberzog oder andere dieser beschaulichen Tiere in den flacheren Buchten gründelnd auf dem Kopfe standen. Man hatte von der Hauptpromenade aus einen Blick auf den Damm, der diesen Teich von einem größeren See abschloß, der weithin blitzte und fern von dämmernden Uferbergen begrenzt wurde; man sah gegenüber auf die Hintergärten einer Straße, die einzelne stolze Baumwipfel emporsteigen ließen und zum Teil mit wunderlichen oder lustigen Gartenhäuschen geziert waren, die auf Pfählen im Wasser standen. An der dritten Seite ragte auf einem kleinen Hügel mit seinem gewaltigen Dach und seinem wunderlichen, unvollendeten Turm der alte Dom hervor, der die ganze Gegend beherrschte und auf die vielen kribbeligen Häuser zu seinen Füßen herabsah wie eine Glucke auf ihre Küchlein. Die vierte Seite mit der Hauptpromenade, wo wir gingen, war von einer, wie es uns schien, sehr vornehmen Häuserreihe begrenzt, die am Fuße eines Hügelhanges gelegen war und deren Hintergärten diese Anhöhe hinanstiegen. Alle Straßen, die dort von der Höhe auf den Teich zuführten, waren darum ziemlich steil, eine sogar so sehr, daß sie für Fuhrwerk gesperrt war. Dort vergnügten sich vier Knaben mit einem Handwagen, auf dem immer zwei von ihnen die steile Straße mit großer Schnelligkeit und erheblichem Getöse herabrasselten, während der eine von ihnen das Gefährt an dem Handgriff der hochgestellten Deichsel mit Geschicklichkeit steuerte. Die anderen beiden standen oben und unten offenbar auf Posten, und wir bemerkten, wie sie fortwährend die Straßenzugänge auf beiden Seiten aufmerksam musterten. In diesen Beschäftigungen des Herunterrasselns, des Hinauffahrens und des Postenstehens wechselten sie fortwährend ab. Wir sahen ihnen eine Weile mit Interesse zu, erklärten dies für einen höchst nachahmenswerten Sport und beschlossen, ihn in Steinhusen ebenfalls einzuführen. Dann gingen wir weiter. Als wir bis in die Nähe der nächsten Querstraße gekommen waren, wurden wir aufmerksam auf einen Raubvogel, der, verfolgt von einer Schar von Dohlen, die nach ihm stießen und einen gewaltigen Lärm vollführten, über den Teich flog, und als wir dieses Schauspiel noch verfolgten, ertönte plötzlich hinter uns der gellende Ruf: »Mudrach! Mudrach!« Dieser war derweil aus der nächsten Querstraße hervorgekommen, und wir sahen ihn nun mit riesenlangen Schritten und wild seinen Stock schwingend auf den Ausgang der steilen Straße zueilen. Der warnende Posten war schon im vollsten Ausreißen begriffen, er rannte wie Hektor. In diesem Augenblick kam auch der Wagen zum Vorschein und wurde eilig herumgesteuert. Die beiden Insassen purzelten Hals über Kopf heraus, sprangen an die Deichsel und jagten mit dem Wagen davon, Mudrach mit seinem fördersamen Schritt immer hinterher. Es kam uns aber fast so vor, als läge ihm gar nichts daran, sie wirklich zu erreichen. Dennoch verfolgte er sie bis zu der nächsten Straße, in der sie verschwanden, wir sahen, wie er noch einmal gewaltig mit seinem Stock drohte; dann ging er langsam weiter und kam uns aus den Augen.

Von einem gemeinsamen Entschluß angetrieben, gingen wir rasch hinterher, denn wir hofften, ihn noch zu erreichen und Mamsell Kallmorgens Grüße bei ihm anbringen zu können, wovon wir uns einigen Genuß versprachen, suchten ihn aber vergeblich. Er war gewiß schon mit seiner systematischen Plötzlichkeit in eine andere Straße eingebogen.

Nun, in vierzehn Tagen siedelten wir ja gänzlich nach der Stadt über, und da würden wir seiner schon habhaft werden.

Für uns begann nun in Steinhusen die Zeit des Abschiednehmens. Ostern fiel spät, und der Frühling war schon im besten Gange. Die Stachelbeerbüsche standen in unsäglichem Grün, und über den rötlichen Knospen der Sträucher und Bäume lag ein hoffnungsvoller Schimmer. Im Walde knisterte das welke Laub von all den lebendigen Keimen, die sich unter ihm hervordrängten, die Blauöschen (Blauäuglein, Hepatica triloba) blühten schon und im Garten die Schneeglöckchen, Krokos und Veilchen. In das leuchtende Grün der feuchten Wiesen malten die Dotterblumen goldene Inseln, und Lerchenmusik war weit und breit über den Saatfeldern. Sämtliche siebzehn Storchnester des Ortes waren wieder besetzt, und ein fröhliches Klappern flatterte von Zeit zu Zeit über die Dächer hin. Steinhusen war gewiß gesegnet mit flachshaarigen jungen Eingeborenen von jeder Größe, aber diesen waren es immer noch nicht genug, und sie wurden nicht müde, an diese sagenhaften Vögel ihre ergebensten Bittgesuche um ferneren Familiensegen zu richten:

»Adebor, du rore, bring mi'n lütten Brore,
Adebor, du Nester, bring mi 'ne lütte Swester.«

Andere aber, die schon an die segensreiche und nahrhafte Zeit des Spätsommers dachten, wo er wieder wegzieht, sangen:

»Adebor, du Langebeen, wenn ihr wist du wegtehn?
Wenn dei Rogge riep is, wenn dei Pogge piep is,
Wenn dei gälen Beeren an den Boom so geren,
Wenn dei roren Appeln an den Boom so klappern,
Wenn dei blagen Plummen an den Boom so summen.«

An unserem Ende des Dorfes, nicht weit von der Kirche um den großen Dorfteich herum, lagen die vier Bauerngehöfte. Am Ufer erhob sich ein kleiner Hügel, auf dem eine riesige Eiche stand. Der Abhang, den dieser kleine Hügel zum Teich herniederstreckte, war so unbeschreiblich grün, daß ich mich nicht erinnere, jemals in meinem Leben je wieder etwas so Grünes gesehen zu haben. Das Ganze war ein kleiner Anger, der den vier Bauern gemeinsam gehörte und zur Seite, wo das Ufer sumpfig wurde, in ein stattliches Weidendickicht auslief. Auf den knorrigen Wurzeln der Eiche saßen vier kleine Bauernmädchen und hüteten die zahlreichen Gössel. Mehr noch aber wurden diese gehütet von den alten Gänsemüttern, die von unbeschreiblich cholerischer Gemütsart waren und in Jeglichem, der sich ihnen näherte, Mensch oder Tier, einen Todfeind zu wittern schienen, der mit vorgestrecktem Halse und grausigem Zischen empfangen werden mußte. Dabei vergaßen sie aber nicht, von Zeit zu Zeit mit einem Auge wie ein alter Kanzleirat, der über seine Brille hinwegsieht, den Himmel zu mustern. Denn von dort war der wahre Todfeind der goldenen Gänsejugend zu erwarten, der Schrecken aller Schrecken, die fürchterliche Gabelweihe. Die sorglosen Gösselchen aber wuselten vergnüglich durch das grüne grüne Gras und zupften altklug an den Halmen und den jungen Blättern der Butterblumen oder schwammen wie leichte Federbällchen am Teichrand und schnabberten behaglich in den Wasserlinsen. Die vier kleinen Bauernmädchen strickten dabei vier blaue Strümpfe, deren Länge zwar verschieden, denen allen aber gemeinsam war, daß sie zum großen Teile aus fallengelassenen und wieder aufgenommenen Maschen bestanden, und die, wenn sie fertig waren, der berühmten Darstellung jenes bedauernswerten Pferdes glichen, an dessen Lazarusleibe in lieblicher Abwechslung sämtliche Fehler abgebildet sind, die ein nach dieser Richtung hin hochbeanlagtes Pferd nur besitzen kann, und dessen sorglich ausgeführtes Bild so manchem ländlichen Zimmer zur nicht geringen Zierde dient.

Waren sie bei dem krausgestrickten Anfang, so zog sich auch die sonst so klare Stirne kraus, erleichtert blickten sie bei der Wade, die überhaupt den »fetten Happen« eines Strumpfes darstellt, dann aber kam das »Abnehmen« als eine Quelle neuer Leiden und vielfachen Jammers; gelangten sie aber an den Rand des Hackens, wo sich die tiefsten Geheimnisse dieser uralten Kunst wie ein Knäuel bösartigen Gewürms durcheinanderwinden, da gelangten sie auch gewöhnlich an den Rand der Verzweiflung. Dabei vergaßen sie aber ebenfalls nicht, von Zeit zu Zeit den Himmel zu mustern, und sahen sie dort irgendwo in der Ferne einen großen Vogel schweben, so riefen sie inbrünstig den Trutzvers gegen die Weihe, der schon seit alten Zeiten in Gebrauch war:

Wih Wih Wärehex, ick stäk di mit dat blanke Metz,
Dat Blaut sall di runnen in vieruntwintig Stunn'.

Und wenn sich dann die Krähe oder was es sonst war in der Ferne verlor, so glaubten sie, sie hätten den Erbfeind besiegt und vertrieben.

Auf dem Stamm einer alten Kropfweide, die sich schräg über den Teich neigte, saß isern Hinrich, der erfahren war in allerlei Künsten, und hatte alle Hände voll zu tun, denn er betrieb den Instrumentenbau und sorgte für die Frühlingsmusik. Um ihn herum waren kleine flachshaarige Knaben und Mädchen. Einige bliesen schon mit wütender Andacht auf Weidenflöten, die anderen riefen: »Mi ok ein, mi-ok ein!« oder: »Dei krieg ick!« Er schnitt mit seinem »echten Kneis« Stücke ab von schönen glatten Weidenschößlingen und klopfte sie rundum mit dem Messerstiel und murmelte halblaut Beschwörungsverse dazu, bis die Rinde locker war. Dann schnitt er die Flöte zurecht, zog den weißen, glatten Stil heraus, schnitzte das Mundstück daraus und schob es kunstgerecht vorne wieder in das Rindenrohr, hinten hinein aber den übrigen Teil des Stiels als verstellbaren Stimmstock. Dann hatte das Ding plötzlich Leben und eine Stimme, bald hoch, bald tief, je nach des Künstlers Laune, und wieder ein neuer kleiner Musikant blies mit Andacht und Hingebung den Frühling an.

Ein etwas größerer Junge saß in der Nähe, sah isern Hinrich auf die Finger und klopfte und schnitzte und mühte sich und brachte doch keine Flöte zustande, weil er immer etwas verkehrt machte. Endlich hielt er sein letztes Produkt isern Hinrich hin und sagte weinerlich: »Sei fläut't nich un fläut't nich. Woans makst du dat, dat so'n Flaut ok fläut't?«

Isern Hinrich sah natürlich auf den ersten Blick, woran es lag, allein, da er ein Schalk war, sagte er: »Weißt du denn ok den Vars, na den'n dei Fläut kloppt ward?« »Nee,« sagte der Junge. »Ja, wo wist du denn ein farig kriegen, wenn du den Vars nich weißt?« »Ach, segg em mi doch, ick nehm di ok mit in unsen Goren, wenn dei Plummen riep sünd.« »Plummen?« sagte isern Hinrich, »dat's noch'n bäten lang hen! Na, äwer wil du't büst un wenn du dei groten gälen meinst, nich dei Hunnplummen.« Darnach nahm er ein neues Stück Weidenschößling her, hieß den andern das gleiche tun und klopfte es rund herum, indem er dazu die Verse sprach:

»Hup, hup, hup, hup Basterjahn,
Lat dei Fiedel un Fläuten gahn!«

Der andere hatte es bald erfaßt und klopfte und sang seine Verse mit Feuereifer. Dann sorgte isern Hinrich dafür, daß alle Schnitte richtig gemacht wurden, und so brachte der Schüler denn zum ersten Male ein Tonwerkzeug hervor, auf dem man geradezu diabolisch pfeifen konnte. Dies erfreute ihn heftig, und seine Überzeugung von der Wirksamkeit der Beschwörungsformel war auf Felsen gegründet. Er saß den ganzen Tag bis in die Dämmerung hinein und klopfte und murmelte seine Verse und schnitzte und gab seine Ware an Bedürftige ab und kam sich vor wie Jubal, der der Ahnherr gewesen ist aller Geiger und Pfeifer, wie zu lesen steht 1. Mos. 4, 21.

Es war die Zeit, wo viele der uralten Verse wieder lebendig werden, die zu Tausenden und in Hunderten von Veränderungen im Lande umgehen und von Kindermund zu Kindermund durch die Jahrhunderte getragen werden. Flog ein Zitronenfalter vorüber, so ward er unter falschen Vorspiegelungen zum Sitzen aufgefordert:

»Boddervagel sett di,
Näs un Mund blött di!«

Die kleinen Mädchen ließen einen Sonnenkäfer am Finger hochsteigen, damit er von der Spitze abfliege, und richteten die übertriebensten Wünsche an ihn:

»Sünnenwörming fleig in'n Himmel,
Bring mi'n Pott vull Zuckerkringel!«

Andere waren bescheidener und baten nur um gutes Wetter:

»Sünnenworm fleig äwer min Hus,
Bring mi morgen gaud Wäre in't Hus.«

Andere wieder hatten alle Schneckenhäuser gesammelt, deren sie habhaft werden konnten, und lagen um sie herum auf den Knien und suchten sie durch Androhung von grausamen Gewaltsamkeiten zu veranlassen, ihre Häuser zu verlassen:

»Snickemus kumm herut,
Stäk din vierfach Hürn ut!
Wist du's nich utstäken,
Will ick's di afbräken,
Will bin Hus vull Steine smieten,
Sast mi nie werre rute kieken!«

So ward in Steinhusen von der hoffnungsvollen Jugend der Frühling begrüßt, und solches sah und hörte ich, als ich am zweiten Ostertage bei den vier Bauern und in sämtlichen Tagelöhnerhäusern herumging, um mich zu verabschieden. Das geschah zum Teil aus eigenem Antriebe, zum Teil auf den Wunsch meines Vaters. Da dieser im Dorfe sehr beliebt war, so übertrug man auch auf mich einen Teil dieser Zuneigung, und da man allgemein der Ansicht war, ich ginge nun in der Stadt, wo man alles kaufen müßte, einem traurigen Hungerleben entgegen, so zog ich mir bei den wohlbehäbigen Bauern eine vierfache Bewirtung zu, der selbst meine ausgebildete Leistungsfähigkeit kaum gewachsen war. In zwei Häusern wurde ich mit Kaffee und Osterkuchen angefüllt, im dritten buk man mir einen Eierkuchen mit Speck, und im vierten wurde schnell für mich ein Rührei mit Schinken improvisiert. Ablehnung dieser wohlgemeinten Gaben hätte man nur als Hochmut ausgelegt, und so brachte diese strenge Gastfreundschaft mich schließlich in den Zustand einer Anakondaschlange, die ein gemästetes Kalb verschluckt hat, so daß zuletzt in den zahlreichen Tagelöhnerwohnungen, die ich nachher aufsuchte, meine Anteilnahme an menschlichen Schicksalen nur noch gering war.

Adolf Martens und ich hatten den Albatros schon beizeiten wieder in Stand gesetzt, und am nächsten Tage nahmen wir Abschied vom See und von den Stätten unserer Abenteuer auf der Robinsoninsel und in der alten Fischerhütte. Dann segelten wir weit hinaus über die Insel Uhlenberg und kehrten in großem Bogen zurück. Wir suchten Herrn Wohland auf, um uns von ihm zu verabschieden. Er war in seiner kurzen Art sehr freundlich und schenkte jedem zum Andenken ein seltsames altes spanisches Goldstück. Wir kamen dann an dem Kettenhunde Wasser vorbei, und dieser war gegen früher ganz verwandelt, als wisse er genau, welchen Dienst wir seinem Herrn geleistet hätten. Der bösartige Teufel in ihm hatte sich in einen Engel mit der Friedenspalme verwandelt, er stand an seiner Kette, sah wohlwollend auf uns hin und wedelte mit dem Schwanze. Wir durften es wagen, zu ihm zu gehen, ihn zu klopfen und in den Nacken zu kraulen und ihn für einen braven Hund zu erklären. Als wir weitergingen, günste er wehmütig hinter uns her. Mamsell Kallmorgen, die von unserer Ankunft und unserer Absicht schon wußte, suchten wir in dem Heiligtum ihrer Küche auf. Diese konnte man einen Tempel der Sauberkeit nennen, und Mamsell Kallmorgen war die Göttin darin. Die Wände waren ganz mit weiß und blau gemusterten holländischen Kacheln bekleidet, und der Fußboden mit schwarzen und weißen Marmorplatten bedeckt. Die Sonne schien gerade hinein und funkelte auf den blitzenden Messingbeschlägen und Türen des schneeweißen Kachelherdes, malte satte Glanzlichter auf die langen Reihen von Töpfen, die von den Rändern des Rauchfanges herunterhingen, und ließ das Innere der blankgescheuerten Kupferkessel und die übrigen Kupfergeräte auf den Wandborten leuchten wie Sonnenuntergang. Und inmitten all dieses schimmernden Glanzes mit einer riesengroßen, blütenweißen Latzschürze angetan, saß Mamsell Kallmorgen auf einem blitzblank gescheuerten Küchenschemel an einem schneeweißen Küchentisch, und ihr Antlitz war das einzige, das nicht leuchtete in dieser Umgebung, denn Wolken seelischer Umdüsterung trübten seinen Glanz. Und sie erhob sich, streckte uns ihre große, weiche und etwas rötliche Küchenhand entgegen, und ohne daß sie eine Miene verzog, nur daß der gute breite Mund noch ein wenig breiter wurde, rollten ihr große runde Tränen eine hinter der anderen die Wangen herunter und tropften auf den weißen Schürzenlatz, der sich ob ihrem Busen wölbte. Wir ergriffen beide gleichzeitig die dargebotene Hand – Raum bot sie dazu – und machten zugleich jene Sorte von Diener, die den Anschein erweckt, als würde man plötzlich von einem unsichtbaren Ziegenbock ins Genick gestoßen. »Wir wollen Ihnen Adieu sagen, Mamsell Kallmorgen!« sagte Adolf, und ich fügte hinzu: »und sollen Sie grüßen von meinen Eltern und von Adolfs Eltern und von Herrn Simonis.«

Die Tränen hörten plötzlich auf zu rinnen, Mamsell Kallmorgen nahm den Zipfel ihrer weißen Schürze auf, trocknete sich die Augen, und ihr gutes Gesicht fing wieder an sanft zu leuchten, so daß kein Mißton mehr in der schimmernden Küche war.

»Von eure beiden gegenseitigen Eltern, lieben Jungs?« sagte sie. »Wo ich doch bloß man dein lieb Mudding kenn, mein Reinharding. Darüber muß ich mir furchbar freuen un is mich eine große Ehre, un grüßt sie wieder un sagt, ich ließ mir bedanken un das könnt ich ja eigentlich gar nich verlangen. Ach, ich mag ja so furchbar gärn gegrüßt werden, es is mir denn ümmer, as wenn es hier doch nich so gräsig einsam is. Ach ja, einsam, einsam. Un nu wird es noch einsamer, nu geht ihr auch noch weg. Un ich weiß gar nich, ob ihr woll auch mal an mir denkt, wenn ihr weg seid. Na, da stehen ja ßwei Stühl, geht man noch'n Momang bei mich sitzen.«

Wir setzten uns alle drei, und Mamsell Kallmorgen seufzte einen Seufzer, der ihres geräumigen Busens würdig war: »Ach ja!« Dann wandten sich ihre Blicke zu dem weißgescheuerten Tisch, an dem sie saß. Auf dem Tische stand ein Spankorb, und in diesem lagen drei prachtvolle Mettwürste, eine sehr dicke große und zwei, die nur wenig kleiner waren. Mamsell Kallmorgens Züge nahmen den Ausdruck sanften Wohlwollens an, als sie diese Produkte ihrer Kunstfertigkeit ins Auge faßte, und sie sagte dann: »Lieben Jungs – eigentlich müßt ich woll schon junge Herrn ßu euch sagen, aber das geht mich gegen mein Gemüt –, ihr denkt nu woll, das, was da steht, is Mettwurst. Is es auch, aber Mettwurst un Mettwurst is'n Unterschied. Dies is die Mettwurst, wofor ich berühmt bin. Mein frühern Prinßipal, Herr Barner in Plüschow an den Koblankschen See, war ein spaßigen Mann; wenn er so mit einen redte, denn wußt einer nie nich, ob es sein Ernst war, oder ob er sich man bloß 'n Jux mit einen machte, aber einmal hat er doch was ßu mir gesagt, das mußt ich Beifall geben. Er wußt ja, daß ich so gärn mag, wenn mir einer grüßen läßt oder sich sonst an mir erinnert. ›Mamsell Kallmorgen,‹ sagte er mal ßu mir, ›die Erinnerung geht durch 'n Magen. Geben Sie den Leuten man ümmer ganz was Gutes ßu essen, denn vergessen sie Ihnen in'n Läben nich. Wer mal von Ihre Mettwurst gegessen hat, der denkt ewig an Sie.‹ Na, un das war damals doch noch lange nich solche wie diese von Herrn Wohland seine prachtvollen Sweine, die in einem Salon wohnen, wie manch ein Graf nich hat, un alle Tag frische Streu un so schönes Futter un in'n Herbst Eichelmast un Buchmast, so viel sie mögen – ach was das for'n Karnfleisch gibt un für rosa festen Speck, süß as Nußkarn. Un da die Wurst von nach meinen berühmten Reßept, der noch von meine alte Großmutter stammt, un denn den Rauch, die sind mit schieren Knirck (Wacholderstrauch) geräuchert, un solche Wurst gibt's weiter nich in'n ganzen Land, das kann ich woll sagen, denn das sagen alle Leute, die ihr kennen un da was von verstehn.«

Dann gab sie jedem von uns eine der Würste in die Hand und sagte: »Na, kuckt sie euch mal an, wo egal sie gestopft sünd in den allerfeinsten Fettdarm, un denn riecht da mal an; haben sie nich ein himmlischen Geruch?«

Als wir nun jeder seine Wurst beifällig besahen und sie andächtig an die Nase führten und dabei feststellten, daß Eigenlob auch einmal gegen die Regel einen sehr lieblichen Duft nicht in sein Gegenteil zu verwandeln vermag, fuhr sie fort in unserer gegenseitigen Unterhaltung.

»As ich nu von Stina gehört hatt, daß ihr gekommen wärt un Adjö sagen woll't, da bün ich gleich stantepeh auf'n Räucherboden gegangen un hab ßwei von die besten ausgesucht und die schenk ich euch ßu'n Andenkent, daß ihr mir nich vergessen sollt.«

Sie schien dieser vortrefflichen Konserve eine Wirkung zuzuschreiben, wie der Fontana di Trevi in Rom, von der man sagt, daß niemand, der aus ihr getrunken hat, die ewige Stadt je vergessen kann und stets eine unauslöschliche Sehnsucht nach ihr im Herzen behält. Wir aber murmelten unseren tiefgefühlten Dank, und indem jeder seine Wurst wie ein Zepter in der Hand trug und von Zeit zu Zeit pflichtschuldigst daran roch, unterhielten wir uns weiter mit Mamsell Kallmorgen. Diese wendete ihren Blick nun auf die stattliche Wurst, die noch in dem Spankorbe lag, ihre Augenlider gingen schnell auf und nieder, sie schnappte ein paarmal nach Luft und lächelte dann sanft und verschämt. Dann redete sie scheinbar die Wurst an, nicht uns, und sagte: »Un nu muß ich euch noch um einen ganzen großen Gefallen bitten. Nämlich sozusagen, ihr kommt ja nu in die Stadt, wo ein'n Mann wohnt, ein'n großartigen Mann, un ihr habt mir versprochen, daß ihr ihm von mich grüßen wollt un ihm sagen, daß ich sein Andenkent bewahr, in ein furchbar dankbares Gemüt, denn er wäre ja mein Retter von Gott gesandt – du auch Reinharding un du auch Adolf, natürellemang, ihr auch.«

Hier sah sie uns zum ersten Male wieder an und deutete mit einer umfassenden Handbewegung auf die beiden Szepter, die wir andachtsvoll in der Hand hielten, und sagte, indem sie den Spankorb zu sich heranholte und seinen stattlichen Inhalt liebevoll streichelte: »Diese Wurst is mit Liebe gemacht, un da sticht Gemüt ein. Un ich ließe ihn bitten, sie von mich anzunehmen als ein Andenkent, un er möchte ihr verßehren mit Gesundheit, bekommen würd sie ihm schon. Un sie is bloß darum 'n bischen größer als eure, daß ihr besser rauskennen könnt, welches seine is.

»Un nu will ich sie in rotes Papier einwickeln un eure in weißes, denn kann's gar keine Biesternis geben.«

Das tat sie denn auch, legte die drei Liebesgaben wieder in den Korb und sah uns an. »Ach ja!« seufzte sie dann wieder aus der Tiefe ihrer Seele, neue Rührung stieg aus dem Grunde ihres weichen Herzens empor, und die lautlosen Tränenperlen begannen wieder ihren Lauf. Wir betrachteten das als ein Signal zum Aufbruch und erhoben uns. Auch sie stand auf, und während die feuchten Kristallkugeln immer weiter perlten, faßte sie unsere Hände und schluchzte: »Adjö, adjö! Un denkt auch mal an mich. Ümmer, wenn mich das rechte Ohr suust, denn will ich glauben, ihr denkt an mich. Un wenn es alle Tage suust, da will ich mir furchbar freuen. Adjö, adjö!«

Und dann geschah das mit Zagen Erwartete. Erst schloß sie mich in ihre weichen runden Arme, und ihre Tränen flossen über meine Wangen in einen ungeheuren Kuß hinein, dann geschah Adolf dasselbe. Nun sagte sie plötzlich ganz gefaßt: »Ich geh mit un trag euch den Korb bis an die Boot. Wenn es mich auch gräsig is, ich will euch abfahren sehen, ich will euch nachkucken, so lang ich euch noch sehen kann!«

Da sie nun mitging, so konnten wir natürlich nicht wischen, und der frische Wind mußte die Spuren dieses trauervollen Abschiedes von unseren Gesichtern blasen. Als wir in die Jolle stiegen und diese dabei schwankte, schrie sie: »Huch! Igittegittegitt!« und schlug die Hände vors Gesicht, die sie erst wegnahm, als wir ihr schon ein Endchen vom Lande entfernt die letzten Grüße zuriefen. Sie band sich die ungeheure weiße Schürze ab und wehte damit, bis unsere Jolle ihr hinter einem Waldvorsprung aus dem Gesicht kam.


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