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Am nördlichen Ende des Sabinersees und mitten aus den Rohr- und Zypressensümpfen, die sich von dieser Seite her dem See zusenken, erhebt sich zwischen den beiden Flüssen Sabine und Natchez eine schmale Landzunge, die, in demselben Maße, als die beiden Flüsse sich voneinander entfernen, anschwellend, eine sanft aufsteigende Anhöhe bildet, zu deren beiden Seiten die zwei Flüsse ihre klaren und lieblichen Gewässer dem dunkelgrünen Verstecke der Zypressen und des Palmetto und dann dem oberwähnten See zuführen, der selbst wieder dem Busen von Mexiko sich öffnet.
Beinahe scheint es, als ob die Natur in ihrer Laune den Einfall gehabt hätte, die Grenzscheidung der beiden mächtigen Staaten, die der erstgenannte dieser Flüsse bildet, recht augenscheinlich zu setzen. Ein schwarzer, undurchdringlicher Wald bedeckt das rechte Ufer des Sabine, so dicht verwachsen von ungeheuern Dornen, daß selbst der verfolgte Damhirsch oder Sawannenwolf nur selten tiefer einzudringen vermag. Der Grund ist überzogen mit einem undurchdringlichen Teppiche von Schlingpflanzen, unter deren verräterischer Hülle gefleckte und schwarze Klapperschlangen, Kingsheads und Copperheads sich umherwinden, auf wilde Tauben, Spottvögel, Paroquets oder schwarze Eichhörnchen lauernd. Nur selten ist dieses undurchdringliche Dunkel durch eine Lichtung unterbrochen, und wo eine solche sich findet, ist es ein Chaos modernder Baumstämme, entwurzelt durch einen der häufigen Tornados, und übereinander geschichtet, als ob sie zu einem künstlichen Festungswerke bestimmt wären. Diese wilde Üppigkeit erreicht ihren höchsten Grad in der Nähe der Zypressenniederung, nimmt aber auf der andern Seite des Sumpfes einen sanftem Charakter an, und der verirrte Schiffer sieht sich wie durch einen Zauberschlag in eine der entzückendsten Landschaften Mexikos versetzt, wo die hängende Myrte und der prachtvolle Tulpenbaum und die Palma Christi mit der dunkeln Mangrove wechseln, und auf der schwellenden Anhöhe der Kottonbaum und die Sykomore ihre grünlich silbernen Zweige über einen Wiesengrund des zartesten Grüns ausbreiten. Der ganze Wald ist gleich einem ungeheuern Gezelte, mit dem Jasmin und der wilden Rebe durchwirkt, die aufschießt vom Grunde, sich am Stamme aufhängt und zum Gipfel hinanrankt, wieder herabsteigt, um dem nächsten Stamme sich zuzuwenden und so von der Mangrove zur Myrte, von der Magnesie zum Papaw, vom Papaw zum Tulpenbaum kriechend, eine große, endlose Laube bildet. Der breite Gürtel selbst, auf welchem der Natchez seine Gewässer dem See zusendet, bietet dem Auge ein üppig wallendes Feld säuselnder Palmettos dar, das vom Walde ungefähr eine halbe Meile dem Ufer zuläuft, wo die Mangrove und Zypresse ihre trauernden Zweige tief in die Fluten tauchen. Der Winter nähert sich diesem entzückenden Verstecke nie; aber lang anhaltende schwere Regengüsse füllen während der sogenannten Wintermonate Flüsse und Sümpfe und bereiten so ein furchtbares Tagewerk für die heiße mittägliche Sonne. Dann hört man ein Gebrüll aus dem erstickenden Dunstmeere, dessen grauenerregender Ton Tiere und Menschen ferne hält.
Der Herbst jedoch ist eine prachtvolle Jahreszeit in dieser paradiesischen Gegend und besonders jener Spätherbst, der indianische Sommer genannt, der auch im Norden der großen Republik, gleich dem Abschiedslächeln einer holden Schönen, mit Wonne empfangen wird.
Es war einer dieser herrlichen Indianer-Herbstnachmittage. Die Sonne, prachtvoll und golden, so wie sie nur in dieser Gegend und zu dieser Jahreszeit zu sehen, neigte sich bereits hinter die Gipfel der Bäume, welche das westliche Ufer des Natchez umgürten, ihre Strahlen spielten bereits in jene Mannigfaltigkeit von Tinten, die im Westen so sehr bewundert werden, und vom Hellgrünen in die Gold-, von der Purpur- in die Orangefarbe verschmelzen, je nachdem die Strahlen von der Myrte, Magnesie, der Palma Christi oder einem der hundert Prachtgewächse zurückgeworfen werden. Kein Wölkchen war am Himmelszelte zu sehen, balsamische Düfte wehten durch die Luft und füllten die Atmosphäre mit einer zitternd elastischen Wollust, die die Sehnen zum üppigen Leben spannt. Die leise Stille war nur selten durch einen plappernden Paroquet oder einen pfeifenden Spottvogel unterbrochen, oder das Geräusche vom Auffliegen einer Schar Wasservögel, die zu Tausenden am breiten Wasserspiegel des Natchez ihr Wesen trieben und zum Winterzuge ihr Gefieder putzten.
Auf dem schmalen Pfade, den die Natur zwischen dem Walde und dem erwähnten Palmettofelde recht eigentlich selbst gebahnt zu haben schien, sah man eine weibliche Gestalt einem offenen Waldplätzchen zutanzen, das, gebildet durch eine entwurzelte Sykomore, sich am äußersten Ende des Pfades befand. Als sie vor dem Baumstamme angelangt war, lehnte sie sich an einen der Äste, um Atem zu holen. Ihre Hautfarbe verriet indianische Abstammung. Sie war ein gereiftes Mädchen von etwa zwanzig Jahren, mit einem äußerst interessanten, ja edeln Gesichte. Die wohlgeformte Stirn, das schwarze, beinahe schelmische Auge, die fein geschnittenen Lippen, sowie die Umrisse der beweglichen Züge überhaupt, verrieten eine freie, muntere Stimmung, während hinwieder die römische Adlernase ihr einen Anstrich von Entschlossenheit und Selbständigkeit gab, mit denen Haltung und Anzug übereinzustimmen schien.
Dieser Anzug erhob sich weit über das gewöhnliche Kostüm indianischer Mädchen und zeichnete sich ebenso durch Einfachheit als Geschmack aus. Sie trug ein Kleid von Kaliko ohne Ärmel, das ihr bis auf die Knöchel reichte. Ihre Haare, statt lang und straff herabzuhängen, wie es gewöhnlich bei Indianerinnen der Fall ist, waren in einen Knoten geschlungen, den ein eleganter Kamm am Scheitel festhielt. Ein paar goldene Ohrringe und Brasseletts von demselben Metalle, Halbstiefel von Scharlach und der Alligatorhaut vollendeten das zierliche Äußere dieser interessanten Gestalt. Von ihrem Gürtel herab hing ein ziemlich langes Taschenmesser und in ihrer Hand trug sie einen großen, leeren Handkorb. Ihr Gang konnte nicht Gehen, noch Laufen genannt werden; es war ein drolliges Hüpfen oder vielmehr Springen. Immer nach zehn oder zwölf Sätzen hielt sie inne, blickte auf den zurückgelegten Pfad mit Sorglichkeit zurück und hüpfte wieder vorwärts, um wieder auf dieselbe Weise zurückzuschauen.
Keuchend hatte sie nun ihren Standpunkt am Kottonbaume genommen, während ihr Auge spähend auf den Pfad gerichtet war.
»Aber Rosa« – rief sie zuletzt in der indianischen Sprache und mit einem Ausdrucke leichter Ungeduld, während sie wieder zehn oder zwölf Schritte zurücktanzte und sich einem zweiten Mädchen näherte, das die Windungen des erwähnten Pfades nun sichtbar werden ließen.
»Aber Rosa«, wiederholte sie, »wo bleibst du denn?« und mit diesen Worten sprang sie auf das Mädchen zu, sank auf ihre Schenkel, kreuzte sie und umschloß, so sitzend, mit beiden Armen das vor ihr stehende Mädchen mit einer Schnelligkeit und Gelenkigkeit, die den Windungen einer Schlange abgelernt zu sein schienen.
»Ach, die weiße Rose«, klagte sie, »ist nun nicht mehr dieselbe. Sieh, wie das Gras auf dem Pfade wächst, den dein Fuß so oft betreten. Warum ist meine weiße Rose betrübt?«
Die klagende Stimme der Indianerin war so rührend, ihr ganzes Wesen, als sie ihre Arme um ihre Freundin schlang, so flehend, Liebe und Ängstlichkeit waren so unverhohlen in ihrer Miene zu lesen, daß es wirklich zweifelhaft schien, ob das Interesse, das sie an ihr nahm, von näherer Verwandtschaft oder den lieblichen Reizen des Gegenstandes entsprang, den sie nun so rührend liebkoste und der kaum aus dem Kindesalter getreten zu sein schien.
Das herrliche schwarzbraune Auge, das feurig-schmachtend und doch wieder so kindlich zart, von seidenen Augenwimpern beschattet, nun auf der flehenden Indianerin ruhte und wieder aufblickte und in die Ferne schweifte, gleichsam als suche sie etwas Namenloses, das Erbeben des zarten Busens, die Wangen, angehaucht von einer rosigen Tinte, die Form selbst so zart, beinahe Luftgestalt und doch so elastisch, schienen der verjüngten Liebesgöttin anzugehören; wieder jedoch gab der kindlich ruhige Blick, die edel geformte Stirne, der rosige Saum am Munde, der ein paar Korallenlippen eher anzudeuten als zu zeigen schien, und ein gewisses Etwas dieser Gestalt einen Anstrich von so reinem Adel und würdevoller Besonnenheit, der auch den leisesten sinnlichen Gedanken verscheuchte und unwillkürlich mit achtungsvollem Entzücken erfüllte. Ihr dunkelblondes Haar fiel in langen Locken um einen schneeweißen, herrlich geformten Nacken. Ein grünseidenes Kleid umhüllte ihre Glieder und reichte züchtig bis zu einem Paar der kleinsten Füße, die je eine weibliche Gestalt trugen. Sie hatte Scharlachmokassins, wie die Indianerin. Um ihren Hals war ein weißes Seidentuch in einen Knoten geschlungen, und in der Hand trug sie einen Strohhut.
Dieses liebliche Kind war die nämliche Rosa, deren Bekanntschaft wir sieben Jahre zuvor in der Schenke zum Indianischen König gemacht haben. Ihr Blick ruhte liebevoll erwidernd, nun sinnend wehmütig, auf ihrer Freundin; eine Träne drängte sich in ihr Auge, und ihr Haupt neigend, preßte sie einen Kuß auf die Lippen des indianischen Mädchens, indem sie dieses umschlang.
Eine geraume Weile hörte man die beiden Mädchen schluchzen. Endlich sprach die Indianerin in einem klagenden Tone: »Sieh, Canondahs Busen ist offen für Rosas Weh.«
»Meine teure Canondah!« lispelte das schöne Kind, und ein frischer Tränenstrom entstürzte ihrem Auge.
»O, sage deiner Canondah«, bat die Indianerin, »was dein Herz betrübt. Sieh,« sprach sie, und ihre Stimme nahm nun einen melodisch wehmütigen Ton an, »sieh, diese Arme haben die weiße Rosa getragen, als sie noch sehr klein war. Auf diesen Schultern hing sie, als sie über den großen Fluß setzte. Auf diesem Busen ruhte sie gleich einem Wasservogel, der auf dem breiten Spiegel des Natchez sich sonnt. Canondah ist der Spur der weißen Rosa, wie die Hirschmutter ihren Jungen, Tag und Nacht gefolgt, sie vor Schaden zu bewahren; und nun sie groß und zur weißen Rosa der Oconees gewachsen ist, will sie ihr Herz verschließen. O, sage deiner Canondah, was deinen Busen hebt und dich erblassend zittern macht?«
Rosa sah einen Augenblick ihre Freundin an und sprach dann in leisem Tone: »Was mir am Herzen liegt? Weiß es Canondah nicht? Wohl hat die arme Rosa Ursache, bange und ängstlich zu sein!«
»Ist es der große Häuptling der Salzsee, der ihr diesen Schmerz verursacht?«
Rosa erblaßte, sie trat zurück und bedeckte das Gesicht mit ihren beiden Händen, laut schluchzend.
Die Indianerin sprang von der Erde, und ihren Arm um den Leib Rosens geschlungen, zog sie das weinende Mädchen sanft einem Kottonbaume zu, an dessen Stamm eine Rebe sich hinangewunden hatte, die bis zum Gipfel aufsteigend zahlreiche Festons herabsenkte, an denen die Trauben in üppiger Reife hingen.
»Traurig ist der Pfad eines Oconeemädchens«, brach die Indianerin nach einer langen Pause aus, während welcher sie die Trauben einsammelte. »Wenn die Krieger auf die Jagd gehen, verseufzen wir Ärmsten in den Wigwams unsre Tage oder pflügen Korn. O! wäre doch Canondah ein Mann.«
»Und El Sol?« lispelte Rosa mit einem melancholischen Lächeln. »Canondah sollte nicht klagen.«
Die Indianerin hielt ihr mit der einen Hand den Mund und drohte ihr mit der andern. »Ja,« erwiderte sie, »El Sol ist ein großer Häuptling, und Canondah verdankt ihm ihr Leben, und sie will sein Wildbret bereiten und sein Jagdhemde weben und ihm mit leichtem Herzen folgen, und die weiße Rosa wird horchen, was ihre Schwester ihr in das Ohr singen wird. El Sol wird bald im Wigwam der Oconees sein, und dann will ihm Canondah sanft ins Ohr lispeln. Er ist ein großer Häuptling, und der Miko wird seine Rede anhören: er wird die Geschenke, die der Häuptling der Salzsee geschickt, zurücksenden und dann wird die weiße Rosa sein Wigwam nie sehen.«
Die letztere schüttelte den Kopf zweifelhaft. »Kennt Canondah ihren Vater so wenig? Der Sturm mag wohl das schwache Rohr beugen, aber nie den silbernen Stamm des dicken Baumes. Entwurzeln mag er ihn, brechen in seinem Falle, aber nicht beugen. Der Miko«, setzte sie mit einem hoffnungslosen Seufzer hinzu, »sieht den Häuptling der Salzsee mit den Augen eines Kriegers und nicht mit denen eines Mädchens. Er hat ihm Rosa verheißen, und deine arme Schwester« – ein leichter Schauder durchzitterte ihre Gestalt – »wird eher sterben als« –
»Nein, nein,« sprach die Indianerin, »Rosa muß nicht sterben. El Sol liebt Canondah, und der Miko der Oconees weiß wohl, daß er ein größerer Krieger ist, als der Häuptling des Salzsees.«
»Aber horch! was ist das?« rief sie, auf einmal ihr Ohr in der Richtung des Flusses hinhaltend, von dem her ein entferntes Getöse gehört wurde.
»Was ist dieses?« wiederholte Rosa.
»Vielleicht ein Alligator oder ein Bär«; versetzte die Indianerin.
Das Getöse, obgleich schwach, war noch immer zu hören. »Canondah!« rief nun Rosa mit sichtbarer Unruhe; »du willst doch nicht wieder die große Wasserschlange jagen?«
Ihre Worte waren jedoch vergeblich. Die Indianerin brach mit der Schnelligkeit eines Hirsches durch das dichte Rohr und war in wenigen Augenblicken verschwunden. Es blieb Rosa nichts übrig, als ihr durch das krachende Rohr hindurch zu folgen. Während sie sich mühsam durch die zahllosen Stämmchen hindurchwand, hörte sie einen Ruf; es war jedoch nicht die Stimme Canondahs. Ein Fall, wie der eines schweren Körpers ins Wasser, folgte bald darauf, begleitet von einem kurzen heftigen Umherschlagen im Schlamme und dann war alles wieder ruhig.
Rosa hatte sich atemlos durch das dichte Rohr hindurchgedrängt und war nach einem unbeschreiblich mühsamen Laufe endlich am Ufer des Flusses angelangt. Ihr Auge suchte die Indianerin zwischen den Zypressen und Mangroven, die bis in den Fluß hineinstanden.
»Rosa!« rief diese. – »Canondah!« schalt das Mädchen im Tone bitteren Vorwurfs, als erstere auf einen Alligator hinwies, der röchelnd sich noch im Schlamme umherschlug. »Warum tust du mir dies zuleide? Soll Rosa ihre Schwester verlieren, weil sie töricht ein Mann sein und das Jagen nach der Wasserschlange nicht aufgeben will?«
»Sieh doch!« erwiderte die Indianerin, indem sie auf eine tiefe Wunde im Nacken des Alligators wies und das blutige Messer triumphierend schwang, »ich begrub es bis zum Hefte in seinem Halse. Die Tochter des Miko der Oconees weiß die Wasserschlange zu treffen; aber,« fügte sie gleichgültig hinzu, »sie war noch jung und bereits erstarrt, denn das Wasser beginnt kühl zu werden. Canondah ist bloß ein schwaches Mädchen; aber sie könnte den weißen Jüngling lehren, die Wasserschlange zu töten.«
Als sie die letzten Worte sprach, fiel ihr Blick auf einen Zypressenbaum, der wenige Schritte vom Rande des Wassers in der Untiefe stand.
»Der weiße Jüngling?« fragte Rosa.
Die Indianerin legte ihren Zeigefinger bedeutsam auf den Mund, wusch das Blut von Messer und Händen und trat dann unter den Baum. Mit der linken Hand bog sie die herabhängenden Zweige auseinander, während sie ihre flache Rechte vorstreckte, als Friedens- und Freundschaftszeichen, und dann auf das Ufer hinwies, auf das sie langsam, ihren Blick auf die Zypresse gerichtet, zuschritt. Die Zweige öffneten sich jetzt, und ein junger Mann näherte sich vorsichtig dem Rande des Wassers, während seine Hände nach dem zunächststehenden Rohre langten.
»Wie kam dieser hierher?« fragte leise Rosa die Indianerin, ihre Augen auf den Jüngling gerichtet.
Die Indianerin wies schweigend auf ein Boot, das zwischen dem Rohre steckengeblieben und das der Jüngling offenbar hindurchzuzwängen bemüht gewesen war.
Dieser hatte sich bereits dem Ufer bis auf wenige Schritte genähert, als er zu schwanken und dann zu sinken anfing. Canondah kam noch gerade zu rechter Zeit, um seinen Fall ins Wasser zu verhüten. Sie fing ihn in ihren Armen auf und zog ihn dem Ufer zu, an dessen Bank sie ihn lehnte. Die Ursache der Schwäche des Fremdlings zeigte sich nun in dem Blutstrome, der seinem Schenkel entquoll. Der Alligator hatte ihn in der Mitte desselben mit seinem Rachen angefaßt und ihm eine tiefe Wunde beigebracht. Kaum war die Indianerin derselben ansichtig geworden, als sie auf das Ufer an die Seite Rosas sprang und ihr mit den Worten: »Dein weißer Bruder ist von der Wasserschlange gebissen, und du siehst, Canondah hat bloß ihr Kleid an«, das seidene Tuch vom Halse löste, dann mit eben der Schnelle unter den Kräutern auf der Erde herumsuchte, ein Büschel ausriß, eine junge Palma Christi über ihrem Knie brach, und das zarte Fleisch, das unmittelbar unter der Rinde dieses Baumes liegt, ablöste. Hierauf sprang sie hinab in den Fluß an die Seite des Fremdlings, verstopfte zuerst die Wunde mit den weichen Fasern, belegte sie mit den Kräutern und verband sie dann mit dem Halstuche. Das Ganze war das Werk eines Augenblicks, und so schnell und bestimmt waren alle ihre Bewegungen gewesen, daß Rosa mit Erröten sich ihres Busentuches verlustig fand, nachdem dieses bereits um den Schenkel des Fremdlings gewunden war.
»Und nun deine Hände, liebe Schwester«; sprach die Indianerin zu Rosa, die noch immer auf der Uferbank stand, mit ihren Händen den Busen bedeckend, dessen leichtes Beben eine kleine Bewegung zu verraten schien. Die Indianerin war ein wenig ungeduldig geworden. Sie deutete schweigend auf den jungen Mann, faßte ihn selbst um den Leib herum, und, unterstützt von ihrer Freundin, hoben sie ihn beide auf das Ufer.
So schnell und bestimmt alle Schritte der Indianerin bisher gewesen, so sorgsam und ernst schien sie nun auf einmal zu werden. Sie hatte kaum den Jüngling ans Ufer gebracht, als sie nochmals in den Fluß hinabstieg und das Boot sorgfältig untersuchte, dann kopfschüttelnd zu dem Fremdling trat, einen durchdringenden Blick auf ihn warf und wieder dem Boote zurannte. Plötzlich wandte sie sich zu Rosa und flüsterte dieser einige Worte zu, die eine Totenblässe über die Wangen des Mädchens brachten. Auch diese näherte sich dem Jünglinge. Ihr Blick hing forschend an seinen leidenden Zügen und seinen gebrochenen Augen, die den höchsten Grad von Erschöpfung verrieten. Er schien seiner Auflösung nahe zu sein. Seine erdfahle Gesichtsfarbe, seine eingefallenen Wangen und Augen verrieten vielleicht wochenlange Entbehrungen. Er glich mehr einer von den Wogen ans Meeresufer geworfenen Leiche, als einem Lebenden. Seine Haare waren vom Seewasser gebleicht, hingen in Flechten um Stirne und Nacken, die Farbe seiner Kleider war kaum mehr zu erkennen. Übrigens schien er noch sehr jung; seine Züge, so viel sich entnehmen ließ, waren nichts weniger als unangenehm und ungeachtet der äußersten Erschöpfung noch immer anziehend.
Sie hatten sein Haupt an den Stamm einer Zypresse gelehnt, durch deren Zweige die Strahlen der Sonne auf seinem Gesichte spielten, seine leidenden Züge gleichsam verklärend.
»Unser weißer Bruder«, sprach die Indianerin im leisen, beinahe scheuen Tone, »ist im Kanu des Häuptlings der Salzsee angekommen; aber er ist keiner seiner Krieger.«
»Er ist vielleicht, was sie einen Matrosen nennen«, bemerkte Rosa.
»Nein«; sprach die Indianerin im bestimmten Tone. »Sieh nur einmal seine Hände, sie sind kaum stärker als die meinigen, und zart, wie die eines Mädchens; das Salzwasser hat sie bloß gelb gefärbt.«
»Vielleicht ist er ein Bote«, wisperte Rosa, auf eine Weise, die jedoch Zweifel auszudrücken schien.
Die Indianerin schüttelte wieder den Kopf. »Sieh, er kommt von der Salzsee durch den großen See, der das Wasser unsers Stromes trinkt; aber er weiß nicht einmal ein Boot durch das dicke Gras zu bringen. Er wähnte, die große Wasserschlange sei ein fauler Baum, und trat auf sie, und sie begrub ihre Zähne in seinem Fleische. Dein weißer Bruder ist dem Häuptling der Salzsee entflohen.« Sie sprach diese Worte mit einer Bestimmtheit und Zuversicht, als wenn sie den Fremdling auf seinem abenteuerlichen Zug begleitet hätte.
»Und würde Canondah zugeben, daß ihr Bruder in der kalten Nacht erstarre, oder daß das Fieber ihm sein Leben raube, ihm, der ihr und den Ihrigen nie etwas zuleide getan hat?«
»Meine Schwester spricht wie eine Weiße, Canondah ist aber die Tochter des Miko«; entgegnete die Indianerin ein bißchen trotzig; doch erfaßte sie Rosas Hand, ihre Züge hellten sich auf, und sie fügte im leisern Tone hinzu: »Canondah will die Stimme ihrer Schwester zugunsten ihres weißen Bruders hören. Wir müssen ihn aber in den hohlen Baum bringen.«
Beide Mädchen hoben nun den Jüngling, und jede einen seiner Arme erfassend, schleppten sie ihn durch das dichte Rohr. Während die voranschreitende Rosa ihn durch das Palmetto hindurchzuziehen versuchte, bemühte sich die Indianerin, vorzüglich seinen Fall zu verhüten. Es war ein langsamer und mühsamer Zug. Blutverlust und frühere Erschöpfung hatten die Kräfte des jungen Menschen so ganz aufgerieben, daß sie ihn kaum mit Anstrengung aller ihrer Kräfte aufrechterhalten konnten.
»Rosa!« schrie die Indianerin plötzlich, »denke an die Squaws, an den Miko; die Spuren werden noch nach Monden zu sehen sein.«
Rosa hätte wohl mit ihrer ätherischen Gestalt durch die zahllosen dicht aneinandergereihten Stämmchen dringen können; allein der seitwärts nachgeschleppte Fremdling brach mit jedem Schritte einige Rohre. Sie waren noch nicht zur Hälfte des Palmettofeldes gelangt, als seine gänzliche Auflösung nahe schien. Alle Kraft war von ihm gewichen, und beide Mädchen vermochten nur mit äußerster Anstrengung, ihn den Rest des Feldes hindurchzuschleppen.
Keuchend und stöhnend waren sie endlich am Rande angelangt, Rosa war im Innern niedergeschlagen, unfähig sich zu erheben; die Indianerin hatte noch so viel Kraft, ihre Last aus dem Palmetto zu schleppen, und sank dann gleichfalls erschöpft auf den Rasen hin.
Die letzten Strahlen der Sonne vergoldeten noch die Gipfel der höheren Bäume, die untern Zweige schwanden bereits in das mattere Zwielicht, als Rosa zur Indianerin trat und sie mit den Worten: »Die Sonne steht tief«, aus ihrer Bewußtlosigkeit aufregte. Die Indianerin sprang auf, und beide Mädchen trippelten tiefer in den Wald, da wo der Boden sich gegen den Sabine zu senkt. Vor einem ungeheuern Kottonbaume hielten sie. Mehrere riesenstämmige Weinreben, in deren gewaltiger Umarmung dieser kolossale Stamm abgestorben war, umwanden noch immer mit ihren glänzendroten Ranken den herrlichen Koloß, dessen Inneres mit seinen modernden Zacken, ausgehöhlt vom Zahne der Zeit, in tausend phantastischen Gestalten sich darstellte, und, einer gotischen Kapelle nicht unähnlich, so geräumig war, daß zwanzig Menschen darin Platz fanden. Die Sorgfalt, mit der diese Höhle gereinigt war, und eine nachbarliche Salzquelle, verrieten, daß sie den zur Nachtzeit jagenden Indianern als Anstandspunkt diente. Canondah näherte sich vorsichtig der Öffnung, trat behutsam ins Innere und kehrte mit der Nachricht zurück, daß es leer sei. Beide Mädchen eilten nun einer Zypresse zu, von deren Ästen sie ein Bündel spanischen Mooses rissen, und das sie in der Höhle zum weichen Lager bereiteten. Die Indianerin rollte noch mehrere morsche Blöcke vor den Eingang, wahrscheinlich um ihn gegen den nächtlichen Besuch von Bären oder Panthern zu verwahren.
»Gut«, sagte sie, als diese Vorbereitungen beendigt waren, ihren Arm um Rosa schlingend und dem Fremden zueilend. Die Indianerin, ohne auch nur einen Augenblick zu verweilen, schob ihre Linke unter den beiden Schenkeln des Verwundeten hindurch und winkte Rosen, ihre Hand zu fassen, während ihre Rechte dem Verwundeten zur Lehne diente. Rosa errötete.
»Scheut sich die weiße Rose, ihren Bruder zu berühren, um dessen Leben sie ja eben gebeten?« sprach sie mit einem sanften Vorwurfe.
Das Mädchen, statt aller Antwort, faßte die Hand der Indianerin, und die beiden hoben ihre Bürde auf die soeben angezeigte Weise mit verschlungenen Händen und trugen sie der Baumhöhle zu, in welcher sie sie niederließen. Die Indianerin bog sich über ihn herab und wisperte: »Wenn die Erde in Dunkel gehüllt ist, wird Canondah zu ihrem Bruder kommen, und dann wird sie Balsam in seine Wunden gießen.«
Ihre Worte jedoch waren, wie zu erwarten stand, ungehört verschollen, und, ein leises Atmen ausgenommen, gab der Fremdling kaum mehr ein Zeichen des Lebens. Noch waren die Baumgipfel in glänzendem Purpur gerötet, während über die Tiefen das Dunkel heranzog, als die beiden Mädchen wieder an den Ort kamen, wo sie die Trauben eingesammelt hatten. Hastig ihren Vorrat aufraffend, schlugen sie den engen Pfad ein, den sie gekommen waren und auf welchem wir ihnen nun vorzueilen gedenken, um unsere Leser in eine neue Welt einzuführen.