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Fünftes Kapitel.

Seit dem schweren Schlage, der die Dame von Avenel getroffen hatte, hatte sich der Stand ihrer Gesundheit allmählich sehr verschlechtert, und es nahm mehr und mehr den Anschein, als seien seit dem Heimgange ihres Gemahls nicht erst wenige Jahre, sondern ein halbes Menschenalter hingegangen. Es kam ihr die Elastizität der Glieder, die Hautfarbe, die Frische abhanden und sie bekam ein bleiches, müdes, erschöpftes Aussehen, Schmerzen schien sie nicht zu leiden, aber jedem, der sie sah, mußte es auffallen, wie schnell sich ihr Kräfteverfall vollzog. Endlich entschwand auch das Rot von ihren Lippen, das Feuer aus ihren Augen, aber noch immer bezeigte sie kein Verlangen, einen Priester bei sich zu sehen. Frau Glendinning konnte sich jedoch in ihrem frommen Eifer nicht enthalten, einen Punkt zur Sprache zu bringen, der ihr für das ewige Seelenheil von hohem Belang dünkte, und Alice von Avenel nahm die Erinnerung mit freundlichem Dank hin.

»Sollte sich ein frommer Mann bereit finden lassen, den mühsamen Weg hierher zu wandeln,« sagte sie zu Frau Glendinning, »so wäre er mir freilich willkommen, denn die Gebete und Ermahnungen der Frommen sind ja doch immer von Segen.«

Zwar war diese gleichgültige Antwort gar nicht nach dem Sinne der Fragestellerin, aber ihre schwärmerische Begeisterung bestimmte sie, den Mangel an Eifer, den die Dame von Avenel an den Tag legte, dadurch wett zu machen, daß sie selbst einen geistlichen Beistand zur Stelle schaffte. Zu diesem Zweck wurde der Schäfer Martin auf dem alten Klepper Shagram, der noch immer das Gnadenfutter bekam, nach dem Kloster geschickt, mit dem Auftrage, einen geistlichen Herrn mit herüber zu bringen, der der Witwe des Ritters von Avenel die letzten Tröstungen erteilen könne.

Als der Sakristan den Klosterabt benachrichtigte, daß die Gemahlin des unglücklichen Ritters von Avenel in der Burg Glendearg krank darniederliege und nach dem Trost eines Beichtvaters begehre, verhielt sich der Abt eine Weile lang schweigend.

»Wir gedenken Walters von Avenel als eines wackern und tapfern Ritters, der von den Männern aus dem Süden seiner Güter beraubt und getötet wurde. ... Aber kann die Dame den geistlichen Trost nicht hier im Kloster nehmen? Der Weg nach Glendearg ist weit und beschwerlich.«

»Die Dame ist schwer krank, frommer Vater,« erwiderte der Sakristan, »und außer stande, den Weg hierher zu machen.«

»Wirklich? Ei, nun, dann muß sich freilich einer unsrer Brüder auf den Weg zu ihr machen. ...Weißt Du nicht, ob sie von dem andern Avenel, ihrem Schwager, eine Art Leibgeding erhalten hat?«

»Das ist sehr karg bemessen,« erwiderte der Sakristan, »seit ihres Mannes Tode hat sie in Glendearg gewohnt und fast ausschließlich von der Milde einer Witwe, der Frau Elspath Glendinning, das Leben gefristet.«

»Haha!« lachte der Abt, »Du kennst ja alle Witwen des Sprengels, haha!« und er schüttelte über den derben Spaß den stattlichen Schmerbauch.

Der Sakristan wiederholte das Lachen des Abtes in jenem Tonfall, der sich dem Untergebenen gegenüber dem Vorgesetzten schickt, und setzte dann mit erheucheltem Seufzer und schelmischem Augenblinzeln hinzu: »Es ist doch unsre Pflicht, hochwürdiger Vater, den Witwen in ihrer Not beizustehen und ihre Schmerzen zu lindern.«

Er stimmte jedoch das Lachen, mit dem er diese Rede zu schließen gedachte, wesentlich herunter, weil der Abt dem Ausspruch seine Billigung noch nicht gezollt hatte.

»Hahaha!« lachte dann wieder der Abt. »Aber jetzt Spaß beiseite! Zieh Deinen Reitkittel an, Pater Philipp, und begib Dich auf den Weg, der Dame von Avenel die Beichte abzunehmen.«

»Aber ...« warf der Sakristan ein.

»Komm mir mit keinem Aber,« fiel der Abt ein. »Wenn und Aber ziemen sich nicht zwischen Abt und Mönch. Die Bande des Gehorsams, Pater Philipp, dürfen sich nicht lockern, denn die Macht der Ketzerei will wachsen gleich einem Schneeball im Rollen. Das Volk begehrt Beichte und Predigt von den Benediktinern sowohl als von den Bettelmönchen, und wir dürfen nicht feiern im Weinberge des Herrn, wenn wir auch unter der Last der Arbeit erliegen.«

»Und wenn es der heiligen Stiftung so wenig nützt ...« warf der Sakristan wieder ein.

»Schön, Pater Philipp!« sagte der Abt; »aber weißt Du nicht, daß es wohlgetan ist, Reue zu verhüten? ... Dieser Julian von Avenel führt ein leichtsinniges Lotterleben, und wenn wir der Witwe seines Bruders den geistlichen Zuspruch verweigern wollten, möchte es ihm wohl beikommen, einen Streifzug in unser Gebiet zu unternehmen, und am Ende wüßten wir gar nicht, wo wir uns verstecken sollten. Zudem ist es unsre Pflicht dem alten Geschlecht gegenüber, das seinerzeit zu den eifrigen Wohltätern unsres Stiftes gehört hat. Drum brich augenblicklich auf, lieber Bruder in Christo, reite Tag und Nacht, und zeige aller Welt, wie angelegen es sich der Abt Bonifazius sein läßt, den ihm obliegenden geistlichen Pflichten gerecht zu werden, und wie redlich ihn seine frommen Brüder darin unterstützen. Keine Mühsal hält sie auf, denn das Tal ist mehrere Stunden lang; kein Schrecken hemmt sie in ihrem Berufe, denn es sollen in den Gründen und Schluchten dort böse Geister ihr Wesen treiben; nichts erschüttert sie auf den Wegen ihres seelsorgerischen Amtes, zur Beschämung verleumderischer Ketzer und zur Erbauung und Stärkung aller getreuen und gläubigen Kinder der katholischen Kirche. Es soll mich wunder nehmen, was Pater Eustachius dazu sagen wird.«

Außer Atem geraten durch diese Schilderung der Gefahren seiner Kirche und des Ruhmes seiner Kirche, begab sich Abt Bonifazius in das Refektorium, um seinen Morgenimbiß, einzunehmen, und der Sakristan begleitete, mehr unwillig als willig, den greisen Schäfer Martin. Was jedoch auf dem Ritte des Mönchs und des Schäfers nach Glendearg die meiste Mühe verursachte, war die Schwierigkeit, die Gangart des wohlgefütterten Maultiers, das der Mönch ritt, auf das langsamere Tempo des abgemagerten Kleppers herabzuschwächen, den der greise Schäfer Martin ritt. Aber sie kamen in Zeit von etwa drei Stunden nach der Feste von Glendearg, und hier weilte Pater Philipp eine reichliche Stunde an geheimer Unterhaltung mit der ehemaligen Schloßherrin von Avenel.

In unmutiger Stimmung trat er nach kurzer Zeit wieder ein und sank in trübes Sinnen. Frau Glendinning hatte für den frommen Gast allerlei Erfrischungen aufgetragen und betrachtete ihn mit großer Unruhe. Es ängstigte sie, daß er einen so hohen Grad von Verlegenheit zeigte, denn sie meinte in seinen Zügen zu lesen, daß er weit eher aussah, wie wenn er das Bekenntnis eines grausigen Verbrechens vernommen hätte, als die Beichte eines dem Tode nahenden einfachen Durchschnittssünders, der sein Herz für den Eingang in den Himmel erleichtern will.

Nach langem Zaudern konnte sie schließlich nicht umhin, an den frommen Mann eine Frage zu richten. Sie müsse wohl glauben, daß der Dame von Avenel die Beichte nicht leicht geworden sei, aber sie habe nun ganze fünf Jahre mit ihr zusammen gehaust und könne nichts anders sagen, als daß die Dame sich in dieser Zeit als eine durchaus brave und fromme Frau erwiesen habe, über deren Wandel sich nie die geringste Klage habe führen lassen.

»Weib!« erwiderte der Mönch mit strenger Stimme, »was hilft es, ein Gefäß nach außen hin rein zu halten, wenn es doch im Innern mit Ketzerschmutz besudelt ist!«

»Unsre Tische mögen ja so sauber nicht sein, wie Eure Ehrwürden es gern sehen möchten,« erwiderte die Frau, »die nur halb den Sinn seiner Worte erfaßte und sich bemühte, den Staub, auf den sie seinen Tadel bezog, mit der Schürze abzuwischen.

»Ihr seid im großen Irrtum, Frau Elspath,« erwiderte der Mönch, »Eure Schüsseln sind so rein, wie es bei Holzgerät und Zinnkrügen nur eben sein kann. Die Unsauberkeit, von der ich rede, ist die ketzerische Seuche, die sich mit jedem Tag und jeder Stunde mehr in unsre heilige schottische Kirche einschleicht, die wie der Krebs sich weiter frißt, den ganzen Körper zu einer fauligen Masse verheerend, von dem er ein Glied befallen hat.«

»Heilige Gottesmutter!« schrie Frau Glendinning, »mit einer verketzerten Frau hätt ich Haus gehalten?«

»Nicht doch, nicht doch,« versetzte der Mönch, »solchen Ausspruch über die beklagenswerte Dame fällen zu wollen, wäre ungerecht von mir, aber ich wünschte, es sei mir vergönnt, sie von ketzerischen Ideen frei zu machen. Ach, sie fliegen ja umher wie die Sommerfäden und verschleiern den Blick des Frommen, sie schleichen herum wie Seuchen, und stecken die schönsten und besten Schafe einer Herde an. Das kann man sehen an dieser Dame, die erhaben ist an Verstand, nicht minder als an weltlichem Range.«

»Und sie kann lesen und schreiben, fast hätt ich gesagt, ebenso gut, wie Euer Ehrwürden,« erwiderte Frau Glendinning.

»An wen schreibt sie?« fragte der Mönch eifrig, »und was liest sie?«

»Daß ich sie jemals schreiben gesehen hätt, nein, das kann ich nicht sagen,« erwiderte die Frau, »aber ihre Magd, – sie dient nur im Hause – die sagt, daß ihre Herrin auch schreiben könne, und gelesen, uns vorgelesen hat sie oft recht schöne Sachen und kluge Worte aus einem dicken, schwarzen Buche, das durch eiserne Schließen zusammengehalten wird.«

»Zeigt mir das Buch,« rief der Mönch hastig, »bei Eurer Verbindlichkeit als getreue Vasallin der Kirche, bei Eurem Glauben als rechtgläubige Christin – zeigt es mir auf der Stelle – ich muß es sehen, ich muß es sehen!«

Betroffen über die Art, wie der Beichtvater ihre Aeußerung aufgenommen hatte, schwankte Frau Glendinning eine Weile hin und her. Zudem war sie der Meinung, daß eine so brave Frau, wie die Dame von Avenel, die so fromme Andachten hielt, sich mit keinem Buche befassen werde, das Böses oder Versuchung zum Bösen enthielte. Allein die heftige Weise des Mönches, wie er nach dem Buche begehrte, seine Ausdrücke, die sich wie Drohungen anhörten, brachten sie endlich zu dem Entschlusse, das Buch herbeizuschaffen. Es war leichte Mühe, es der Dame wegzunehmen, denn sie lag jetzt, erschöpft von der langen Unterredung mit dem Beichtvater, fast bewußtlos auf ihrem Bett, und in das kleine, runde Turmkämmerchen, wo sie das Buch mit ihren andern Habseligkeiten zu verwahren pflegte, konnte man durch eine Nebentür gelangen. Zwar fühlte Frau Elspath noch immer Gewissensbeklemmungen, daß sie sich unrechterweise an fremdem Besitztum vergreife, aber der Nachdruck, mit welchem der geistliche Obere, der ja auch ihr weltlicher Grundherr war, das Buch von ihr gefordert hatte, und, wenn ich es auch ungern hier verzeichne, jene ihr als Evastochter angeborne Neugierde wirkten endlich entscheidend auf sie, und sie begab sich in das kleine Turmgemach, das Buch zu holen. ...

Kaum hatte sie es, mit einer Empfindung halb Reue, halb Wißbegier, dem Mönch in die Hand gegeben, kaum hatte es dieser aufgeschlagen, und das Titelblatt gelesen, als er entsetzt ausrief:

»Beim heiligen Orden, dem ich angehöre, es ist so, wie ich ahnte! Mein Maultier! mein Maultier! Hier mag ich nicht länger weilen. Du hast wohl daran getan, das gefährliche Buch mir zu überantworten.«

»Ist es denn ein Teufels- oder gar Hexenwerk?« fragte die Frau, bis auf den Tod erschrocken.

»Bewahre, bewahre!« antwortete der Mönch, »es ist die Heilige Schrift, aber übertragen in die Landessprache, und darum taugt es, nach dem Ausspruch der heiligen katholischen Kirche nicht in die Hände der Laien.«

»Aber die Heilige Schrift ist doch zu unser aller Seligkeit der Menschheit offenbart worden,« wandte Frau Elspath ein; »frommer Vater, belehrt mich eines Bessern in meiner Unwissenheit! Mangel an Verstand kann keine Todsünde sein, und fürwahr! ich wäre selbst in meinem einfältigen Sinne voller Freude, wär ich im stande, in der Heiligen Schrift zu lesen.«

»Das glaub ich schon, daß Dir das recht sei,« erwiderte der Mönch, »ganz so verhielt es sich auch mit unsrer Mutter Eva, als sie Gutes und Böses erkennen wollte. Dadurch kam die Sünde in die Welt, und die Sünde brachte den Tod in die Welt.«

»Ja, ja, so ists, so ists,« pflichtete die Frau dem Mönche bei, »ach, hätte sie sich doch an den Rat des heiligen Petrus und Paulus gehalten!«

»Hätte sie die Gebote des Himmels gehalten,« sagte der Mönch, »der ihr unter Bedingungen, wie sie am besten mit seinem heiligen Willen übereinstimmen, Dasein, Leben und Glück verlieh, dann, Frau Elspath, wär sie heut besser dran! Ich sage Dir, Weib, das Wort tötet! das ist der Buchstab allein, wenn er gelesen wird mit Augen, die nicht erleuchtet, mit Lippen, die nicht heilig sind! das Wort ist gleich einer starken Arznei, die ein Schwerkranker auf ärztliche Vorschrift nimmt. Ein solcher Kranker wird genesen und gedeihen; wer aber Arznei nehmen und brauchen will nach eignem Ermessen und Gutdünken, der wird durch sich selbst umkommen.«

»Gewiß, Euer Ehrwürden, gewiß!« pflichtete die Frau bei, »wer wüßte es besser als Ihr!«

»Nicht ich weiß es am besten,« erwiderte Pater Philipp mit aller Demut, die er mit seiner Würde als Sakristan des Sankt Marien-Klosters für vereinbar hielt, »nicht ich, sondern der heilige Vater der Christenheit und unser heiliger Vater, der hohe Abt von Sankt Marien, die wissen es besser! Ich, der arme Sakristan, kann nur wiedersagen, was ich von den Lippen meiner Obern vernommen habe. Aber, gute Frau, das nehmet für gewiß an! das Wort, das bloße Wort tötet! Daher sendet die Kirche ihre Diener, daß sie es der gläubigen Gemeinde erläutern und auslegen; und solches künde nicht sowohl ich, meine geliebten Brüder – meine geliebte Schwester, wollte ich sagen – denn er war unwillkürlich in den gewohnten Schlendrian seiner Predigt geraten – solches künde nicht sowohl ich, sondern solches kündet durch meinen Mund der heilige Orden der Benediktiner, verbessert nach den Regeln Bernhards von Clairvaux, daher Cistercienser genannt, welcher Orden, geliebte Brüder – geliebte Schwester in Christo, wollte ich sagen – als heiliger Diener unsrer Frau der Gegend zum höchsten Ruhme gereicht, da er, wie ich sagen muß, wenn auch als unwürdiger Bruder, mehr Heilige, mehr Bischöfe, mehr Päpste der Welt geschenkt hat – ach, daß wir dies mit Dank gegen unsre Fürsprecher erkennen möchten! – als irgend welche andre heilige Station Schottlands. Und deswegen – aber ich sehe, Martin hat mein Maultier gezäumt. So will ich, geliebte Schwester, denn weiter ziehen und Abschied von Euch nehmen mit brüderlichem Kuß, dessen sich keiner von uns beiden zu schämen brauchet, und will meinen Rückweg antreten, ehe es Nacht wird, denn das Tal ist in bösem Leumund, weil Höllengeister dort ihr schlimmes Wesen treiben sollen. Zudem möcht ich nicht allzu spät an die Brücke kommen, weil ich sonst genötigt sein könnte, den Bach, der, wie ich wahrgenommen habe, angeschwollen ist, zu durchwaten.«

So verabschiedete sich Pater Philipp von Frau Elspath Glendinning, die noch ganz betäubt stand von dem Sermon, den er ihr gehalten hatte, aber von schwerer Unruhe geplagt war über das Buch, das sie, wie ihr Gewissen ihr vorhielt, nicht hätte in fremde Hände überantworten sollen.

Trotz der Eile, die den Pater trieb, zu den Fleischtöpfen Aegyptens zurückzugelangen, denn an die magre Kost, die ihm in Glendearg vorgesetzt worden war, war er nicht gewöhnt, – trotz dem eifrigen Wunsche, der ihn beseelte, seinem Abte den Beweis dafür zu erbringen, daß jenes gefürchtete Werk einer Bibel in englischer Sprache seinen Weg nach Schottland hinein gefunden hätte, und trotz der Angst, die ihn beherrschte, vor den Spukgeistern im Talgrunde, und die ihn zur Eile förmlich jagte, war doch zufolge der unsäglichen Hindernisse, die der Weg bereitete, wie auch zufolge der geringen Uebung, die der Sakristan als Reiter besaß, so viel Zeit über seinem Ritt durch das Tal hingegangen, daß die Dämmerung bereits hereinbrach, ehe er den Fuß an die jenseitige Grenze des Tales setzte.

Es war im wahren Sinne des Wortes ein schauerlicher Ritt gewesen. Auf beiden Seiten rückten die Bergwände so dicht aneinander, daß bei jeder Wendung, die der Fluß machte, der Schatten des westlichen Ufers das östliche in dichte Nacht hüllte. Aus jedem Dickicht raschelte und rauschte es von Blätterlaub, und die Felsklippen und Bergspitzen drohten dem Mönch grausiger und schroffer, als es ihm bei Tageslicht und in der Gemeinschaft mit dem Schäfer Martin gedäucht hatte. Pater Philipp war darum von Herzen froh, als er das enge Tal hinter sich hatte und in die offne Ebene des Tweed hinaustrat, der in stolzem Laufe bald einen Landsee bildet, bald mit einer Würde seine Fluten dahinführt, wie sie keinem Strome Schottlands mehr eigentümlich ist. Denn alle andern trocknen zur Sommerszeit in der Regel aus, der Tweed führt aber, mit nur ganz seltnen Ausnahmen, sein Bett voll Wasser und läßt die Schilfdickichte nicht aufkommen, die die Ufer manch andrer berühmter Flüsse Schottlands verunzieren.

Da der Mönch, wie alle seine Zeitgenossen, für diese großartigen Schönheiten keinen Sinn und kein Verständnis besaß, und zufolgedessen um so stärkern Eindruck von der grausigen Natur des Tales bekommen mußte, war es kein Wunder, daß er sich wie von einem Alp erlöst vorkam, als er ein andres Bild vor den Augen hatte. Er zog den Zügel an und ließ sein Maultier im gewöhnlichen Paßgange laufen. Auch dem Tiere schien es behaglicher zu werden, denn es fiel von selbst aus dem unruhigen Tempo heraus, das es auf den unwegsamen Bergpfaden hatte einhalten müssen. Der Mönch wischte sich wiederholt den Schweiß von der Stirn, den Unruhe und Anstrengung dort erzeugt hatten, und gemächlich schaute er in das Licht des vollen hellen Mondes, der eben aufgegangen war und sein Licht mit dem Abendrot vermischte. Ueber Feld und Wald, über Dorf und Burg ergoß er sein mildes Licht, und rückte vor allem das große Abteikloster in volle Beleuchtung.

Aber das Schlimmste für den Mönch bei diesem herrlichen Naturbilde war, daß das Kloster drüben auf der andern Flußseite lag, und daß damals von den vielen schönen Brücken, die sich heute über den Fluß schwingen, noch keine einzige stand. Dagegen stand dort freilich eine Brücke, die jetzt nicht mehr dort sichtbar ist, obgleich ihre Trümmer noch immer von Neugierigen untersucht werden.

Es war ein wunderlicher Bau. Dort, wo der Fluß die geringste Breite zu haben schien, war hüben und drüben ein starkes Gemäuer vorgeschoben worden. Auf einem Felsen in der Strommitte war ein weiteres Gemäuer aufgeführt worden, das wie ein Brückenpfeiler gebaut war, der mit einer Ecke in den Fluß vorspringt. Dieses Mauerwerk stieg so weit in gedrungnem Bau empor, bis es auf gleicher Höhe mit den Mauern hüben und drüben stand. Von da ab begann es in Form eines Turmes aufzuragen. Dessen untres Geschoß bildete bloß einen Torweg durch den Bau, an dessen beiden Enden je eine Zugbrücke mit Gegengewichten hing, die, wenn sie heruntergelassen war, den Brückenpfeiler mit dem jenseitigen Rande verband, auf welchem das Ende der Zugbrücke ruhte. Waren beide Zugbrücken heruntergelassen, so befand sich die Brücke in vollkommnem Stande.

Der Brückenmeister, der bei einem der benachbarten Barone in Dienst stand, bewohnte mit seinen Hausgenossen das zweite und dritte Geschoß des Turmes, der, sobald die beiden Zugbrücken aufgezogen waren, eine Inselfestung in der Strommitte bildete. Der Brückenmeister war berechtigt, von jedem Passanten einen kleinen Brückenzoll zu erheben, um dessen Entrichtung es oft zu Zank und Streit zwischen ihm und den Passanten kam. Daß der Brückner sich bei solchen Vorkommnissen immer im Vorteil befand, war klar, da er den Wanderer, wie es ihm paßte, entweder auf der andern Seite stehen oder bis zur Weghälfte passieren lassen und dann in seinem Turme festhalten konnte, bis es ihm gefiel, das Brückengeld zu entrichten.

Am allerhäufigsten aber kam es zu Hader wegen dieses Brückengeldes zwischen dem Brückner und den Mönchen des Sankt Marien-Klosters. Die frommen Brüder bettelten so lange, bis sie endlich das Recht freier Passage für sich erwirkt hatten. Darüber war nun begreiflicherweise der Brückner erbost; aber ganz außer sich geriet er darüber, daß die Mönche nun auch noch für die zahlreichen Pilger, die nach dem Heiligtume wallfahrteten, die gleiche Vergünstigung durchzusetzen versuchten, und erklärte kurz und bündig, sich darauf nun und nimmer einzulassen. In dieser Halsstarrigkeit wurde er durch den Baron, in dessen Diensten er stand, weidlich unterstützt. Die Erbitterung wuchs auf beiden Seiten zu einer Höhe an, daß der Klosterabt auf diese Weigerung des Brückners mit dem Kirchenbanne drohte, und wenn sich auch der Brückner nicht in der Lage befand, mit einer gleichen oder ähnlichen Schurigelei großen Stils hierauf zu antworten, so ließ er hinfort wenigstens jeden Mönch, der die Brücke passieren mußte, durch eine Art Fegfeuer wandern, ehe er sich dazu bereit finden ließ, die Passage zu gewähren. Diese Beschwerde wäre für das Kloster und seine Brüder noch weit erheblicher gewesen, wenn der Fluß nicht bei niedrigem Wasserstande für Menschen und Pferde durchwatbar gewesen wäre.

Es war, wie schon bemerkt, eine herrliche Vollmondnacht, als Pater Philipp an die Brücke gelangte, deren seltsame Einrichtung einen richtigen Begriff von der Unsicherheit jener Zeit gibt. Der Strom war nicht ausgetreten, aber er stand höher als sonst, wenn es auch noch kein Hochwasserstand war, und der Mönch verspürte keine sonderliche Neigung, hindurchzureiten, sobald er irgendwie Aussicht hatte, auf eine bequemere Weise hinüber zu kommen.

»Mein lieber Freund Peter,« rief der Sakristan mit lauter Stimme, »ich bins, Peter, hörst Du denn nicht? Dein Gevatter ists, Pater Philipp, der Dich ruft.«

Peter hörte ihn zur Genüge, und sah auch recht gut, in welcher Bedrängnis sich der Sakristan befand. Da er aber recht gut wußte, daß es grade dieser war, dem er den Streit mit dem Kloster wegen des Brückenzolls verdankte, ging er mit der größten Seelenruhe zu Bett, nachdem er zuvor sich noch einmal nach dem Mönche umgeguckt und zu seiner Frau gesagt hatte, solch ein Ritt durch den Fluß bei Mondenschein könne dem Sakristan gar nicht so übel bekommen, da werde er am besten einsehen lernen, was eine Brücke wert sei, über die man bei allem Wetter, ob zur Sommers- oder zur Winterszeit, über den Fluß hinüber könne.

Noch immer bot der Sakristan allen Atem auf, um durch Bitten und Drohungen den »Brückenpeter«, wie der Mann in der Umgegend hieß, zu erweichen; der aber ließ ihn bitten und betteln, soviel er wollte, so daß dem Mönch schließlich nichts weiter übrig blieb, als zur Furt hinunter zu reiten. Das tat er auch, freilich nicht, ohne den halsstarrigen Brückenvogt in Grund und Boden hinein zu verwünschen, aller christlichen Milde ungeachtet, die ihm von Glaubens- und Ordenswegen vorgeschrieben war. Je näher er aber der Furt kam, desto vertrauter machte er sich mit dem Gedanken, sie heute einmal benutzen zu müssen, und er sagte sich, daß die Passage durch den Fluß nicht bloß völlig gefahrlos, sondern auch in vieler Hinsicht recht amüsant sei. Es kam ihm vor, als spiegelten sich heute abend grade die überhängenden Klippen und Bäume weit stärker als sonst in den Fluten des dunkeln Stromes, und das stille, freundliche Bild wirkte um so stärker auf sein Gemüt, als es im schroffsten Gegensatze stand zu Glendearg und zu der Talschlucht, und zu den letzten Erlebnissen dieses Tages, zu den Aufregungen und eindringlichen Bitten, mit denen er den halsstarrigen Brückenvogt zu erweichen versucht hatte.

Als Pater Philipp an der Furt angekommen war, da sah er dicht am Ufer, an einen großen, hohlen Eichstamm gelehnt, eine Frauengestalt stehen, die wehklagend und jammernd die Hände rang und die Blicke nicht von der Flut wandte. Den Mönch wunderte es nicht wenig, zu solcher abendlichen Stunde und an solcher Oertlichkeit ein weibliches Wesen zu finden. Aber er war in allen Ehrendiensten gegen das zarte Geschlecht – und wenn er einmal in dieser Hinsicht vielleicht auch über das Ziel hinausgeschossen hat, so mag er es mit sich selbst oder vielmehr mit seinem Gewissen abmachen – ein treu ergebner Schildknappe. Und so beobachtete er das Mägdelein einen Augenblick, während es seine Gegenwart nicht zu gewahren schien, und Mitleid mit ihrer Verlassenheit zog in sein Herz, und er faßte den Entschluß, ihr beizustehen.

»Jungfer,« sprach er, »Du bist wohl in recht schwerer Bedrängnis? Der garstige Brückenvogt hat wohl Dir wie mir die Zugbrücke nicht heruntergelassen? Mir scheint, als liege Deinem Wunsche, über den Fluß zu setzen, ein Gelübde zu grunde? oder vielleicht irgend ein andrer wichtiger Auftrag?«

Die Maid stieß ein paar unverständliche Worte hervor, blickte nach dem Flusse, und dann dem Sakristan ins Auge. Da fiel diesem plötzlich ein, daß im Kloster seit einiger Zeit dem Besuch eines Häuptlings entgegengesehen wurde, der ein Gelübde im Heiligtum der Gottesmutter lösen wollte, und daß am Ende gar dieses Mädchen zu seiner Sippe gehöre, vielleicht selbst ein Gelübde erfüllen wolle oder durch einen Unfall von dem Gefolge des Häuptlings getrennt worden sei und nun allein die Reise fortsetze. Er gelangte im Verlauf dieser Gedanken zu der Meinung, daß es für ihn nur geraten sein möge, dem Mädchen alle Hilfe zu erweisen, die in seinen Kräften stehe, um so mehr, als ihr ja auch die Kenntnis der Landessprache zu mangeln schien.

Das wenigstens war der Grund, den sich der Sakristan selbst einredete, und wenn er noch einen andern Grund dafür » in petto« hatte, so ist das eine Sache, um die wir uns hier nicht zu kümmern haben, und die ihn völlig allein angeht.

Der Sakristan versuchte nun, sich dem Mädchen verständlich zu machen, indem er sich verschiedner Zeichen bediente, die als gemeinsame Völkersprache zu gelten haben. So wies er zuerst auf den Fluß, dann auf den Rücken seines Esels, dann machte er der einsamen Jungfrau auf so zarte Weise, wie er es irgend im stande war, begreiflich, daß sie hinten aufsitzen möge. Sie schien auch ganz gut zu verstehen, was er im Sinne hatte, denn sie richtete sich in die Höhe, wie zum Zeichen dafür, daß sie danach handeln wolle, und während der Mönch, der, wie wir schon bemerkt haben, ein höchst ungeschickter Reiter war, sich allerhand Mühe gab, sein Maultier so zu drehen, daß das Mädchen bequem in den Sattel gelangen konnte, schnellte sie plötzlich wie eine Sprungfeder von dem Erdboden in die Höhe, schwang sich mit einem Satze hinter den Mönch auf den Rücken des Maultiers und lieferte hierdurch den schlagenden Beweis, daß sie der bessere Reiter von beiden war. Das Maultier schien indessen mit seiner Bürde gar nicht recht zufrieden zu sein, es bockte, es bäumte sich, es sprang bald rechts, bald links, und hätte den Pater Philipp sicher abgeworfen, wenn ihm nicht das Mädchen mit kräftiger Hand in den Sattel hinauf geholfen hätte.

Endlich wurde der störrische Gesell andern Sinnes, fing an zu schnopern, schien den heimischen Stall zu wittern, und war im Nu im Wasser. Im Galopp setzte er durch das erste Stück hindurch, dann gewann aber die Furt an Tiefe, und das Tier mußte schwimmen. Zum Schrecken für den Mönch ging es aber tiefer und tiefer, die Flut schoß wirbelnd gegen die Flanken des Tieres und reichte höher und höher an ihm herauf, sodaß es bald nur noch mit dem Kopfe herausreichte. Viel Geistesgegenwart besaß Pater Philipp an und für sich nicht, es ging ihm nun aber auch das bißchen verloren, dessen er sich vielleicht zu rühmen haben mochte, sein Maultier war nicht mehr im stande, gegen die Flut anzukämpfen, sondern mußte der Gewalt der Fluten sich fügen, und da nun der Reiter nicht darauf achtete, ihm den Kopf in der Richtung gegen die Flut zu halten, so glitt das Tier alsbald von der Furt ab, verlor den Grund und fing an, mit dem Strome zu treiben. Was aber das Seltsamste an dem ganzen Vorgange war, in demselben Augenblick, als das Maultier mit dem Strome zu treiben anfing, fing das Mädchen zu singen an, und das mußte begreiflicherweise die Angst des würdigen Sakristans auf eine schier unausstehliche Höhe treiben.

Und was das Mädchen sang, war die folgende Ballade:

»Wir schwimmen lustig, der Mond scheint hell,
Im Lichte da tanzen Flut und Well',
Wir haben den Nachtraben aufgestört,
Den habe ich am Eichbaume krächzen gehört,
Und der Baum streckt die Zweige daher so breit,
Und ihr Schatten tanzt auf dem Strome so weit.
»Wer weckt mir die Brut?« hat der Rabe gefragt,
»Ich sauge sein Blut, noch ehe es tagt,
Denn Kadaver sind leckere Speise, traun,
Und ich picke mein Teil mir mit Schnabel und Klau'n.

Wir schwimmen lustig, der Mond scheint hell,
Ein Goldschimmer liegt auf der Höhe so grell,
Durch die Erlen zieht ein silberner Guß,
Wie durch trauernde Weiden, wogend im Fluß.
Ich seh' mit Mauer und Turm die Abtei,
Die Vesper zu feiern strömt alles herbei,
Zur Kirche eilen die Mönche schon hin:
»Wo ist Vater Philipp, die Glocke zu zieh'n?«

Wir schwimmen lustig, der Mond scheint hell,
Durch Licht und Schatten gleiten wir schnell,
Der Strudel dort schläft unter Fels und Stein,
Tief, schweigend und fern vom Tagesschein.
Der Nixe hat aus dem Teich sich gereckt,
Hat die Todeskerze schon angesteckt,
Schau, Vater, schau nur, und wundert's Dich nicht,
Wie er gafft und starrt Dir ins Angesicht?

Gut Glück zum Fischfang! Wem gilt es heut Nacht?
Ists ein Armer, oder ein Mann von Macht?
Muß Pfaff oder Laie in feuchte Schlucht,
Oder ists ein Buhle, der sein Liebchen besucht?
Hörst Du, wie der Nixe sich hören läßt?
»Heil dem Mann, der die Brücke verschloß so fest;
Was der Höhle nur naht, das muß hinein,
Verliebte und Mönche, Priester und Lai'n.«

Wie lange die Maid noch weiter gesungen oder wo die Fahrt des von Entsetzen geschlagnen Mönches ihr Ende gefunden hätte, das zu bestimmen, entzieht sich der Macht des Erzählers. Noch als sie die letzte Strophe sang, da gelangten sie an oder vielmehr in einen weiten, stillen Wasserspiegel, der von einem festen Wehr gebildet wurde, das quer über den Strom lief und von da ab als ein breiter Wasserfall über den Stamm stürzte. Das Maultier suchte, ob nun freiwillig oder durch den Strom getrieben, den Graben zu gewinnen, der zur Klostermühle hin führte, und gewann ihn auch, halb schwimmend, halb watend, wobei es aber den armen Mönch auf die abscheulichste Weise hin und her schüttelte.

Hierbei löste sich nun sein Gewand, und über der Anstrengung, es zu halten, entglitt seiner Hand das Buch der Dame Avenel, das er im Brustlatz getragen hatte. In dem nämlichen Augenblick stieß ihn das Mädchen, das mit ihm im Sattel saß, in die Flut hinein, packte ihn am Kragen und tauchte ihn ein paarmal kräftig unter, so daß jegliches Glied seines Leibes der Taufe teilhaftig wurde; aber erst dann ließ sie ihre Beute den Händen entgleiten, als er so nahe an dem Ufer war, daß er mit geringer Mühe, denn große konnte er nicht aufwenden, ans Land hinauf klettern konnte. Das gelang ihm auch, und als er sich nun umsah, um zu ermitteln, was aus seiner Begleiterin geworden, da erblickte er nicht das Geringste mehr von ihr, sie war vollständig verschwunden. Aber ein paar letzte Strophen ihrer Ballade klangen von dem Wasserspiegel noch zu ihm herüber, die sich mit dem brausenden Anschlag der Wellen einten, das letzte Bruchstück ihres schauerlichen Gesanges:

»Gelandet! das schwarze Buch hats getan,
Sonst kämst Du im Frühlicht zu Berwick an!
Sei lustig und fröhlich, und wünsche Dir Glück,
Denn wer mit mir wegschwimmt, kommt selten zurück.«

Es war dem Pater Philipp nicht länger möglich, das gräßliche Grausen zu ertragen. Schwindel packte ihn, er taumelte, dann stieß er gegen eine Mauer und schlug bewußtlos zu Boden.


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