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Es gibt wenige so schöne und reizvolle Landschaften wie die Umgebung dieses alten Sachsenschlosses. Der liebliche Fluß schlängelt sich durch amphitheatralisch aufgebaute Äcker und Waldungen. Auf einem Berge, der sich bis zu dem Flusse herabzieht, und mit Wällen und Gräben wohl verteidigt ist, erhebt sich das alte Gebäude, das, wie schon sein Name besagt, vor der Eroberung ein Residenzschloß der Könige von England war. Die Außenwerke sind vermutlich durch die Normannen aufgebaut worden, aber das Innere trägt die Spuren hohen Alters. Ein Winkel des inneren Hofes liegt auf dem Berge selber und bildet einen Kreis von etwa fünfundzwanzig Fuß im Durchmesser. Die Mauer ist außerordentlich dick und durch sechs wuchtige Strebepfeiler verstärkt, die aus dem Kreise herausspringen und sich an den Turm lehnen, wie um ihn zu stützen. Diese massiven Säulen waren an der Spitze ausgehöhlt und endeten in einer Art Türmchen, die mit dem Inneren des Hauptgebäudes in Zusammenhang standen. Das große umfangreiche Gebäude mit seinen wunderlichen Nebengebäuden gewährte einen höchst malerischen Anblick.
Als Löwenherz und sein Gefolge sich diesem rauhen, doch erhabenen Bau näherten, war er noch nicht wie jetzt mit Befestigungen umgeben. Die Kunst des sächsischen Baumeisters hatte nur das Hauptgebäude in Verteidigungszustand gesetzt, und mit einer rohen Schutzwehr von Pallisaden war seiner Kunst schon genug getan. Eine große schwarze Fahne, die vom Turme herabwehte, verkündete, daß das Leichenbegängnis des letzten Besitzers gefeiert wurde. Über dem Tore wehte eine zweite Fahne, auf der ein weißes Roß dargestellt war. Um das Schloß herum war alles in geschäftiger Bewegung, denn solche Leichenfeiern waren verschwenderische Gastfeste, zu denen jeder, der irgendwie mit dem Verstorbenen bekannt gewesen war, erscheinen konnte, auch jeder, der gerade vorüberreiste, er mochte sein, wer er wollte, durfte sich als gern gesehener Gast betrachten. Bei dem Reichtum und dem Ansehen des verstorbenen Athelstane führte diese Gepflogenheit eine unzählige Menge herbei.
Die Menschenmenge stieg den Hügel, auf dem das Schloß lag, auf und nieder. Als der König mit seinen Begleitern durch das offene Tor, an dem jetzt keine Wache stand, hereinritt, wurde ihm der Grund klar, weshalb in diesen Raum eine so zahllose Menge strömte. Köche standen hier, die riesige Ochsen und fette Schafe brieten. Dort wurden große Fässer voll Bier angezapft, und jeder, der trinken wollte, erhielt einen Becher voll. Der halbnackte sächsische Sklave, der ein halbes Jahr lang gedurstet hatte, vergaß sein Elend in einem Tage der Schwelgerei und Trunkenheit. Der wohlhabende Bürger und Zunftgenosse verzehrte seinen Bissen mit Verstand und kritisierte das Malz oder den Brauer, wenn er trank. Bettler aller Art standen zu Dutzenden herum, auch umherziehende Soldaten, die, wie sie behaupteten, aus Palästina kamen. Hausierer kramten ihre Waren aus, reisende Mechaniker hielten um Beschäftigung an, wandelnde Pilger murmelten Gebete, und Minnesänger entlockten ihren Harfen, Fibeln und Zithern unharmonische Töne. Der eine pries Athelstane in einer rührseligen Leichenrede, der andere rühmte in einem Gedicht über die sächsische Genealogie die rauhen und unverfälschten Sitten seiner Ahnen. Auch Narren und Gaukler waren da. Die Begriffe der Sachsen zeigten sich bei derlei Anlässen in ebenso naturgemäßer, wie roher Form. Wer eine durstige Betrübnis hatte, für den war gesorgt, daß er trinken konnte. Wer eine hungrige Betrübnis hatte, für den war Speise da. Wer in seiner Betrübnis beklommenen Herzens und trostlosen Geistes war, für den war Zeitvertreib und Lustbarkeit da. Die Anwesenden verschmähten diese verschiedenen Trostmittel auch nie, nur dann und wann erinnerten sie sich der Ursache, die sie zusammengeführt hatte, und dann seufzten die Männer im Chor, und die Frauen, deren auch viele da waren, riefen mit lauter Stimme: »O weh!«
So sah es im Schlosse Conningsburgh aus, als Richard mit seinem Gefolge hineinritt. Der Seneschall oder Haushofmeister, der nicht weiter auf die ab- und zuströmende Menge der niedern Gäste achtete, als nötig war, um die Ordnung aufrecht zu erhalten, war sofort aufmerksam auf den König und Ivanhoe, von denen ihm der letztere bekannt war. Die Ankunft zweier Ritter – denn als solche gab ihr Anzug sie kund – war überdies ein seltenes Ereignis bei einem sächsischen Leichenbegängnis und konnte nur als eine Ehre angesehen werden, die dem Verstorbenen und seiner Familie erwiesen wurde. In seinem schwarzen Kleide mit dem weißen Amtsstabe in der Hand, machte die wichtige Person des Haushofmeisters ihnen durch die buntscheckige Menge der Gäste Platz, und so kamen Richard und Ivanhoe zum Eingange des Turmes. Gurth und Wamba fanden Bekannte im Schloßhofe und blieben dort, um sich nicht weiter vorzudrängen, ehe sie nicht hereingerufen würden.
Der Eingang in den großen Turm des Schlosses von Conningsburgh ist sehr eigentümlich und ein treffliches Muster der rohen Einfachheit der Zeit, in der er erbaut worden ist. Eine Reihe von Stufen, die schmal sind und fast abschüssig in ihrer Steilheit, führt zu einer niedrigen Tür, von der aus eine kleine Treppe in die Dicke der Mauer hinein und zu einem dritten Stockwerk des Schlosses führte. Die beiden unteren Stockwerke enthielten Kerker und Gewölbe, die nur durch eine Leiter in Verbindung standen, Luft und Licht erhielten. Zu den oberen Gemächern des Turmes, der im ganzen aus vier Stockwerken bestand, gelangte man auf Stufen, die durch die äußeren Bogen der Mauer gelegt waren. Durch diesen beschwerlichen und komplizierten Eingang gelangte der gute König Richard, begleitet von seinem treuen Ivanhoe, in die runde Halle, die das ganze dritte Stockwerk ausmachte. Ivanhoe verbarg sein Gesicht in seinem Mantel, weil er sich nicht eher seinem Vater zu erkennen geben wollte, als bis ihm der König ein Zeichen dazu geben würde. In diesem Raume saßen um einen großen eichenen Tisch herum etwa zwölf sächsische Familienherren aus der Umgegend. Sie waren sämtlich alt, wenigstens schon bejahrt. Die niedergeschlagenen, traurigen Blicke dieser ehrwürdigen Männer, ihr Schweigen und ihre betrübte Haltung bildeten einen auffallenden Gegensatz zu der lärmenden Lustigkeit, die im Schloßhof herrschte. In dieser Stimmung, und in ihren grauen Bärten und langen Locken und ihren altertümlichen Gewändern und weiten schwarzen Mänteln – eine Tracht, die so recht zu dem schlichten, fast rohen Zimmer paßten, in dem sie saßen – hatten sie ganz das Aussehen von alten Wodansanbetern, die aus dem Totenschlaf zum Leben erwacht zu sein schienen, um über den Verfall des Nationalruhmes nachzudenken.
Obgleich eines Ranges mit seinen Landsleuten, schien doch in allgemeiner Übereinstimmung Cedric als das Haupt der Versammlung zu handeln. Als Richard eintrat, in dem Cedric nur den tapferen Ritter vom Fesselschloß erblickte, stand er würdevoll auf und hieß ihn mit dem üblichen Gruß: Heil dir! willkommen. Der König, der mit den Gebräuchen seiner englischen Untertanen vertraut war, erwiderte den Gruß mit dem üblichen Gegengruß: Ich trink auf Euer Heil! und nahm den Becher an, den ihm der Mundschenk überreichte. Die gleiche Höflichkeit wurde Ivanhoe erwiesen, der schweigend seinem Vater Bescheid tat und an Stelle der gebräuchlichen Antwort nur mit dem Kopfe nickte, aus Furcht, an der Stimme erkannt zu werden.
Als die Feierlichkeit der Begrüßung vorüber war, erhob sich Cedric, reichte dem König die Hand und geleitete ihn in eine enge, ganz kunstlose Kapelle, die in einem der äußeren Mauerbogen hineingehöhlt war. Da der Raum nur ein sehr schmales Luftloch hatte, so hätte hier völlige Finsternis geherrscht, wenn nicht zwei Fackeln ein rotes, trübes Licht verbreitet hätten, bei dessen Schein man die niedrige Wölbung, die nackten Steinwände und den roh aus Stein gehauenen Altar mit dem steinernen Kruzifix erblickte. Vor diesem Altar stand eine Bahre und an jeder Seite dieses Totenlagers knieten drei Priester, die mit allen Gebärden äußerer Frömmigkeit ihre Rosenkränze abschnurrten und ihre Gebete lallten. Für diesen Leichendienst hatte Athelstanes Mutter ein hohes Seelenlösegeld an das Kloster des heiligen Edmund bezahlt. Das hatten die Brüder nun auch redlich verdienen wollen, und alle bis auf den lahmen Sakristan waren nach Conningsburgh gekommen; während nun sechs von ihnen unausgesetzt den geistlichen Dienst bei dem Toten versahen, ließen sichs die anderen bei den Erfrischungen und Vergnügungen im Schloßhofe wohl sein. Richard und Ivanhoe folgten Cedric in das Gemach des Todes. Während der Sachse mit feierlicher Würde auf die frühzeitige Bahre Athelstanes hindeutete, folgten sie seinem Beispiele, bekreuzten sich fromm und murmelten ein kurzes Gebet für das Wohl der entflohenen Seele.
Nach dieser Handlung der Pietät forderte sie Cedric abermals auf, ihm zu folgen. Leise trat er in einen steinernen Gang und öffnete, nachdem er ein paar Stufen hinuntergestiegen war, behutsam die Tür zu einer großen Bethalle, die an die Kapelle stieß. Sie maß etwa acht Fuß im Quadrat und war wie die Kapelle unmittelbar in das Mauerwerk hineingeschlagen. Das Luftloch, das ihr Helle zuführte, ging nach außen in die Breite und ließ einen Strahl der untergehenden Sonne herein, der auf eine weibliche Gestalt von majestätischem Wuchse mit leuchtenden Spuren erhabener Schönheit im Angesicht fiel. Ihre langen Trauerkleider und ihr Kranz von schwarzen Zypressen ließen ihre weiße Haut noch weißer und ihre schönen blonden Flechten, die lang herniederwallten und von der Zeit weder verdünnt, noch mit Silber vermischt worden waren, nur noch schöner und herrlicher erscheinen. Zu ihren Zügen lag der Ausdruck tiefsten Kummers, gepaart mit stiller Ergebung. Auf dem steinernen Tische vor ihr stand ein Kruzifix von Elfenbein, daneben lag ein Meßbuch, das reich bemalte Seiten und einen mit silbernen Spangen und Schlössern versehenen Einband hatte. Als Cedric ein Weilchen geschwiegen hatte, um Richard und Ivanhoe Zeit zu lassen, die Frau des Hauses zu betrachten, wandte er sich an die hoheitsvolle Erscheinung und sprach:
»Edle Editha, hier sind würdige Freunde, die an Euerm Kummer teilnehmen wollen. Dieser hier insonderheit ist der edle Ritter, der so wacker gefochten hat, um den zu befreien, den wir jetzt beweinen.«
»Seiner Tapferkeit gebührt mein Dank,« erwiderte die Dame, »obgleich es der Wille des Himmels war, daß er sich vergeblich bemüht hat. Auch danke ich ihm und seinem Gefährten für die Aufmerksamkeit, daß sie hierher gekommen sind, und die Witwe Adelings und Mutter Athelstanes im tiefsten Schmerz besuchen. Euch, teurer Vetter, überlasse ich es, dafür zu sorgen, daß es den Gästen an nichts fehlen möge, was diese in Trauer versunkenen Mauern zur Zeit gewähren können.« Die Fremden verneigten sich tief vor der trauernden Mutter und entfernten sich mit ihrem gastfreundlichen Führer.
Eine andere Wendeltreppe führte sie in ein Gemach von der Art dessen, das sie zuerst betreten hatten. Es lag gerade ein Stockwerk über diesem. Ein feierlicher melancholischer Gesang von mehreren Stimmen drang daraus hervor. Sie traten ein und sahen etwa zwanzig Frauen und Mädchen hoher sächsischer Familien. Vier Jungfrauen, deren Chor Rowena leitete, sangen einen Hymnus für die Seele des Verstorbenen. Die anderen Frauen und Mädchen waren unterdes beschäftigt, das weite seidene Leichentuch mit Stickereien im Geschmacke der damaligen Zeit zu verzieren. Es war bestimmt, die Bahre Athelstanes zu bedecken. Auch Kränze wanden sie aus Blumen, die in vollen Körben vor ihnen standen. Das Betragen der Frauen war ernst und sie ließen sich durch das Erscheinen der fremden Ritter nicht stören. Rowena allein begrüßte ihren Befreier mit anmutsvoller Höflichkeit. Ihr Wesen war ernst, doch nicht merklich betrübt, und wohl mochte die Ungewißheit über Ivanhoes Schicksal der tiefere Grund ihres Ernstes als der Tod ihres Verwandten sein.
Cedric, der bei solchen Anlässen, wie wir schon gesehen haben, keinen besonderen Scharfsinn zeigte, hielt ihre Betrübnis für größer als die der anderen Jungfrauen und flüsterte den Gästen die Erklärung zu: »Sie war die Braut des edeln Athelstane.« Und nachdem Cedric so die Fremden durch alle Gemächer geführt hatte, in denen die Leichenfeier des edeln Athelstane vor sich ging, brachte er sie in einen kleinen Raum, der, wie er ihnen sagte, für ehrenwerte Gäste bestimmt war, die nicht unmittelbar zur Verwandtschaft des Verstorbenen gehörten und vielleicht nicht gern bei den Trauernden selber weilen wollten. Dann wollte er sich von ihnen verabschieden, aber der schwarze Ritter ergriff ihn bei der Hand.
»Ich bitte Euch, edler Than,« sagte er, »seid eingedenk des Versprechens, das Ihr mir beim Auseinandergehen gabt, mir eine Bitte um der Dienste willen zu gewähren, die ich Euch zu leisten das Glück hatte.«
»Im voraus ist sie gewährt, edler Ritter,« sagte Cedric, »aber in dieser Zeit der Trauer –«
»Das habe ich wohl bedacht,« sagte der König, »aber ich habe es nicht für unpassend gehalten, einige Vorurteile mit dem edeln Athelstane ins Grab zu legen. – Bis jetzt kennt Ihr mich nur als den schwarzen Ritter vom Fesselschloß. – Wißt, ich bin Richard Plantagenet.«
»Richard von Anjou!« rief Cedric in höchstem Erstaunen, einen Schritt zurücktretend.
»Nein, edler Cedric, Richard von England, dessen innigstes Interesse, dessen höchster Wunsch es ist, Englands Söhne vereint zu sehen. Aber wie nun, würdiger Than, beugt Ihr nicht Euer Knie vor Euerm Fürsten?«
»Noch nie habe ich es vor normännischem Blute gebeugt,« erwiderte Cedric.
»So schiebt Eure Huldigung auf, bis ich bewiesen habe, daß mir das Recht zusteht, sowohl Engländer wie Normannen zu beschützen. Und nun eine Bitte an dich! Ich verlange von dir auf dein Manneswort, daß du dem guten Ritter von Ivanhoe verzeihst. – Diese Versöhnung geht mich selber an, das wirst du zugeben, denn sie betrifft das Glück meines Freundes und beseitigt zugleich die Zwietracht unter meinem treuen Volke.«
»So ist dies dort Wilfried?« fragte Cedric, auf seinen Sohn zeigend.
»Mein Vater! Mein Vater!« rief Ivanhoe. »Verzeiht mir!«
»Dir ist verziehen, mein Sohn!« sagte Cedric und hob ihn auf. »Der Sohn Herewards weiß sein Wort zu halten, selbst wenn er es einem Normannen gegeben hat. Aber komm mir nur in der Tracht und den Waffen unserer englischen Ahnen vor Augen. Nichts von kurzen Röcken, luftigen Mützen und phantastischen Federbüschen in meinem einfachen Hause – Du willst reden,« setzte er ernst hinzu, »und ich ahne, worum du bitten willst. Aber Rowena muß zwei Jahre wie um einen angetrauten Gemahl trauern. Es kann nicht die Rede sein von einer neuen Verbindung, ehe sich noch das Grab über dem, der durch seine Abkunft ihrer Hand am meisten würdig war, geschlossen hat. Athelstanes Geist selber würde aus seinen blutigen Grabtüchern auferstehen und uns von einer solchen Entweihung seines Andenkens zurückhalten.«
Fast schien es in der Tat, als hätten Cedrics Worte ein Gespenst erweckt, denn kaum hatte er gesprochen, da ging die Türe jäh auf, und herein in seinen Totenkleidern kam Athelstane, blaß, abgezehrt, wie ein aus dem Grabe auferstandener Leichnam.