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Die Hand aus den Wolken . . .: in meiner Not wandte ich mich zur Verbotenen Magie.
Ich versuche, mich ihrer Fähigkeiten zu erinnern. Sie war wirksam, ich konnte wieder atmen. Aber sie heilte nicht, verwandelte nicht, befreite nicht. Sie verlieh keine Kräfte, spendete keine Freude und war gnadenlos wie Wasser und Feuer. Sie betäubte nicht wie schwerer Wein und wusste nicht zu berauschen wie Wind und Aehren. Sie legte die Sinne bloss und machte den Herzschlag empfindlich. Sie vertrieb den Schlaf und bediente sich der Ermattung, um mich das Schweigen zu lehren, den Verzicht. Sie stillte keinen Hunger, löschte keinen Durst; aber ich begehrte nicht mehr zu essen, zu trinken. Sie stimmte dieses fremde Land nicht milder; aber in ihrem Bann wusste ich, dass ich das heimatliche Seeufer nie wieder erreichen würde. Sie liess die Fluten der Schwäche steigen und ertränkte das Verlangen. Die Seele schwebte über dem Wasser, friedlich, wie über dem Todesspiegel, den kein Hauch mehr trübt. Sie entkleidete 158 die Erde ihres Glanzes, nahm den Gebirgen ihre Kronen aus Schnee, brachte die Flüsse zum Stehen, die rieselnden Halden zum Verstummen, hob die Täler aus dem Frühnebel, glättete das Meer, liess die Ebene in Rauch aufgehen. Jetzt schweifte der Blick ungehindert über das Land und ermass seine tödliche Grösse. Die Magie hob die Grenze auf zwischen Tag und Nacht, obwohl die Tage glanzlos waren und die Nächte erleuchtet von kalten Gestirnen. Sie liess die Flucht der Zeit zu, als würde sich die Zeit nie erfüllen –, so fand ich einen Ersatz für den wunderbaren Kreislauf, der mich einmal entzückt hatte, und lauschte nicht mehr auf den Stundenschlag.
Seit Wochen die Sonne nicht gesehen: es ist gut so, sie ist feindlich, weiss wie flüssiges Gold. Die Matten brennen, der Staub qualmt –, was zurückbleibt, ist schwarze Wüste, ein Mondtal. Die Magie täuscht nicht –, ich sehe die bröckelnde Armut der Ruinen: Jäz-de-Chast, Geisterstadt, zerfressener Saum eines Felskammes, Bettler in ihren Höhlen, ihre Kinder werfen das Brot weg, das ich ihnen schenke –, sie haben nie Brot gegessen, sie leben von 159 Lumpen. – Veramin, leere Moscheebögen, entkleidete Nischen, Spielplatz schwarzer Ziegen und frisch geschorener Lämmer. In der Finsternis des Mongolenturmes blitzt Kupfer, dort haust ein hungernder Derwisch im Bartgestrüpp. Er ist blind. – Manchmal liege ich auf dem Dach des Hauses, über dem Granatapfelgarten. Ich fühle mich so leicht, ich meine, im Traum die seidenen Segel zu entfalten. Aber meine aufgerissenen Augen begegnen immer dem gleichen Himmel. Seine bleichen Flammen, Persiens geläuterte Qual! – Nie vernahm ich den Klang der Kamelglocken deutlicher. Sie bewegen sich auf den fernsten Spuren, in der Wüste und der Gartenmauer entlang. Ihr Dröhnen schwillt im Frühlingssturm, der den Schnee in den Birkenhöfen von Hamadan schmilzt und den fliehenden Gazellen die schönen Augen bricht. Ich schaue zu, unbewegt.
Diese dröhnende Glockenstille wird ein Teil der Magie. Ich täusche mich nicht. Neben mir schlafen die gefleckten Hunde, draussen, auf der Schwelle, die Dienerin, eine Taubstumme.
Die Magie vermag nicht viel. Sie vermag 160 nichts gegen die untrügliche Einsamkeit, sie verschafft mir nicht einmal den geringen Trost eines Traumes, sie gaukelt mir keine windgefächelten Palmen vor, keine trauliche Kleinstadtstrasse an Stelle der Furt, wo verlorene Karawanen sich stauen. Im Schatten des Eukalyptus sehe ich die Perser auf ihren Fersen hocken, die bleichen Stirnen über den Samowar gebeugt, mit silbernen Zangen nach glimmender Braunkohle fischend, die ein Klümpchen Opium am Rand ihrer blauen Pfeifenköpfe schmilzt. Hungerleider, ich gönne euch eure Magie . . .
In enger Nachbarschaft, fast Wand an Wand mit mir, nämlich am anderen Ende der Gartenmauer, wohnt in einer Baracke, die ihm zugleich als Dunkelkammer dient, mein Kamerad Bibenski. – Ich muss erklären: ich gehöre vorübergehend wieder dem Stab einer amerikanischen Expedition an, daher habe ich wieder Kameraden, mit denen ich Rechte und Pflichten teile.
Die Pflichten: den Museen von Boston und Chikago islamische Lüsterware aus dem elften und zwölften Jahrhundert zu verschaffen; denn dafür werden wir 161 bezahlt. – Das Recht, unseren Granatapfelgarten zu bewohnen und sich zwischen seinen Scherbenbeeten und roh gezimmerten Arbeitstischen wie zu Hause zu fühlen. Der Esstisch steht unter Bäumen, im Freien. Abends, wenn wir staubig und durstig vom Grabungsfeld zurückkommen, füllt Bibenski die Wodkagläser. Er selbst trinkt selten; aber er weiss, wo man in Teheran guten Wodka bekommt. Russischer Emigrant, gewesener Kadett des Zaren, seit zwanzig Jahren in Persien, heute wohlbestallter Expeditions-Photograph –, mehr wissen wir nicht von ihm. Er macht sich nicht einmal die Mühe, englisch zu lernen und sich nach der Arbeit zu rasieren. Wir anderen arbeiten gemeinsam, sei es draussen auf dem Feld, wo es zweihundert Leute zu beaufsichtigen gibt, sei es daheim, in dem halbdunklen Raum, den wir »das Museum« nennen wegen seiner Wandbretter voll Töpfereien, Schalen, Schnabelkannen, Tonfigurinen und kostbaren Scherben. George sitzt am Mikroskop, Van am Zeichentisch, ich an der Schreibmaschine. Bibenski hingegen ist die ganze Zeit allein, in seiner Dunkelkammer. Er 162 hat sonderbare Gewohnheiten, einmal fastete er zwanzig Tage und nahm nichts zu sich als ein wenig gezuckerten Tee. In der dritten Woche wurde er sehr schwach. Er lag meistens auf seinem Feldbett im Freien vor seiner Türe; aber jeden Nachmittag erschien er im Museum und sprach ein paar Worte mit dem Direktor, um den Eindruck zu erwecken, es gehe ihm gut und er sei arbeitsfähig. Denn er konnte es sich nicht leisten, seine Stelle zu verlieren, und unser Direktor, ein gebürtiger Deutscher, war streng.
Eines Abends fand ich Bibenski in seiner Baracke, auf dem Fussboden aus gestampftem Lehm, damit beschäftigt, Tabak mit braunem Haschischpulver zu mischen. An der Innenseite der Türe hängt, neben einigen besonders gelungenen Photographien, auf die Bibenski stolz ist, das Bild seines jüngeren Bruders: ein Dreizehnjähriger, der auf der Flucht am Typhus starb. Er ist schön, blond, von einer zärtlichen Mutter verwöhnt, glücklich in seiner kleidsamen Uniform. So muss Bibenski einmal ausgesehen haben, schmalschultrig und fast rührend. Ich betrachte ihn. Seine 163 Wangen sind eingesunken, seine Backenknochen treten scharf hervor, seine von Rauch und Säure gebräunten Finger spielen mit der Haschischpfeife. Er lehnt mit dem Rücken an der nackten Wand, seine Augen stehen offen im Halbtraum seiner Magie, er atmet mühsam die Luft ein, er hustet. Dieses Leben ist nicht besonders gesund. – Warum trinkt er nicht lieber oder sucht sich eine Frau? –
164 Meine Frage machte ihn zornig. – Gesund? – schrie er –, was heisst das schon: gesund? Ich trinke nicht, ich faste jedes Frühjahr, ich halte mich rein –, was kümmert es dich? –
Als ich ihm schweigend recht gab, breitete er für mich seinen Schafpelz aus und bemühte sich brüderlich, mir das Rauchen beizubringen. Da ich nicht genügend tief durch die Lungen einatmete, hatte das Haschisch keine grosse Wirkung. Aber Bibenski war inzwischen ganz ruhig geworden. Er lag neben mir und begann: »Einmal, während eines Osterfestes, habe ich die Glocken von Kiew gehört. Ich werde das nie vergessen. Glocken von allen Hügeln, bunte Kuppeln und weisse Kirchen über der Stadt, und über dem schimmernden Fluss weitgespannte Brücken. Die Menschen umarmten und küssten sich auf der Strasse, die Kinder hatten farbige Eier. Als meine Mutter in ihrem mit drei Goldfüchsen bespannten Wagen aus der Messe zurückkam, assen wir Osterkuchen . . .« Er sah mich an, wie um zu fragen:
»Kannst Du es Dir richtig vorstellen?«
Dann: »Die Glocken von Kiew! Die 165 brausenden Glocken von Kiew! . . .« »Jetzt sind sie verstummt«, fuhr er fort, »schon seit zwanzig Jahren. Aber eines Tages werden sie wieder anheben, ja, sie werden den Tag einläuten, und ich werde sie hören. Darauf warte ich. – Du meinst vielleicht, ich hätte mich damit abgefunden, Photograph auf Eurer Expedition zu sein –, warum nicht? Es ist nicht das schlechteste Leben. Aber Du irrst Dich, sie irren sich alle. Ich übe diesen Beruf aus, um mir die Zeit zu vertreiben und weil man Geld verdienen muss. In Wirklichkeit bin ich Kadett seiner Majestät, des Zaren. Und nur darauf kommt es an. – Vielleicht bist Du zu jung, um zu verstehen, dass es im Leben nur auf eine einzige Sache ankommt.«
Ich antwortete nicht. Was hätte es für einen Sinn gehabt, Bibenski zu sagen, dass ich in Kiew weitgespannte Brücken über dem im Morgenlicht schimmernden Fluss gesehen habe, und spielende Kinder in den Strassen? – Dass die Stadt Kiew lebte, dass Russland lebte, ohne Glocken, und ohne auf den Tag von Bibenskis Wiederkehr zu warten? – Dass das Leben wahrhaft einmalig ist, nämlich ununterbrochen 166 und tausendfältig, an keine Stunde gebunden, über Erdbeben und Brände triumphierend, unberührt von unseren Schmerzen, unempfindlich gegen unsere Magien, die uns in einen einsamen Tod treiben? – Als ich meine Pfeife ausgeklopft hatte, stand ich auf und verliess leise das Zimmer. Bibenski schien zu schlafen. Im Garten, auf der Treppe vor dem Museum, sass George und wartete auf mich. Er wusste, dass ich Angst hatte, nachts allein den langen Weg durch den Granatapfelgarten zu gehen, und begleitete mich mit der Taschenlampe bis zu meinem Zimmer. Wir gingen dem Tarantelbach entlang, rechts lagen die Beete voller Scherben, die wir am nächsten Morgen waschen und sortieren mussten. Dann kam die kleine Brücke, brüchig, mit Moos überwachsen, und plötzlich der warme und süsse Duft von Büschen. Meine der Nachtkühle geöffnete Türe; die grossen Hunde kläfften im Traum. Ich zündete die Petrollampe an. So lange wartete George noch, dann blieb ich allein.
– Kein Wort mehr über Bibenski! – Wir wissen doch alle, dass er dabei ist, sich 167 zugrunde zu richten, warum helfen wir ihm nicht? – Die Schmerzen, die er sich antut, sind Kinderspiele, seine Hoffnungen Hirngespinste –, dies, obwohl er den Ernst des Lebens gekostet hat. Er hat gehungert, jetzt fastet er freiwillig, zum Spass. Sein kleiner Bruder starb am Typhus, dreizehnjährig –, trotzdem vergiftet er sich mit Haschisch, als sei er dem Tod von Angesicht zu Angesicht begegnet. Und wir warnen ihn nicht! – Er würde unsere wohlgemeinten Warnungen in den Wind schlagen . . .
Still –, kein Wort über die Toten dieses Landes. In der Stadt Rhages allein, deren Ruinenfelder wir ausgraben, soll der Mongole Hulagu Khan eine Million Menschen erschlagen haben. An den uralten Heerstrassen, neben den Schatzhügeln Iskenders, türmen sich die Schädelpyramiden. In den Höhlenwohnungen von Jäz-de-Chast sah ich Kinder Hungers sterben. Und nicht weit von hier, in der Festung vor den Toren der Hauptstadt, wurden heute in aller Frühe zwölf Nomadenfürsten hingerichtet. Sie waren Rebellen, sie hatten sich gegen das Gesetz vergangen, das die 168 Nomaden zur Sesshaftigkeit zwingt, und hatten die Waffen gegen die Regierung erhoben. Man lockte sie in eine Falle. Man forderte sie zu Verhandlungen auf und versprach ihnen sicheres Geleit. Einer von ihnen, ein Kurde, brachte seinen Sohn mit. Das Volk von Teheran äusserte sich beifällig, als der Knabe, die Anmut selbst, im grünseidenen Rock, den schweren Turban wie eine Krone tragend, durch die Strassen ritt. Die Hüter des Gesetzes verschonten ihn nicht, er starb mit den anderen, vor Sonnenaufgang. Wir haben die Schüsse gehört.
– Die Sonne scheint über ruhmreichen und ruhmlosen Schlachtfeldern; aber wir, wenn wir Gnade finden wollen, wenn wir auf Mitleid und Anteilnahme hoffen, müssen unseren Feind beim Namen nennen können. Ich weiss es. Meine Kinderspiele sind unverantwortlich und werden sich in furchtbaren Ernst verwandeln. Meine Schuld. Habe ich um Gnade gebeten? . . . 169