Gustav Schwab
Erzählungen aus den alten Volksbüchern
Gustav Schwab

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Die schöne Melusine

Nächst Poitiers in Frankreich lebte ein reicher Graf namens Emmerich, ein gelehrter Herr, der besonders in der Sternkunde und in der Deutung der Zukunft viel Erfahrung hatte. Er besaß einen Sohn und eine Tochter, die er beide innig liebte. Der Sohn hieß Bertram, die Tochter Blaniferte. In den Wäldern unweit von Poitiers hatte zur selben Zeit ein armer, kinderreicher Vetter des Grafen seinen Wohnsitz. Graf Emmerich von Poitiers beschloß daher, seines Vetters Los zu erleichtern, damit er es besser habe und seine Kinder dereinst standesgemäß aussteuern könnte. Es traf sich, daß der reiche Graf einst in seiner Residenz ein großes Festmahl veranstaltete und seinen Vetter, den armen Grafen von dem Forst, dazu einladen ließ. Dieser fand sich samt seinen drei Söhnen, jungen, wohlerzogenen Herren, mit aller Höflichkeit beim Fest ein. Graf Emmerich faßte solche Zuneigung zu diesen drei Jünglingen, besonders zu dem jüngsten, Raimund, daß er dem Grafen von dem Forst erklärte: »Lieber Vetter, überlaßt mir einen Eurer Söhne an Kindes Statt; er soll gut erzogen und wohl versorgt werden.« Der Graf von dem Forst stellte dem Grafen Emmerich auf dieses Anerbieten hin frei, welchen von den dreien er sich auswählen wollte. Also erbat sich Graf Emmerich den jüngsten, Raimund, der ihm am allerbesten gefiel.

Nachdem das Fest zu Ende war, nahm der alte Graf Abschied von seinem Vetter, seinen jüngsten Sohn Raimund aber ließ er zurück, wiewohl es nicht ohne nasse Augen und innere Trauer bei dem alten Vater ablief. Der junge Herr aber hätte sich keine bessere Aufnahme wünschen können. Er verstand auch seinen Dienst wohl zu versehen und wußte sich bald bei allen höchst beliebt zu machen; daher war ihm Graf Emmerich sehr gewogen und befahl auch allen Haus- und Hofgenossen, ihn nach Gebühr zu behandeln.

Als Graf Emmerich einmal auf der Jagd war und mit seinen Leuten einem wilden Schwein nacheilte, ritt auch Raimund hinterher. Die Verfolgung des Tieres zog sich in die Länge; nach und nach verloren sich alle Diener, keiner von ihnen wußte, wo der Graf hingekommen war, nur Raimund war bei ihm geblieben. Sie ritten quer durch das Gehölz und fanden endlich, als die Sterne schon am Himmel standen, 198 nach vieler Mühe einen gangbaren Weg; Raimund meinte, er führe nach Poitiers. Der Graf, der hoffte, seine Leute wieder zu treffen, bemerkte: »Laß uns eilen, Poitiers wird uns auch noch bei später Nachtzeit die Tore öffnen.« So ritten sie den Weg entlang, Graf Emmerich voran, Raimund als sein Diener hinter ihm drein.

Plötzlich bemerkte der Graf, dem der Lauf der Gestirne stets eine Quelle der Forschung war, unter den Sternen einen ganz fremden Stern. Ratlos meinte er: »Ach Gott, wie sind doch deine Wunder so mannigfach!« Tief seufzend sagte er zu Raimund: »Komm her, mein Sohn, ich will dir ein bedenkliches Vorzeichen am Himmel zeigen, wie man es nicht so leicht sieht!« Raimund, ein lernbegieriger Jüngling, fragte, was denn zu sehen wäre? »Merk auf«, erwiderte Graf Emmerich, »ich sehe am Himmel, daß in dieser Stunde ein Mann seinen Herrn töten und dadurch selbst ein gewaltiger Herr werden wird, mächtiger, als je einer seines Geschlechts gewesen ist!«

Raimund schwieg; bald darauf stießen sie auf ein Feuer, das wohl das Gefolge des Grafen im Wald zurückgelassen hatte. Die beiden stiegen von ihren Pferden, um sich zu wärmen, denn es war bitter kalt. In diesem Augenblick hörten sie durchs Holz etwas daherbrechen; Raimund griff schnell zu seinem Schwert, der Graf zu seinem Speer. Da kam ein starker Eber mit wildem Grunzen auf sie zu. Raimund bat seinen Vetter inständig, sein Leben zu retten und auf einen Baum zu flüchten; er wolle allein mit dem Schwein kämpfen. Aber der mutige Graf war nicht der Mann, einem Kampf mit dem wilden Tier furchtsam auszuweichen. Zugleich setzte er seinen Spieß an und rückte dem Schwein an den Leib. Er versetzte dem Tier auch wirklich einen Fang, aber das Schwein wehrte den Stoß, der zu schwach war, mit einem Satz ab und warf seinen Feind ergrimmt zu Boden. Nun kam Raimund mit seiner Waffe zu Hilfe, um dem wilden Tier den Rest zu geben und seinen Vetter zu retten; doch die glitt an dem Schwein ab, und während er im Eifer nachdrückte, drang das Schwert dem auf dem Boden liegenden Grafen in die Brust. Raimund zog es sofort wieder heraus, verfolgte das Wildschwein und erlegte den Eber. Aber als er zurückkehrte, fand er den Grafen verschieden vor. Entsetzt eilte Raimund davon, denn er hatte unabsichtlich seinen väterlichen Freund ums Leben gebracht. Er klagte, rang die Hände, dabei entfernte er sich allmählich von dem Unglücksort und führte ein trauriges Selbstgespräch. »Du unbarmherzige 199 Glücksgöttin«, seufzte er, »du Betrügerin aller Menschen, du reichst für ein Quentchen Freude, womit du uns köderst, hinterher einen ganzen Zentner Leid. Du läßt uns nach den Reichtümern der Welt schnappen und machst uns nachher zum Bettler!«

Unter solchen Klagen ließ er sein Pferd gehen, wohin es wollte. Schließlich kam er an einen Brunnen, der »Durstbrunnen« genannt wird. Dort lagerten drei schöne Jungfrauen, die Raimund vor Leid und Jammer gar nicht sah. Die jüngste und schönste von ihnen trat zu ihm an den Weg und redete ihn an: »Mein Freund, Ihr benehmt Euch nicht ritterlich, daß Ihr uns Frauen keine Höflichkeit erweist, sondern ohne Gruß vorbeireitet!« Raimund antwortete nicht, sondern klagte weiter, bis die kühne Jungfrau endlich das Pferd beim Zügel ergriff und tadelnd bemerkte: »Ihr wißt nicht, was der Anstand erfordert, wenn Ihr stillschweigend vorübereilen wollt.«

Erschrocken sprang Raimund nun schnell vom Pferd und rief: »Ach, erhabene Fee, ich bitte in tiefster Demut, daß Ihr mir meinen Fehler vergessen und Eure holden Blicke deswegen nicht entziehen wollt. In meinem tiefen Kummer war ich mit sehenden Augen blind. Doch befehlt Eurem Diener, Allerschönste, was er zu vollbringen hat, damit er Eurer Blicke weiter teilhaftig wird!«

»Nicht so, mein Raimund«, begann die holdselige Nymphe, »steht zuvor auf; ein so edler Ritter soll nicht demütig auf der Erde knien! Wir sind Euch alle gewogen, tapferer Ritter!«

Als Raimund hörte, daß die Nymphe seinen Namen nannte, erstaunte er noch mehr; denn er wußte nicht, wie dies zuging. »Göttergleiche Jungfrau«, sprach er, »nun merke ich, daß Ihr vom Himmel geschickt seid, mich aus meiner Seelennot zu erlösen und mich zu trösten. Denn kein Mensch in der Gegend kennt meinen Namen, und auch der Eurige ist mir unbekannt; aber ich halte Euch eher für einen Engel in menschlicher Gestalt als für einen Menschen.«

»So hört denn, lieber Raimund«, erwiderte sie, »was Ihr tun müßt, wenn Ihr glücklich sein wollt! Ich verlange, daß Ihr mir schwört, mich zu Eurer Gemahlin zu erwählen. An jedem Samstag sollt Ihr mich allein lassen, mich nicht fragen, mir auch nichts befehlen, gar nicht mit mir reden, mich auch niemand anderm vorstellen, so daß ich den ganzen Tag frei und unbekümmert bleibe. Dagegen gelobe ich Euch, daß ich Zeit meines Lebens, besonders aber 200 am erwähnten Samstag, nirgends hingehen will, wo es Euch nicht recht wäre, und daß ich mich an diesem Tag in meinem Frauengemach still und ruhig einschließen werde.«

Raimund gelobte, alles das treu und unverbrüchlich zu halten. Der Nymphe Melusine – dies war der Name der holden Jungfrau – kam aber sein rascher Entschluß ziemlich verdächtig vor; sie glaubte, er verspreche mehr, als er halten würde. »Ich sehe aus Euren Mienen«, setzte sie fort, »daß Ihr mehr gelobt, als Ihr zu halten gedenkt. Sollte es aber geschehen, daß Ihr mir untreu würdet, wovor Euch der Himmel behüte, so wäret Ihr selbst die einzige Schuld an Eurem Unglück, denn Ihr würdet mich unfehlbar verlieren und auch Euch und Euren Erben schaden und Schuld an dem Unglück bis auf die Kindeskinder auf Euch nehmen.«

Als Raimund diese Vorstellungen vernahm, schwur er noch einmal einen feierlichen Eid. »Gut«, versetzte die Nymphe, »ich glaube Euch. Reist nun nach Südfrankreich, der Himmel begleite Euch mit seinem Schutz. Wenn Euch aber jemand fragt, wo Euer Vetter, der Graf, ist, so antwortet, daß Ihr ihn im Wald verloren habt. Vielleicht ist er irregeritten, wie auch seine andern Diener sagen werden. Dann wird ihn alles eiligst suchen, und endlich werden sie ihn auch finden und mit großer Klage den Toten nach Poitiers bringen. Nach seiner Beerdigung werden sich alle Verwandten und die Edeln des Landes einfinden, um von seinem Sohn, als ihrem jetzigen Herrn, die Lehen zu empfangen. Dann sollt auch Ihr Euch in Bescheidenheit melden und bitten, daß Euch der Erbe für Eure treu geleisteten Dienste ein Stück Land bei dem »Durstbrunnen« schenken wolle, wäre es auch nur so klein, als Ihr mit einer Hirschhaut umschließen könnt. Diese untertänige Bitte wird Euch der Rat des Grafen gern gewähren.«

Dann fuhr die Nymphe fort: »Eilt, mein teuerster Raimund, und vergeßt nicht, Brief und Siegel darüber zu verlangen, die von des Grafen Hand unterzeichnet sein müssen, und trachtet, daß sie schleunig ausgefertigt werden. Hierauf wird Euch ein Mann begegnen, der eine Hirschhaut nach Hause trägt. Dem kauft die Haut ab, ohne viel Worte zu verlieren, und laßt sie zu einem ganz schmalen Riemen zuschneiden. Dann geht und laßt das Land abgrenzen; fangt beim Brunnen an! Diese Art wird Euch eine ganze Tagereise Land im Umkreis verschaffen, und niemand wird Euch dies streitig machen können.« 201

Mit diesen listigen Worten entließ die schlaue Nymphe ihren Liebling.

Raimund machte sich sogleich nach Poitiers auf, um ihren Rat auszuführen. Während er durch die Stadt ritt, fragte ihn ein Mann: »Wie kommt es, Raimund, daß Ihr ohne Euren Herrn erscheint?« Raimund antwortete: »Ich habe ihn seit gestern abend nicht gesehen; er entschwand meinen Augen im Wald während der Jagd, und ich konnte ihn nicht mehr auffinden.« Bei dieser Aussage blieb er, und niemand dachte an ein Unglück oder argwöhnte etwas anderes dahinter.

Inzwischen kamen alle Begleiter des Grafen von der Jagd nach Hause bis auf zwei. Aber keiner wußte, wo ihr Herr geblieben war. Dies verursachte bei Hof große Bestürzung, besonders bei der Gräfin und ihren Kindern. Plötzlich erschienen die zwei letzten Diener aus dem Gefolge des Grafen und brachten ihren toten Herrn, was den Jammer aller Anwesenden noch vermehrte. Auch dem unschuldigen Täter Raimund wurden die Augen naß, und das Herz klopfte ihm heimlich mit schnellen Schlägen. Die Diener erzählten, wie sie den Grafen in seinem Blut entseelt bei dem wilden Schwein auf der Erde gefunden hätten.

Als Graf Emmerich am nächsten Tag bestattet war, fanden sich die Edeln des Landes bei seinem Sohn, Graf Bertram, ein und empfingen von ihm ihre Lehen, wie dies bei einem neuen Landesherrn zu geschehen pflegt. Da trat auch Raimund herzu und brachte seine Bitte vor, wie ihn Melusine angewiesen hatte. Der Graf versprach ihm auf der Stelle Gewährung. Auch alle Räte gaben einmütig ihre Zustimmung. Nun bat Raimund um die Ausfertigung eines gesiegelten Lehensbriefes, von des Grafen Hand unterzeichnet, der ihm sofort eingehändigt wurde.

Kaum hatte Raimund mit dem gesiegelten und unterschriebenen Brief das Schloß des Grafen verlassen, traf er einen Mann, der eine gegerbte Hirschhaut feilbot, die Raimund unverzüglich kaufte und in ganz schmale und dünne Riemen zerschneiden ließ. Darauf meldete er sich abermals bei dem Grafen und stellte die weitere Bitte, daß man ihm das Stück Land, welches er in der Gegend des »Durstbrunnens« auswählen würde, als Lehen übergeben möge. Der Graf bestellte einige Amtsleute, die mit Raimund zu dem Brunnen ritten. Da fanden sie, daß Raimund eine Hirschhaut zu den 202 allerschmälsten Riemen zerschnitten hatte, und wunderten sich sehr über diese List.

Obgleich sie erklärten, daß es mit der Hirschhaut ganz anders gemeint gewesen sei, ließen sie es doch bei der Schenkung bewenden, weil der Graf sein Wort einmal gegeben hatte, und ritten nach Poitiers zurück. Hier erzählten sie alles dem jungen Grafen. Dieser konnte sich über die Schlauheit Raimunds nicht genug wundern, doch gönnte er seinem lieben Vetter und Freund, der sich auch um seinen Vater wohl verdient gemacht hatte, alles Gute mit dem Wunsch, daß es ihm dabei glücklich ergehen möge.

Nachdem Raimund bei Hof seinen Dank abgestattet hatte, ritt er wieder zum »Durstbrunnen«, wo ihn seine Verlobte, die unvergleichlich schöne Melusine, ungeduldig erwartet hatte und nun auf das freundlichste begrüßte. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu einer abgelegenen Waldkapelle, in der viele Ritter und Bürgersleute, Frauen und Jungfrauen, anwesend waren. Raimund wußte aber nicht, wo er sei; obgleich er sich lange umsah, konnte er nicht einen einzigen Bekannten entdecken. Aufs höchste verwundert, fragte er seine Geliebte: »Mein Kind, was für ein unbekanntes Volk ist das? Wem unterstehen die Leute, die ich so geschmückt vor mir sehe?«

»Wundert Euch nicht, mein Geliebter«, versetzte die Schöne, »es sind lauter Leute, die Euch künftig dienen werden, kurz, mein Volk und meine Untertanen sind es!« Und nun wandte sie sich zu dem Volk und gebot, daß alle von nun an Raimund als ihrem rechtmäßigen Herrn und Gebieter gehorsam sein sollten. Alle verneigten sich tief und gaben ihre Untertänigkeit sogleich zu erkennen.

Raimund fühlte sich durch diese Worte Melusinens wieder etwas getröstet, die Jungfrau aber fuhr fort: »Ihr müßt eine richtige Hochzeit halten und vornehme Gäste dazu einladen. Dies muß aber, wenn Ihr glücklich sein wollt, bis spätestens innerhalb acht Tagen geschehen.«

Raimund willigte in alle Wünsche Melusinens ein. Er schwang sich sogleich auf sein Pferd und begab sich wieder nach Poitiers zu seinem Vetter. Hier brachte er sein Anliegen mit folgenden Worten vor: »Gnädiger Herr Vetter, geruht, nicht unwillig darüber zu sein, daß ich mich so bald und unverhofft wieder bei Hof einfinde. Ich bin Bräutigam und komme, Euch und Eure Frau Mutter zu meinem 203 Hochzeitsfest einzuladen, das bei dem wohlbekannten »Durstbrunnen« begangen werden soll. Wenn mir nun die Ehre Eurer Gegenwart künftigen Montag früh zuteil werden könnte, würden ich und meine Braut dies für ein ganz besonderes Glück halten.«

Neugierig fragte der Graf, wer denn seine Braut sei. »Sie ist eine edle, reiche und mächtige Dame«, erwiderte Raimund, »deren Herkunft ich übrigens selbst noch nicht weiß und erst nach der Trauung erfahren werde.«

Graf Bertram konnte sich des Lachens kaum enthalten. Doch gab er ihm den höflichen Bescheid: »Liebster Vetter, wir vernehmen mit größtem Vergnügen Euer Glück und sind entschlossen, auf Euer freundliches Ersuchen bei Eurem Hochzeitsfest zu erscheinen. Aber überlegt, ob Euch diese Heirat nicht übel ausschlagen wird. Denn wenn Eure Braut vielleicht von unedlem Geschlecht wäre, könnte sie Eurer Herkunft schaden.«

So schied Raimund mit der Zusage des Grafen und höflichem Dank. Der Hochzeitstag kam, und am frühen Morgen machte sich Graf Bertram mit seiner verwitweten Mutter und allem Hofgesinde auf, um an seines Vetters Ehrenfest teilzunehmen.

Unterwegs scherzten sie darüber, ob bei dem verrufenen »Durstbrunnen« nicht ein gespenstisches Gaukelspiel vorgehen werde. Kaum aber waren sie an ihrem Ziel angelangt, erblickten sie auf einer grünen Ebene eine Menge prächtiger Zelte, auch sahen sie sehr viele Teilnehmer, lauter unbekannte Leute, die um die Zelte herumwandelten. Dies bestärkte sie im Glauben, daß alles nichts andres sein könne als ein Blendwerk, besonders in einer solchen Einöde, wo sonst kein Mensch anzutreffen war.

In diesen Gedanken wurden sie durch eine Menge von jungen Rittern und Edelleuten unterbrochen, die in schönstem Schmuck und auf das beste bewaffnet daherritten. Sie begrüßten den Grafen, seine Mutter und ihr ganzes Gefolge auf das ehrerbietigste im Namen ihres Herrn Raimund und begleiteten sie bis vor die Zelte. Diese höfliche Aufnahme, die sorgfältige Verteilung der Gäste in die Zelte und das prunkvolle Quartier wunderten Graf Bertram nicht wenig. Indessen kam auch Raimund mit einem Gefolge von Kavalieren daher, um den Grafen zu bewillkommnen. Als es Zeit zur Trauung war, verfügten sich alle Herrschaften nach der Kapelle, wo ein mit den größten Kostbarkeiten gezierter Altar errichtet war. Der 204 Kirchenraum selbst war mit Tapeten und Kleinodien auf das prächtigste geschmückt. Die Braut glich an Schönheit fast einem Engelsbildnis. Ihre Gewänder schimmerten von Gold, Perlen und Edelsteinen wie der gestirnte Himmel; kurz, alles war köstlich anzuschauen.

Nach der Trauung führten Graf von Poitiers und ein anderer vornehmer Herr die Braut zur besondern Ehre dem Festzelt zu. Hier wurde das Handwasser in goldenen Schalen gereicht, dann setzte man sich zu Tisch; die gräflichen Gäste nahmen zuoberst nächst dem Brautpaar auf goldenen Sesseln Platz. Die köstlichsten Gerichte wurden aufgetragen und bei allem eine Pracht angewendet, daß es fast königlich anzusprechen war.

Auf die Tafel folgte ein prächtiges Turnier. Die Ritter in herrlicher Rüstung stellten sich, in zwei Partien geteilt, auf. Alle erwarteten voll Neugier, wer siegen würde. Jeder tat sein Bestes, aber Raimund selbst trug den Preis davon, ein wertvolles Kleinod, mit Diamanten besetzt.

Am späten Abend nach Beendigung des Ehrenfestes wurde das Brautpaar mit Fackeln zu seinem Zelt begleitet. Dieses war von lauter Seide, mit dichten Goldstreifen und bunten Vogelgestalten künstlerisch durchwirkt; das Lager und die Decken von Seide waren mit goldenen Lilien bestickt, so daß der Glanz die Augen blendete. Um das Zelt ertönte eine liebliche Musik. Melusine aber sprach zu ihrem Gemahl: »Ich bin jetzt deine angetraute Gemahlin, bis uns der Tod trennen wird. Nur laß dich nie gelüsten, nach meiner Herkunft zu forschen oder dein Gelübde zu brechen, mich samstags nicht zu sehen, wenn du nicht selbst der Urheber deines Verderbens sein und mich verlieren willst.« Raimund umarmte seine Gemahlin und schwur ihr alles, wie er es schon zweimal gelobt hatte.

Am andern Morgen versammelten sich die Gäste wieder, und die Fröhlichkeit ging von neuem an. So währten die Hochzeitsfreuden fünfzehn Tage lang. Beim Abschied öffnete Melusine einen mit Elfenbein ausgelegten großen Schrein, in dem die kostbarsten Kleinodien von Gold, Perlen und Edelsteinen in unzählbarer Menge verwahrt waren. Damit beschenkte sie ihre Gäste reichlich. Nun hätte Graf Bertram gern gewußt, woher die junge Frau stamme, weil er sie immer noch nicht für etwas Natürliches halten wollte, aber er fürchtete den Zorn, in den Raimund über einen solchen Verdacht geraten könnte; daher unterließ er es, und so schieden sie voneinander, 205 ohne daß sie wußten, bei wem sie gewesen und woher Raimunds reiche Braut war. Von Raimund und seinen Rittern wurden sie bis an den Saum des Waldes begleitet.

Wochen waren verflossen, da kam eine Menge Werkleute bei dem »Durstbrunnen« an; die fällten alles Holz ringsumher, dann machten sie tiefe Gräben um die hohen Felsen herum. Sie legten ein tiefes, starkes Fundament und setzten die ersten Grundsteine auf den harten Fels. In eifriger Arbeit hatten sie bald mächtige Türme und hohe, dicke Ringmauern errichtet. Innerhalb dieser bauten sie zwei feste Burgen. Und als der Bau zu aller Gegenwehr hinlänglich gerüstet war, nannte ihn Melusine nach ihrem Taufnamen »Lusinia«.

Nach einiger Zeit gebar Melusine ein Söhnlein, das sie Uriens taufte. Der Knabe hatte ein seltsames Aussehen; er war klein und breit, überdies war das eine Auge rot, das andere grün; er hatte dabei einen weiten Mund und lang herabhangende Ohren.

Ein Jahr darauf schenkte Melusine einem zweiten Sohn das Leben, der Gedes genannt wurde und eine so brennende Röte im Gesicht hatte, daß sie gleichsam einen Widerschein gab; sonst aber war er schön und wohlgestaltet. Dann errichtete sie der Mutter Gottes zu Ehren ein Kloster, Mallières genannt.

Als diese Gebäude fertig waren, schenkte Melusine abermals einem Sohn das Leben; diesem Kind stand ein Auge ein wenig höher als das andere. Der Knabe hieß Gyot. Im gleichen Jahr baute Melusine wieder ein Schloß, Larochelle, und zu Soniets ließ sie eine herrliche Brücke anlegen. Dann bekam sie noch einen Sohn, Antonius geheißen, der einen Löwengriff an seiner Wange mit auf die Welt brachte, sehr behaart war und lange, scharfe Nägel an den Fingern hatte. Dieser Knabe war so scheußlich, daß jeder, der ihn nur ansah, sich schon vor ihm fürchtete. Der nächstgeborene Sohn hatte nur ein Auge mitten auf der Stirn und wurde Reinhard genannt.

Es folgte nun der sechste Sohn, den man Geoffroy »mit dem Zahn« hieß, weil er einen großen Zahn mit auf die Welt brachte, der wie ein Hauer aus dem Mund ragte.

Es blieb aber auch bei diesem sechsten Sohn nicht, sondern ein siebenter folgte, Freimund geheißen; dieser war sehr schön, hatte jedoch auf der Nase ein haariges Mal, als wäre ihm ein Stück von einer Wolfshaut eingesetzt. Bald nach diesem kam der achte Sohn, der drei Augen hatte, von denen ihm eines auf der Stirn stand. Er wurde 206 wegen seines abscheulichen Aussehens Horribil genannt und zeigte schon in zarter Kindheit böse Neigungen; er war nur darauf bedacht, Arges zu stiften. Diesem folgte als neunter Sohn Dietrich und als letzter Raimund, beide wohlgewachsen.

Als der älteste Sohn Uriens ins Mannesalter gekommen war, wollte er kriegerischen Ruhm erwerben. Deswegen nahm er einige Segel- und Ruderschiffe und ließ sie mit allem Nötigen ausrüsten und stark bemannen. Sein jüngerer Bruder Gyot bekam Lust, mit ihm zu fahren, obgleich er noch jünger als sein Bruder Gedes war, der auch an dieser Reise Gefallen gefunden hatte. Der mutige Uriens aber hatte größere Zuneigung zu seinem Bruder Gyot, so daß er sich diesen zum Reisegefährten nahm und den Bruder Gedes zurückließ. Melusine freute sich über den Vorsatz ihrer Söhne, rüstete sie reichlich aus und ließ sie in des Himmels Schutz dahinfahren.

So rafften sie ihre Segel und stießen vom Strand; bald kamen sie in das Königreich Zypern. Dort hatten sie die beste Gelegenheit, ritterliche Taten zu verrichten; denn der König von Zypern wurde in seiner Stadt Famagusta von dem mächtigen Heidensultan mit starker Macht und viel Volk belagert. In der Stadt herrschte große Hungersnot, und der König schwebte in größter Gefahr, sich den Heiden unterwerfen zu müssen; dies verursachte großes Wehklagen in der Stadt. Kaum hatte Uriens die Kunde vernommen, als er sich mit seiner Flotte nach der Stadt wendete.

Die Stadtbewohner vernahmen bald, daß fremdes Kriegsvolk herbeikomme; sie konnten aber nicht wissen, ob es Christen oder Heiden wären. Als der Sultan das Herannahen der christlichen Schiffe erfuhr, begann er sein Heer zusammenzuziehen. Da glaubte der König von Zypern, die Heiden wollten die Flucht ergreifen, und zog mit seinen Mannen mutig gegen die Heiden ins Feld. Die Prinzessin Herminia, seine junge, schöne Tochter, blieb in der Stadt zurück. Da erhob sich ein harter Kampf, viele Christen wurden erschlagen, der König von Zypern selbst wurde durch das vergiftete Geschoß eines Heiden tödlich verwundet, so daß man kaum hoffte, ihn lebendig vom Schlachtfeld hinwegzubringen. Auf diese Weise mußten die Zyprier, von den Heiden bedrängt, nicht ohne große Verluste wieder abziehen. In der Stadt Famagusta erhob sich große Klage um die Toten und Verwundeten. Die Kinder weinten um ihre Väter, die Frauen rauften sich verzweifelt die Haare. Am kläglichsten aber 207 schluchzte Prinzessin Herminia, denn sie hatte aus dem Bericht der Ärzte entnommen, daß die Wunden ihres Vaters unheilbar seien.

Unterdessen war Uriens mit seinem Bruder Gyot und der Heerschar, die mit ihnen auf den Schiffen war, gelandet und jäh auf die Heiden losgerückt. Sie fielen heldenmütig in ihre Reihen, und Uriens sowie Gyot fochten mannhaft, so daß die Heiden an den Rückzug glauben mußten.

Nach Beendigung der Schlacht fertigte der todkranke König von Zypern eine Gesandtschaft an Uriens mit dem höflichen Ersuchen ab, zu ihm in die Stadt Famagusta zu kommen; läge er nicht an einer tödlichen Wunde darnieder, so würde er selbst ihm, als dem Sieger über seine Feinde, einen Besuch im Lager abstatten. Uriens nahm dieses Anerbieten mit Dank entgegen und machte sich bald mit seinem Bruder Gyot auf den Weg. Aber das Volk in der Stadt Famagusta empfing ihn anfangs nicht sehr freundlich, sondern sah ihn wegen seines unförmigen Gesichts mißtrauisch an.

Der König empfing Uriens mit den Worten: »Mein Freund, Ihr habt tapfer gefochten und uns und der ganzen Christenheit einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Nun sagt uns, wer Ihr seid und woher Ihr stammt.«

Uriens antwortete ihm mit tiefer Verbeugung: »Allergnädigster König und Herr, Eure Majestät beliebe zu vernehmen, daß ich aus dem Stamme der Grafen zu Lusinia geboren bin.«

Der König sprach: »Von Eurem Geschlecht haben wir schon viel vernommen. Jetzt aber wünschen wir, daß Ihr, tapferer Ritter, uns einen besondern Gefallen erweist. Es soll dies zu Eurer eigenen Ehre gereichen. Wißt«, fuhr der König mit einem tiefen Seufzer fort, »daß unsre Tochter Herminia eines Schutzes und dies Reich selbst eines tapfern und heldenmütigen Thronfolgers bedarf, da es den heidnischen Grenzen zu nahe liegt. Darum wollen wir, daß Ihr unsre Tochter und dieses Reich zusammen übernehmt und vor jedem Ansturm der Feinde beschützt; denn es ist in allen Landen, unter allen Rittern der Welt keiner, mit dem unsere Tochter und unser Reich besser fahren würden.«

Uriens erschrak vor Freude. Er antwortete dem König in tiefster Demut: »Großmächtiger König, ich sage für diese hohe und unverdiente Gnade meinen untertänigen Dank und halte mich für unwürdig, die Erbin einer Königskrone als Gemahlin heimzuführen 208 und ein so mächtiges Reich zu beherrschen. Jedoch eine so unvergleichliche Gnade auszuschlagen, wäre eine Vermessenheit. Deswegen will ich Folge leisten, wenn Ihr mit Eurem Knecht nicht scherzt.« Der König, über diese kluge Antwort des Fremdlings erfreut, versetzte: »Nun preise ich den Himmel, daß ich noch vor meinem Ableben Tochter und Reich nach meinem Wunsch versorgt habe!«

Hierauf ließ er seine Reichsstände, alle seine Räte und die Prinzessin herbeikommen und forderte die Stände auf, seiner Tochter als Königin und Beherrscherin des Reiches zu huldigen.

Das geschah nach dem Willen des Königs. Dann fuhr der sterbenskranke Fürst fort: »Ihr wißt, daß es einem schwachen jungen Weib fast unmöglich ist, Reiche und Länder zu regieren und vor feindlichen Angriffen zu beschützen. Im Interesse unseres Vaterlandes sind wir entschlossen, unser einziges Kind, die Prinzessin Herminia, mit Uriens zu vermählen und ihm das Zepter des Reiches einzuhändigen.«

Die Landesherren forderten hierauf den tapfern Uriens auf, sich mit der Prinzessin Herminia zu vermählen; dann wollten sie ihm auf der Stelle Treue schwören und ihn zu ihrem König krönen. Dies nahm der edle Ritter dankbar an, und sofort wurden beide angesichts des sterbenden Königs vermählt. Bald darauf verschied der König.

Uriens und Herminia lebten in zärtlicher Liebe miteinander. Die junge Königin schenkte einem Prinzen das Leben, den man den Greif nannte.

Nun erkrankte auch der König von Armenien, Herminiens Oheim. Er starb und hinterließ eine einzige Tochter, die Floria hieß und noch unvermählt war. Da schickten die Landesherren eine Gesandtschaft an den König von Zypern ab und baten, der neue König Uriens möge seinen Bruder Gyot zu ihnen senden und ihn der Prinzessin Floria zum Gemahl geben; dann wollten sie ihm huldigen und ihn zum König krönen. Uriens erfüllte ihre Bitte. Darauf machte sich Gyot auf die Reise und kam nach Armenien, wo er mit der schönen Floria vermählt und unter den größten Festlichkeiten zum König gekrönt wurde. Von dieser Zeit an waren die zwei berühmten Königreiche wieder in zweier Brüder Händen, und beide regierten klug und mächtig und leisteten dem Heidenvolk kräftigen Widerstand.

Als Raimund und Melusine erfuhren, daß ihre beiden Söhne durch tapfere Taten zu hohen Ehren gekommen und sogar auf Throne 209 erhoben worden waren, freuten sie sich sehr, und Melusine ließ zum Dank für diese Fügung des Himmels eine Kirche errichten.

Darauf vermählte sie ihren zweiten Sohn, Gedes, an eine Tochter des Grafen von der Mark. Indessen wuchs auch ihr Sohn Reinhard, der nur ein Auge hatte, heran und entschloß sich, mit seinem Bruder Antonius gleich seinen beiden ältern Brüdern in die Fremde zu gehen und durch ritterliche Taten Ehre zu erwerben. So zogen sie miteinander in Begleitung eines großen Gefolges wohlausgerüstet von Lusinia fort und wandten sich nach Luxemburg, das eben der Fürst von Elsaß mit großer Streitmacht belagerte. Er hätte diese Stadt ohne Zweifel erobert, wenn ihr nicht die unerwartete Hilfe der beiden jungen Helden zugekommen wäre. Der Fürst von Elsaß war der Herkunft nach König von Böhmen, weshalb man ihn auch allgemein den König von Elsaß hieß. Jedermann wußte, daß der Fürst jenen Angriff mutwillig vom Zaun gebrochen hatte, um die Herzogin von Luxemburg, die eine arme, hilflose Waise war, zur Gemahlin zu bekommen oder ihr wenigstens Schloß und Stadt mit Gewalt zu entreißen.

Auf die Nachricht von dieser Gewalttätigkeit sandten die Brüder eilig einen Herold zu dem König von Elsaß und kündigten ihm wegen seines ungerechten Vorgehens den Krieg an. Ungesäumt rückten sie gegen das gegnerische Lager vor und griffen den Feind tapfer an. Aber die Elsässer wehrten sich erbittert. Der Kampf war hart, doch neigte sich der Sieg schließlich auf die Seite der Lusinier; denn die zwei Brüder stritten mit unglaublicher Kühnheit. Dabei geriet der junge Held Antonius in die Nähe des Königs von Elsaß und nahm ihn nach hartem Kampf gefangen. Als das rheinische Volk seinen Herrn in der Hand des Gegners sah, ergriff es die Flucht. Die Lusinier aber stießen nach und fügten den Flüchtenden große Verluste zu.

Als der Sieg errungen war, schickten die zwei Brüder den König von Elsaß, ihren Gefangenen, nach Luxemburg und ließen ihn der Erbin von Luxemburg zum Zeichen des Sieges überantworten. Als die Prinzessin den königlichen Gefangenen erblickte, erinnerte sie sich der Drangsale, die ihr der Fürst zugefügt, und die Strafe des Himmels, die den Übermütigen ereilt, sowie ihre eigene Errettung gingen ihr tief zu Herzen. Bewegt sprach sie zu den Rittern, die ihr den König überbrachten: »Sagt mir nun, wer sind die siegreichen Helden, die uns aus den Händen dieses Tyrannen errettet haben?« 210 Da antwortete ihr ein alter Ritter: »Durchlauchtigste Fürstin, die Sieger stammen aus Lusinia in Frankreich und sind zwei Brüder, der eine heißt Antonius, der andere Reinhard.«

Die Prinzessin befahl sofort, daß man beiden Siegern die besten Quartiere in der Stadt besorge und für all ihr streitbares Volk Unterkunft bei den Bürgern bereite, damit, wenn sie kämen, alles schon zu ihren Diensten stünde.

Als die beiden Brüder dann in die Stadt einrückten, wurden sie vom Jubel des Volkes empfangen und feierlich zur Herzogin geleitet.

»Seid willkommen, meine siegreichen Befreier!« rief die Fürstin ihnen freundlich entgegen; »und auch ihr, tapfere Mitstreiter, seid alle aufs herzlichste aufgenommen! Rastet aus von eurer Mühe und seid fröhlich! Ihr sollt bei einem Ehrenmal alle eure Beschwerden mit einem Meer der Freuden abspülen!«

Als die Tafel wieder aufgehoben war, wurde über Verlangen der König von Elsaß vorgeführt, der an seine beiden Besieger die Frage richtete: »Meine Herren! Nachdem ich euer Gefangener geworden bin, bitte ich euch, mir zu sagen, welches Lösegeld ihr von mir verlangt; bestimmt es aber so, daß es nicht über die Kräfte meines Reiches geht, wofür ich mich auf alle Weise erkenntlich zeigen werde.«

Die beiden Brüder gaben ihm in aller Höflichkeit zur Antwort, er sei zwar ihr Gefangener, doch hätten sie die freie Verfügung über ihn ganz der Herzogin anheimgestellt. Was diese beschließen wolle, das würden auch sie gutheißen. Auf diese höfliche Rede erbleichte der König, denn er konnte sich wohl vorstellen, daß er bei der Fürstin wegen seiner Gewalttätigkeiten wenig Milde finden würde, obschon sie sich anscheinend freundlich gegen ihn benahm.

Aber die kluge Herzogin erklärte großmütig: »Meine tapferen Erretter, ich danke euch nicht nur für eure getreue Hilfe, sondern überlasse es euch auch, nach Gutdünken mit eurem Gefangenen zu verfahren.« Als der König dies hörte, kehrte die Farbe wieder in sein Antlitz zurück. Die Brüder aber erwiderten voll Edelmut: »Durchlauchtigste Fürstin, wir nehmen das großmütige Geschenk einer Siegesbeute mit ehrfurchtsvollem Dank an, erklären aber, daß wir kein Lösegeld verlangen, sondern unserem Gefangenen die Freiheit zum Geschenk machen mit dem Vorbehalt, daß der König Euch für alle Beleidigungen, die er Euch zugefügt, Abbitte tue und schriftlich gelobe, in Zukunft Frieden zu halten.« 211

Nicht nur der Herzogin, sondern auch dem gefangenen König selbst schien diese Forderung annehmbar, und der König tat alles sofort mit Freuden, indem er mit tiefer Verbeugung und demütigem Dank Abbitte leistete. Dann gelobte er den beiden tapfern Helden Freundschaft und königliches Wohlwollen und riet der Herzogin, sich mit dem Helden Antonius zu vermählen.

Die kluge Fürstin erwog, daß des Königs Wunsch ihrem Land nur von großem Nutzen sein könnte. Daher ließ sie, als der Held Antonius selbst um sie warb, die Vermählung ohne weiteren Aufschub vor sich gehen. Der König von Elsaß war als Ehrengast zugegen, und das Fest verlief zum Vergnügen aller.

Kaum aber waren die Tage der Festlichkeit zu Ende, da folgte schon wieder eine Schreckensnachricht; denn als die Gäste eben fortziehen wollten, kam ein Eilbote aus Böhmen und übergab dem König von Elsaß einen schriftlichen Bericht seines Bruders, daß nunmehr die Stadt Prag von dem türkischen Großsultan mit einer gewaltigen Heeresmacht belagert und von allen Seiten eingeschlossen sei und auf keinen Entsatz zu hoffen habe. Der König von Böhmen flehte daher seinen Bruder um schleunige Hilfe an. Der König von Elsaß erschrak über dieses Schreiben und bat die beiden Heldenbrüder Antonius und Reinhard, zum Zeichen der neugeschlossenen Freundschaft seinem bedrängten Bruder an seiner Seite mit vereinter Heeresmacht zu Hilfe zu kommen, damit das Land Böhmen vom Untergang errettet und der Christenfeind bezwungen werde. Dadurch würden sie ihren Heldennamen weithin bekanntmachen und sich Ruhm in aller Welt erwerben.

Nun wollte freilich die Herzogin den tapfern Helden Antonius nicht von sich lassen, doch bewirkte die dringende Bitte des Königs, daß Antonius ihm versprach, sein Bruder Reinhard werde auf der Stelle mit einer stattlichen Anzahl tapferer Streiter aufbrechen; sollte es dann die höchste Not erfordern und die vereinigte Macht des Königs und seines Bruders noch nicht hinreichen, so wolle auch er ihnen mit seiner eigenen Person und einem neuen Heer zu Hilfe eilen.

Da erklärte der König von Elsaß in seiner übergroßen Freude, sein Bruder in Böhmen, ein sehr mächtiger König, habe eine einzige Tochter. Er selbst wolle vermitteln, daß Reinhard die königliche Prinzessin und nach ihres Vaters Tod die Krone von Böhmen erhalte. 212 Die Herren von Lusinia sagten ihm dafür Dank und boten sofort alles Volk auf. Der König mit Reinhard eilte über den Rhein und hatte keine Ruhe, bis er auf böhmischem Boden war. Aber da standen die Feinde in solcher Stärke, daß der König und Reinhard sich zu schwach fühlten, sie allein zu bekämpfen. Deswegen sandten sie einen Eilboten an den Herzog Antonius ab mit der dringenden Bitte, sich an die Spitze seiner Heeresmacht zu stellen und den Sieg erringen zu helfen.

Infolge dieser Nachricht verabschiedete sich Antonius von seiner geliebten Gemahlin und brach zur Rettung der Christenheit und des Königs von Böhmen mit einem Gefolge von mehreren tausend Streitern auf.

Die Fürstin hatte ihren Gemahl beim Abschied gebeten, ihres seligen Vaters Schild, Helm und Panzerkleid zu tragen und auch sein Wappen zu führen. Antonius aber hatte ihr geantwortet, er habe schon von seinem Vater ein ererbtes Wappen, das er nicht aufgeben dürfe. Auch habe ihn die Natur selbst schon von Geburt an gleichsam mit einem Wappen, nämlich mit einem Löwengriff auf der Wange, versehen, wodurch er von vielen Tausenden unterschieden sei. Deswegen wolle er als Helmzier einen Löwen führen und auch auf ihren beiden Wappen einen Löwen beifügen lassen.

Der König von Elsaß war vor Freude außer sich, als er vom Herannahen des Helden Antonius hörte, und eilte ihm etliche Meilen weit entgegen.

Endlich langten sie vor Prag im Angesicht der Feinde an. Der König von Böhmen war in der Stadt eingeschlossen. Er sah sich wohl von mächtigen Feinden mit einem gewaltigen Kriegsheer bedroht, aber er wußte auch hilfreiche Freunde, den König von Elsaß und die zwei Herren von Lusinia, deren gesamte Macht den Türken wenig nachzustehen schien, in der Nähe. Das tröstete ihn, er wollte zeigen, daß er ein tapferer König sei und sich wohl getraue, eine Heldentat auszuführen, wie sie Königen geziemt. Als daher der türkische Kaiser eines Tages prahlend vor die Stadt ritt und die Belagerten herausforderte, wollte der König diesem Hochmut nicht länger mehr zusehen, sondern versammelte eine Anzahl seiner Ritter um sich und zog mit ihnen, auf des Himmels Schutz vertrauend, den Türken zum Trotz vor die Tore.

Es entspann sich ein harter Kampf. Die Türken wehrten sich verzweifelt, und schließlich zeigte es sich, daß die Christen zu einem 213 solchen Ausfall zu schwach waren. Sie zogen sich daher wieder zurück und ließen, ohne einen Mann verloren zu haben, viele Türken tot auf der Walstatt liegen. Der König selbst, der bisher wie ein Löwe gefochten hatte, wurde aber zuletzt durch den vergifteten Pfeil eines türkischen Janitscharen zwischen den Panzer getroffen und so schwer verwundet, daß das Gift durch die Wunde in das Herz drang und seinen Tod herbeiführen mußte.

So ward bei den Böhmen die Freude jählings in Leid verkehrt, und klein und groß erhob jammervolle Klage. Die Türken aber wurden darüber nur noch übermütiger, doch die Strafe brach bald über sie herein.

Die Böhmen fielen aus der Stadt, ihren getöteten König einzuholen, doch die Türken streckten viele streitbare Ritter nieder. Immer mehr wuchs der Verlust an tapferen Helden, und die in der Stadt eingeschlossene Prinzessin, die der Tod ihres Vaters aufs tiefste gebeugt hatte, wurde noch trauriger, besonders als sie und alles Volk in der Stadt sehen mußten, wie die Türken vor den Toren ein großes Feuer anschürten, die Leichname der Christen daraufwarfen und unter Jubelgeschrei von der Flamme verzehren ließen. Es war einer der schrecklichsten Tage der Geschichte.

Inzwischen hatten sich die Christen jenseits der Hauptstadt, bewogen durch das Jammergeschrei, das aus der Stadt herübertönte, endlich mit ihrer großen Heeresmacht in Schlachtordnung aufgestellt und rückten nun mutig gegen die Feinde vor. Alles brannte vor Begierde, die Stadt von ihren Bedrängern zu befreien. Vorher hatten sie einen Eilboten abgefertigt, der sich nach Prag hereinschlich und den Bürgern die Kunde von der herannahenden Rettung brachte.

Diese freudige Botschaft machte bei den Einwohnern wieder bessere Stimmung. Sie eilten auf die Mauern und fochten so mannhaft, daß die Türken sich zurückzogen. Während diese sich noch über das Ungestüm der Belagerten wunderten, kam einer aus den Zelten dahergelaufen und schrie voll Entsetzen, sie sollten auf der Stelle den Sturm einstellen und sich in ihr Lager zurückziehen, wenn sie nicht alle des Todes sein wollten. Dazu rief er: »Ich sehe fremdes Kriegsvolk wie eine Nebelwolke dicht zum Entsatz der Christen in unserem Rücken heranziehen. Sie werden uns wie eine Flut überfallen!«

Auf dieses Geschrei stellten sich die Türken in Schlachtordnung auf. Von beiden Seiten hörte man die Trompeter blasen. Die tapfern 214 Christen gingen wie Löwen auf die Türken los, zertrennten ihre Reihen, und es fiel eine große Menge von ihnen. Besonders der edle Held Reinhard von Lusinia tat es allen andern Kämpfern zuvor, und sein Bruder Antonius gab ihm an Heldenmut nichts nach. Die Ungläubigen begannen zaghaft, die Christen aber immer mutiger zu werden. Der Sultan, der die Niederlage seines Volkes erkannte, gebärdete sich wie verzweifelt, griff nach den Waffen und raste selbst unter die Christen, deren er in seiner Wut viele erlegte.

Als Reinhard den Sultan erblickte, griff er zum Schwert und stürmte spornstreichs auf ihn los. Es glückte ihm, den türkischen Kaiser zu töten. Als die Türken sahen, daß ihr Oberhaupt gefallen sei, ergriffen sie in Hast die Flucht. Aber Reinhard, Antonius und der König von Elsaß setzten ihnen nach, töteten viele auf der Flucht und errangen einen herrlichen Sieg. So endete die Türkenniederlage und wurde Prag von der feindlichen Belagerung befreit.

Dann ließ der König von Elsaß den gesamten Adel von Böhmen rufen und erläuterte in einer beweglichen Rede, was dem Vaterland not täte. »Geliebte Herren und Edle«, sprach er, »treue Freunde meines in Gott ruhenden Bruders, ihr alle wißt, daß dieses Königreich jetzt verwaist ist. Damit das Reich nicht ohne Vater bleibe, müßt ihr auf die Wiederbesetzung bedacht sein. Weil nun mein glorwürdiger Bruder eine einzige Erbin als eure Gebieterin hinterlassen hat, habt ihr zu beschließen, was ihr als das Beste für das böhmische Reich und die Krone haltet.«

Die Ritterschaft dankte dem König für seine sorgenden Worte und versicherte einstimmig, sie wüßten keinen bessern Rat, als Seiner Majestät die Sorge für des Landes Wohlfahrt zu überlassen.

»Gut«, erwiderte darauf der König, »weil ihr dies Vertrauen zu Uns habt, so finden Wir keinen Tauglicheren, das Zepter des Reiches zu tragen und zugleich als Beschützer der königlichen Erbin einzustehen, als den großmütigen und um das Reich durch seinen Sieg unsterblich verdienten jungen Helden, Graf Reinhard von Lusinia. Ihn wollen wir als neuen Zepterträger anerkennen.«

Frohlocken ertönte aus der Mitte der Landstände auf diese willkommene Erklärung des Königs, und auch das Volk jubelte über diesen Beschluß. Die ganze Stadt widerhallte von Freudenrufen, daß sie einen so großmütigen König haben sollten. Auch die Prinzessin war außer sich vor Freude, so sehr hatte die Liebe ihr Herz 215 eingenommen. Herzog Antonius dankte hierauf für die Ehre, die seinem Bruder Reinhard widerfuhr.

Als das Hochzeitsfest vorüber war, trat Reinhard seine Regierung an; er tat sich von Tag zu Tag in Fürsorge für sein Land immer mehr hervor und erwies sich als großmütiger und tapferer Regent, so daß man von diesem heldenmütigen Fürsten nicht genug zu rühmen wußte.

Herzog Antonius von Luxemburg aber begab sich nach den Hochzeitsfeierlichkeiten in seine neue Heimat Luxemburg zurück, wo er mit seiner geliebten Gemahlin in glücklichster Ehe lebte.

Indes gingen Raimund und seine Gattin Melusine ihren übrigen Kindern mit den schönsten Tugenden voran, und der Vater eroberte fast das ganze französische Land gegen die Bretagne zu. Sein Sohn Geoffroy, der den großen Zahn mit auf die Welt gebracht hatte, erwies sich ebenfalls als tapferer Held. Denn als sich das Gerücht verbreitete, daß in dem Land Garande ein entsetzlicher Riese hause, der die ganze Gegend verwüstete, da erbot sich der mutige Ritter Geoffroy, das Land von dem Scheusal zu erlösen. Sein Vater hörte dies nicht gern; er fürchtete, der Riese könnte den Jüngling überwältigen. Aber der junge Held beharrte auf seinem Entschluß, ließ sein Roß satteln und ritt in die Landschaft Garande, dem gefürchteten Riesen den Garaus zu machen.

Inzwischen war auch der jüngste Sohn Melusinens, Freimund, herangewachsen, ein Jüngling von stillem Gemüt, gelehrt und ein Liebhaber des geistlichen Standes. Dieser besuchte aus freiem Willen wiederholt das Kloster zu Mallières und empfand endlich lebhaftes Verlangen, in den Orden der Mönche aufgenommen zu werden und sein Leben in diesem Gotteshaus zu beschließen. Er offenbarte diese Neigung seinen Eltern, die ihm die Heldentaten seiner Brüder vorhielten und das junge Blut auf andere Gedanken zu bringen suchten. Aber weder Weltlust noch Liebe zu Heldentaten vermochten den Jüngling von seinem Entschluß abwendig zu machen. Er trat in das Kloster Mallières ein, worüber die Mönche sich freuten.

Während sich die beiden sonst so glücklichen Eltern hierüber heimlich grämten, kam ihnen, als sie gerade zu Favent Hof hielten, durch einen Eilboten die frohe Kunde von dem Sieg ihrer beiden Söhne Antonius und Reinhard vor Luxemburg und Prag, und daß der erste das Herzogtum, der andere die böhmische Krone und beide schöne Fürstentöchter zu Gemahlinnen gewonnen hätten. 216

Bald nach dieser frohen Botschaft aber stellte sich das Unglück ein. Es hatte nämlich eines Samstags ganz zufällig Raimund seine Melusine aus den Augen verloren. Weil er ihr aber feierlich versprochen hatte, an keinem Samstag ein Wort mit ihr zu wechseln oder auch nur nach ihr zu fragen, so machte er sich keine Gedanken darüber, daß er nicht wußte, wo sie war. Nun war aber gerade zu der Zeit der alte Graf vom Forst, Raimunds Vater, gestorben, und der ältere Bruder Raimunds kam nach Lusinia, um diese Trauerbotschaft zu überbringen. Der mit vielen hohen Herren ankommende Bruder wurde nach Gebühr empfangen und ihm alle Ehre angetan.

Nun vermißte der Graf vom Forst seine Schwägerin Melusine und bat seinen Bruder mit freundlichen Worten: »Laßt auch Eure Gemahlin kommen, lieber Bruder, damit wir ihr die gebührende Ehre erweisen können!« Nun erwiderte ihm Raimund mit aller Höflichkeit, daß es diesmal nicht möglich wäre, aber am nächsten Tag geschehen solle. Der Graf wollte sich jedoch damit nicht begnügen, sondern führte während der Mahlzeit seinen Bruder beiseite und sagte ihm leise ins Ohr: »Lieber Bruder, ich glaube, Ihr seid verzaubert! Das ganze Land hegt auch diese Meinung von Euch. Wie könnt Ihr so leichtsinnig sein und gar nicht nach dem Tun Eurer Gemahlin fragen? Meint Ihr, daß Euch das zur Ehre gereicht und nicht allmählich im Volk der Verdacht eines seltsamen Lebenswandels Eurer Frau entsteht? Es ist allgemein bekannt, daß Eure Frau ein Gespenst ist und nur ihr Spiel mit Euch treibt!«

Zorn erfüllte Raimund bei diesen Worten, er wurde blaß, dann rot; der Schimpf, den er erfuhr, beraubte ihn jeder Besinnung. Wütend ergriff er das Schwert und drang damit in das Geheimzimmer seiner Gemahlin. Hier stieß er aber auf eine mit Eisen beschlagene Tür, die sich gleichsam seinem Grimm zu widersetzen und ihn zum Bewußtsein zurückzurufen schien. Aber der rasende Zweifel kehrte immer wieder. Er bohrte daher mit der Spitze seines Schwerts ein Loch in der Tür von Eichenholz und blickte mit finsterem Auge hinein, um sein eigenes Unglück zu schauen.

Zu seinem Schrecken sah er seine Gemahlin in verwandelter Gestalt in einem Wasserbecken sitzen. Das Gesicht und die obere Hälfte des Leibes waren wunderbar schön, aber die untere Hälfte ging in einen langen, mißgestalteten, schlangenartigen Schweif aus; der glänzte wie Lasurblau mit Silber vermengt. Raimund stand vor 217 der Tür, kalter Schweiß überlief ihn, Bangigkeit wollte sein Herz sprengen, er konnte nichts sagen und nichts denken. Doch fiel ihm endlich das Versprechen ein, das er seiner Gemahlin gegeben und jetzt im Zorn so treulos gebrochen hatte. Er verklebte daher das Loch, das er mit seinem Schwert gebohrt, mit Wachs und tröstete sich mit der Hoffnung, Melusine werde seinen Treubruch nicht bemerkt haben. Dann verließ er niedergeschlagen stillschweigend das Vorgemach und ging zu seinem Bruder. Aber er konnte sich nicht so verstellen, daß dieser keine Veränderung an ihm bemerkt hätte. Er sprach deswegen ohne Scheu zu ihm: »Lieber Bruder, ich merke wohl, daß mit Eurer Gemahlin etwas nicht in Ordnung ist.« Raimund aber, um seinen Kummer noch mehr zu verbergen, erwiderte darauf entrüstet: »Ihr irrt Euch; versucht nicht, die Ehre meiner Gemahlin zu beflecken! Ihre Frömmigkeit leidet keine solche Beschimpfung. Darum fort von hier und reizt meinen Zorn nicht mehr, so lieb Euch Euer Leben ist! Denn Eure Gegenwart ist mir jetzt wie ein Pfeil in meinem Herzen!«

Der Graf, der seinen Bruder so erregt sah, schwang sich in höchster Bestürzung wieder auf sein Pferd; er bereute, durch ein einziges Wort solchen Zorn auf sich geladen zu haben. Indessen wurde Raimund immer trauriger, daß er seinem Gelübde entgegengehandelt hatte. Von Ungeduld gepeinigt, klagte er den ganzen Tag und die schlaflose Nacht hindurch, bis endlich der erwünschte Sonntag anbrach.

Nun ging ihm die Freudensonne wieder auf, und der Stern seines Glücks begann wieder heller zu werden; denn die Kammertür öffnete sich, und Melusine trat mit dem gewohnten freundlichen Gruß vor ihn in aller ihrer menschlichen Schönheit. »Mein Geliebter«, sprach sie, »welche Schwermut hält Euer Herz befangen? Was für eine Wolke ruht auf Eurer Stirn ? Sagt es mir, damit ich Euch helfen kann!«

Wer war fröhlicher als Raimund, als er dies hörte! Er glaubte, Melusine habe keine Ahnung davon, daß er die Tür durchbohrt und sie in ihrem unnatürlichen Zustand gesehen habe. Er erwiderte daher: »Nur Eure Abwesenheit hat eine so große Sehnsucht nach Euch in mir erregt, daß ich mich noch matt fühle. Aber Eure Gegenwart, mein bester Arzt, wird diese Wolken schon von mir verscheuchen!« Melusine aber wußte alles, was geschehen war. Sie mußte bei sich selber lächeln, daß Raimund seinen Fehler so gut zu beschönigen und sich zu verstellen wußte, als ob er nicht das geringste gesehen hätte. 218

Während sich dies in Lusinia zugetragen, war Geoffroy auf der Suche nach dem Riesen und fragte überall nach seinem Aufenthalt, bis er endlich erfuhr, daß sich der Riese auf einem Schloß in der Nähe aufhalte und sein Name Gedeon sei. Alle, die den freudigen Kampfesmut des jungen Herrn mit ansahen, gönnten ihm zwar von Herzen den Sieg, aber das Wagnis des Jünglings kam ihnen sehr zweifelhaft vor, wenn sie bedachten, daß der junge Ritter nur wie ein Kind im Vergleich zu jenem Ungeheuer wirkte. Er aber, statt durch den Jammer des Volks verzagt zu werden, tröstete noch die Klagenden und sprach zu ihnen: »Seid ohne Sorge! Ich reite, um Ehre einzulegen, dem Lande Heil zu verschaffen, eure Furcht und euren Schrecken auszutilgen und mit Gottes Hilfe das Ungeheuer zu besiegen.«

So ritt Geoffroy in mutiger Kampfbegier bis vor die Brücke des Schlosses, in dem der Riese wohnte, und fing mit heller Stimme zu rufen an: »Wo bist du, schändlicher Bösewicht, der mein Land verwüstet? Hier steht dein Rächer.«

Kaum hatte er diese Aufforderung beendigt, als der schreckliche Riese schon zuoberst im Schloß das Fenster öffnete. Sein Haupt übertraf an Größe bei weitem den größten Büffelkopf. Er sah den jungen Ritter und wunderte sich, daß er so ganz allein zu ihm käme. Darüber begann er zu lachen, schüttelte mit spöttischer Miene seinen Dickkopf und rief aus dem Fenster herab: »Woher so allein, du Kleiner? Bist du deines Lebens müde? Fast schäme ich mich, dich aus der Welt zu befördern; doch weil du es so haben willst, bin ich bereit, deine Vermessenheit zu strafen!«

Geoffroy kam diese Rede höhnisch vor; ganz entrüstet rief er: »Es ist gar nicht nötig, daß du solches Mitleid mit mir hast; denn ich bin nicht gekommen, damit du Erbarmen zeigst, sondern damit ich dir dein grausames Leben nehme.« Der Riese, der dies noch immer für einen Scherz hielt, unterließ es, Kampfstellung einzunehmen. Geoffroy aber rannte mit einem Satz auf ihn zu und stieß ihn mit dem Speer zu Boden, daß die Erde von dem Fall erzitterte.

Als der Riese den Ernst erkannte, wurde er vor Zorn wütend, daß ihn der kleine Ritter mit einem einzigen Stoß niedergeworfen hatte. Schnell richtete er sich wieder auf, ergriff eine von seinen stählernen Lanzen und holte zu einem Streich auf Geoffroy aus, der nunmehr zum zweitenmal gegen ihn anrannte. Der Streich traf Geoffroys Pferd und schlug ihm mitten im Lauf die beiden Vorderbeine ab, so 219 daß das Roß stürzte. Geoffroy aber sprang flink aus dem Sattel, ergriff sein Schwert und versetzte dem Riesen, ehe er sich's recht versah, wieder einen so wuchtigen Hieb, daß ihm die Tartsche aus der Hand fiel. Sogleich aber griff der Riese nach seiner stählernen Lanze und gab dem Ritter damit einen kräftigen Schlag auf den Helm, daß Geoffroy von dem Schall des Schlags beinahe taub wurde. Fast zog ihn die Wucht des Hiebes zur Erde nieder, doch erholte er sich gleich wieder, eilte mit einem Sprung auf das Pferd zu, das auf dem Boden lag, und riß seinen stählernen Kolben mit solcher Geschwindigkeit vom Sattelknopf, daß es der Riese kaum bemerkte. Mit diesem prellte er seinem Gegner unversehens mit einem Schlag die eiserne Stange aus der Hand. Da ergriff der Riese einen von den Hämmern, die er an der Brust stecken hatte, und warf ihn nach dem Ritter. Der Hammer traf und schleuderte dem Jüngling den Kolben aus der Hand. Froh bückte sich der Riese Gedeon, um den Kolben selbst aufzuheben. Aber während er sich bemühte, ergriff Geoffroy sein Schwert wieder und hieb ihm sogleich einen Arm ab. Erschrocken griff Gedeon mit der andern Hand nach der Stange. Der hurtige Geoffroy aber wich ihm aus, so daß der Riese vom starken Schwung auf die Knie niederfiel und seine Götter um Hilfe anzurufen begann. Unerschrocken nahm Geoffroy die Gelegenheit wahr, führte einen wuchtigen Hieb auf des Riesen Helm und spaltete Helm und Kopf zugleich. So wurde der Riese überwunden und das Land von seinem Plaggeist befreit.

Das erste, was Geoffroy im Schloß tat, war, daß er einen Eilboten abfertigte, der seinen Eltern nach Favent die Botschaft vom Sieg über den Riesen bringen mußte. Welche Freude diese Siegesnachricht daheim erregte, läßt sich nicht beschreiben. Der Bote erhielt reichlichen Lohn und mußte sogleich wieder ein Schreiben Raimunds an seinen Sohn Geoffroy mitnehmen, in dem er ihm zu seinem Sieg Glück wünschte und zugleich berichtete, daß sein Bruder Freimund in dem Kloster Mallières Mönch geworden sei. Aber diesen Brief hätte der gute Raimund besser unterlassen; denn er schmiedete damit sein eigenes Unglück.

Während nun Geoffroy zu Garande alle mögliche Ehre zuteil wurde, kam ein Bote geritten, der Geoffroy die Nachricht brachte, daß auch im fernen Land Norwegen, in der Landschaft Norheim, ein gewaltiger Riese fast das ganze Land verheere und großen Schaden 220 anrichte, weswegen er, der berühmte Riesentöter, von sämtlichen Landesherren ersucht würde, sich unverzüglich aufzumachen und ihnen wider jenes Ungeheuer Hilfe zu leisten. Dafür wollten sie ihn als ihren Herrn anerkennen.

Der heldenmütige Geoffroy fertigte den Boten sogleich mit dem Bescheid ab, er werde sich bald dort einfinden und Leib und Leben wagen; er hoffe, mit Gottes Hilfe den Sieg davonzutragen.

Als der Ritter Geoffroy eben das Schiff besteigen wollte, kam ein Bote seiner Eltern mit Raimunds Brief, in dem ihm von seines Bruders Freimund Eintritt ins Mönchsleben berichtet wurde.

Hierauf ließ Geoffroy in aller Eile die Pferde rüsten und ritt mit einigen Dienern unverzüglich dem Kloster Mallières zu. Der Abt samt dem ganzen Konvent ging ihm entgegen, um den Ankommenden zu bewillkommnen. Aber Geoffroy schrie wütend: »Ihr Verführer, wer zum Henker hat euch befohlen, meinen Bruder Freimund auf die faule Klosterhaut zu legen, daß er den blanken Degen gegen eine härene Kutte vertauschte?«

Zitternd beteuerte der Abt, daß es nur der eigene Herzenswunsch gewesen sei, der seinen Bruder Freimund bewogen habe, in den Orden einzutreten, und daß Freimund das selbst bezeugen könne.

»Es ist so, mein Bruder«, erklärte Freimund hervortretend; »nicht dieser Konvent, sondern mein freier Wille hat mir den Gedanken eingegeben, Gott zu dienen und Mönch zu werden. Warum sollen die Unschuldigen Strafe dafür leiden? Bin ich straffällig, so mag mich der Himmel bestrafen! Vergreife dich nicht an dem geweihten Ort und seinen Bewohnern, die wir doch unablässig für die Wohlfahrt des ganzen Lusinischen Hauses und somit auch für die deinige beten!«

Diese Begründung machte Geoffroy noch wütender; er stieg vom Pferd, ließ augenblicklich einen großen Haufen Holz, Heu und Stroh zusammenbringen und zündete ihn mit eigener Hand an, daß der Wind die Flammen nach dem Kloster zutrieb. Alle Mönche wurden in die Kirche eingeschlossen und mußten hier unter Flammen, Dampf und Rauch jämmerlich ihr Leben lassen.

Doch die Reue blieb nicht aus; sie folgte vielmehr der bösen Tat auf dem Fuß. Als der Mörder den Aschenhaufen ansah und den Tod so vieler Unschuldiger sowie Gottes brennenden Zorn erwog, da erwachte, freilich zu spät, sein Gewissen. Er ritt in der größten 221 Bestürzung wieder nach Garande zurück, wo der Bote von Norheim auf ihn wartete. Geoffroy machte sich unverweilt auf die Reise nach Norwegen, um seine böse Tat desto eher zu vergessen.

Als Geoffroys Eltern eines Tages zu Favent bei Tisch saßen, kam ein Bote von Mallières an, der zu verstehen gab, daß seine Botschaft etwas Besonderes wäre. Er wurde vorgelassen und berichtete: »Gnädiger Herr, Euer Sohn Freimund samt allen Mönchen ist tot; das ganze Kloster ist verbrannt. Ich allein bin entronnen, Euch den Jammer anzuzeigen. Das alles hat Ritter Geoffroy verübt, der in grimmigem Zorn das Kloster in Brand gesteckt hat.«

Als Raimund den Jammerbericht vernommen, setzte er sich traurig zu Pferd und ritt eilig nach Mallières, um mit eigenen Augen das Unheil zu sehen. Hier aber fand er nichts als Trümmer und klagendes Landvolk, das sich in Verwünschungen über seinen Sohn Geoffroy ergoß. Das ging ihm so nahe zu Herzen, daß er nichts mehr weiter ansehen konnte. Er stieg wieder zu Pferd und ritt nach Favent heim. Dort verschloß er sich in seine Kammer und weinte über das Leid, das ihm sein Sohn Geoffroy angetan. Zugleich fiel ihm das Unrecht wieder ein, das er in der Übereilung des Zorns an seinem Bruder, dem Grafen von Poitiers, begangen; denn er erkannte jetzt, daß dieser mit seinem Vorwurf Recht gehabt habe, da Melusine kein natürliches Weib sei, obschon sie ihm zehn Söhne geboren habe, von denen der eine jetzt so jämmerlich von des eigenen Bruders Hand ums Leben gekommen war.

In solchem Unmut traf ihn seine Gemahlin Melusine, die in Begleitung vieler Ritter und Frauen das Gemach betrat, um ihren betrübten Gatten in seinem doppelten Leid zu trösten. Sie schien aber gar nicht willkommen zu sein; denn Raimunds finstere Miene gab ihr zu verstehen, daß ihre Gegenwart nicht sonderlich erwünscht sei. Dessenungeachtet fuhr die treue Frau fort, ihm weiter herzlichen Trost zuzusprechen.

Aber Raimund sah sie trotzig und finster an, wie sie es sonst von ihm nicht gewohnt war. Und zuletzt brach er in die unglückseligen Worte aus: »Verlaß mich, du Schlange! Siehst du nicht, mit welcher Schandtat dein Sohn ›Geoffroy mit dem Zahn‹ sein Lasterleben begonnen hat? Ach, mein Sohn Freimund ist dahin, von Brudermörderhand in den Tod geschickt!« Und dann würdigte er seine getreue Melusine keines Blickes mehr. Diese aber sprach traurig: 222 »Unbesonnener Raimund, bist du von Sinnen, daß du über all unser Unglück auch an mir Unschuldigen noch eidbrüchig wirst! Habe ich nicht dein Glück gesucht, dich geliebt, getröstet und vor allem Unglück gewarnt?«

Dann brach ihr die Stimme, und sie sank in tiefe Ohnmacht. Alle Hofherren und Diener erschraken über diese seltsamen Reden; jeder konnte sich denken, daß dieses Gespräch große Erbitterung nach sich ziehen würde, und es war ihnen nicht lieb, diese Offenbarungen eines jähen Zornes mitanhören zu müssen; auch ahnten sie, daß am Ende zu späte Reue nachfolgen würde. Indessen besprengte man die ohnmächtige Melusine mit frischem Wasser. Dann kam man mit andern Mitteln, sie zu stärken, bis sie endlich wieder zu sich kam, sich aufrichtete und mit klagender Stimme flüsterte:

»Ach, Raimund, was hast du getan? Hält man so Pflicht und Treue, ist das der Dank, mit dem man eine Wohltat bezahlt? Habe ich dich darum so mächtig und reich gemacht, damit ich durch dich ins Unglück versinken soll? Undankbarer, nicht ich, du bist eine Schlange, die ich, mir selbst zum Schaden, an meinem Herzen großgezogen habe! War es dir nicht genug, Treuloser, mich heimlich belauscht zu haben, ohne daß ich ein Zeichen des Zorns dir merken ließ? Nun hast du uns beide um unser Glück gebracht. Denn ich hätte dich nicht verlassen, bis der Tod mich von dieser Welt genommen hätte; so aber bringst du mir Leib und Seele bis an den Jüngsten Tag in Jammer und Not. Wie eine zergliederte Kette wird dein Land von dir gerissen und nach deinem Tod da und dorthin verteilt werden. Ich sehe schon das Unglück deines Geschlechts vor meinen Augen. Nichts als Zwietracht und Uneinigkeit wird herrschen, und ich selbst, wie gern ich es wollte, ich selbst vermag das alles nicht mehr zu ändern!«

Nach diesen klagenden Worten schwieg sie eine Weile. Dann setzte sie fort: »Die Stunde meines Abschieds rückt immer näher heran. So merke dir denn, was ich aus Mitleid noch sage: Den Unmut, den dir Geoffroys Missetaten verursacht haben, vergiß. Eben dieser dein Sohn wird jenes Kloster weit herrlicher aufbauen, als es bisher gewesen. Endlich sage ich dir, ehe ich dich verlasse, wenn man mich einst über Lusinia dahinschweben sieht, dann sollt ihr wissen, daß das Schloß im selben Jahr einen andern Herrn bekommen wird. Doch die Zeit meines Abschiedes ist nun da, und bald werde ich dorthin müssen, wo mein Kummer leider erst anfängt.« 223

Diese Worte fuhren Raimund wie ein Dolch durch das Herz, und er brach in Tränen aus, nichts anders wünschend, als im Augenblick sterben zu dürfen. Er blickte seine Gemahlin traurig an, fiel ihr dann um den Hals und küßte sie wehmütig, so daß allen Anwesenden Tränen hervorquollen. »Verzeih mir, Geliebte, und bleib bei mir!« hob er endlich seufzend an. »Ich kann nicht«, klagte Melusine; »denn das Schicksal hat es so beschlossen. Darum vergiß deinen armen Sohn Freimund, versäume dagegen nicht, was ich dir gesagt habe! Sorge auch besonders für deinen Sohn Raimund; denn dieser wird an deines Bruders Stelle Graf vom Forst werden.«

»Erinnere dich auch öfter«, fuhr sie fort, »deines jüngsten Sohnes Dietrich, den die Amme noch säugt, und wisse, daß er dereinst zu Portenach und Rochelle ein regierender Graf sein und große Rittertaten verrichten wird; auch alle seine Söhne werden großen Ruhm erwerben. Vergiß weiter nicht, künftig den Himmel für mich zu bitten, und auch ich will deiner nicht vergessen, sondern dir noch viel Trost und Hilfe in allen deinen Anliegen zu verschaffen suchen, obschon du mich in leiblicher Gestalt von nun an nimmer sehen wirst.«

Nach diesen Worten verwandelte sie im Augenblick ihre Gestalt, nahm zur Hälfte die eines Fisches an und sprang mit einem Satz auf das Fenster, um sich hinauszuschwingen. Doch wandte sie nochmals den Kopf zurück und rief, Abschied nehmend: »Leb wohl, mein Raimund, ich vergesse, was du mir zuleid getan hast! Leb wohl, du Besitzer meiner treuen Liebe, mein einziger treuer Freund! Ich verlasse dich mit Schmerzen. Wenn du mich auch furchtbar gekränkt hast, so habe ich dich dennoch geliebt. Lebt auch ihr wohl, getreue Herren des Landes, der Himmel segne euch und auch mein Volk, dessen Gebieterin ich gewesen!«

Raimund stand sprachlos da, dann fing er bitterlich zu klagen an und raufte sich sein Haar. Mit wehmütiger Stimme rief er Melusinen viele tausend Abschiedsgrüße nach. Seitdem sah man ihn nicht mehr fröhlich, solange er noch lebte.

Melusine hatte ihrem verlassenen Gemahl zwei kleine Kinder zurückgelassen, die einer Amme übergeben waren. Sie hießen Dietrich und Raimund. Deren Wärterin sah wiederholt, daß Melusine in gespenstischer Gestalt bei Nacht in voller Dunkelheit in die Schlafkammer kam, eins der Kinder nach dem andern aus dem Bett hob, es säugte und sodann wieder sanft in das Bett zurücklegte. Dies wurde 224 Raimund berichtet. Dieser hörte es mit innigem Vergnügen, tröstete sich damit in seinem Kummer und klammerte sich an die nichtige Hoffnung, seine geliebte Gemahlin einst doch wiederzubekommen. Er befahl, daß man den Geist auf keine Weise hindern solle; denn er hielt es für ein gutes Anzeichen und fühlte sich seitdem in seiner Trauer merklich erleichtert.

 

Inzwischen war Geoffroy glücklich im Land Norheim angelangt, wo große Freude über die Ankunft des tapferen Ritters herrschte, denn der Name des Helden, der im Land Garande den ungeheuren Riesen erlegt hatte, war allen geläufig. Von den Landesherren wurde dem jungen Helden ein erfahrener Führer mitgegeben, dem die Gegend, wo der Riese seine Wohnung hatte, wohl bekannt war. Als sie den Berg hinanritten, wo sich der Riese meist aufzuhalten pflegte, begann der Wegweiser zu zittern; es war ihm nicht wohl bei der Sache zumute. Er sah sich hie und da um, ob der Riese ihnen nicht von irgendeiner Seite her auf den Nacken käme. Dabei bemerkte er, daß sich das Ungeheuer unweit eines gewaltigen Felsens unter einem schattigen Baum auf einer marmornen Bank niedergesetzt hatte. »Herr, wir sind des Todes«, schrie der erschrockene Mann, »wenn wir nicht eilends umkehren! Ich bitte, entlaßt mich; dort oben auf der Anhöhe sehe ich das Scheusal sitzen!«

»Verzagter, was fürchtet Ihr Euch«, rief Geoffroy; »bleibt bei mir, ich werde Euch und das ganze Land retten!«

»Das mag wohl sein«, erwiderte der Mann, »aber laßt mich unten! Ich habe Euch nun den Weg gewiesen, wo Ihr Euren Tod finden könnt; weiter oben sind wir unseres Lebens nicht mehr sicher!«

»Narr, ich werde dich nicht entlassen«, schalt Geoffroy; »wenn ich auch deine Hilfe nicht verlange, so sollst du doch meinen Sieg mit anschauen.« Und so nötigte er ihn, widerwillig und in höchster Angst den Berg mit hinaufzureiten. Geoffroy mußte über den Zitternden lachen, der sich benahm, als läge er im Fieber. Sie wurden auch bereits von dem Riesen Grimold, wie er hieß, gesehen, aber er blieb voll Verachtung regungslos sitzen.

Endlich, als die beiden ganz in der Nähe waren, hieß Geoffroy lachend seinen Begleiter halten und den kommenden Dingen ruhig zusehen. Der Führer versprach zu bleiben, wenn der Kampf nicht 225 zu lang dauern würde. »Sonst«, erklärte er, »werde ich das Weite suchen, wenn es mir zu arg wird. Wagt Euer Leben nicht allzu verwegen; denn dieser Wüterich hat schon viele tapfere Helden getötet!«

»Sorgt Euch nicht, mein Freund!« antwortete Geoffroy und ritt noch ein kleines Stück weiter aufwärts, bis er den Riesen erreichte. Dieser wunderte sich über des Ritters Kühnheit, der so allein bei ihm erschien; doch dachte er, es könnte ein Bote sein, der etwas auszurichten hätte. Er stand deswegen auf, nahm eine große, dicke Lanze und ging dem ankommenden Ritter entgegen. Wenige Schritte vor Geoffroy blieb er stehen und schrie: »Woher bist du, Vermessener, daß du dich erkühnst, allein gegen mich zu reiten?«

»Ich komme«, erwiderte Geoffroy, »mit dir zu kämpfen, du Ungeheuer!«

»So, bist du deines Lebens müde?« hohnlachte der Riese. »Komm«, sagte darauf Geoffroy, »und mache nicht viel Worte! Töte mich, wenn du kannst!«

»Ach, ach«, spottete der Riese, »schone mein Leben, du Wicht, und bring mich nicht so schnell um!«

Den tapfern Geoffroy verdroß diese Hohnrede. Er ritt ohne ein weiteres Wort auf den Prahler zu und traf ihn so hart mit dem Speer, daß er ihn durchbohrt hätte, wäre der Riese nicht mit einem stählernen Harnisch bedeckt gewesen. Doch fiel er auf die Erde und reckte die Beine in die Höhe; jetzt raffte er sich geschwind wieder auf und rief: »Du hast mir einen empfindlichen Stoß beigebracht, kühner Ritter; darum nenne mir deinen Namen!«

»Ich bin weltbekannt«, entgegnete der Ritter, »und heiße ›Geoffroy mit dem Zahn‹!«

»So«, erwiderte der Riese, »ich habe von dir gehört, daß du meinen Oheim, den Riesen Gedeon von Garande, erschlagen hast! Dafür soll dir bald dein Lohn werden!« Ungeduldig griff der Riese zu seiner Lanze und führte damit einen furchtbaren Streich auf Geoffroys rechte Hand. Aber dieser wich dem Hieb aus, so daß die Stange gegen den Felsen fuhr und eine tiefe Kerbe hineinschlug.

Unterdessen faßte Geoffroy nach seinem Schwert und schlug dem Riesen auf den Harnisch, daß Splitter davonsprangen und Blut aus den Ritzen drang. Der plötzliche große Blutverlust machte den Riesen kraftlos, so daß er zurückweichen mußte. Dadurch kam Geoffroy abermals zum Schwert, versetzte ihm einen neuen Streich 226 und zwang das Ungetüm, nach seiner Felsenhöhle zu eilen und sich dort zu verbergen.

Diese Höhle war ein düsteres Loch, wie ein tiefer Keller anzuschauen, der junge Held konnte ihn hier nicht mehr erreichen. Da schwang er sich fröhlich auf sein Pferd, ritt zu seinem Führer, der noch zaghaft auf seiner Stelle stand, zurück und zeigte ihm seinen von den Fehlhieben des Riesen getroffenen Hamisch und den Helm voll Beulen.

Während Geoffroy mit seinem Begleiter sprach, kamen die Herren des Landes, gefolgt von viel Volk. Sie meinten, der völlige Sieg sei errungen, und fingen an, den Sieger mit Glückwünschen zu überschütten. Sie hörten aber bald, daß es anders stand. Besorgt fragten sie den Ritter, ob der Riese sich nicht nach seinem Namen erkundigt habe. »Ja«, antwortete Geoffroy, »ich habe ihn ihm auch ohne Bedenken gesagt!«

»Nun«, fing einer von den Herren an, »dann wird er auch nicht mehr aus seiner Höhle herauskommen, solang der tapfere Geoffroy im Land ist; denn er hat eine sichere Ahnung, daß er von ihm getötet werden soll.«

»Wenn er sich auch nicht herauswagt«, antwortete der Ritter, »will ich ihn dennoch töten, um den Sieg voll zu machen. Ich will aus diesem Land nicht eher scheiden, bis meine Faust dieses Ungeheuer erlegt hat!«

Ein anderer Landesherr, der Mitleid mit dem jungen Helden empfand, warnte ihn; denn in dem Bergmassiv gebe es Gespenster. Der alte Beherrscher des Landes Norheim, König Helmas, sei von seinen drei Töchtern in diesen Berg eingeschlossen worden und habe bis zu seinem Tod dort bleiben müssen. Auch wisse man nicht, wohin die drei Töchter des Königs mitsamt ihrer Mutter gekommen seien. Einen Riesen habe es an diesem Ort immer gegeben, der habe den Berg gehütet. Der jetzige sei bereits der fünfte oder der sechste, und alle hätten das Land verwüstet. Bisher habe der Riese alle Helden, die gegen ihn ausgezogen, bezwungen und getötet. Geoffroy sei glücklicher gewesen als alle Könige des Landes, die nicht hätten wagen dürfen, was er riskiert habe. Doch solle er mit dem Riesen nur kämpfen, wenn er außerhalb des Berges zu treffen wäre.

Geoffroy versprach den Anwesenden, den Riesen zu erlegen, und nun ritten sie mit ihm zur Abendtafel nach der Stadt zurück. 227

Als der frühe Morgen anbrach, machte sich Geoffroy wieder auf den Weg und ritt dem Berg zu. Dort angekommen, mußte er lange suchen, bis er unter den vielen Löchern und Klüften den Eingang zu der Riesenhöhle fand. Dann sprang er rasch vom Pferd, ergriff seinen Speer und ließ sich an einem Seil in das Felsenloch hinab. Als er Grund spürte, stieß er mit vorgehaltenem Speer überall umher, ob er nicht den Riesen in irgendeinem Winkel der Höhle auffinden könnte. So kam er immer tiefer hinab, bis er einen Lichtschimmer sah, dem er nachging und der ihn in eine helle Kammer führte, die mit Gold, Silber und Edelsteinen angefüllt war.

Er sah sich verwundert um. In der Mitte der Kammer stand ein Grabmal auf sechs zierlichen Pfeilern, mit Edelsteinen reich geziert; auf diesem war ein bewaffnetes gekröntes Königsbild aus milchblauem, durchsichtigem Chalzedon abgebildet; zu dessen Füßen war ein Frauenbild zu sehen, das eine Tafel in den Händen hielt, auf der folgende Schrift deutlich zu lesen war:

»Dies ist der König Helmas, mein lieber Gemahl, der hier begraben liegt, ein mächtiger König von Nordland. Weil er treubrüchig geworden, verlor er mich. Die drei Töchter, die ich ihm geboren, nahm ich mit mir und erzog sie bis ins fünfzehnte Jahr; er wußte nicht wo. Dann entdeckte ich ihnen des Vaters Vergehen. Darüber erzürnt, beschloß die jüngste, Melusina, ihren Vater dafür zu strafen. So sperrten sie ihn bis ans Ende seines Lebens in diesen Felsen ein. Ich selbst begrub ihn unter diesem Stein. Und damit sein Grab vor Dieben, Räubern und Schatzgräbern sicher wäre, habe ich den Riesen hieher befohlen, Grab und Felsenhöhle zu hüten. Meine drei Töchter haben drei besondere Kennzeichen.

Die jüngste, Melusina, die sehr klug und scharfen Verstandes ist, wird jeden Samstag vom Gürtel an zur Schlange. Wer sie freit, soll ihr geloben, sie an diesem Tag weder zu sehen noch nach ihr zu fragen und keinem Menschen dieses Geheimnis zu entdecken. Melora, meiner zweiten wunderschönen Tochter, trug ich auf, daß sie als Geist ein herrliches Bergschloß in Armenien hüten und daneben unäblässig einen Sperber auf dem Haupt haben soll. Wer sich ihr nahen will, der muß von adeligem Ritterblut sein und ohne Furcht drei Tage und drei Nächte schlaflos den Sperber hüten; dann darf er von dem jungfräulichen Geist jede Gnade, außer ihrer Person und Liebe, erbitten. Wer sich aber vom Schlaf überwinden läßt, der soll bis zum Jüngsten Tag des Geistes Gefangener sein.

Meiner dritten Tochter, Plantina, befahl ich, auf dem hohen Berg Roniche in Aragonien ihres Vaters unendliche Schätze zu hüten, bis sich einer unseres Geschlechts findet, der Burg und Schatz erobert und König zu Jerusalem wird. Dies habe ich, ihre Mutter Persina, den drei Töchtern auferlegt. Damit begnüge sich, wem diese Tafel zu Gesicht kommt.« 228

Geoffroy, der den Inhalt dieser Tafel bedachtsam gelesen hatte, erkannte jetzt staunend, daß seine Mutter die Nymphe Melusine war und König Helmas sein Großvater, Persina seine Ahnfrau gewesen. Aber völlig wollte er es erst glauben, sobald er glücklich den Riesen erlegt hätte; dann erst wollte er sich für den wahren Erben halten. Mit neuem Eifer verließ er das Gemach und geriet auf einen weiten Platz, auf dem sich ein hoher Turm befand. Er nahm seinen Speer auf die Achsel und ging unter scharfem Umherspähen auf den Turm los, den er offen und voll herrlicher Gemälde fand.

Im Weitergehen jedoch bemerkte er unter dem Gebäude einen düsteren Kerker, in dem sich viele Gefangene befanden, die sich alle wunderten, woher der Fremde käme und welcher entschlossene Mut ihn so weit gebracht. Einige warnten ihn mitleidig vor dem Riesen, andere dagegen riefen: »Schweigt, laßt den jungen Helden doch ziehen, vielleicht wird er unser Erlöser werden! Gott der Herr, der ihn hierher geleitet hat, wird ihn auch weiter schützen.« Geoffroy fragte lächelnd: »Wo ist das Ungeheuer, das euch quält? Zeigt mir den Ort, damit ich meinen ritterlichen Mut an ihm erprobe!« Darauf erwiderte einer der Gefangenen: »Nehmt Euch in acht, Herr Ritter, Ihr werdet ihn bald zu sehen bekommen!«

Kaum waren diese Worte gesprochen, kam der Riese daher. Aber statt daß Geoffroy vor ihm floh, erschrak der Riese, als er den Ritter erblickte, und verkroch sich vor ihm in ein Gemach, dessen Tür er eilig hinter sich zuschloß. Geoffroy, dadurch kühn gemacht, sprang ihm schnell nach und schlug so mächtig an die Tür, daß sie in Stücke sprang. Nun hatte aber der Riese einen großen Hammer aus Stahl, mit dem gab er dem Ritter einen Streich aufs Haupt; aber der Helm hielt den Hieb aus und blieb unbeschädigt. »Dieser Streich soll dir doppelt vergolten werden«, rief Geoffroy, zog sein Schwert und hieb den Riesen nieder. Das Ungeheuer stieß dabei einen solchen Schrei aus, daß der Turm zu zittern schien. Aber damit war sein Leben zu Ende.

Da dankte Geoffroy dem Allmächtigen für den Sieg, steckte das Schwert in die Scheide, eilte zu den Gefangenen im Turm und fragte sie, was denn ihr Verbrechen sei. Darauf sagten sie ihm, daß sie den Tribut nicht bezahlen konnten, den der Riese von ihnen forderte. »Nun, so sei er euch mitsamt eurer Freiheit geschenkt!« rief Geoffroy und befreite mehr als zweihundert Gefangene aus ihrem 229 finsteren Kerker. Mit heißen Dankesworten begleiteten ihn die Befreiten aus der Höhle. Vorher hatten sie noch einen Karren bereitet, auf den der schwere Leichnam des Riesen geworfen und aus dem Berg gezogen wurde. Die Leiche saß aufrecht auf dem Wagen, mit Ketten angebunden, als lebe das Ungeheuer noch; so führten sie das Scheusal im Land umher. Alles Volk lief herzu, dankte Gott und lobte den Bezwinger Geoffroy, der zur rechten Stunde erschienen sei.

Mittlerweile kam Geoffroy wieder zu den Herren des Landes, die mit Zittern und Zagen auf ihn gewartet hatten. Da wurde ihm und den befreiten Gefangenen alle erdenkliche Ehre angetan. Und da gerade der König von Norheim ohne Erben gestorben war, wurde ihm nicht nur Geld und Gut, sondern die königliche Krone selbst angeboten, wenn er bei ihnen bleiben wollte. Dies alles aber schlug Geoffroy mit großer Höflichkeit aus, und nach kurzer Zeit machte er sich, von allen gepriesen, wieder auf den Heimweg.

Bald kam die Kunde von seiner Rückkehr auch zu seinem Vater Raimund. Dieser ritt seinem Sohn Geoffroy entgegen; denn er hatte schon gehört, wieviel Ruhm und Ehre er im Reich Norheim erlangt hatte. Diese neue Freude hatte den guten Raimund wieder ein wenig über seinen schweren Kummer getröstet. Es war eine freudige Begrüßung zwischen Vater und Sohn, so daß vielen Tränen aus den Augen rannen. Dann nahm der Vater Raimund seinen Sohn bei der Hand, führte ihn beiseite und eröffnete ihm sein ganzes Leid, den Verlust seiner Mutter und alles, was sich bisher zugetragen hatte.

Seufzend stand Geoffroy eine Weile in sich gekehrt, dann erzählte er dem Vater von der Tafel und der Schrift, die er in dem Geisterberg zu Norheim gefunden und gelesen habe. Nun hörte Raimund, was er vorher selbst nicht gewußt, wer nämlich Melusine gewesen und daß sie aus königlichem Geschlecht stamme. Dagegen hatte auch sein Sohn von seinem Vater erfahren, was er bisher nicht gewußt, wie nämlich des Vaters Bruder ihn gereizt habe, seine Melusine an einem Samstag zu besuchen und ihr vor aller Öffentlichkeit ihren Zustand vorzuwerfen und sie damit zu beschämen.

Da schwur Geoffroy, seinem Onkel, dem Grafen, den Tod. Er sattelte sein Pferd und ritt in Begleitung seines jungen Bruders Raimund Tag und Nacht auf den Forst zu, worüber ihr Vater Raimund in neuen Kummer geriet; denn es reute ihn, daß er seinem 230 Sohn alles so genau erzählt hatte, da nun vielleicht auch dieses Unternehmen ein böses Ende nehmen würde.

Geoffroy aber gelangte unerkannt in die Grafschaft vom Forst bis dicht an das Schloß des Grafen. Er fand es offen, stieg vom Pferd und trat in den Saal, wo sein Oheim sich aufhielt. Sofort griff er nach dem Schwert, stürzte auf ihn zu und fuhr ihn ungestüm an: »Ha, Verräter, du bist es, durch den wir alle unsere Mutter verloren haben! Bösewicht, du mußt sterben.« Der Graf vom Forst wußte in seiner Bestürzung nichts anderes zu tun, als sein Heil in der Flucht zu suchen. Er verschloß sich in einen Turm und glaubte sich hier vor dem Zorn des Ritters geborgen.

Aber Geoffroy verschaffte sich Zutritt in den Turm, so daß der Graf bei einem Fenster des Turms hinausspringen mußte, um sich auf ein gegenüberliegendes Dach zu flüchten; er verfehlte es aber und stürzte in die Tiefe. Nun ließ ihn Geoffroy bestatten und befahl, daß man nunmehr seinen Bruder Raimund ohne alle Widerrede als Landesherrn anerkenne.

Vater Raimund war inzwischen nach Lusinia zurückgekehrt; Unmut und Trauer erfüllten sein Herz; denn der Tod seines Bruders durch seinen Sohn Geoffroy war ihm berichtet worden. Er versank nun aufs neue in Reue und beschloß, nach Rom zu ziehen, dort Buße zu tun und nicht mehr nach Hause zu kommen, sondern sein Leben in einem Kloster zu beschließen. Während er sich mit solchen Gedanken abquälte, kam sein Sohn Geoffroy in den Schloßhof geritten und fiel vor seinem Vater auf die Knie. Er bat um Verzeihung wegen aller seiner Taten und gestand freimütig, daß er die einzige Ursache aller schmerzhaften Verluste sei, die sein Vater erlitten habe.

»Es ist so, mein Sohn, wie du sagst«, tröstete Raimund seinen Sohn, »aber wir können die Toten mit all unsern Klagen nicht mehr erwecken. Doch sei dir hiermit zur Strafe auferlegt, das verbrannte Kloster Mallières wieder aufzubauen und Mönche zu Dienst und Ehren Gottes darin zu erhalten.« Geoffroy versprach, das Kloster schöner zu erbauen, als es zuvor gewesen. Dies tröstete den alten Raimund ein wenig. »Vernimm, mein Sohn«, sprach er zu Geoffroy, »was ich dir jetzt erklären will. Ich habe mir zur Buße eine Reise in ein fernes Land vorgenommen und will jetzt dieses Gelübde ausführen. Dir aber befehle ich, das Land an meiner Statt zu regieren und dich als ein Vater und nicht als ein Tyrann, wie du bisher gegen 231 die Untertanen gewesen, zu erweisen, deinen jüngsten Bruder aber, meinen Sohn Dietrich in aller Frömmigkeit zu erziehen, und wenn er erwachsen ist, ihm die Herrschaft Portenach, Favent und Rochelle zum Besitz auszufolgen. So hat es mir deine selige Mutter empfohlen, und ich will es auch dir ans Herz gelegt haben, um ihr gegenüber mein Gewissen zu erleichtern!«

Geoffroy versprach ihm unverbrüchlichen Gehorsam. Raimund aber berief alle Untertanen zusammen, stellte ihnen seinen Sohn als künftigen Regenten vor, ließ die Huldigung vor sich gehen und trat die Reise an. Seine Söhne Geoffroy und Dietrich gaben ihm mit einem kleinen Gefolge zu Roß das Ehrengeleit bis an die Landesgrenze. Dann nahmen sie tränenvollen Abschied vom Vater.

Der junge Dietrich wuchs heran und hatte die Mannesjahre erreicht. Da ritt er, dem väterlichen Befehl gemäß, nach Portenach und nahm Besitz von seinem Erbteil. Er regierte klug und glücklich und galt für einen weisen Regenten.

Geoffroy hatte das Kloster Mallières schöner und größer, als es zuvor gewesen, wieder aufgebaut.

Nach Jahren kam Nachricht, daß Raimund zu Rom angelangt sei und vor dem Papst eine Beichte abgelegt, Absolution empfangen und die auferlegte Buße gehorsam angenommen habe. Auf die Frage des Papstes, was er jetzt beginnen wolle, erwiderte er: »Allerheiligster Vater, ich will mein Leben an einem Ort beschließen, wo nicht viele Leute um mich sind.« Und als der Papst diesen Vorsatz lobte und ihn um den Ort befragte, den er sich ausersehen hätte, sagte er, daß er nach Montserrat in Spanien ins Kloster »Zu Unserer Lieben Frau« ziehen wolle, um dem Herrn dort zu dienen, solang er lebte.

Als Geoffroy der Aufenthalt Raimunds in Rom berichtet wurde, beschloß er, seinen Vater aufzusuchen. Er übergab seinem Bruder Dietrich für einige Zeit die Regierung und machte sich auf den Weg. Zu Rom angelangt, erfuhr er vom Papst, daß sein Vater als Einsiedler in Montserrat lebe. »Wenn Ihr Euren Vater am Ort seiner Andacht besuchen wollt«, erklärte der Papst, »so begleitet Euch mein väterlicher Segen.«

Der Ritter zog darauf hin weiter und traf seinen Vater in Aragonien. Die Wiedersehensfreude war groß. Aber vergebens bemühte sich Geoffroy, den Vater zu bewegen, mit ihm zurückzukehren und 232 sein Leben zu Lusinia in Ruhe zu beschließen. Geoffroy machte sich daher nach fünftägigem Aufenthalt wieder auf den Heimweg.

Als es nun mit seinem hochbejahrten Vater zu Ende ging, zog Geoffroy noch einmal nach Aragonien, wo er den Vater wohl schwach und hinfällig, doch noch am Leben traf. Er empfing von ihm den Segen, dann drückte Geoffroy dem Verblichenen die Augen zu und bestattete ihn in Ehren. Ehe aber Raimund starb, drei Tage vor seinem Tod, hörte man zu Lusinia über dem Schloß ein gewaltiges Rauschen. Es war der Geist Melusinens, der das Schloß dreimal umkreiste, und wie sie einst ihrem Gemahl verkündet hatte, nun allem Volk seinen Tod weissagte.

 

Der Bruder Gyot hatte in Armenien am Fuße der gewaltigen Kaukasuskette als König des Landes regiert. Hier hauste in einem unheimlichen Schloß ein Gespenst, wie es Geoffroy auf dem Denkmal im Riesenberg zu Norheim gelesen hatte. Dort fand sich auch ein Sperber von sonderbarer Art. Wer bei diesem unheimlichen Geist mit dem Sperber auf dem Haupt Gnade finden und seines Lebens sicher sein wollte, der mußte erweisen, daß sein Geschlecht vom lusinischen Stamm sei, dann drei Tage und Nächte ohne Schlaf den Sperber hüten, sonst geriet er in Lebensgefahr. Hatte er aber dies pünktlichst vollbracht, so durfte er eine Gabe fordern, nur die Person und Liebe der Jungfrau Melora, der zweiten Tochter des Königs Helmas, nicht.

Nach Gyot herrschte sein Sohn in Armenien, der wollte es wagen, den Sperber zu hüten, aber er wollte die verzauberte Jungfrau selbst als Gnade sich ausbitten und sie dadurch erlösen. Auf dem Wege zum Schloß, worin sich der Geist mit dem Sperber befand, begegnete dem König ein alter Mann, ganz bleich und mager und weiß gekleidet. Der fragte den Fremden, was er hier suche. »Ich will die Bedingungen, die für dieses Schloß festgesetzt sind, erfüllen und den Sperber bewachen«, sagte der muntere König. »So kommt mit mir«, versetzte der Alte; »ich will Euch an den Ort führen, wo Ihr tun könnt, was Ihr nicht lassen wollt!«

Hierauf führte der Alte ihn in einen herrlichen Saal, wo ein prächtiger Sperber auf einer Stange saß. »Hier ist der Ort«, sagte der Alte, »wo Ihr drei Tage und drei Nächte wachen müßt, und wenn die Zeit vorüber ist, habt Ihr das Recht, um alles zu bitten, was Ihr wollt, 233 nur nicht um die Person und die Liebe der Jungfrau! Wenn Ihr aber Eure Wache schläfrig verrichtet, müßt Ihr bis an den Jüngsten Tag in diesem Schloß bleiben!«

»Gut«, erwiderte der König selbstsicher, »ich werde meine Schuldigkeit tun, hernach aber auch die gebührende Gabe zu fordern wissen!« Dabei dachte er aber einzig und allein an den Besitz der Jungfrau.

Darauf hin hielt er einen Tag und eine Nacht Wache und atzte den Sperber aufs beste, so daß einer mit dem andern wohl zufrieden sein konnte. So erreichte der König glücklich auch den dritten Morgen. Da kam die gespenstische Jungfrau in grünem Kleid, aufs prächtigste geschmückt, mit freundlicher Miene auf ihn zu und redete ihn mit den höflichsten Worten an: »Ihr habt Euer Vorhaben klug und glücklich beendet und allen Vorschriften Genüge getan; so sagt mir denn nun Euer Verlangen.«

Der König dankte für das Anerbieten und fing hochmütig an: »Ich will keine andere Gabe als Euch selbst und Eure Liebe empfangen.« Als die Jungfrau dies hörte, erwiderte sie zornig: »Ihr müßt ein andres Verlangen stellen, Freund, denn mich selbst könnt Ihr nicht haben!« Der König beharrte aber auf seiner Forderung, worauf die Jungfrau, noch zorniger, ihm zurief: »Ihr wollt Euer Unglück; ich warne Euch davor und rate Euch, Euer Verlangen aufzugeben, wenn Ihr nicht Euer Königreich verlieren wollt.«

»Sei es töricht oder klug gehandelt«, begann der vermessene König wieder, »so werde ich doch nicht aufhören, Eure Person als Belohnung zu fordern, so wahr ich König weiter Länder bin!« Die Jungfrau, darüber noch mehr entrüstet, antwortete: »Du handelst so töricht wie dein Großvater Raimund, der den weisen Rat verwarf und sein Gelübde brach, weshalb er alles verlor, was er gehabt hatte. Auch du hast nun alles verloren. Von nun an ist nichts als Unglück und Trübsal dein Los, wie es deinem Großvater ergangen ist.« Dann erzählte sie ihm die ganze Geschichte von Helmas und Persina und daß sein Vater Gyot ihrer Schwester Sohn gewesen war.

»Du siehst also«, schloß sie, »wie töricht dein Starrsinn war. Du hast dadurch dein Reich verloren, das nicht nur dir weggenommen, sondern auf ein anderes Geschlecht übergehen wird. Alles Glück und alle Ehre hast du mit deiner Torheit verscherzt. So weiche denn, du armseliger Gyot, Gyots Sohn; denn du hast unklug gehandelt!« 234

Der junge Gyot aber, von Verlangen geblendet, wollte die Sache erzwingen und schlang seine Arme um die Schöne. Aber das anmutige Bild zerrann in seinen Armen, und er hatte nichts als einen Schatten gehalten; mit diesem Schatten aber schwand auch sein Glück. Ein gespenstischer Geist erschien, der schlug ihn, setzte ihm übel zu und warf ihn schließlich zu Boden, so daß er halbtot dalag. Mühsam riß er sich empor und schwankte den Schloßberg hinab seinem Zelt zu, das auf dem Wiesengrund stand. Dort konnte er vor Schwäche kaum mit den Seinigen reden. Diese waren über den Zustand ihres Herrn ganz bestürzt und wagten es kaum, zu fragen, ob der König bei dem Sperber gewacht und die Gaben gewonnen habe. »Elender Gewinn«, seufzte er wehmütig. »Mich hat ein unglücklicher Stern hierhergeleitet! Sattelt nun die Pferde und schickt euch zum Aufbruch an, damit ich nicht auf dem Weg sterbe.«

Sogleich wurde alles gerüstet, der sterbende König aufs Pferd gesetzt und die Heimreise angetreten. Nach vielen Mühseligkeiten kam er nach Hause, wo seine schwachen Kräfte von Tag zu Tag abnahmen. Und es kam so, wie der jungfräuliche Geist angekündigt hatte. Bald starb er an Auszehrung, und nach ihm wurde ein anderer König aus andrem Geschlecht gewählt. Aber auch dieser war vom Unglück verfolgt, so daß das Königreich langsam dahinschwand.

 

Die dritte Tochter des Königs Helmas, Plantina, eine wunderschöne Jungfrau, war von ihrer Mutter Persina als Hüterin des väterlichen Schatzes auf einem Berg in Aragonien bestimmt. Dieser Schatz sollte von niemand behoben werden können als von einem Helden aus dem Geschlecht des Königs Helmas. Auf jenem Berg aber hielten sich viele Drachen und andere wilde Tiere auf, so daß man sich nicht ohne Lebensgefahr diesem Berg nähern konnte. Viele tapfere Ritter hatten da schon ihr Leben gelassen.

Nun kam einst ein mutiger junger Ritter aus England in der kühnen Absicht, zuerst den verborgenen Schatz und dann das Heilige Land zu erobern.

Die Höhle, wo jener Schatz verborgen war, befand sich mitten in dem Berg. Rings um die Höhle waren kleinere Höhlen, in denen gräßliche Lindwürmer und andere Tiere hausten. Nur ein einziger schmaler Weg führte auf den Berg. Wer dahin wollte, mußte schnell sein, ohne sich lang umzusehen; denn man hatte weder Zeit noch 235 Raum, lange auszuruhen, da die vielen Schlangen und scheußlichen Tiere jeden Schritt umlagerten.

Trotzdem betrat der kühne Ritter mit dem Schwert in der Hand den schmalen Steig, der so mühselig zu gehen war, wie er noch keinen zurückgelegt hatte. Da kam bald ein großer Drache daher, der mit offenem Rachen auf ihn zuschoß. Doch der Ritter hieb ihm mit einem einzigen Streich den Schädel ab. Hierauf begegnete ihm ein gewaltiger Bär, der wütend auf ihn zulief und ihm so nahe kam, daß er ihm sogar seinen Schild aus der Hand zu zerren vermochte und den Harnisch beschädigte. Aber der Ritter holte unverzagt aus und traf den Bären mit dem Schwert auf die Schnauze, daß das Tier augenblicklich zu Boden stürzte.

Der Ritter ging weiter und erlegte noch manch scheußliches Gewürm, das ihm den Weg streitig machte, so daß er ermattet oben ankam. Zuletzt gelangte er an eine eiserne Tür, vor der ein böses Ungeheuer lag, das die Höhle hütete, wo jener große Schatz und die gespenstische Jungfrau seit langen Jahren verborgen waren. Sobald das Ungeheuer den Jüngling erblickte, richtete es sich mit gewaltigem Ungestüm auf und lief im höchsten Grimm mit offenem Rachen auf ihn zu. Flink versuchte der Ritter der Bestie mit seinem Schwert den Fang zu gebenFang geben = töten, indem er es in dessen Rachen rannte; aber bei dem durch Zauberkünste gefeiten Tier wollte nichts verfangen. Der Ritter erlahmte bald, weil Stahl und Eisen nicht imstande waren, das Tier zu verwunden. Endlich, als das Schwert in der halben Tiefe des Rachens steckte, ergriff das Ungeheuer die Waffe mit seinen Zähnen, biß sie in zwei Stücke, ließ ein schreckliches Gebrüll hören und erfaßte plötzlich den armen Ritter aus England und verschlang ihn.

Als nun einst Geoffroy, der tapfere Held und Riesenbezwinger, fröhlich zu Lusinia bei einem Festmahl saß, kam ein Bote, der erklärte, daß er eine wichtige Nachricht bringe.

»Ich soll«, sprach er, »einen Ritter und kühnen Helden aufsuchen, der das Land Aragonien von einem wilden Berggeist zu befreien vermag, der einen gewaltigen Schatz hütet. Auch giftige Würmer und grausame Bestien halten sich dort auf, durch die schon viele tapfere Ritter ihr Leben eingebüßt haben!« Er fügte auch noch hinzu, daß den Schatz nur ein Held heben könne, der aus dem Geschlecht des Königs Helmas stamme. 236

Auf diesen Bericht hin befahl Geoffroy, dem Boten Speise und Trank zu reichen, ließ zur Reise rüsten und schickte ein Schreiben an seinen Bruder Dietrich ab mit der Bitte, er möge unverzüglich zu ihm kommen und auf kurze Zeit die Regierung des Landes übernehmen, bis er von einer Reise glücklich zurückgekehrt wäre.

Zu dem Boten aber sagte der Graf: »Wartet, bis ich selbst aufbreche; denn ich bin gesonnen, Euer Land mit Gottes Hilfe von jenem Übel zu erlösen!« Darüber freute sich der Bote.

Aber wie eitel und nichtig sind doch aller Menschen Beschlüsse gegen den verborgenen Ratschluß Gottes! Dies mußte Geoffroy an sich selbst erfahren. Denn als alles zum Aufbruch bereitstand, kam ein anderer Abgesandter, der rascher abgefertigt sein wollte als der Bote aus Aragonien.

Dieser Bote war der Tod. Geoffroy erkrankte jählings, und weil er schon hoch an Jahren war und seine vielen ritterlichen Taten sehr an seinen Kräften gezehrt hatten, nahm die Krankheit einen unglücklichen Verlauf; er vertauschte die vorgehabte Reise zu dem Riesen nach Aragonien mit der Fahrt ins Grab. Sein Tod wurde wegen seiner ritterlichen Taten von jedermann aufs höchste beklagt.

Nach Geoffroys Tod war sein Bruder Dietrich der einzige Erbe aller seiner Güter. Er regierte gütig und klug und teilte vor seinem Ende das Erbe, das ihm zugefallen war, unter seine vier Söhne, die alle kluge und kühne Landesväter wurden. Doch das leidvolle Schicksal der schönen Melusine blieb für alle Zeiten verborgen.


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