Eugen Schuyler
Erinnerungen an den Grafen Leo Tolstoi
Eugen Schuyler

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V.

Als ich schon eine ganze Woche in Jasnaja Poljana zu Gast gewesen war, wünschte ich, im Laufe der Abende von meiner Reise an die Wolga zu sprechen und erzählen zu können, wie ich in Kasan von General Juschkow aufgenommen wurde, einem Onkel des Grafen Tolstoi, an welchen er mir liebenswürdigerweise einen Empfehlungsbrief gegeben hatte.

Der alte General hatte den Feldzug 1812 schon als General mitgemacht, obgleich er noch ein junger Mann war, und der Graf hatte mir gesagt, ich werde vielleicht von ihm einige Erzählungen über die Schlacht bei Borodino hören, sowie über den Rückzug der Franzosen und über das Aussehen Moskaus nach dem großen Brand. Tolstoi hat wahrscheinlich einige Erzählungen von Juschkow in seinem Roman »Krieg und Frieden« verwendet.

Ich berichtete, daß ich nichts der Art gehört habe. In Kasan wurde ich in einem sehr guten, wohnlichen Hause empfangen und gab meine Visitenkarte und den Empfehlungsbrief einem Diener, welcher bald zurückkehrte und mich bat, ein wenig zu warten. Während ich wartete, bemerkte ich, daß der Brief noch ungeöffnet auf einem Stuhl lag. Endlich trat der alte, aber kräftig gebaute General ein mit einem sympathischen Ausdruck großer Gutherzigkeit. Er ersuchte mich, Platz zu nehmen, setzte sich auch und sagte nach einigen Worten: »Sie brachten mir wahrscheinlich einen Brief von meinem Neffen Leo. Wo ist er?«

»Ich glaube, Sie sitzen darauf,« erwiderte ich.

Er stand auf, fand den Brief und reichte ihn mir mit den Worten: »Seien Sie so gütig, ihn mir vorzulesen, ich bin ganz blind.«

Meine Lage war unbehaglich, aber daran war nichts zu ändern. Der Brief war sehr schmeichelhaft und wohlwollend für mich; ich hielt mich für verpflichtet, einen ganzen Abschnitt auszulassen. Jetzt bereue ich, ihn dem Alten zurückgegeben zu haben, anstatt ihn in die Tasche zu stecken und zum Andenken aufzubewahren.

Im nächsten Zimmer standen zwei Piano, und auf einige Fragen sagte mir der General, er sei immer ein leidenschaftlicher Musikfreund gewesen und habe daher auch alle seine Kinder das Spielen und Singen gelehrt, jetzt aber sei er alt und blind, während sie für immer nach Petersburg gereist seien und ihn ganz allein gelassen haben. Ich bat ihn, etwas auswendig aus Beethoven oder Mozart zu spielen, dann gingen wir in den Garten und setzten uns in den Sonnenschein. Während der zwei Stunden, die ich bei ihm zubrachte, erzählte er mir viel Interessantes, aber nicht das, was ich wünschte.

Am folgenden Morgen um vier Uhr, nachdem ich diese Erzählung dem Grafen Tolstoi mitgeteilt hatte, wurde ich durch ein Geräusch im Korridor aufgeweckt; plötzlich öffnete sich die Thür meines Schlafzimmers. Ich glaubte, daß aus unbekannter Veranlassung ein Diener eingetreten sei, um mich zu wecken und rief: »Wer ist da?«

Die Thür wurde wieder geschlossen und ich hörte eine Stimme französisch sagen: »Ilia, in meinem Bett liegt jemand.« Von neuem wurde die Thür geöffnet und ein Herr erschien mit einer Kerze in der Hand und fragte: »Serescha, bist Du da?«

»Nein,« erwiderte ich. »ich bin ein Gast in diesem Hause.«

Er lachte, entschuldigte sich und ging. Meine Sinne waren damals so scharf, daß ich die darauf folgende Verfügung vernahm; sie werde in den Salon gehen und auf dem Diwan schlafen, so lange die Familie oben sei, inzwischen könne sie auch auf dem Diwan im Kabinett des Grafen schlafen.

Ich begriff sogleich die Situation. Ich hatte das Zimmer von Frau Juschkow, der Tante des Grafen, eingenommen und war eingeladen worden, eine Woche zu bleiben bis zu ihrer Rückkehr. Sie war ohne vorherige Nachricht zurückgekehrt und hatte eine Freundin mitgebracht. Da die Thüren der russischen Landhäuser während der Nacht selten geschlossen werden, so waren sie bis in mein Zimmer gelangt, ohne zu vermuten, daß sie dort jemand aufwecken werden.

Ich erfuhr die Wahrheit, als Iwan mir am Morgen den Thee brachte. Ich packte sogleich meine Sachen ein, um an demselben Tag zur Abfahrt bereit zu sein. Als ich um elf Uhr hinabging zum Morgenkaffee, fand ich im Salon Frau Juschkow allein und mußte mich selbst vorstellen. Wie es schien, hatte man ihr, wahrscheinlich um die Sache aufzuklären, schon von mir gesagt.

»Sie waren also im letzten Frühling in Kasan,« sagte sie lächelnd, »und haben meinen Mann gesehen, der Ihnen sagte, er sei ganz blind? Ich kann Ihnen versichern, daß kein wahres Wort daran ist, er sieht so gut wie Sie und ich. Das ist nur so eine Art, um sich interessant zu machen.«

Ich versicherte, nach meiner Ansicht sei er wirklich blind, konnte sie aber nicht überzeugen. Tolstoi sagte mir später, obgleich sie in den freundschaftlichsten Beziehungen zu ihrem Manne lebe, habe sie sich doch schon lange von ihm getrennt und ihn schon einige Jahre lang nicht gesehen. Ich hatte mich bereits davon überzeugt, daß sie ihn in der letzten Zeit nicht gesehen hatte.

Der Morgen war warm und regnerisch, doch später erschien die Sonne, und der fremde Herr, der sich für einen alten Freund der Familie ausgab und mit welchem Frau Juschkow lebte, begleitete mich bis Tula.

Zuweilen wechselte ich noch Briefe mit Graf Tolstoi, aber er kam nicht nach Moskau, während ich dort war, so daß dies das letzte Mal war, daß ich ihn gesehen habe.

 


 


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