Eugen Schuyler
Erinnerungen an den Grafen Leo Tolstoi
Eugen Schuyler

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II.

Eines Abends erzählte Tolstoi mir vieles aus seinem früheren Leben. Aber das, was ich jetzt erzählen werde, giebt nicht das wieder, was er sagte, und ich ergänze einige Einzelheiten aus anderen Quellen.

Er wurde am 28. August alten Stils, oder am 9. September neuen Stils, 1828 in Jasnaja Poljana geboren, als der jüngste von vier Söhnen. Von seinen Brüdern lebte Nikolai bis 1862. Man sagt, er habe einen vortrefflichen Charakter gehabt, sei ein großer Jagdfreund von Turgénjew, seinem Gutsnachbar, gewesen und habe einige Jahre im Kaukasus gedient. Er verstand sehr gut, Jagdgeschichten zu erzählen und schrieb auch einige derselben nieder, welche gedruckt wurden. Aber Turgénjew sagt: »Seine Hände waren so rauh wie die eines Arbeiters, und das Schreiben verursachte ihm große physische Anstrengung.« Er konnte in gewisser Beziehung als Vorbild für Nikolai Ljowin in dem Roman »Anna Karenina« dienen, sowie noch für einige Einzelheiten.

Seine Schwester Marie war an einen Freund Tolstois verheiratet. Wie Turgénjew sagt, war sie eine im höchsten Grade angenehme und sympathische Dame.

Im Jahre 1856 schreibt er:

»Ihre Krankheit macht mir Kummer. Wenn es auf der Welt eine Frau giebt, welche verdient, glücklich zu sein, so ist sie es; aber gerade solchen Naturen legt das Schicksal seine schwere Hand auf.«

Tolstois Mutter starb im Jahre 1830, als er zwei Jahr alt war, und nach ihrem Tod wurde die Sorge für die Kinder von einer Tante, der Gräfin Osten-Sacken, einer Schwester ihres Vaters, übernommen. Als die Familie nach Moskau übersiedelte, starb der Vater, im Jahre 1837. Leo, sein Bruder Dimitri und seine Schwester Marie wurden auf das Land zurückgesandt, während Nikolai in Moskau bei der Tante Osten-Sacken blieb und Vorlesungen an der Universität hörte.

Drei Jahre darauf starb auch die Gräfin Osten-Sacken, und die jüngeren Kinder gingen in die Obhut einer Schwester derselben über, einer anderen Tante, Namens Juschkow, welche in Kasan lebte. Sie widmete sich dem Grafen Leo und seiner Familie bis zum Ende ihres langen Lebens, und im ersten Kapitel seiner »Beichte« führt Tolstoi ein seltsames Beispiel dafür an, wie sie für sein Wohl bedacht war.

Damals trat Dimitri in die Universität in Kasan ein und zeichnete sich durch seinen religiösen Eifer aus, der von der übrigen Familie verspottet wurde.

Was Tolstoi in seinem Werkchen »Meine Beichte« über sein früheres Leben sagt, ist sehr interessant, aber wir dürfen nicht vergessen, daß diese »Beichte« unter dem Einfluß einer sehr strengen, religiösen Richtung geschrieben wurde. –

Graf Leo selbst trat in die Universität im Jahre 1843 im Alter von fünfzehn Jahren ein und brachte ein Jahr in der Fakultät der orientalischen Sprachen und zwei Jahre in der juristischen Fakultät zu. Aber plötzlich ergriff ihn der Wunsch, seinen Bauern nützlich zu sein. Er verließ die Universität und ließ sich auf seinem Gut Jasnaja Poljana nieder.

In seiner Erzählung »Der Morgen eines Gutsherrn«, beschreibt er seine Erfahrungen daselbst und die Art, wie ihm seine fortschrittlichen Ideen eingeflößt wurden.

Im Jahre 1851 besuchte er seinen Bruder, der im Kaukasus diente, und dieser Besuch gab seinem Leben einen ganz anderen Verlauf. Unter den Eindrücken der Örtlichkeit und der einfachen Gebräuche und vielleicht auch unter dem Einfluß anderer Vorstellungen, wünschte er, dort zu bleiben, und da der Kaukasus damals kein Ort für Civilisten war, trat er in den Kriegsdienst als Junker in der 4. Batterie der 20. Artilleriebrigade. Damals war ein Junker etwas, was in der Mitte zwischen dem Soldaten und dem Offizier stand, ein Rang, mit welchem gewöhnlich Adlige in die Armee eintraten und welcher ihnen die Pflichten eines Soldaten auferlegte, zugleich aber erlaubte, mit den Offizieren umzugehen. Seine Garnison war Staroi-Litowsk am Terek, und dort verlebte er zwei Jahre, bis zum Beginn des Kriegs gegen die Türken.

Die neue Umgebung erweckte einen Umschwung in seiner Natur und Tolstoi begann zu schreiben. »Die Kindheit« wurde im Jahre 1852 beendigt, »Das Knabenalter« im Jahr 1854. »Der Überfall« und »Der Morgen eines Gutsherrn« wurden gleichfalls im Jahre 1852 geschrieben. Es ist interessant, daß schon in den Anfängen sich die Keime jener drei verschiedenen Richtungen finden, welchen er folgte und welche in seine letzten und besten Werke verflochten sind, sowie auch der Keim seiner neuen philosophisch-religiösen Phase. Für einige andere kurze Skizzen wurde der Grund gelegt und besonders zu der Erzählung »Die Kosaken« wurden die Umrisse zu Papier gebracht.

Als der orientalische Krieg begann, bat Tolstoi um Versetzung in die aktive Armee und wurde dem Stab des Fürsten Michael Gortschakow, des Oberkommandeurs der russischen Armee an der Donau, zugeteilt. Aber als der Kriegsschauplatz in die Krim verlegt wurde, erhielt er das Kommando einer Bergbatterie und hatte Gelegenheit, in der Schlacht an der Tschernaja. am 4. (16.) August 1855 gute Dienste zu leisten. Diese für Rußland so unglückliche Schlacht war die Folge einer Reihe von Irrtümern, welche damit begannen, daß der Vertreter des Kriegsministers, Baron Wrewski, energische Kriegsthaten verlangte, dabei aber ganz vergaß, daß die Militärtopographen in die Karten die bekannten Wassergruben und Schluchten erst eintragen sollten.

Der Streit im Kriegsrat und die Vorgänge in der Schlacht wurden in einem satirischen Liede hübsch beschrieben, welches die Fähigkeit des russischen Volksgeists zeigt, über die schwierigsten Momente zu scherzen und zu lachen, wodurch der Geist gehoben wird. Dieses Lied war in der Krim sehr beliebt und verbreitete sich in kurzer Zeit in Abschriften über ganz Rußland. Die Stimme der Armee schrieb es Leo Tolstoi zu, aber das durfte natürlich nicht zugestanden werden. Wenigstens war er der Verfasser einiger Strophen, welche gelegentlich in einer Abendgesellschaft von Offizieren vorgelesen wurden, wobei Leo Tolstoi selbst den Gesang auf dem Piano begleitete.

Während des Feldzugs begann Tolstoi »Die Jugend«, jedoch erfolgte die Beendigung erst zwei Jahre später. Er schrieb auch noch eine andere Erzählung aus dem Kaukasus: »Der Durchhau im Walde« und drei Skizzen aus »Sewastopol«. Diese letzteren machten großes Aufsehen in der Heimat, die beiden ersteren aber wurden mit Beifall im kaiserlichen Palast vorgelesen, und Kaiser Nikolai, welcher auch während des Krieges an das geistige Wohl seines Landes dachte, befahl: »Das Leben dieses jungen Menschen aufmerksam zu verfolgen.« Das ist der Ausdruck, welchen Tolstoi gebrauchte, als er davon sprach. Die Folge davon war, daß er zu seinem größten Verdruß von diesem gefährlichen Ort entfernt und für die übrige kurze Zeit der Belagerung nach Simferopol, glaube ich, versetzt wurde.

Nach dem Friedensschluß nahm Tolstoi seinen Abschied und kam, sechsundzwanzig Jahre alt, nach Petersburg, wo die Gesellschaft über diesen jungen Schriftsteller entzückt war. Hier fand er sogleich die schmeichelhafteste Aufnahme in dem ersten litterarischen Kreis der Residenz, zu welchem Turgénjew, Gontscharów, Grigorowitsch, Druschinin und Ostrowski gehörten. Bei einer Gelegenheit wurde von diesen allen eine photographische Gruppe aufgenommen.

Diese Periode erwähnt Tolstoi in seiner »Beichte« Seite 10. –

Tolstoi wurde bald des Petersburger Lebens überdrüssig und kehrte nach Jasnaja Poljana zurück. Das Leben in der Residenz ließ sich nicht mit seinen Idealen und seinen Ansichten über die Frage des Daseins vereinigen. Er war jung, beharrlich in seinen eigenen Ansichten und geneigt, von den geltenden Regeln der litterarischen Thätigkeit abzuweichen. Aber trotz seiner Beharrlichkeit und seiner Sonderbarkeiten wurde er verehrt und geliebt von allen, die mit ihm zusammentrafen. Da seine Brüder an der Schwindsucht gestorben waren, seine Gesundheit sehr zart war und er ein sehr wildes Leben führte, so fürchtete man für seine Gesundheit. Turgénjew, seinem nächsten Gutsnachbar, wurde aufgetragen, auf ihn zu achten. Von allen Litteraten war Turgénjew vielleicht sein wärmster Freund, obgleich er beständig Gegenstand seines Spottes war. Tolstois Redeweise war überhaupt zuweilen sarkastisch. Von den Erfolgen der Bemühungen Turgénjews, Tolstoi zurückzuhalten, werden wir später sprechen.

So lange Tolstoi auf dem Lande lebte, fuhr er fort, zu schreiben und seine ihm eigenen Ideen auszudrücken, jedoch nur in beschränktem Umfange. Im folgenden Jahr, 1857, reiste er zum ersten Mal in das Ausland. Er war bezaubert von Deutschland, blieb lange in Frankreich und reiste bis nach Rom. In Paris war er Zuschauer bei einer Hinrichtung mit der Guillotine, welche einen starken Eindruck auf ihn machte. Er erzählte mir die ganze Geschichte in so lebhaften Farben, daß ich überzeugt war, er werde sie zum Gegenstand einer Erzählung machen.

Seine Reise im Ausland lieferte den Anlaß zu zwei oder drei Erzählungen; aber bald hörte er auf zu schreiben und widmete sich dem Unterricht der Bauern auf seinem Gut. Im Jahre 1860 machte er eine neue Reise nach Westeuropa. Im Jahre 1862 heiratete er, und seit dieser Zeit widmete er sich den Freuden des Familienlebens und seinen litterarischen Arbeiten, ohne jedoch die Gelegenheit zur Wohlthätigkeit zu versäumen.

Wie der Graf mir sagte, stammt seine Familie von einem Dänen (?) Namens Dick, welcher nach seinem Eintreffen in Rußland seinen Namen übersetzte in das entsprechende »Tolstoi«.Tolstoi ist ein Eigenschaftswort, welches »dick« bedeutet oder, wenn substantivisch gebraucht, »der Dicke«. (Der Übersetzer.) Eine Überlieferung aber, welche von Genealogen aufgefunden wurde, leitet sein Geschlecht von einem Deutschen Namens Indrig ab, welcher im Jahre 1353 in Tschernigow ankam, mit zwei Söhnen und etwa dreitausend Begleitern, welche sogleich zur rechtgläubigen Religion übertraten. Der Name Indrig wurde vertauscht mit dem Namen Leonti. Erst in der vierten Generation erhielt einer der Vorfahren, Andree, den Namen Tolstoi, seiner Gestalt wegen. Alle Tolstoi, welche Grafen waren, stammen von dem Grafen Peter Andrejewitsch Tolstoi ab, einem bekannten Diplomaten und Staatsmann aus der Zeit Peters I. und Katharinas I., welcher sich ungünstig dadurch auszeichnete, daß er den Sohn Peters, den Zarewitsch Alexee, in Neapel gefangen nahm. Für seine Dienste wurde er im Jahre 1724 in den Grafenstand erhoben, wobei dieser Titel zum vierten Mal verliehen wurde. Auf diese Weise sind der kürzlich verstorbene Minister des Innern, Graf Dimitri Andrejewitsch Tolstoi, sowie der verstorbene Graf Alexee Konstantinowitsch Tolstoi, Dichter und Verfasser des Romans »Fürst Serebränü«, entfernte Verwandte des Grafen Leo; aber wir müssen zum Sohn oder Enkel des ersten Grafen zurückgreifen, um einen gemeinschaftlichen Vorfahren zu finden.

Viele Mitglieder der Familie Tolstoi, mit und ohne den Grafentitel, haben sich in der militärischen, diplomatischen, litterarischen oder künstlerischen Laufbahn ausgezeichnet, sowie auch im Staatsdienst und Hofdienst. Jeder der drei Kaiser Alexander hatte einen anderen Grafen Tolstoi.

Ein Vetter des Großvaters des Schriftstellers, Graf Peter Alexandrowitsch, diente mit Auszeichnung unter Suworow. Er erreichte den Rang eines Obersten und erhielt das Georgenkreuz beim Sturm auf Praga. Er war russischer Kommissär bei der Armee des Erzherzogs Karl, Befehlshaber der russischen Armee in Norddeutschland 1806 und Gesandter in Paris 1807 und 1808, worauf Napoleon seine Abberufung verlangte, weil er mit der royalistischen Gesellschaft der Vorstadt Saint-Germain verkehrte. Im Jahre 1812 befehligte er den Landsturm von Moskau und organisierte die Volkswehr. 1813 kommandierte er ein Armeekorps in der Armee Bennigsens beim Angriff auf Dresden und Hamburg. Im Jahre 1823 wurde er zum Mitglied des Reichsrates und zum Vorsitzenden des Militärdepartements ernannt. Im Jahre 1831 kommandierte er die Reserve gegen die polnischen Aufständischen.

Er wird von Dolgoruki, der nicht verschwenderisch mit Komplimenten ist, beschrieben als »ein Mensch von ausgezeichneter Herzensgüte, von unbeugsamer Festigkeit und musterhafter Uneigennützigkeit, welcher sein Vaterland heiß liebte, welcher treu im Dienst, achtungswert, ohne Schatten, verehrt von allen, und während eines fünfundsiebzigjährigen Dienstes ein Ritter ohne Furcht und Tadel war.« Er war in Wirklichkeit ein würdiges Vorbild zum alten Fürsten Nikolai Bolkonski, des Vaters des Fürsten Andree in »Krieg und Frieden«.

Graf Ostermann-Tolstoi diente vielleicht zum Helden eines Abenteuers in Byron's »Don Juan«, da er jener schöne, junge Leutnant war, der Katharina II. die Nachricht von dem Fall von Ismaila überbrachte. Er stieg rasch empor bei Hof, erbte das ungeheuere Vermögen seiner Großväter mütterlicherseits (?), Iwan und Fedor Ostermann, und es wurde ihm erlaubt, diesen Namen mit dem seinigen zu verbinden. Obgleich er während der Regierung der Kaiser Paul und Alexander I. in Ungnade war, nahm er doch thätigen Anteil am Krieg 1813 und gewann die Schlacht bei Culm, (soweit es selbst einem Tolstoi erlaubt ist, eine Schlacht zu gewinnen) durch welche zum ersten Mal (?) der Erfolg sich gegen Napoleon wandte.Der Verfasser vergißt hier die Beresina, die Schlacht an der Katzbach, die Schlacht bei Großbeeren, das Gefecht bei Hagelsberg u. s. w. (Der Übersetzer.) Später lebte er im Ausland, nahm Fallmerayer zu einer dreijährigen Reise in den Orient mit sich und starb in Genf.

Der Vater des Schriftstellers Nikolai Ilitsch hatte nur den Rang eines Oberstleutnants, sein Onkel aber, Fedor Andrejewitsch, Senator und Geheimrat, welcher im Jahre 1849 einundneunzig Jahr alt starb, war ein berühmter Bibliophile, dessen prachtvolle Sammlung slavischer Handschriften sich jetzt in der öffentlichen Bibliothek in Petersburg befindet. Ein Vetter, Graf Fedor Petrowitsch, war Bildhauer und ein guter Medailleur und starb 1873 als Vicepräsident und Professor der Akademie der Künste.

Die Mutter des Schriftstellers war eine geborene Fürstin Maria Wolkonsky, die Tochter eines Generals aus der Zeit Katharina II., eines direkten Nachkommen des heiligen Michael, des Fürsten von Tschernigow, welcher im Jahre 1246 den Märtyrertod durch die Mongolen erlitt, wegen seiner Weigerung, den heidnischen Götzen zu dienen, und von der russischen Kirche den Heiligen zugezählt wurde. Auf diese Weise ist Graf Leo Tolstoi auch von mütterlicher Seite ein Nachkomme Ruriks.

Unter seinen übrigen Vorfahren finden wir Mitglieder der fürstlichen Häuser Trubezkoi, Gortschakow, Schtschetinin und Trojekurow, ohne verschiedene verwandtschaftliche Verbindungen mit vielen Familien des höchsten russischen Adels zu erwähnen.

Ich habe mich so ausführlich über die Familie Tolstoi vielleicht zum Teil deshalb ausgesprochen, weil ich selbst eine Neigung für Genealogie habe, hauptsächlich aber deshalb, weil Tolstoi eine seltene Ausnahme in der russischen Litteratur ist, als ein Schriftsteller und zugleich Mitglied der Gesellschaft, die er zu beschreiben versteht, und endlich deshalb, weil die Geschichte seiner Familie im Kontrast mit seinen religiösen und socialen Ansichten steht. Ähnliche Kontraste sind in Rußland nicht selten.

 


 


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