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Herr Häußler, der Lehrer, hatte seine Klasse von Neunjährigen vor sich. Ein Dutzend war's gerade, Mädchen und Buben untereinander. Der Unterricht hatte begonnen. Es war ein Sommernachmittag und Anschauungsunterricht sollte stattfinden, wobei man ruhig dasitzen und auf das hören sollte, was der Lehrer sagte. Hätte aber jemand zufällig den Weg an der Schule vorbei gemacht, so wäre er sehr erstaunt gewesen über all die vielen Kinderstimmen, die da durcheinanderschwirrten und die in den höchsten und lautesten Tönen einander in irgend etwas Wichtigem zu überbieten suchten. Dieser Zustand kam daher, daß Herr Häußler ausnahmsweise da und dort einmal statt selber zu reden, die Kleinen erzählen hieß, und heute hatte er ihnen gesagt, ein jedes dürfe berichten, wie sein Weg in die Schule sei, und was es am meisten dabei interessiere.
Natürlich sollte eines nach dem andern sprechen, und die Sache war zu Anfang in schönster Ordnung verlaufen, weil doch jedem zuerst nur ein Satz zum Antworten einfiel.
»Also, Kinder,« Herr Häußler hatte seine Frage sehr bestimmt gestellt, »was interessiert euch am meisten auf eurem Weg zur Schule?« – Einen Augenblick guckte eines der Kinder das andere an. Dann hob ein kleines Mädel den Finger: »Der Automat, wenn ich was habe zum Hineinwerfen!«
»Gut,« lächelte der Lehrer. »Und dich, Fritz Berger?«
Ein krausköpfiger Junge ganz hinten zappelte schon ganz ungeduldig, um seine Antwort zu geben.
»Ich haue!« rief er mit schallender Stimme.
»So, so,« sagte Herr Häußler freundlich. »Ja, wen haust du denn?«
»Wer mich haut, den haue ich wieder!« erklärte Fritz sehr bestimmt, worauf einer der Jungen nach dem andern schrie: »Ich haue auch … und ich auch … und ich auch!« und der Lärm war da.
Herr Häußler hob beschwichtigend die Hand: »Ein bißchen ruhiger, Buben, eines nach dem andern! Das ist ja eine ganz gefährliche Gesellschaft für die Straße! Aber ich denke, ihr tut auch noch etwas anderes auf dem langen Weg, den ihr zu machen habt, als immer euch zu prügeln?«
»Auch manchmal puffen und ringen wir!« gab Fritz Berger wieder zur Antwort. Er blieb seiner Sache getreu, und die Büblein überboten sich in Geschichten, wie einer den anderen auf dem Her- oder Hinweg zur Schule ›hinuntergekriegt‹ oder ›geworfen‹ habe. Ein jeder behauptete dabei mit ordentlich grimmiger Stimme, er sei der Stärkste und der Allerstärkste, wobei die Helden ihre Blusenärmel zurückstreiften und sich prahlend die kleinen, drohend geschlossenen Fäuste zeigten.
Ein paar Minuten lang ließ Herr Häußler das geschehen. Dann aber sagte er bestimmt: »So, jetzt ist's genug, ihr wilden Gesellen, jetzt kommen auch andere an die Reihe. Else Braun, was freut dich am meisten auf dem Schulweg?«
»Gar nichts – ich fahre,« war die nicht sehr frische Antwort eines lang aufgeschossenen, gelangweilt aussehenden Mädchens.
»Oh, oh!« sagte Herr Häußler und schüttelte mit dem Kopf. »Fahren dürfen in der elektrischen Bahn und sich dabei für nichts interessieren, das verstehe ich nicht. Wenn ich's einmal tue, dann sehe ich so viel, wie in einem Guckkasten, und muß immer denken: O wie nett, daß es so vielerlei Arten Menschen gibt, und ich freue mich über die höflichen und über die, die freundliche Gesichter haben!«
»Meist puffen sie einen, und heute, als eine dicke alte Dame sich noch hineinquetschte, obschon es voll war, hat sie mich beinahe zerdrückt,« eiferte Else und warf die Lippe auf.
»Da wäre ich doch lieber aufgestanden und hätte der Dame Platz gemacht, – wer junge Füße hat, kann stehen,« berichtigte der Lehrer und sah nicht sehr beistimmend aus, als Else weiter fortfuhr: »Wenn ich bezahlt habe, habe ich bezahlt, warum soll ich gerade stehen?« Ihr Ton klang recht protzig und gar nicht lieb.
»Stehen ist doch viel lustiger als Sitzen – ich bleibe immer draußen, ganz nahe beim Führer, und schaue zu, wie er lenkt und bremst,« sagte Heinz Linden.
Bob Smith, ein kleiner Engländer, aber meinte: »Vater uill, daß ich stets mache Platz an die Ladys, und nennt mich dann seine kleine Gentleman!«
Ein warmer Blick des Lehrers fiel auf den Knaben, während nun auf einmal alle ein Geschichtchen wußten, wie sie auch einmal aufgestanden seien und Erwachsenen Platz gemacht hätten. Wieder mahnte Herr Häußler zur Ruhe und fragte dann ein kleines dickes, einfach gekleidetes Mädelchen, das durch all das Gerede hindurch unbeirrt seinen Finger in die Höhe gehalten hatte: »Was willst du uns denn sagen, Friedchen?«
»Mohrenköpfe hätte ich gern!« erwiderte die Kleine sehr bestimmt.
Herr Häußler scherzte: »Aber doch nicht jetzt?«
Alle lachten. Friedelchen Rheinwald aber sagte unbeirrt: »Nein, aber auf dem Schulweg bleibe ich stehen, wo es welche gibt, und sehe sie an, weil Mutter sagt, so etwas kaufe man nicht, bloß Brot!«
»Warum denn nicht – ich esse oft Mohrenköpfe,« prahlte Else Braun, und etliche andere wollten mittun, aber Herr Häußler warf ihnen einen ernsten Blick zu.
»Süßigkeiten in Masse zu verzehren, ist kein Nutzen, und du bist gewiß gesünder, Frida, wenn dich deine Mutter mit solchen Dingen knapp hält.«
»Aber manchmal gelüstet mich's – und … ansehen, das kostet ja nichts …«
»Im Automaten sieht man's vorher nicht, aber man hat's,« sagte Mariechen Berthold triumphierend, wurde aber mitten drin ganz still, weil Bob Smith sie anstieß und sagte: »Nein, man hat's nicht, uenn man hat nichts einzuuerfen in die Loch, oder zu geben Geld in das Laden!« Nach dieser richtigen Bemerkung tuschelten die beiden wichtig zusammen, so daß Herr Häußler sagte, schwatzen sei nicht erlaubt. Vorher hatte er noch erwähnt, Mohrenköpfe und andere derartige Sachen seien etwas Gutes – auch er esse recht gern einmal so etwas, aber das Geld dafür daure ihn, weil Süßigkeiten doch unnötig seien. Da sehe er sich lieber solche Sachen gar nicht an, denn Friedelchen habe recht, es gelüste dann einen viel mehr danach.
Heinz Linden, der nun schon so lange darauf gewartet hatte, auch wieder das Wort zu bekommen, rief: »Herr Häußler, Herr Häußler, – ich schaue auf dem Schulweg allen Autos nach, – das ist das Interessanteste!«
»Und wärest schon zweimal beinahe überfahren worden, weil du mitten auf der Straße stehen bleibst,« sagte Gerti von Hillern. Die beiden waren verwandt, und sie hatten eigentlich denselben Weg zur Schule; die Eltern wünschten auch, daß sie zusammen gingen, aber Heinz fand, mit Mädchen zu gehen, passe sich nicht, und so lief er meist hüben, sie drüben auf dem Fußweg.
Nun wurde das wirklich Interessante der Automobile besprochen. Herr Häußler erklärte den Kindern, wie es zugehe, daß jetzt allerlei Fuhrwerke von selbst liefen, ohne Pferde, daß man sich freuen müsse über solche neue Erfindungen, wodurch man viel rascher vorwärts komme und manches Pferd nicht mehr so geplagt werde. Wie die Menschen aber nun immer mehr lernen müßten, nicht träumerisch ihrer Wege zu gehen oder gar stehen zu bleiben, wie gewisse kleine Buben.
»Aber an den Spiel- und Übungsplätzen des Sportvereins darf man stehen bleiben, da geschieht einem nichts, und zusehen, wie dort geübt wird, das ist doch das Schönste!« sagte Hermann Röder mit blitzenden Augen. Sein Vater war ein bekannter Sportsmann und bald sollte auch er einem Sportverein beitreten, was die anderen halb mit Neid, halb mit Bewunderung erfüllte.
»Das ist freilich etwas Schönes, wenn man sieht, wie junge Leute ihre Körper üben, um ihre Kraft für die Anstrengungen der Arbeit zu stählen, und wie sie frohe Spiele spielen und dabei recht die frische Luft und die Sonne genießen – das ist herrlich!« Herr Häußler trieb selbst viel Sport, daher hatte er so viel Verständnis dafür. Obwohl es fast dreiviertel war, wurde mit dem Thema fortgefahren: »Was bietet der Schulweg an Interessantem?«
Gerti von Hillern sprach begeistert von den Schaufenstern, hinter denen Puppen oder schöne Kleider seien. Anni Gärtner meinte, am liebsten bleibe sie bei den Ansichtspostkarten stehen. Hugo Fischer sagte: »Ich gucke den Hunden nach und verscheuche die Sperlinge!«
Herr Häußler hörte nun still zu, es war auch schon spät geworden. Nur drei in der Klasse hatten noch keine Antwort gegeben. Putz Vittinghoff, der kleinste Junge, wußte nichts zu sagen als: »Ich gehe eben mit dem Fräulein.« (Er wurde immer begleitet.)
Bob Smith sagte: »Meine Ueg ist das schönste, weil ich komme an Gärten mit Blumen vorbei, und an kleine Hause, wo Kinder so hübsch spielen auf das Straß'.« Bob und Gerti wohnten draußen in einem Villenviertel.
Nun war nur noch ein Mädchen übrig, die nichts gesagt hatte – Lenchen Huber, die überhaupt wenig sprach, schlechte Kleider an hatte und sehr oft zu spät kam – neulich sogar fast eine Stunde, was Herrn Häußler betrübt hatte. Jetzt aber fragte er sie auch freundlich: »Du hast uns doch auch noch etwas zu sagen, was dich auf dem Schulweg freut, Lenchen?«
Zuerst erfolgte keine Antwort, dann aber sagte eine schüchterne Stimme: »Daß ich recht schnell heimkomme!«
Herr Häußler verstand das nicht ganz, und scherzend sagte er: »So gar rasch machst du, wie wir wissen, deine Schulwege nicht, Lenchen! Gelt, du bleibst unterwegs eben auch an den Schaufenstern stehen?«
Lenchen schüttelte den Kopf.
»Oder guckst du auch den Spatzen nach?«
Wieder Kopfschütteln und Stille.
»Na, so antworte doch wie die anderen – irgend etwas tust du doch, wenn du so lange unterwegs bist?« fragte der Lehrer, nun etwas ungeduldig.
Endlich kam eine Antwort: »Meinen Gottlob vorher an die Sonne tragen, und nachher für Mutter die Handschuhe, die sie wäscht, in die Häuser bringen, die am Schulweg liegen. Da läßt man mich oft warten.« Und als Herr Häußler sich nun liebevoll zu Lenchen herabbeugte und fragte: »Ist's deshalb, daß du manchmal zu spät kommst?« nickte sie nur. Aber dann, mutiger gemacht durch die Freundlichkeit des Lehrers, blickte sie in die Höhe und sagte, um doch auch einigermaßen die gestellte Frage zu beantworten: »wenn mein Gottlob im Schatten in seinem Stühlchen sitzt, dann freue ich mich an den Blumen!«
»Ihr habt wohl ein kleines Gärtchen am Haus?« fragte Herr Häußler, aber Lenchen schüttelte mit dem Kopf.
»O nein! Wir wohnen vier Treppen hoch, und weil er nicht gehen kann, aber frische Luft haben soll, trage ich ihn auf dem Rücken unter einen Baum. Der steht in einem schönen Garten hinter einem Gitter, und dort sind auch die Blumen. Dort wartet mein Gottlob in seinem Stühlchen, bis ich von der Schule komme und ihn wieder hinauftrage!«
Lenchen hielt plötzlich inne, ganz erschreckt, daß sie so viel gesprochen, und nur, als Herr Häußler teilnehmend fragte: »Wie alt ist denn dein Brüderchen?« antwortete sie: »Vier Jahre alt – aber weil er immer krank war, ist er nicht gar so schwer, und Mutter muß eben an der Arbeit bleiben!«
»Du erzählst mir später noch einmal, nicht wahr, Lenchen, wie das alles ist!« sagte Herr Häußler mit einem mitleidigen Blick auf die etwas schiefe Gestalt der kleinen Schülerin.
In der Stube war's auf einmal stille geworden, Was das Lenchen erzählte, war doch zu merkwürdig.
Nun stellte sich der Lehrer wieder an den Pult, und seine fröhliche Stimme klang ernster, als er sagte: »Rinder, jetzt haben wir einmal recht gründlich zusammen geplaudert, und es ist Zeit, daß ihr nach Hause geht! – Wie verschieden eure Schulwege sind, haben wir gehört, Was einem jeden dabei gefällt, auch! Schaut euch überall die schönen Sachen an den Schaufenstern, die Soldaten, die Autos und die Hunde an, wenn's nicht so lange ist, daß ihr über dem Hinsehen alles vergeßt und zu spät hierherkommt oder nach Hause, zum Essen. Seid lustig, hüpft und springt, aber – seid feine kleine Menschen!«
»Das bin ich,« sagte Else Braun mit Bewußtsein, und sah an ihrem eleganten Kleid hinunter.
»Wer's sagt, ist's nicht, Else, und Kleider machen die Vornehmheit nicht aus – insbesondere nicht die innere!« Herr Häußler war etwas erregt bei diesen Worten. Heinz Linden aber berichtete, »seine Mutter sage immer, fein sei, wer lieb sei!«
»Das ist's ja eben, Kinder – das ist's, was ich euch noch ans Herz legen wollte,« sagte Herr Häußler ganz erfreut, und sein gutes Gesicht glänzte ordentlich dabei. »Seht ihr, auf dem Weg in eure Schule seid ihr kleinen Menschenkinder mit euren hellen Augen, frischen Gesichtern und jungen Kräften auf der Straße zwischen allerlei anderen großen Menschen! Die freut's, wenn ihr sie freundlich anschaut, denen tut's wohl – ihr glaubt nicht, wie – wenn ihr höflich seid! Und jetzt noch etwas! Gebt acht; ob ihr nicht hier oder dort etwas helfen könnt – euch bücken, wenn einem Erwachsenen etwas heruntergefallen ist. Jemand führen, wo's glatt ist, einem Hündlein, das friert, die Haustür aufmachen, was besser ist als jagen – Sperlinge füttern, Und – wer auf der Bahn fährt, kann ein Paket abnehmen, oder sonstige Handreichungen leisten. – Auch eine ganz kleine Hand, Kinder, kann schon viel – daran denkt jetzt, wenn ihr heimgeht! Und nun behüt euch Gott für heute! Vielleicht wißt ihr mir ein andermal von solchen Erlebnissen zu erzählen!«
Die Büblein und Mägdlein, mit Mützen Und Strohhüten, jedes seinen Ranzen auf dem Rücken, verabschiedeten sich und verließen bald darauf die Schule – der Lärm war diesmal nicht ganz so groß wie sonst. Wohl puffte Fritz Berger den Hugo Fischer ab und zu, Und der gab ihm geschwind eins in die Seite, aber sie ließen's gleich wieder bleiben, denn sie mochten doch auch hören, was die Mädchen miteinander ausmachten, die sich Um Anni Gärtner scharten, welche sehr eifrig sprach. Alle standen beisammen, nur Lenchen Huber war mit einem kurzen: »Lebt wohl, ich muß schnell heim!« davongegangen.
»Erst noch,« sagte Anni, »wir wollen tun, was Herr Häußler sagt.« Und: »Erst noch!« Und: »Das wird fein!« riefen dann alle untereinander, bis Gerti von Hillern ein warf: »Ja, aber was eigentlich? Jetzt wird gerade niemand ausrutschen!«
»Und Hunde sitzen auch nicht immer vor den Türen,« sagte Hugo Vischer. Und Else Braun, welche die elektrische Bahn kommen sah, rief noch im Wegeilen: »Ich hoffe, die dicke Dame kommt heute nicht!«
»Ich möchte, aber ich weiß nicht was,« sagte Friedchen Rheinwald und ging dann davon, wie auch die Jungen, als sie sahen, daß bei den Mädchen eigentlich nichts los sei. Nach allen Seiten gingen die Kinder auseinander, ein jedes mit einer noch unklaren guten Absicht im Herzen, aber mit offeneren Augen als sonst für alles auf dem Wege. Fast beneideten sie Hermann Röder, der, noch ganz nahe der Schule, wie ein Pfeil plötzlich über den Platz schoß, wo er einer Obstverkäuferin half, ihren schweren Korb in die Höhe zu heben. Es war die Apfelrike, mit der man sich sonst so viel Spaß machte und deren Katze man so lange neckte, bis sie und ihre Herrin fauchten und schimpften.
Bob Smith und Gerti von Hillern gingen zusammen heimwärts, diesmal nebeneinander, denn das, was Herr Häußler gesagt hatte, mußte doch noch weiter besprochen werden. Darüber schaute Gerti heute gar nicht die Schaufenster an, und Bob vergaß, Plakate zu lesen, was er sonst immer gründlich tat. Sie erörterten die wichtige Frage, wo wohl Lenchen Huber wohne und ihr kleiner Bruder sitze.
»Ob's uohl hinten ist, an euer park, uo die große Lindenbaum uirft Schatten auf das Straße?« meinte Bob, und obgleich Gerti schon daheim an ihrer Villa war und es anfing zu regnen, liefen beide doch noch rasch um die Ecke des Parkgitters. Und richtig, da saß unter dem überhängenden Baum auf einem Holzstühlchen ein kleiner verkrüppelter Junge, der leise vor sich hinweinte.
»Der ist's,« sagte Gerti, aber sie genierte sich, zu dem fremden Kinde hinzugehen.
Bob aber überwand sich: »Bist du die kleine Gottlob von das Lenchen?« fragte er, bekam aber als Antwort ein solch herzbrechendes weinen, daß er und Gerti nicht wußten, was tun, umsomehr, da der Regen anfing, stärker zu werden.
»Wo nur Lenchen stecken mag – der Kleine wird ja ganz naß!«
»Danz naß,« wiederholte das Bübchen und blickte sehnsüchtig zu einem Haus über der Straße, wo hoch oben vor einem Dachfenster eine Leine gezogen war, an der gewaschene Handschuhe hingen.
»Wohnst du dort?« Bob deutete nach oben, und der Kleine nickte.
»Könnten wir ihn nicht zusammen hinaufbringen?« Gerti fragte zaghaft, aber Bob war gleich dazu bereit. Die zwei Kinder legten die Hände übers Kreuz und wollten den Kleinen auf diese Weise tragen, als sie ihn aber anfaßten, schrie er wie am Spieß: »Lene, o nein, Lene!«
In demselben Augenblick kam diese ganz atemlos um die Gartenecke. Sie trug eine Kanne Milch in der Hand, im Arm einen Brotlaib und auf dem Rücken hatte sie noch den Ranzen.
»Ich komm', ich komm', Brüderlein,« rief sie schon von weitem, und als sie die Schulgenossin erkannte, sagte sie verlegen: »hab' noch auf dem Heimweg allerlei mitnehmen müssen, da ist's spät geworden, will nur die Sachen schnell rüber ins Haus tragen, dann hole ich dich, Brüderlein!«
Bob und Gerti nahmen ihr aber nun schnell die Gegenstände ab, sagten, sie könnten das besorgen, und sahen dann erstaunt zu, wie das schwache Lenchen sich zur Erde kauerte, und wie das Bübchen seine dünnen Ärmlein um ihren Hals legte. Dann stand sie auf, was Mühe kostete, denn die Last war doch immerhin schwer, und indem sie die beiden bat, die Sachen dort auf das Stühlchen zu stellen, naß sei ja nun doch schon alles, schleppte sie durch Regen und Schmutz den jetzt ganz ruhig gewordenen Jungen über die Straße.
Bob und Gerti hielten es für ihre Pflicht, die Gegenstände noch zu hüten, bis Lene wieder zurückkam – für ihre schönen Waschkleider, wenn sie naß wurden, gab's daheim frische. Beide sahen dem wackeren Lenchen mit ihrem huckepack nach, bis es in der Haustür verschwunden war.
»Jetzt kommen noch die vier Treppen,« sagte Gerti.
»Uarum nicht das Mutter kommt und holt die Baby?« fragte Bob, ordentlich bedrückt und erzürnt.
»Wahrscheinlich, weil, wenn man vom Handschuhwaschen wegläuft, diese ganz steif werden; das habe ich schon bei unserer Kathi gesehen, wenn sie's versuchte, und nachher brachte sie die Finger gar nicht mehr zurecht.« Gerti berichtete ihre Weisheit mit Eifer, während Bob nachdenklich dastand.
»Gerti, Gerti, weißt du, ich habe ein Idee!« rief er plötzlich, hochrot vor Aufregung redete er nun eindringlich in Gerti hinein, verstummte aber dann, denn Lenchen kam eben wieder in Licht. Sie war noch ganz außer Atem, und wollte sich eben bei den beiden nochmal schön bedanken und auch im Auftrag der Mutter sagen, es werde doch nicht stören, daß der Gottlob hier immer am Gitter sitze. Aber die zwei hörten kaum mehr recht, was sie sagte, sondern eilten nach kurzem Abschied den Villen zu, in denen sie wohnten.
Gerti rannte, triefend, wie sie war, zu ihrer Mutter ins Zimmer, und diese wußte wirklich nicht, was sie daraus machen sollte, als ihr Töchterchen, in der Rebe sich ganz Überpurzelnd, rief: »Mutter, Mutter, du mußt alle Handschuhe künftig bei Lenchens Mutter waschen lassen – die trocknen dort nicht ein, wie bei Kathi! … Und gelt, Gottlob stört nie unter dem Baum? … Wir haben ihn auf dem Schulweg gefunden … und Herr Häußler sagt, helfen sei fein! … Aber Bob, der weiß das Beste, und er fragt nur noch seinen Vater und Heinz Linden, weil der so stark ist, und das arme Lenchen so schwach und es kommt dann so spät zur Schule!« …
Gerti konnte nun wirklich nicht mehr weiter, und die Mutter, die gerade in einem Buch gelesen hatte, sagte kopfschüttelnd: »Ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du mir das Ganze noch einmal, aber dann etwas langsamer, erzählen wolltest, vorher gehe aber hinüber und laß dich von Kathi umkleiden – du hattest wohl keinen Regenschirm?« – Gerti bekam trockene Kleider und die Mutter nach und nach einen kleinen Begriff von dem, was sich heute alles zugetragen hatte. Sie versprach ihrem Kind, sich nach Lenchens Mutter erkundigen zu wollen.
Heinz Linden war inzwischen auch nach Hause gekommen. Er wohnte ebenfalls in derselben Gegend, wie Bob und Gerti, nur noch weiter draußen. Er hatte beim Fahren Gelegenheit gehabt, einer Frau, die ein kleines Kind auf dem Arm trug, ihr heruntergefallenes Geldstück aufzuheben – das war nichts Besonderes. Daß aber Else Braun nach dem, was Herr Häußler heute gesagt, trotzdem sitzen blieb, als ein alter Herr, der einen kurzen Fuß hatte, keinen Platz mehr fand und mühsam stand, das war doch so häßlich, daß er ihr beim Aussteigen einen tüchtigen Puff gab. Reuen tat es ihn nicht, nein. Aber als Else laut schrie und gerade der nette alte Herr zu ihm sagte: »Schäme dich, Junge, einem Mädchen etwas zu tun!« war das Heinz sehr unangenehm. Trotz etlicher sehr schöner Autos, denen er nachher noch begegnete, kam er recht verstimmt nach Hause.
Nicht lange danach kam Bob angerannt: »Ich muß reden etwas sehr Uichtiges mit dir, Heinz!« Und die sehr wichtige Unterredung, die ziemlich lange währte, endete damit, daß die beiden Jungen wieder ihre Ärmel hinaufstreiften und sich gegenseitig versicherten, wie ›furchtbar stark‹ sie seien. Dann ging's zu Bobs Eltern, und dessen Mutter begab sich kurz darauf zu Heinz' und Gertis Eltern, und die Gärtnersfrau, welche in der Nähe von Lenchen Huber wohnte, wurde auch noch geholt; das Ganze war sehr geheimnisvoll.
»Ich glaube, wir können die Jungens machen lassen,« sagte Frau Smith, und die anderen stimmten bei.
Am nächsten Morgen um halb acht Uhr klopfte es bescheiden bei Witwe Huber. Diese war schon zwei Stunden auf und arbeitete, während Lenchen mit Gottlobs Anziehen eben fertig geworden war und rasch noch das Zimmer ordnete. Auf ihr: »Wer ist da?« traten die zwei Schulgenossen ein, und Bob wandte sich höflich an Frau Huber: »Ueil Lenchen noch so viel zu tun hat, und damit es nicht kommt zu spät in das Schul, und ueil uir stark sind« – Bob und Heinz zeigten ihre Bubenfäuste vor – »so möchten uir bitten, zu erlauben, daß uir das Gottlob Morgens dürfen tragen hinab an sein' Platz, und jeden Tag nach das Schul uieder herauf in sein' Stub'. Lenchen uürde uerden krumm sonst, sagt meine Mutter, mit einer Empfehlung!«
»Und die meinige auch!« sagte Heinz.
Frau Huber verstand anfangs die Sache nicht so recht. Dann aber nahm sie dankend das Anerbieten der kleinen Burschen an, die so geschickt und ernsthaft ihre Hände übereinanderkreuzten und sich bereit stellten, nachdem Heinz dem Gottlob vorher ein Stück Gerstenzucker, das er selber geschenkt bekommen, in den Mund gesteckt hatte. So legte der Kleine diesmal auch ganz lieb und vertrauensvoll seine Ärmchen um den Hals der beiden, und die Buben trugen gar nett und vorsichtig die ihnen anvertraute Last abwärts, während Lenchen vorausging und das Stühlchen und ein paar alte Spielsachen herrichtete. Als das Büblein eingebettet war, verzog sich plötzlich sein etwas breiter Mund zu einem fröhlichen Lachen, denn um die Ecke kam ein Riesenblumenstrauß gewandelt, hinter dem Gertis lustiges Gesicht hervorlachte. Lenchen hatte ihr erzählt, wie sehr auch das Brüderlein Blumen liebe. Gerti legte ihm einige davon auf sein Stuhltischchen – daneben eine Brezel – und steckte rings um ihn her die grünen Zweige, so daß der Kleine vor Wonne krähte und in die Hände klatschte. Dann aber gingen die vier schleunigst zusammen zur Schule, selbstverständlich heute vereint, denn es gab doch zu viel zu schwatzen.
War es wohl Einbildung, oder Zufall, oder irgend etwas anderes, daß Herrn Häußler die Gesichter seiner Schüler heute viel vergnügter, die Augen so hell vorkamen?
Zu einer eigentlichen Plauderstunde, wie er sie gern hatte, kam es nicht, weil das Examen nahe bevorstand. Aber wenn er bemerkte, wie Mariechen Berthold dem Friedelchen heimlich einen Mohrenkopf unter ihr Heft schob – er tat, als sähe er's nicht – oder wie Fritz Berger den kleinen Vittinghoff nicht mehr gar so arg plagte wie vorher, oder wenn er zufällig sah, wie Hugo Vischer an einem Brunnen einem Hund zum Trinken verhalf, da leuchtete sein Gesicht hell auf. Desgleichen, als er hörte, daß die Buben untereinander ausmachten, man könne ja künftig der Apfelrike ihre Katz während des Einkaufens in Ruhe lassen.
Weniger freute Herrn Häußler, als Else Braun mit lauter Stimme verkündigte, sie habe eine ganze Mark aus ihrem Sparhafen einer armen Frau an der Ecke gegeben. Es ließ sich gar nichts dagegen sagen, aber – schweigen bei netten Sachen, die man tut – ist doch besser! Wirklich vornehme Menschenkinder tun das auch!