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»Miezi!«
»Ja!«
»Miezi, so komm doch!«
»Ja, gleich!«
»Aber, Miezi, es ist die höchste Zeit, die Aufgaben zu machen!«
»O, Fräulein, nur noch ein bißchen!«
Miezi, seit kurzem in der Familie zu ihrem Ärger ›Fräulein Nurnoch‹ genannt, saß unten im Garten über ein Geschichtenbuch gebeugt, und wollte in Hast und Eile das letzte Kapitel noch auslesen. Sie wußte, daß sie hinauf sollte; das Lesen war jetzt kein Genuß mehr, die schönsten Stellen mußte sie überhüpfen, während sie heute abend Zeit gehabt hätte, alles behaglich zu lesen. Fox, der kleine weiße Hund mit den braunen Flecken im Gesicht, die ihm einen solch drollig-ernsten Ausdruck verliehen, fühlte, daß etwas nicht in Ordnung sei, und er zupfte Miezi an ihrer weißen Schürze.
»Laß mich doch!« sagte diese ärgerlich, und durch die unmutige Bewegung, die sie machte, blieb ein Stück von dem gestickten Besatz zwischen Fox' spitzen Zähnen hängen.
»Wau, wau!« machte dieser ganz erschrocken und besah sich schnuppernd die Sache. Dann aber schien ihm der nette, längliche Fetzen zu behagen – er war eben doch nur ein Hund, dazu ein sehr junger – und, das Stück Zeug lustig nach rechts und links schlenkernd, rannte er wie toll rund um den Rasen, so daß Miezi trotz der Spannung, in der sie sich befand, ein paarmal aufschauen und laut lachen mußte.
»Hörst du denn wieder gar nichts?« sagte in diesem Augenblick eine Stimme, und das Kinderfräulein, das oben im Schulzimmer vergeblich gewartet hatte und nun recht ärgerlich herabgekommen war, wollte Miezi das Buch wegnehmen. Diese wehrte sich aber energisch und, immer dabei weiterlesend, denn nun war wirklich nur noch eine Seite zu überfliegen, hielt sie das Buch hoch über ihren Kopf, um es eine Minute nachher siegreich zu schwenken und zusammenzuklappen.
»Gut ist's ausgegangen, – hurra! Heidi ist doch wieder heimgekommen,« sagte Miezi seelenvergnügt, aber Fräulein Juliens Gesicht war nicht so heiter.
»Wie du mit deiner Übersetzung und dem Gedicht, das du heute noch lernen sollst, fertig werden willst, ist mir unklar. Hans arbeitet seit einer Stunde und hat nun den Abend frei. Er will um den Kaninchenplatz einen Zaun machen und das kleine Haus schön weiß und rot anmalen. Es sind in den Töpfen, welche die Maler gestern dagelassen haben, gerade noch etliche Farbreste.«
»O, ich will auch, ich will auch!« rief Miezi erregt. »Den Zaun um mein Gärtchen will ich grün anstreichen und Fox' Hütte blau und gelb,« und sie hüpfte vor Vergnügen von einem Fuß auf den anderen, während sie neben Fräulein Julie dem Hause zuging.
»Ja, wann, möchte ich fragen, gedenkt Fräulein Miezi all das zu tun?«
»O gleich, mit Hans,« war die Antwort, aber sie klang ein bißchen zaghaft, denn die dummen Aufgaben fielen Miezi ein, auch war Fräulein Juliens Blick und Kopfschütteln nicht ermutigend.
»Nun gut, also ein bißchen später, aber Hans darf nicht fertig sein, ehe ich hinunterkomme!«
Hans war Miezis Lieblingsbruder, er war ein paar Jahre älter als sie, und mit ihm etwas auszuführen, war ihr größtes Vergnügen.
Oben, im Kinderzimmer, saßen Herta und Berta, die zwei unzertrennlichen Vier- und Fünfjährigen, inmitten einer großen Puppenwirtschaft. Sie empfingen die Schwester mit Jubel.
»Sau, Miezel, was wir demacht haben,« rief Herta. Sie konnte noch nicht ganz richtig sprechen und wurde deshalb von Berta beständig verbessert.
»Man sagt nicht sau, man sagt schau,« warf diese ein.
»Sssau,« wiederholte Herta gutmütig. »Sau, Miezel, da sind alle unsere Tinder, und die sind dewassen und detämmt.« Es war richtig, sämtliche Wachsgesichter sahen danach aus, und die Flachshaare standen nach allen Seiten hinaus.
»Jawohl, detämmt,« begegnete Herta einem wieder verbessernden Einwurf des Schwesterchens. »Und jetzt tommt die Eisenbahn – sch … sch … und alle dehen in Zotolodischen Garten …«
»Zo– o– lodischen, sagt man,« fiel Berta ein. Mit einigen Buchstaben war auch sie nicht ganz sicher.
»Sei still, du,« schalt Herta, nun doch etwas ungehalten über das beständige Unterbrechen. »Wir müssen jetzt alle danz still sein, weil die Musik anfängt, und dann sreien alle Tiere und dann fliegt ein Luftballon.«
Die Kleinen hatten wirklich all das herzig hergerichtet. Sämtliche Tiere der Arche Noah standen innerhalb einer Mauer von Dominosteinen, die entzückende Verzierungen hatte von den Nummern des Lottospiels. Mitten drin stand, als Riese unter den Tieren, so wie sich's gebührte, Brüderchens Elefant. Die Puppen saßen auf kleinen, die zwei Mädchen auf größeren Stühlchen, und der erst einjährige Puzi, auf der Kinderfrau Arm, durfte einstweilen an einem Faden den roten ›Balluftalon‹, wie Herta allerdings sehr unrichtig statt Luftballon sagte, halten. Das Ganze sah wirklich vielversprechend aus. Und als Berta nun trommelte und Herta in eine Trompete blies, da lief Miezi rasch, – sie mußte doch auch mittun, – ihr Drehörgelein holen. Während sie dann drehte, brüllte sie, zur Wonne der Kleinen, abwechselnd als Bär und als Löwe, das Brüderlein kreischte und strampelte, Fox bellte und das Ganze war wirklich wundervoll ›zoolodisch‹. –
»Ach, Fräulein Ju, bitte, nur noch ein bißchen, es ist zu schön gerade,« bettelte Miezi wieder, als diese, von neuem mahnend, unter der Türe erschien.
Fox, der unendlich gutmütig war, wurde nun auch noch hinter den Elefanten als Giraffe, wie die Kinder entschieden, gesetzt. Neben ihn lehnte Miezi des kleinen Bruders Hampelmann, dem sie mittels einer Stecknadel die lange Schnur des roten Luftballons in die Hand gab. Hans, der zufällig dazu kam, zündete rasch mit seinen verklecksten Händen ein paar bengalische Zündhölzer an, und selbst Fräulein Julie mußte lachen und sich freuen über diese lustige kleine Welt. Aber nur einen Augenblick lang, dann sagte sie ernst: »Nun, Miezi, kommst du! Jetzt haben wir halb sechs Uhr, und wie du mit deinem ewigen ›Nur noch‹ heute fertig werden willst, ist mir ein Rätsel!«
Miezi wollte eben noch einmal ›nur noch‹ sagen, aber die Worte ›halb sechs‹ hatten sie nun doch erschreckt und sie sprang auf. Plötzlich war ihr eingefallen, daß die Übersetzung ziemlich lang und schwierig war, und dann das Gedicht! Für morgen nachmittag hatte die Fürstin des Landes ihren Besuch in der Schule angesagt, die drei besten Schülerinnen, zu denen Miezi gehörte, sollten das Empfangsgedicht lernen, – so hatte die Vorsteherin bestimmt, – und die, welche es dann am sichersten konnte, durfte es aufsagen und einen Strauß dabei übergeben.
Wie sehr, o wie sehr wünschte Miezi, daß es sie träfe, und sie zweifelte auch eigentlich gar nicht daran, denn sie sprach weitaus am besten, und erst neulich hatte die Lehrerin sie darum den andern als Beispiel hingestellt.
Endlich am Lerntisch mit Fräulein sitzend, wollte sie rasch zuerst hinter die Verse gehen, aber Fräulein Julie erinnerte daran, daß die Aufgaben für morgen doch vorgingen. Mißmutig machte sich Miezi an das Übersetzen. Für gewöhnlich fiel ihr das nicht schwer, aber heute wollte es doch auch gar nicht gehen. Erstens war ihr Kopf noch voll von Heidis Schicksalen und auch vom Spiel der Kleinen. Dann kam die Zeit, wo Fox gewöhnt war, mit den Kindern ins Freie zu gehen oder im Garten zu tollen, und er ließ ihr keinen Augenblick Ruhe. Der Hund liebte sie am meisten, und er wollte nun, daß sie mit ihm herumspränge. Dann aber, und das war das Ärgste, wußte sie Hans bei der lustigen Arbeit. Immer wieder ›nur geschwind‹ mußte sie ans Fenster springen und sehen, wie weit die Anstreicherei gediehen war. Das rote Dach des Hasenpalastes war inzwischen fertig, Hans pinselte schon an den weißen Wänden und verstieg sich dann zu prächtigen grünen Fensterkreuzen. Es war zum Verzweifeln, nicht dabei sein zu können. Miezi schrieb darauf los – flüchtiger als sonst. Sie schenkte es sich, im Wörterbuch nachzuschlagen, nur rasch, nur rasch. Es mußte ja noch reichen, vor dem Nachtessen hinunterzukommen … Es hätte zur Not auch gereicht. Aber in der Hast und im Umdrehen stieß Miezi an das frisch gefüllte Tintenfaß. Noch nie war mit diesem etwas passiert, denn es stand auf festen Füßen. Es schwippte auch nur ein kleines Bißchen von dem Inhalt aus, aber das genügte, ein kleines schwarzes Bächlein auf dem eben Geschriebenen zu hinterlassen, und nur durch Fräulein Juliens rasches Zugreifen wurde es verhindert, sich fröhlich auch noch über den Tischrand auf Miezis Schürze zu stürzen.
Mit Hilfe des Tafelschwammes und sämtlicher, den Schulheften entnommener Löschblätter wurde das schwarze Naß getrocknet. Aber trostlos sah Miezi auf die graue Fläche. So durfte sie die Arbeit nicht abliefern, die unbrauchbaren Seiten mußten künstlich aus dem Heft getrennt und dann – es blieb nichts anderes übrig – noch einmal geschrieben werden.
Miezis Kopf glühte, und ab und zu einen Blick auf die Kuckucksuhr werfend, die im Kinderzimmer hing, schrieb sie in größtem Eifer. Bis nach sieben Uhr konnte sie mit der Arbeit fertig sein, – um halb acht kam Vater zum Nachtessen, dann hatte sie doch noch eine Viertelstunde. Und morgen, ja, da wollte sie sofort nach der Schule sich hinters Lernen machen, da sollte sie nichts abhalten.
Hans, der geschwind heraufgekommen war, hatte ihr versprochen, er würde ihr bei Fox' Hütte helfen, und er hatte bereits die dazu nötigen Farben mit Kennerblick ausgesucht, – gelb, grün und blau, ganz nach neuester Art, – hui, das sollte fein werden!
Jetzt war Miezi wieder auf der letzten Seite angelangt, jetzt an der letzten Linie, und jetzt, rasch, rasch noch hinuntergesprungen und noch einen Blick wenigstens auf Hansens Kunstwerk geworfen. Fünf Minuten waren noch übrig, bis Vater kam. – Sie begegnete ihm aber auf der Treppe.
»Wohin noch, Wildfang? 's ist Essenszeit. Geschwind die Hände waschen, – sie scheinen's nötig zu haben!«
»O Vater, gleich, – ich komme gewiß gleich, – nur noch …« hastete Miezi und, vier Stufen auf einmal nehmend, war sie unten und, quer über Rasen und Beete hinüber, bei Hans. – Was hatte aber wohl der, daß er so erregt auf einen kleinen Jungen einsprach: »Du mußt sie dalassen, denn wir sind heute nicht fertig geworden, und brauchen die Farbentöpfe morgen auch noch!«
»Das kann nicht sein, hat mein Meister gesagt. Länger als einen Tag könne er sie den jungen Herrschaften nicht lassen, und ich müsse alle heute abend noch heimbringen, damit er die neuen Farben anmacht!« Mit diesen Worten faßte der Malerlehrling die Töpfe, fuhr mit je einem Finger durch die betreffenden Henkel und trottete, unbekümmert um Miezes Geschrei: »Aber ich habe ja meine Hütte noch nicht angestrichen!« davon.
Je gelungener Hansens Werk war, desto trauriger war Miezi, daß sie um diese Freude gekommen war, und rot vor Ärger und Aufregung, dazu richtig mit ungewaschenen Händen, kam sie zu Tisch.
»Natürlich erscheint Fräulein Nurnoch wieder zu spät, hab's ja kommen sehen,« schalt der Vater, und beide Eltern zeigten auch gar kein Verständnis für den Jammer ob der entschwundenen Malfreude, wenngleich Miezis Lippen zuckten und sie am liebsten geweint hätte. Doch Hans, der Mitleiden mit der Schwester hatte, raunte ihr zu: »Es wird schon einmal irgendwo noch Farben geben, und nach dem Nachtessen spielen wir noch Fangen ums Haus und Seiltanzen auf den Brettern unten, – das ist auch lustig!«
Miezi war wirklich froh an dieser Aussicht, denn von all dem Gehetze hatte sie Kopfweh bekommen. Doch kaum war sie nachher unten ein paarmal herumgerannt – Lilly Fischer von nebenan war auch dazu gekommen, – als Fräulein Julie von oben herabrief: »Aber Miezi, ich bitte dich, was soll denn aus deinem Gedicht werden? Wann willst du's eigentlich lernen? – Morgen früh bist du in der Schule!«
»Ich kann's ja doch schon beinahe,« rief Miezi hinauf. Sie schickte sich aber trotzdem an, dem Rufe zu folgen, denn sie wußte wohl, wie es an manchen Stellen doch noch haperte. Als aber Lilly sich die Fußsohlen ankreidete und so schön, genau wie die Seiltänzer, auf einem Balken balanzierte, da wollte Miezi es ihr doch schnell auch noch nachtun, und aus dem ›Nur noch‹ wurde wieder eine halbe Stunde.
Nun saß sie wirklich hinter ihrem Buch, aber in jämmerlicher Stimmung, denn Mutter, die ihre Tochter längst beim Lernen wähnte, hatte sie überhört, und es stellte sich heraus, daß Miezi keine einzige Strophe fehlerlos konnte.
Mit zugehaltenen Ohren saß sie nun am Tisch und lernte und lernte. Wer hätte auch gedacht, daß diese dummen Verse so ganz besonders schwer wären, sie hatte sie doch schon ganz gut gekonnt! Es wurde halb zehn und zehn Uhr. Hans war längst zu Bett gegangen. Fräulein Julie mühte sich redlich, zu helfen; die Mutter kam kopfschüttelnd von Zeit zu Zeit nachsehen. Miezis Kopf war wie vernagelt, nichts wollte helfen, sie war todmüde und unglücklich, und schließlich nahm ihr die Mutter das Buch aus der Hand und sagte: »So spät kann niemand mehr lernen! Vielleicht gelingt es dir morgen vor der Schule noch, wenn nicht, so sagt's eben eine andere her!«
Schon vor Tagesgrauen stand das gute Fräulein Julie vor Miezis Bett, sie zu wecken. Es brauchte aber eine Weile, bis dies gelang, denn Miezis Kopf schmerzte noch heute von gestern abend her. Ein bißchen besser ging's aber dann doch, und nach Waschen und Frühstück fühlte sich Miezi viel frischer und freier, und die Verse liefen flott.
Nach der letzten Schulstunde, wo rasch Probe gehalten wurde, machte sie zwar wieder ein paar Fehler, aber, da sie weitaus am besten aufsagte, wurde sie zur Sprecherin erwählt, und glückselig kam sie nach Hause. Fräulein Julie und Mutter freuten sich auch und alles wurde nun hergerichtet.
»Hast du gestern deine neuen Handschuhe, so wie ich dir gesagt, anprobiert?« fragte die Mutter.
Nein, Miezi hatte es hinausgeschoben, und nun wollte sie es geschwind tun. Aber diesmal mußte Mutter ein ›Nur noch!‹ einschalten; nur die kurze, kurze Zeit vor dem Essen noch benutzen zum Wiederholen, denn vor zwei Uhr sollte Miezi in der Schule sein. Fräulein Julie weitete die Handschuhe aus, Mutter überhörte und dachte in der Stille: »Es muß gut gehen, wenn sie nicht stecken bleibt,« denn da und dort gab es kleine Anstände, aber sie sagte nichts mehr, um Miezi nicht ängstlich zu machen. Diese war in fröhlichster Stimmung bei Tisch, neckte sich mit Hans und versprach den Kleinen allerhand Schönes, wenn sie nach Haus komme und die Gedichtsorgen glücklich hinter sich habe. Auf die Fürstin, sagte sie, freue sie sich ›furchtbar‹. Sie habe solch ein ›gräßlich‹ liebes Gesicht, und Olga von Birkach, die das wissen müsse, denn ihr Vater sei irgend etwas bei Hof, die sage, es sei möglich, daß die Sprecherin des Gedichts einen Kuß bekomme. Ja, das sei schon dagewesen und wäre doch wunderschön. Nur dumm, daß man nicht wieder küssen dürfe, – bloß die Hand, – und das müsse man so machen …«
Das heute etwas früher gerichtete Essen war inzwischen vorüber und Miezi probierte und zeigte den Handkuß und Knicks an jedem, halb lachend, halb ernsthaft, bis Mutter mahnte: »Es ist Zeit, Kind, zum Ankleiden!«
Miezis wellige, blonde Haare wurden schön glänzend gebürstet. Sie fielen ihr fast bis zum Gürtel. Dann durfte sie die hübschen Lackschuhe und das neue weiße Kleid anziehen – ei, das war rosa unterfüttert, das hatte Miezi ja noch gar nicht gewußt, bei der Anprobe war das noch nicht gewesen. Ein paar Stiche mußten geändert werden – das ist immer so bei neuen Kleidern, – und als alles saß, mußte sie sich doch schnell auch den andern zeigen.
»Tu's, wenn du nach Hause kommst,« sagte Mutter und sah auf die Uhr, – es wurde bald drei Viertel auf zwei.
»O, Mütterchen, nur noch geschwind zu den Kleinen, – nur noch geschwind in die Küche, – nur noch …«
»Kein ›Nur noch‹, – es reicht zu nichts mehr!« rief die Mutter, und Fräulein Julie ging Miezi, die schon draußen war, nach, sie wieder zu holen. Aber ein paar Minuten lang hatte sie sich doch von den Kindern und der Köchin bewundern lassen, und Herta und Berta liefen ihr nach, ins Schlafzimmer, hinter ihnen drein Fox, der auch was Besonderes witterte und nun an dem schönen weißen Kleide hinaufsprang, so daß es drohte, wie mit der Schürze gestern zu gehen.
»Das Tier soll hinunter in seine Hütte,« befahl der Vater. Fox tat das ungern, denn er war noch jung, lief gerne fort und sollte gezogen werden.
»Macht die Hof- und Gartentüre fest zu, daß er nicht durchgehen kann,« befahl der Vater, und Hans führte den Widerstrebenden weg.
»Daß du nicht folgen und bei der Sache bleiben kannst!« schalt währenddem die Mutter. Kläglich dastehend, ließ sich Miezi nun die neuen Handschuhe von Mutter und Fräulein Julie anprobieren. Aber so viel diese zwängten und strichen und wieder weiteten, das Leder ging nicht über Miezis Hände; schließlich platzte eine Naht und die Not war groß.
»So geht's, immer anderes tun und darüber das Nötige versäumen!« Mutter war nun wirklich sehr erregt, und Miezi war es nicht minder, als sie, statt der schönen, neuen dänischen Handschuhe, ihre alten, verwaschenen gewobenen anziehen mußte.
Noch fünf Minuten.
Mit hochrotem Gesicht flog die endlich Fertiggewordene die Treppe hinab. Aufatmend schaute die Mutter zum Fenster hinaus ihr nach. Wo steckte denn aber das Mädel nun wieder? …
Miezi war in rasender Hast über den Hof gelaufen, um dem ihretwegen verbannten Foxel noch ein ermunterndes Wort zuzurufen, was gut gemeint, aber verfehlt war, denn der Hund heulte laut auf ob der Kürze dieser Güte. – Dann erblickte die ängstlich nach ihr ausspähende Mutter sie plötzlich, wie sie, statt rechts zur Schule, nach links rannte.
»Aber Miezi, es ist wirklich unfaßlich, wie du leichtsinnig bist!«
»Nur noch geschwind Lilly abholen, – ich hab's doch versprochen …«
Die Mutter seufzte, und wollte eben Fräulein Julie nachschicken, als sie die beiden Mädchen in größter Eile der Schule zurasen sah, Miezi noch zwei Längen vor Lilly voraus, denn jetzt wurde ihr selber angst. Es war etwas nach zwei Uhr, als die beiden, völlig außer Atem, in ihre Klasse eintraten.
»Wir haben schon geglaubt, Fräulein ›Nurnoch‹ sei ein Unglück zugestoßen,« sagte die Vorsteherin, zum ersten Male Miezis Necknamen gebrauchend, aber in nicht scherzhaftem, sondern ärgerlichem Ton, denn jeden Augenblick konnte die Fürstin nun kommen. Und richtig, man hörte auch schon Wagenrollen, und rasch wurde Miezi noch an ihren Platz geschoben, man drückte ihr den Strauß in die Hand, die Vorsteherin eilte hinaus und gleich darauf trat sie wieder mit einer schlanken, einfach gekleideten Dame unter die Tür. Einige andere, fast elegantere Damen folgten, und Miezi, die die Fürstin nur von Bildern kannte, wußte jetzt nicht recht, vor welcher sie eigentlich knicksen sollte, und als die erste vor ihr stehen blieb und ihr die Hand gab, drückte sie diese flüchtig und sah nach der nächstfolgenden Dame.
»Mach doch deinen Knicks, – küß doch die Hand,« raunten ihr ein paar Mädchen von hinten zu. Aber jetzt war's zu spät, denn die Einfache, Erste, hatte sich gesetzt, auf den schönen roten Plüschsessel, – also, o Jammer, war's wirklich die Fürstin gewesen! Miezi schnappte nach Luft. Und nun galt's vortreten und herzusagen. Einen Augenblick hatte sie noch Zeit, denn die hohe Frau sprach mit einigen Lehrern, die vorgestellt wurden. Miezi suchte sich gewaltsam zu fassen. Aber was war das? Plötzlich wußte sie weder Anfang noch Fortgang des Gedichtes. Ängstlich fragend ruhte der Blick der Vorsteherin auf ihr. Als sie aber Miezis grenzenlose Verlegenheit sah, da mußte rasch gehandelt werden, ehe man riskierte, daß alles mißlang.
»Annchen Meier soll statt Miezi Berg sprechen,« raunte sie einer Lehrerin zu. Im Nu hatte diese Miezi zurückgeschoben, Annchen den Strauß in die Hand gegeben, und als die Fürstin sich nun der Klasse zuwandte, stand ein etwas schüchtern, aber regelrecht knicksendes junges Mädchen vor ihr, das Ansprache und Gedicht fehlerlos hersagte und zum Schluß die Hand küßte.
»Ich danke dir, liebes Kind, – du hast deine Sache gut gemacht,« sagte die Fürstin. Und richtig, sie gab einen Kuß auf die Stirne des Mädchens und fragte es allerlei Nettes und Freundliches, – o, wie Miezi das Herz weh tat! – Zum Schluß aber bekam Annchen ein kleines Kästchen, in dem lag, auf weißem Samt, eine Vorstecknadel, die in himmelblauen Steinen die Anfangsbuchstaben des Namens der Fürstin trug.
Diese war nun in eine andere Klasse gegangen und Annchens Geschenk wanderte von Hand zu Hand. Währenddem war die Lehrerin zu Miezi getreten, die tiefunglücklich und mit den Tränen kämpfend in einer Ecke stand. Wenn irgendeiner in der Klasse, so hatte sie Annchen Meier, die bei allen sehr beliebt und die älteste Tochter einer armen Beamtenwitwe war, die ihr zugedachte Ehre gegönnt, aber bitter war's doch, furchtbar bitter. Wie war's nur auch plötzlich so anders gekommen? Sie war doch sonst noch niemals in ihrem Leben, wenn es galt, stecken geblieben, und schöner, viel schöner und ausdrucksvoller, das wußte sie gewiß, hätte sie die Sache vorgetragen.
»Wärest du doch früher dagewesen, Miezi, wie die Vorsteherin es gestern ausdrücklich gewünscht hat,« sagte die Lehrerin, dann hätten wir noch vorher mit dir die Sache durchnehmen können. Wie konntest du auch so spät und so abgehetzt in die Schule kommen, wo du doch am besten als erste hättest da sein sollen!«
Dasselbe sagte nachher die Vorsteherin, und Annchen weinte mit, als sie Miezi weinen sah, und sie sagte, eigentlich müßte diese die Nadel haben, ob sie sie nicht nehmen wolle, was Miezi selbstverständlich nicht tat.
Zu Hause waren alle in großer Erwartung, bis Miezi heimkam, erstens wegen des Erzählens und dann hatte sie durchblicken lassen, daß sie jedem an diesem Glückstag etwas schenken werde: Hans, die seltene Briefmarke, die er sich schon lange wünschte, Herta und Berta ein Schutzengelbildchen aus ihrem Album, auch hatte sie jedem versprochen, eine Zuckerbrezel mitzubringen. Die zwei Kleinen drückten sich, lange vor der Zeit, wo man Miezi zurückerwarten konnte, die stumpfen Näschen platt an der Fensterscheibe.
Vier Uhr war's und Hans kam aus der Schule.
»Ist Miezi da? Habe vorhin den leeren Wagen der Fürstin nach den Ställen fahren sehen.«
Wieder eine Viertelstunde! Mutter sah oft nach der Uhr und sagte zu Fräulein Julie: »Mir ahnt nichts Gutes.« Da sprangen Berta und Herta von ihren Sitzen am Fenster herunter, und mit lautem Freudengeschrei: »Miezi tommt! Miezi tommt!« liefen sie hinaus, der Treppe zu.
»Schnell die Bildchen! … Wo sind die Brezeln?«
Aber was da heraufschlich, sah nicht freudig und freudenspendend aus, und mit einem unwirschen: »Laßt mich in Ruhe!« ging Miezi in ihr Zimmer und schloß die Türe hinter sich zu. Die Kleinen gingen klagend zur Mutter: »Miezi ist da, aber dar nicht lieb, – so hat sie uns depufft!« Herta zeigte dieses Puffen an Berta, worauf diese schreien wollte, als Hans, der geschwind in den Hof hinabgegangen war, hereinstürzte und sagte: »Fox ist fort! Irgend jemand hat die hintere Türe gegen die Straße hin aufgelassen und nun ist er durchgegangen!«
Mutter, die inzwischen bei Miezi Einlaß gefordert und gar bald den von ihr geahnten, traurigen Verlauf der Sache erfahren hatte, eilte bei Hansens Ruf: »Fox ist fort!« gleich wieder in die Kinderstube zurück, denn der selten hübsche, muntere Hund war allen gleich lieb, besonders aber dem Vater, der vor kurzem teures Geld für ihn bezahlt hatte. – »Er hat noch gesagt, daß man aufpassen soll,« eiferte Hans. »Der Fox ist vom Land und die Stadt noch nicht gewohnt. Der verläuft sich und findet nie mehr zurück, das werdet ihr sehen. Dann wird er gestohlen oder vergiftet oder von schlechten Leuten geschlachtet und aufgegessen, vielleicht vorher auch noch furchtbar gehauen und mißhandelt.«
»Hans, hör auf,« mahnte die Mutter, denn Berta begann bei diesen schrecklichen Schilderungen ganz entsetzte Augen zu machen und Herta weinte laut hinaus: »Fox soll niemand hauen, er soll tommen, – dleich, der liebe, dute Foxl!«
»G– gleich, sagt man, und k– kommen,« verbesserte selbst in diesem Augenblick größter Spannung Berta, aber auch sie schluchzte, und Hans ergriff seine Mütze, um sich eilends auf die Suche zu begeben »Wenn man nur wüßte, wann und wie er fort ist und nach welcher Richtung!«
Da sagte eine durch Schluchzen unterbrochene Stimme: »Es wird gewesen sein, als ich in die Schule ging und nur noch nach ihm sah, vielleicht habe ich in der Eile das Hoftor offen gelassen!«
Es war Miezi, die herbeigekommen war und, als sie das laute Sprechen und Jammern gehört, sich nun, ihren anderen Kummer für einen Augenblick vergessend, anschickte, mit Hans sofort auf die Suche zu gehen. Aber, sie hatte ja noch ihr Festgewand an, – es war zum Verzweifeln, bis Fräulein Julie die feinen Bänder, Schleifen und Ösen gelöst. – Wie Miezi überhaupt jetzt dieses Kleid haßte! …
»Ich komme gleich. Foxl ist mir gewiß gegen die Schule nachgesprungen und wartet dort irgendwo,« rief sie dem voraneilenden Hans nach. Das rosa Unterkleid, die Lackschuhe, die durchbrochenen Strümpfe, alles mußte erst abgelegt und das Alltagszeug angezogen werden. –
Das Wetter hatte umgeschlagen, draußen rieselte nun ein starker Regen herunter und erst neulich hatte der Tierarzt gesagt, man müsse Fox vor Nässe hüten, da er vor noch nicht langer Zeit die Sucht gehabt, was ein neuer Grund zur Besorgnis war.
Und wieder hastete Miezi denselben Weg entlang, wie vor einigen Stunden, aber nicht im Sonnenschein, Festanzug und froher Erwartung. Es goß und windete, auf der Straße hatten sich Pfützen gebildet, und angstvoll spähte Miezi straßauf, straßab nach einem kleinen weißen Punkt und in allen Tonarten lockte und rief sie: »Fox … Foxi … Foxl!«
An der Schule hoffte sie sicher Hans zu treffen. »Er sei dagewesen,« sagten ein paar Buben, und wieder andere glaubten sich eines Hundes zu erinnern, der hier herumgelaufen sei.
»Ich habe ihn noch gesehen, als die Fürstin abfuhr,« sagte eine Hökerin, die auf dem Platz saß. »Ich hab's schon deinem Bruder, der vorhin fragte, gesagt, daß das Tier wohl durch die vielen Menschen verjagt wurde und dort hinübersprang!« – Die Hökerin deutete mit der Hand nach einer langen Straße, die weitab zum Bahnhof führte. Wieder hoffte Miezi, Hans in dieser Richtung zu finden und Fox bei ihm. Die Straße war eine der belebtesten. Wagen, Omnibusse, Straßenbahnen fuhren in beängstigender Folge, und mit Schrecken dachte Miezi an Vaters Ausspruch neulich: »Hütet mir den Fox gut, er ist noch zu jung und tappig, kennt die Gefahr nicht und könnte leicht überfahren werden!«
Miezi lief und lief, ihre Mütze und Haare trieften, denn ob des Windes hatte sie den Schirm schließen müssen. Sie kam viel weiter, als sie je allein hätte gehen dürfen, und als auch der Bahnhof hinter ihr lag und sie in eine ganz unbekannte Gegend kam, da überfiel sie ein großes Unbehagen. Wo doch nur Hans steckte? Es fing an zu dunkeln und sie wußte nicht, was nun tun … Ein Straßenbahnwagen hielt eben vor ihr, und die geängstete Miezi glaubte im Schein der Laterne den Bruder innen zu sehen. Rasch schwang sie sich hinauf, aber es war ein anderer Knabe, und als der Schaffner sie fragte: »Wohin?« fiel ihr auch mit Schrecken ein, daß sie ja kein Geld habe. Schon wollte sie beschämt wieder aussteigen, denn alle die Leute sahen sie wie eine Betrügerin an, als der Schaffner sagte: »Bist du nicht die Kleine von Geheimrat Berg? Dann kannst du ja später bezahlen. Nicht wahr, Villastraße sechs?«
Er notierte etwas auf den Fahrschein und sagte dann: »Ein junger Herr – ich glaube, es war dein Bruder – wollte vor einer Viertelstunde auch einsteigen, aber ich habe ihn abweisen müssen. Hunde dürfen nun einmal nicht mit hineingenommen werden, und der, den er in seinen Mantel gewickelt trug, sah bös zugerichtet aus, denn er ist überfahren worden und das helle Blut lief herunter. Daß solche Tiere auch nie den Wagen aus dem Wege gehen, sondern gerade mitten hinüberspringen!«
Endlos schien die Fahrt für Miezi, die ihr Taschentuch an den Mund preßte, um nicht hinauszuschreien. Foxl, das liebe, herzige Tier, durch ihre Schuld elend gemacht, vielleicht gar zu Grunde gerichtet!
Endlich die Villastraße! Die Treppe hinauf raste Miezi, vor der Glastüre aber stand sie zitternd still und bangte vor dem Läuten. Da hörte sie drinnen ein »Wau, wau,« wenn auch ein schwächeres als sonst, und Fräulein Julie öffnete und sagte: »Gott sei Dank, daß du da bist, wir alle, besonders Hans, haben uns schrecklich um dich geängstigt, – er hoffte dir zu begegnen!«
Miezi aber stürzte in eine Ecke des Korridors, wo um Fox' Körbchen herum die ganze Familie versammelt war. Vater sprach mit einem Manne, den er Herr Tierarzt nannte, und überall war noch Blut, Verbandzeug und Arznei zu sehen. Aber Foxl lag, sauber und weich gebettet, in seinen Kissen, nur seine eine Pfote ragte, fest auf ein Brett gebunden, steif über den Rand des Korbes hinaus. Er zuckte, denn er wollte doch Miezi wie immer entgegenspringen. Ein leises Wimmern tat kund, daß er's nicht konnte. Aber als die junge Herrin, tränenüberströmt, zu ihm niederkniete, da leckte er mit seinem heißen roten Zünglein ihr die Hände so eifrig, als wollte er sagen: »Nicht du allein bist schuld, auch ich war, wie ich nicht hätte sein sollen, und beide haben wir heute einen harten Tag gehabt!«
Niemand, außer den zwei Kleinen, denen ganz spät nochmals die Brezel, die sie nicht bekommen hatten, einfiel, berührte mehr, was Miezi alles heute erlebt und erlitten hatte. Manchmal ist's besser, die Menschen schweigen und sagten gar nichts.
Foxl ist bald wieder genesen, aber das steife Beinchen, das er von seinem Unfall behalten hat, bleibt Miezis Schmerz und erinnert sie an manches. Der Name ›Fräulein Nurnoch‹ ist nach diesen Begebenheiten in der Familie und in der Schule verschwunden.