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Von einem fröhlichen Frühlingstag in einem kleinen Höfchen. – Warum Herrn Präzeptor Wurm der Nachtigallensang verdorben wurde, und warum Robert Franke eine Ohrfeige bekam. – Anna Wurm beneidet Lieschen trotz ihrer Blindheit. – Die großen Ferien, und wie Vater sie sich dachte.
Nun war es Frühling geworden. Draußen im Garten bei Weltingens grünte der Rasen, und die vielen Tannen, die dort standen, alte und junge, hatten hellgrüne Triebe angesetzt. Im Frankeschen Parke in der Stadt blühte der Flieder und prangten die Blumenbeete von Hyazinthen, Narzissen und Maiblumen. Bei Wurms im kleinen Häuschen standen die Fenster weit offen, um die liebe Sonne hereinzulassen, und mit ihr und der Frühlingsluft kamen auch alle die Blütendüfte zu Lieschen in die Stube herüber. Aber auch Blumen selbst wurden ihr in Hülle und Fülle gebracht. Im Januar noch hatte Fräulein Mayer Alice Franke bei ihr eingeführt, und zwischen den beiden so verschiedenartigen Mädchen hatte sich trotzdem bald eine innige Freundschaft entwickelt. Lieschen erfuhr durch Alice so vieles, von dem sie noch nichts wußte in ihrer Einsamkeit, von den Menschen und ihrem Treiben, von Reisen und andern Ländern, und Alice hingegen tat Lieschens ganze Art so wohl, die Freude, die sie bezeigte, wenn sie kam, und die Innigkeit und Liebe, die ihr ganzes Wesen ausströmte.
»Lieschen, ich glaube, heute könnten wir dich in die Laube bringen,« sagte der Vater, als er mittags nach Hause kam.
»Das Höfchen ist schön trocken, ich war gerade unten. Die Blätter sind schon ganz hübsch groß und geben ein bißchen Schatten, und Anna kann vorher die Bänkchen und den Tisch noch geschwind säubern.«
»Wartet nur noch ein ganz klein wenig nach dem Essen mit dem Hinuntergehen,« sagte Fritz eifrig.
»Das geht auch nicht so rasch,« meinte Vater lächelnd, »und unser Lieschen muß vorher auch noch ausruhen, ehe sie ihre Reise antritt. Freust du dich darauf?« fragte er diese und sah sie zärtlich an.
»O ja!« erwiderte Lieschen freundlich, aber im Grunde des Herzens war ihr doch ein bißchen bange vor jeder Veränderung, und dann waren die Sitze unten so unbequem, und der Rücken tat ihr doch viel weher als voriges Jahr.
Aber wie war sie überrascht, als sie hinabkam, halb vom Vater getragen, halb geführt! Vor der Laube standen die zwei Kleinen mit Fahnen in der Hand und schrieen »Hurra!« Fritz hatte hinten an das eine Bänkchen eine prächtige Lehne genagelt, – ein Brett, etwas schief, gerade so, wie der Rücken es gerne hat. Auf dem Tische stand ein Strauß von Flieder und Goldregen, und das Schönste von allem, – auf der Bank lag ein weiches, gutes Kissen von Leinwand, mit roten Streifen benäht, und unten auf dem Boden stand eine ähnliche Fußbank. Freilich, sehen konnte das alles Lieschen nicht, aber bald fühlen und aufs wohltuendste empfinden, als der Vater und die Geschwister sie an ihren Platz geführt und gesetzt hatten. Wohl war sie etwas müde geworden durch die ungewohnte Anstrengung, aber ein glückliches, dankbares Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Ist's recht so, Liese?« fragte Fritz und lachte mit dem ganzen Gesicht.
»Einfach herrlich hast du das gemacht,« sagte Lieschen.
»Und Anna hat die Fußbank genäht, und das Kissen Alice,« sagte Hans und hüpfte immer auf einem Fuß. »Und ich hab' den Hof kehren helfen,« setzte er noch wichtig hinzu.
»Dretel auch!« sagte diese und kletterte mit aller Anstrengung auch auf die Bank hinauf, denn sie wollte neben Lieschen sitzen. Fräulein Mayer, welche die vielen Stimmen im Höfchen hörte, sah hinunter und freute sich auch mit, und desgleichen die Mutter, die den Kopf oben zum hintern Fenster hinausstreckte.
»Alte, wie wär's, wenn wir's uns heute wohl sein ließen und den Kaffee alle zusammen da unten trinken würden?« rief der Vater hinauf. »'s ist ja Samstag nachmittag!« setzte er hinzu.
»Ja freilich, weil Samstag nachmittag ist und große Putzerei, so könnt ihr mir so etwas nicht zumuten,« wollte die Frau Präzeptor eben hinabrufen, aber sie besann sich doch noch. Etwas seufzend ließ sie ihre Arbeit stehen und traf ihre Vorbereitungen. Als aber gleich darauf der Vater Anna heraufschickte, die Mutter solle nur noch mehr Kaffee machen, Fräulein Mayer und Alice Franke seien auch noch gekommen, Anna und Fritz sollten noch ein paar Stühle heruntertragen, da konnte sie sich doch nicht enthalten zu sagen:
»Das ist ja eine ganze Kaffeevisite! So etwas sollte man doch auch vorher wissen. Wo nehme ich jetzt Milch und Gebäck her?«
»Ich hol's!« rief Fritz und griff gleich nach dem Korbe, und Anna faßte mit Anstrengung aller ihrer Kräfte zwei Stühle zusammen, um sie hinabzutragen.
»Was fällt dir denn ein, die gepolsterten?« sagte die Mutter, noch immer etwas erregt. »Dazu sind doch die Küchenstühle gut genug. Es könnte auch plötzlich ein Regen kommen!« Mutter sah zum Himmel empor, aber es ließ sich nirgends auch nur das kleinste Wölkchen entdecken. Dann aber nahm sie doch die größte Pfanne herab, füllte die Kaffeemühle bis oben an, und als sie nach einiger Zeit das Brett mit der mächtigen Kanne und den geblümten Tassen hinabtrug, da empfing sie ein solcher Jubel, daß sie nicht anders konnte, als sich mitfreuen.
Alles saß möglichst eng um den kleinen Tisch herum, klein und groß untereinander, wie es eben kam. Neben Lieschen saß Alice, und die beiden Freundinnen hielten sich bei den Händen. Fräulein Mayer stellte ihren Stuhl aus lauter Bescheidenheit vor die Laube heraus, aber der Vater, dem heute so leicht und froh zumute war, ruhte nicht, bis sie auch noch drinnen saß, denn es hatte noch Platz.
»Na, Alicechen, wie schmecken die trockenen Semmeln?« fragte der Vater scherzend.
»Ausgezeichnet,« sagte diese lachend und brach eben die zweite Hälfte auseinander, um »tunken« zu können. Anna dachte in der Stille: »Kuchen wäre ihr wahrscheinlich lieber.« Alice war ihr ungeheuer interessant, aber sie genierte sich vor ihr; auch hatte Alice immer noch nicht viel mit ihr gesprochen, und sie beharrte deshalb auf ihrer Ansicht, daß sie trotz allem hochmütig sei.
Nun aber ging es sehr heiter zu. Man machte während des Trinkens das Spiel, daß jemand an seine Tasse klopfte. Nun mußte ein jedes gerade in der Stellung verbleiben, in der es sich eben befand, bis wieder geklopft wurde, und es ergaben sich die komischesten Situationen. Dann wurde Wörterraten gespielt und Pfänderspiele gemacht. Alles jubelte und lachte, als Hundegebell ertönte und Franz Weltingen am Hoftor vorbeikam, um ins Haus hineinzugehen.
»Das ist mein Franz,« sagte Lieschen mit erhobenem Kopf, noch ehe die andern ihn gesehen hatten, und er wurde mit Freudengeschrei auch noch hereingeholt. Alice nahm Gretelchen auf den Schoß und Fräulein Mayer den Hansel, um Franz Platz zu machen, und Anna reinigte rasch am Brunnen eine Tasse, denn oben wäre jetzt keine mehr zu finden gewesen. Zu Mutters Beruhigung fand sich auf dem Grunde der großen Kanne noch Kaffee, und sie schob Franz stillschweigend und unbemerkt ihre Semmel hin, da sie sich noch keine Zeit genommen zu essen. Dackerle und Feldmann streckten auch die Köpfe herein und schnupperten, aber nun gab es keinen Platz mehr, und Feldmann legte sich ergeben vor den Eingang. Der Dackerle aber wußte sich zu helfen. Er zwängte sich unten durch die Latten an der Rückseite der Laube und strebte zu Lieschen, die er nun gut kannte, denn Franz hatte ihn in den letzten Monaten manchmal mitgebracht. Lieschen fühlte auf einmal an ihren Füßen etwas sich reiben, und dann – wupp! – saß plötzlich etwas mitten auf ihrem Schoß, und ein kaltes Näslein schnupperte an ihr herum.
Erst spät, als die Sonne über Fräulein Mayers Dach gegangen und es im Höfchen etwas kühl geworden war, trennte sich die fröhliche Gesellschaft. Der Vater sorgte dafür, daß Lieschen gleich ins Bett kam, denn natürlich war sie müde, aber im Innern doch so glücklich, auch einmal wieder draußen gewesen zu sein. Anna half der Mutter noch die Wohnstube in Ordnung bringen, und es war merkwürdig, wie flink es ihr von der Hand ging, wenn sie wollte. Sie war sehr gut aufgelegt, denn Alice Franke hatte ihr beim Abschied freundlich die Hand gereicht und zu ihr gesagt:
»Willst du mich einmal in meinem Garten besuchen, Anna?« Das mußte sie doch Berta Weber erzählen. Seit der Mantelgeschichte mochte sie diese eigentlich nicht mehr so recht leiden, aber sie hatten doch denselben gemeinsamen Schulweg; da war es hübsch, sie morgen mit der Erzählung neidisch machen zu können.
Franz war von Lindner abgeholt worden, und Fritz begleitete ihn noch ein Stück weit. Er war seit vorigem Winter manchmal wieder bei Weltingens eingeladen gewesen, und es machte ihn innerlich glücklich, daß Franz nun auch einmal bei ihm Kaffee getrunken hatte.
Als sie an dem Frankeschen Parke vorbeikamen, wurde Fritz plötzlich einsilbig und verstimmt. Franz bemerkte das nicht, aber es mochte ihm auch etwas eingefallen sein, denn er fragte unvermittelt:
»Wie stehst du jetzt eigentlich mit dem da drinnen, Fritz?« und deutete über das Gitter nach der Villa.
»Wir sind wieder gut miteinander,« erwiderte Fritz, aber seine Stimme lautete ein bißchen gepreßt. »Du weißt ja selber, Franz, wie arg der Bann gewesen ist, obgleich die andern Buben ihn im ganzen bald wieder vergessen haben. Ich glaube, es ist ihnen langweilig geworden! Aber daß Franke so lange mit mir fortgemacht hat, weißt, das hat mich doch geschlaucht, und am meisten hat mich gedrückt, daß er mich für undankbar hielt.«
»Aber die Greinergeschichte, Fritz, weißt du, die war doch stark! Die hat er doch angezettelt, und er hätte nicht schweigen dürfen, als du alles auf dich nahmst,« warf Franz ein.
»Das sei ihm auch nicht egal gewesen, hat er mir neulich gesagt, als er zum ersten Male wieder mit mir sprach,« sagte Fritz eifrig. »Er meinte, was hätte es genützt, wenn er auch noch den Büßer gespielt hätte. Einfach lächerlich wäre das gewesen, und mir hätte es doch meine Strafe nicht erspart, und das ist wahr.«
»Aber die Streiche gegen deinen Vater, Fritz?«
»Ja, das ist richtig,« gab dieser zu. »Das hab' ich ihm auch tüchtig gesagt, als er wieder mit mir sprach. Aber da lachte er dann und sagte: »Für dich ist's dein Vater, für mich der Lehrer, den man uzen darf und muß, daß er einen nicht unterkriegt! Übrigens, bin ich nicht in letzter Zeit ein Muster von Tugendhaftigkeit gewesen?« fügte er hinzu.
»Ja, das ist richtig,« sagte Franz Weltingen, »so ganz toll hat er's seither nicht mehr getrieben, aber weißt du, Fritz, trauen tät ich deshalb dem Franke doch nicht über den Weg, so schneidig er ist.«
Bei diesen Worten trennten sich die beiden Kameraden, und Fritz kehrte langsam wieder um. Er dachte über das nach, was Franz gesagt hatte, und er mußte ihm in vielem recht geben. Und doch war er innerlich so glücklich gewesen, als Franke sich ihm plötzlich wieder genähert hatte. Das Nachtragen war Fritzens offener Natur so zuwider, und er fühlte sich unsagbar erleichtert, als Franke ihn plötzlich einmal angeredet und gesagt hatte:
»Was ist jetzt, Wurm, soll ich Gnade für Recht ergehen lassen und dir deine kolossale Untreue verzeihen?« Es war gerade hier am Gartentor, wo sie sich getroffen, d. h. Franke hatte eigentlich auf ihn gewartet wie in früherer Zeit, und Fritz war so glücklich über diese Annäherung, daß er total das Ungerechte der Anrede vergaß.
»Komm herein, Wurm, und gestehe, daß es dir doch auch leid getan hat um meine Freundschaft, – was?« Franke hatte ihn in den Garten gezogen; sie hatten dann zusammen in dem Kiosk gesessen, und Franke hatte durch den Diener Bier kommen lassen. Eigentlich behaglich war es Fritz nicht so wie z. B. heute nachmittag; aber Franke übte seinen ganzen Zauber wieder über ihn aus, er war so gewandt und konnte so liebenswürdig sein, und dann war es doch auch einfach Pflicht, wieder Frieden zu machen. Ob es aber auch gerade zur Pflicht gehörte, daß Fritz am Schlusse darauf einging, eine »Friedenspfeife« in Gestalt von Cigaretten zu rauchen, mag dahingestellt sein; Fritz wollte ihn nicht gleich beim ersten Male wieder ärgern, obgleich ihm hinterdrein recht übel von der Friedensraucherei wurde und er nur zu tun hatte, daß man zu Hause nichts davon merkte. Seither hatte er's wieder probiert, obgleich der Frieden ja geschlossen war, und es war ihm nicht übel dabei geworden, aber er hatte ein schlechtes Gewissen. Wenn Vater das gewußt hätte! Eine eigentümliche Scheu hielt ihn überhaupt davon zurück, zu Hause viel von der »Versöhnung« zu sprechen, denn er fühlte, daß niemand eine große Freude daran gehabt hätte.
Zu Hause war alles in schönster Ordnung, die Kleinen waren schon ins Bett gebracht, und Mutter richtete draußen das Nachtessen. Der Vater hatte sich noch zu Lieschen ans Bett gesetzt und war so heiter und aufgeräumt wie schon lange nicht.
»Es ist doch etwas Eigenes um den Frühling,« sagte er zu dieser. »Alles, was im Winter schwer auf einem lastet, das löst sich an solch einem milden, sonnigen Tage. Auch in der Schulstube ist's einem leichter, die Knaben sind besserer Laune, und ich habe gegenwärtig über nichts zu klagen.«
»O Vater, wie mich das freut!« sagte Lieschen und sah ganz glücklich aus.
»Ja, Kind, und auch Fritz lernt fleißig im letzten Vierteljahr, und der Umgang mit Franz Weltingen zeigt sich in vielem. Gern wollte ich ihn noch ein bißchen gleichmäßiger und fester haben, aber ich hoffe, das wird noch kommen.«
Der Vater hatte sich bei diesen Worten erhoben. Er wollte, wie er sagte, noch einen kleinen Gang machen, um die Nachtigallen drüben im Park vielleicht schlagen zu hören. Er nahm seinen Hut und ging fort.
Fritz wollte inzwischen nach Hause gehen, als Robert Franke ihn von seinem Garten aus entdeckt hatte und ihn anrief.
»Warte, Wurm, ich komm zu dir hinaus! In der Laube sitzt Alice mit Fräulein Mayer und sprechen Blödsinn zusammen von Geschwisterliebe, Pflichttreue u. dergl. Da wären wir nicht ungestört!« und Franke kam heraus. Außerhalb des Parkes war noch eine Reihe Bäume, die auf einen kleinen Platz mündete, wo einige Bänke von der Stadt aus angebracht waren. Dorthin lenkten sich ihre Schritte. »Ich sollte nach Hause,« sagte Fritz ängstlich, denn er dachte an die ganze lange Reihe Stiefel, die er heute noch putzen mußte.
»Ach was, laß dir nur geschwind noch was erzählen!« warf Franke hin, und sie setzten sich beide auf eine Bank. »Nun paß auf, Wurm, – es ist gerade geschickt, daß ich dich noch gesehen habe. Willst du morgen abend mit mir ins Thaliatheater, he? Nicht wahr, so was! Unterbrich mich nicht, daß es Schülern verboten ist, dahin zu gehen! Ich habe meine Verbindungen und werde dich auf einen Platz führen, wo man dich nicht sieht,« sagte er stolz.
»Aber man merkt's doch, wenn ich von Hause fort bin,« erwiderte Fritz kleinlaut. In ein Theater zu kommen, war ja der größte Wunsch seines Lebens.
»Esel!« sagte Franke. »Wirst du denn immer der einfältige kleine Schulknabe bleiben?« Fritz schwieg beschämt.
»Also die Meinigen,« fuhr Franke fort, »sind morgen abend eingeladen. Du sagst ganz einfach zu Haus, daß meine Mutter dich aufgefordert habe, den Abend bei uns zuzubringen. Was? Da, zünde dir eine Cigarette an, und sei keine Mehlamsel!« Franke bot ihm sein elegantes Etui an, in das Fritz zaghaft einen Griff tat.
»War ja die letzte Zeit der reine Musterknabe,« fuhr Franke fort und entzündete ein Streichholz. »Glaub' mir, deine Alten merken nichts und fühlen sich aufs höchste geschmeichelt von dieser Einladung.«
In diese in keckster Weise vorgetragenen Worte fiel urplötzlich ein klatschender Ton und dann noch einer. Die beiden Cigaretten flogen wie Glühwürmchen in die Luft, und die Knaben waren jäh von ihrem Sitze aufgefahren und hielten sich unwillkürlich die Ohren.
»Schuft!« donnerte es, und der Herr Präzeptor Wurm stand wie aus dem Boden gewachsen vor den beiden und hatte Franke an der Schulter gepackt. Er war auf seinem Abendgange den Knaben unbewußt nahe gekommen, und es war leider kein Nachtigallensang, den er zu hören bekommen hatte.
»Schuft!« sagte er noch einmal mit vor Zorn bebender Stimme und schüttelte Franke, der sich vergeblich bemühte, loszukommen, hin und her. Dann ließ er ihn mit einem Stoße gehen und sagte kurz zu Fritz:
»Komm!« Während die beiden in der Dämmerung verschwanden, reckte Robert Franke seine Glieder und ging seiner Villa zu. In seinem Herzen aber loderte ein grimmiger Zorn, und er murmelte vor sich hin:
»Mir eine Ohrfeige geben und mich schütteln? Warte, Wurm, das vergesse ich dir nie!«
Im Präzeptorhäuschen war der Schluß des Tages kein heiterer. Fritz lag nach erregter Auseinandersetzung schluchzend in seinem Bett, und im hinteren Zimmer weinten zwei blinde Augen sich in Schlaf über »Vaterles verdorbene Frühlingsstimmung.«
Die nächsten Tage regnete es, aber dann kam lange Zeit das herrlichste Wetter, und Lieschen konnte fast jeden Nachmittag ins Freie gebracht werden. Der Arzt wünschte es, denn sie war so zart und schwach, und er erhoffte von der Luft Stärkung. Ein paarmal versuchte sie, bis in Alicens Park hinüberzugehen, aber es bekam ihr schlecht; der Weg, wenn auch nur über die Straße, war zu weit für ihre Kräfte, und sie hatte keinen Genuß davon. Einmal hatte Frau von Weltingen auf Franzens dringende Bitten sie im Wagen abgeholt.
»Du mußt doch auch mein Heim sehen – kennen lernen,« verbesserte sich schnell Franz. Lieschen war auch glückselig in dem Gedanken. Wie viel hatte ihr Fritz schon erzählt, und dann hatte sie ja auch Franz so lieb, und sie sagte: »Du mußt mir dann aber auch alles zeigen!« Das Zeigen bestand darin, daß Franz ihr alles erklärte, aber auch vieles bemerkte Lieschen von selbst.
»O wie viel Bäume habt ihr im Garten,« sagte sie, als sie ausgestiegen waren. »Euer Haus ist höher als das unsrige,« fügte sie hinzu, als Tante Juliane ihr von oben herab einen Willkommgruß zurief. Sie schätzte die Höhe nach der Entfernung der Stimme.
»Wie groß sind eure Stuben!« sagte sie, als Franz sie durch diese führte, und sie bewunderte die weichen Stühle und die seidenen Bezüge.
»Wie großmächtig müssen eure Fenster sein!« bemerkte sie wieder. »Es kommt da viel mehr Luft als bei uns herein, und sie ist auch anders hier als in der Stadt.« – Beim Essen war Lieschen etwas stille und verlegen, denn Herr von Weltingen war dabei, auch war sie ängstlich, etwas umzustoßen oder zu verschütten. Aber glückselig war sie, als nach Tisch Lindner sie mit seinen starken Armen zu Tante Juliane hinauftrug. Diese bettete sie auf die Chaiselongue und sprach mit ihr auf die herzlichste Weise, geradeso wie Franz es ihr immer erzählt hatte. Und dann kam auch Frau von Weltingen, und es wurde musiziert, o so schön, wie Lieschen noch gar nichts gehört hatte. Tante Juliane spielte auf dem Flügel, Franzens Mutter sang, und es gab dann auch noch Stücke, wo Franz mit seiner Geige einfiel.
Lieschen war wie verzückt.
»Daß es so was Schönes auf der Welt gibt! Nein, so was Schönes!« sagte sie immer wieder, und als es zu Ende war, da faßte sie beide Hände von Tante Juliane und drückte einen Kuß darauf; sagen konnte sie nichts mehr. Franz war selig über den Eindruck, den das alles auf Lieschen machte. Aber die Ausfahrt war ihr nicht gut bekommen, obgleich Frau von Weltingen sie noch selbst im Wagen nach Hause gebracht und an das beste Plätzchen gesetzt hatte. Es zeigte sich, daß Lieschens Rücken eine Fahrt nicht ertragen konnte, und es blieb die erste und letzte Probe.
Wenn Lieschen unten in ihrer Laube saß, gestützt von der schrägen Lehne und dem weichen Kissen, konnte sie gut die Geschwisterchen hüten. Mutter schloß das Pförtchen gegen die Straße, daß die Kleinen nicht hinauslaufen konnten, und sie spielten gewöhnlich auf dem Haufen Sand, den Alice Franke durch ihren Gärtner hatte hinüberschaffen lassen. Da saßen Hans und Gretel stundenlang mit ihren Eimerchen und Geschirrchen und machten Torten und Kuchen, die sie dann Lieschen zum Bewundern brachten. Aber auch außer den Geschwistern war Lieschen selten allein. Es war eigen, welche Anziehung sie auf alle ausübte, und wie wohl es jedem in ihrer Nähe war! Das kam daher, daß Lieschens warmes Herz mit allen fühlte, für alle sich freute oder litt, und weil sie sich in die andern hineindachte, so wußte sie auch meist einen guten Rat, wo es nottat. Es war ein Hauch von Liebe, der von dem blinden Kinde ausging, der jedem wohl tat, der in seine Nähe kam, vom Vater an, dessen Vertraute sie immer mehr wurde, bis zu den Buben und Fräulein Mayer. Franz Weltingens liebster Gang war zu Lieschen, mit und ohne Geige, und das verwöhnte Kind, um das sich zu Hause alles drehte, lernte bei Lieschen unbewußt den Segen der Hingabe an andere. Als die Nachmittage wirklich warm waren und keinerlei Erkältung zu befürchten stand, durfte auch Gottlob Greiner manchmal auf ein Stündchen in den Wurmschen Hof kommen. Der Knabe lebte unter den andern Kindern ordentlich auf und sah auch ganz nett aus, wenn er sein Wämschen und das Halstuch hatte abstreifen dürfen. Freilich, zu schonen war er immer, darin hatte die Großmutter wohl recht, und es war auch wieder Lieschen, die ihn hierin viel besser verstand als die kerngesunden Kameraden. Bei ihr wurde er nie ausgelacht, wenn er über irgend ein Weh klagte, aber er merkte auch an Lieschen, die ja ganz anders litt als er, daß man Schmerzen auch stillschweigend tragen könne. Der Doktor, der ihn behandelte und auch manchmal zu Wurms kam, hatte gesagt, Gottlob werde schon nach und nach erstarken, und Lieschen hatte ihm daraufhin geraten, gegen sich selbst härter zu sein.
»Weißt,« sagte sie, »besser wird's nicht, wenn man klagt, und die andern leiden dann mit und können doch nichts machen!«
»Ja,« erwiderte Greiner, sich besinnend, »Großmutter ist so, – ich habe darüber noch gar nicht nachgedacht!«
Für Alice Franke war Lieschen nun eine wirkliche Herzensfreundin geworden. Das reiche, einsame Mädchen fand hier alles, was sie drüben in ihrem prächtigen Heim vermißte. Wenn sie jede freie Stunde benützte, um bei Lieschen sein zu können, so sagte ihre Mutter manchmal geringschätzig:
»Ich kann dich nicht begreifen, Alice! Hier hast du den schönsten Park, den man sich denken kann, und die anregendste Gesellschaft, und du ziehst dem ein obskures Höfchen und den Umgang mit einem so simplen Kinde vor. Jetzt will ich dir's noch hingehen lassen, aber später muß ich energisch Einsprache dagegen erheben!«
Später! Darüber machte sich Alice jetzt noch keine Sorgen. Auch Fräulein Mayer setzte sich oft mit der Arbeit zu den beiden herab, und es vermischte sich der Altersunterschied in den gemeinsamen Interessen, die sie hatten, und in ihrer gegenseitigen Liebe.
Fräulein Mayers Locken hatten sich wirklich damals unter der kunstgerechten Hand von Alices Jungfer in einen guten, festen Knoten verwandelt. In den ersten Tagen war es ihr immer, als fehle etwas, als müßten die langgewohnten, gelben Ringel irgendwo zu suchen sein. Als aber nichts mehr so ungeordnet herabhing, als sie nicht fortwährend was zu ordnen, hingegen ein Gefühl von Halt hatte, da war sie doch sehr froh über Alices Rat und tröstete sich in Gedanken, ihr Mütterchen werde ihr nun wohl nicht mehr böse sein über die Änderung. Diese Sorge trat auch in den Hintergrund vor der ganz andern, daß sie seither keinen Brief mehr aus Amerika erhalten hatte. So verschlossen sie war, jetzt dünkte es sie doch eine große Wohltat, mit Frau Wurm darüber sprechen zu können, und wenn diese sie immer wieder versicherte: »Warten Sie's ab, – es lernt keiner schwimmen, dem man immer hilft,« so war sie allemal wieder für eine Zeitlang beruhigt.
Ein Sorgenkind für die Familie war immer noch Anna, oder vielmehr sie wurde es mit dem Heranwachsen. Wenn auch der Verkehr mit der oberflächlichen Berta Weber aufs äußerste beschränkt wurde, so traf sie diese doch immer in der Schule, und Annas eitler Sinn bekam durch sie immer wieder Nahrung. Im Lernen war sie gut, aber das Helfen im Haushalt preßte ihr und Mutter manchen Seufzer aus, denn sie tat alles ungern und widerstrebend.
»Wenn ich's nur könnte wie du!« sagte Lieschen manchmal traurig bei solchen Anlässen.
»Und wenn ich's nur so gut hätte wie du!« konnte da Anna unfreundlich erwidern. »Behaglich dasitzen und Besuche haben und von allen Leuten bevorzugt sein, das täte mir auch gefallen!«
Lieschen schwieg wehmütig auf solche Rede, und das empfand Anna denn doch, denn sie war ja nicht schlecht und hatte auch im Grunde Mitleid mit Lieschen.
»Ich weiß ja, daß du blind bist,« sagte sie dann wohl einlenkend, »aber ich soll eben auch alles tun, und niemand hat mich gern und will etwas von mir,« schloß sie, und ihre dunkeln Augen standen voll Tränen.
»Freilich hat man dich gern,« versicherte Lieschen eifrig; »Mutter kann ja ohne dich gar nicht sein, Fräulein Mayer schätzt dein Lernen, und daß ich, für die du so viel tun mußt, dich lieb habe, das weißt du,« und Lieschen streckte ihr die Hand hin.
»Ja, ihr vielleicht schon, aber die andern nicht,« schmollte Anna, und Lieschen wußte, wen sie unter den andern meinte. Alice hatte wohl einmal Anna aufgefordert, in ihren Park zu kommen, aber nachdem sie ihr ein paar Blumen geschenkt, war es dabei geblieben, und auch Franz Weltingen befaßte sich wenig mit der einsilbigen Anna.
Es wurde ein sehr heißer Sommer, und Kinder und Erwachsene sehnten die Ferien herbei. Ob es wohl die große Hitze ausmachte, daß die Stimmung unter den Knaben in der Klasse des Herrn Präzeptors Wurm wieder keine gute war? Fast täglich kam etwas vor, was den Lehrer betrübte oder erregte, und dabei stellten sich bei ihm gar häufig Kopfschmerzen ein, die es ihm oft schwer machten, die Stunde durchzuführen. Präzeptor Wurm hatte damals Robert Franke nicht mehr zur Rechenschaft gezogen. Das, was er ihm angetan, gehörte nicht in die Schule; seine Züchtigung hatte er ja erhalten, und eine Ermahnung, das wußte er wohl, hätte ja bei ihm doch nichts gefruchtet. Dafür, daß Fritz nicht mehr mit ihm verkehrte, hatte er gesorgt. Wenn auch letzteres für Alice ein großer Schmerz war, so mußte es doch sein. Franke aber war und blieb, wie einst der Kollege ihm gesagt, das räudige Schaf in der Klasse. Äußerlich ließ er sich selten was zu Schulden kommen. Seine Aufgaben waren, wenn auch gering, doch ausgearbeitet, und einen eigentlichen Streich hatte er nicht mehr verübt. Aber alle die kleinen Unarten, Bosheiten und Frechheiten gingen doch meistens von ihm aus, und es war merkwürdig, wie sich immer wieder welche von den Knaben zur Ausführung hergaben, und ihm selbst, dem Urheber, konnte man so schwer beikommen. Gegenwärtig war es wieder Kurt von Wilsdorf, den er zu seinem Kameraden sich erwählt hatte, und es fehlte nicht an höhnischen Blicken und Bemerkungen Fritz gegenüber, wenn er mit Kurt und ein paar andern sich abends im Parke vergnügte und herumtrieb.
»Laßt den Leimsieder laufen!« oder: »Laßt das kleine Würmlein dem alten Wurm nachkriechen!« und ähnliches bekam Fritz in allen Tonarten zu hören.
Heute war der Vorabend von den großen Sommerferien. Schon in den letzten Wochen hatte sich bei allen, die zu Lieschen kamen, das Gespräch einzig und allein darum gedreht, wo man diese zubringen werde. Weltingens wollten alle zusammen mit Tante Juliane, Lindner und den beiden Hunden an die Nordsee.
»Ich freue mich furchtbar aufs Schwimmen, und der Feldmann kann's sicher auch. Der Dackerle fürchtet sich vielleicht vor den Wellen, aber dafür kann er sich in dem weichen Sande wälzen,« sagte Franz voll Feuereifer.
»Ich freue mich auf unser Schloß am Starnbergersee!« sagte Alice. »Freilich kommen auch dorthin wieder viele Menschen, und statt der Gesellschaften gibt es Gartenfeste und Ruderpartien. Aber es ist doch so herrlich schön dort, die Berge zu sehen, und des Morgens kann ich ungestört an meinem Lieblingsplätzchen am See sitzen und lesen.«
Greiner und seine Großmutter gingen in ein Soolbad. »Der Doktor hat gesagt, dort könne ich mich abhärten,« hatte Lobele vergnügt verkündigt.
Fräulein Mayer sogar war heute früh fortgereist. Eine entfernte Cousine hatte sich ihrer erinnert und lud sie zu sich aufs Land ein, freilich mit dem bedenklichen Zusatze: »Sie nehmen sich dann gewiß ein bißchen der vernachlässigten Bildung meiner Töchter an.« Aber immerhin war es doch etwas anderes und ein Luftwechsel.
Es war ein besonders schwüler, drückender Tag gewesen, und Lieschen hatte liegen bleiben müssen. Ihre Glieder waren wie von Blei. Schon seit Tagen wollte es nicht zum Regnen kommen, und doch hingen schwere, dicke Wolken am Himmel. Lieschen versuchte vergeblich, ihre sonst so fröhliche Stimmung zurückzurufen, es gelang ihr aber nicht. Nach Tisch war Franz dagewesen, um ihr Lebewohl zu sagen, und vorhin Alice, die heute mit dem Nachtzuge abreiste.
»Könnte ich dich nur einpacken und mitnehmen, mein Herzblatt!« hatte sie voll Zärtlichkeit gesagt.
»Das wäre ein großes und zerbrechliches Paket,« hatte Lieschen zu scherzen versucht, aber es zuckte dabei um ihre Lippen. Doch nur nicht weinen, nur nicht den andern ihre Freude verderben! Mit möglichst festem Tone sagte sie:
»Du wirst mir oft schreiben, Alice, nicht wahr? Briefe bekommen ist auch was Hübsches!« Aber als Alice draußen war, richtete sie sich mühsam auf und blieb in dieser Stellung, bis das letzte Geräusch der Davoneilenden verklungen war; dann legte sie sich erschöpft wieder zurück. Nun war alles vorbei und Lieschen einen Augenblick allein. Sie erwartete den Vater, der von der Schule zurückkommen mußte, wo er noch einiges mit den andern Lehrern und dem Famulus zu besprechen hatte. Wenn nur sein Kopfweh nicht ärger geworden war! Lieschen fühlte es ihm nach, denn auch ihr Kopf war heute so sehr angegriffen und schmerzte.
»Alle sind nun fort, nur Vater allein muß zu Hause bleiben, und er hätte doch eine Erholung am allernötigsten!« seufzte sie und sprach es auch ihm gegenüber aus, als er kurz darauf nach Hause kam und sich zu ihr setzte.
»Gerade du, Vater, der jedes Blümlein kennt und den Wald und all die schönen Dinge da draußen noch so viel besser versteht als die andern, gerade du mußt in der Stadt bleiben!«
»Erstens bin ich nicht der Einzige, der in der Stadt bleiben muß,« beruhigte sie der Vater, »sondern es gibt noch gar viele, die nicht fortkommen. Zweitens werde ich meine Ruhe haben und auch sehr viel bei meinem lieben Kind sein können,« und er streichelte Lieschen zärtlich die Hand. »Dann aber,« setzte er fröhlich hinzu, »gibt es doch auch hier herum Blumen, Wiesen und Wälder, und Fritz und ich werden alle Tage zusammen ausziehen und vielleicht auch Mutter und Anna. Dann bringen wir dir die schönsten Sträuße und Beeren nach Hause. Den Kaffee wollen wir womöglich alle Tage unten im Höfchen trinken, und ich habe dann auch Zeit, dir vorzulesen. Du sollst sehen, Lieschen, das wird eine fröhliche Ferienzeit geben!«
Ja, das Bild, das der Herr Präzeptor Wurm entwarf, war sehr hübsch, aber es sollte anders kommen, und während die Freunde des Wurmschen Hauses sich erholten und vergnügten, lag über diesem ein tiefer Schatten.
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