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Zweites Kapitel.

Im Hause des Herrn Präzeptors Wurm. – Vom blinden Lieschen und warmen Hausschuhen. – Warum Gretel sich nicht von Anna anziehen lassen will. – Von Fräulein Mayer mit den langen Locken und der Hofwohnung.

 

»Hast du den Tisch gedeckt, Lieschen?« scholl eine Stimme aus der Küche einer einfachen Wohnung in das Wohnzimmer herüber.

»Ja, Mutter!«

»Brennt das Feuer im Ofen?« fragte dieselbe Stimme, und es zischte draußen, wie wenn Schmalz in einer Pfanne heiß gemacht würde.

»Ja, Mutter, ich höre das Feuer knistern,« antwortete ein junges Mädchen von etwa dreizehn Jahren, an das diese Fragen gerichtet waren. Es stellte noch das Brotkörbchen auf den Tisch, ging dann zum Ofen und legte seine Hände wie prüfend an die grünen Kacheln. Dann, als der Schmalzgeruch ein wenig ins Zimmer kam, schritt es zur Türe, die in die Küche führte, griff nach der Klinke und machte sorgsam den Spalt zu. Beim Rückweg wäre es beinahe über einige Bauklötzchen und eine alte Puppe gestolpert, die am Boden lagen.

»Komm, Hans, räume deine Spielsachen auch noch auf, ehe Vater kommt,« sagte sie zu einem kleinen, etwa dreijährigen Jungen, der eben auf den Stuhl geklettert war und mit seinem dicken Zeigefingerchen in den gestoßenen Zucker hineintippen wollte, der zu den Klößen, welche Mutter einlegte, daneben gestellt war. Der gedeckte Tisch klirrte ein bißchen.

»Laß das lieber bleiben, Hans! Nachher bekommst du Zucker genug aufgestreut,« sagte das junge Mädchen und wandte sich nach der Richtung, wo der kleine Missetäter dann schleunigst wieder von dem Stuhle hinabkletterte.

»Hörst du, die Gretel fängt an zu krähen. Willst du ihr nicht ihre Puppe ins Bettchen geben? Sie liegt neben deinen Bauhölzern, ich habe sie eben mit dem Fuße gespürt.« Hans, der schnell noch mit einem unsicheren Blick nach der Schwester sein Fingerchen vorher abgeleckt hatte, tat dann ganz ordentlich, was sie verlangt hatte.

»Lieschen, wo bleiben denn Anna und Fritz wieder so lange? Gretel sollte aus dem Bett genommen werden, ehe Vater zum Essen kommt, und ich kann nicht vom Herde weg,« rief die Mutter wieder aus der Küche, und ihre Stimme klang ungeduldig. Über Lieschens zartes, ernstes Gesichtchen flog ein Schatten. Sie ging ins Nebenzimmer, wo die kleine, anderthalbjährige Grete aufrecht in ihrem Bettchen stand, die Gitterchen mit beiden Händen fassend, und energisch strampelnd und hüpfend herausverlangte. Lieschen fuhr ihr beruhigend mit der Hand über das verzauste Köpfchen und sagte:

»Anna kommt bald, Herzblatt, dann darfst du heraus!«

»Nein, nicht Anna, – Liese,« sagte die Kleine weinerlich und streckte die Ärmchen nach der Schwester aus. Ein unendlich trauriger Ton lag in Lieschens Stimme, als sie um das Kind sorgsam die Decke schlug und es dann liebkosend an sich drückte.

»Lieschen kann ja ihre Gretel nicht heben, das weißt du, und sie ist auch so ungeschickt, weil sie nichts sehen kann. Aber Anna ist kräftig und kann die Gretel springen lassen und kann sie waschen und findet auch gleich die Schuhchen und Strümpfe vom Kind.« Dabei küßte sie das kleine Ding zärtlich auf die blonden Haare.

»Aber Anna mag nicht, und Anna ist immer böse, wenn sie was tun soll,« sagte Hans grollend, hob aber seine Bauhölzer ganz ordentlich nebenher auf. Lieschen seufzte und hielt dabei den Kopf horchend in die Höhe. Sie war lang und schlank für ihr Alter, aber unendlich dünn und zart. Das Kräftigste an ihr waren zwei dicke, blonde Zöpfe, die sie um den Kopf geschlungen trug. Das Gesichtchen hatte einen rührend lieblichen Ausdruck, nur die Augen zeigten etwas Fremdes und waren meist halb geschlossen. Die schönen blauen Sterne hatten bis zu ihrem vierten Jahr fröhlich und hell in die Welt geleuchtet, dann aber war eine böse Krankheit gekommen, der Lieschens kleiner Körper fast erlegen wäre, und als endlich nach Monaten wieder eine Besserung eintrat, da blieb nicht nur der kleine Rücken schwach, sondern die Blauäugelein, Vaters ganz besondere Freude, hatten ihr Licht verloren und waren erblindet für immer.

»Der Vater! Wo nur auch Anna wieder bleibt? Es ist so unangenehm, wenn das Kind nicht besorgt ist, bis Vater müde nach Hause kommt!« Eben schlug es ein Viertel auf ein Uhr, als draußen lustige Stimmen ertönten und die Haustüre knarrte.

»Also komm bald, Anna! Um halb zwei Uhr erwart' ich dich an der Ecke, und wir können dann noch scherzen und Unsinn machen, bis die Schule angeht.«

»Wieder die Berta Weber!« seufzte Lieschen und fing alsdann an, die Kleine aus ihrem Nachtkittelchen herauszuschälen. Währenddem wurde die Tür rasch aufgemacht, Anna trat aufatmend herein mit von der frischen Luft geröteten Wangen und warf ihre Schultasche in die Ecke. Anna war zehnjährig, klein und gedrungen, aber von Gesundheit strotzend, das gerade Gegenteil von Lieschen.

»Ich sag' dir, Liese, heut ist's herrlich draußen. Noch ein paar Tage, dann kann man Schlittschuh laufen. – In der Schule war's zum Kranklachen! Fräulein Mayer hat wieder die rosa Schleife zum lila Kleid angehabt und ...«

»Anna, das Kind! Gelt, du tust es gleich heraus,« schaltete da Lieschen ängstlich ein. »Vater muß jeden Augenblick kommen. Es ist schon so spät!« fügte sie etwas vorwurfsvoll hinzu. »O weh, da ist er schon! – Ja Vaterle, grüß Gott! Warte nur, es wird gleich alles in Ordnung sein. Mutter bringt gleich die Suppe! – Willst du nicht die warmen Schuhe anziehen? – So!« und Lieschen brachte ihm die Pantoffel her und half ihm beim Wechseln.

Herr Präzeptor Wurm brauchte einige Minuten, bis er sich vom Treppensteigen erholt hatte, auch mußte er einen Hustenanfall überwinden, ehe er Lieschen begrüßen und ihr einen Kuß auf die Stirn geben konnte. Dann sah er zuerst auf die Uhr.

»Es ist mir recht, wenn schnell gegessen werden kann, ich habe um ein Uhr heute eine Privatstunde zu geben. Ah gottlob, da ist's warm und behaglich!« Er stand auf und streckte seine Hände gegen den Ofen.

Lieschen strahlte, denn das schöne Feuer hatte sie zu stande gebracht, und Vater hatte gesagt, es sei ihm behaglich. Der Husten vorhin hatte sie so erschreckt. Jetzt noch die warme Suppe ...

»Nein, nein, nicht waschen, nicht kämmen ..., böse Anna!« scholl es da aus dem Nebenzimmer. Dann hörte man Annas scheltende Stimme, einen Klaps und darauf ein fürchterliches Geschrei. Die Mutter stürzte herein, während es in der Küche prasselte und zischte, denn die letzten Klöße lagen im Schmalz, und der brenzliche Geruch, der zu der weit offenen Türe hereinkam, veranlaßte bei dem Vater einen neuen Hustenreiz, aber auch eine gewisse Gereiztheit.

»Ist denn das Kind wieder nicht fertig? Wie oft hab' ich doch schon gebeten, es solle über Mittag ein bißchen Ruhe sein, daß man sich erholen kann!« Verstimmt setzte er sich auf seinen Platz an den Eßtisch. Die Mutter hatte inzwischen Anna tüchtig ausgescholten, denn diese war wirklich oft gar nicht nett und geduldig mit der Kleinen. Ihre Stimme klang dabei etwas laut; sie hatte sich das bei der vielen Unruhe und den Kindern angewöhnt. Lieschen zuckte aber immer darunter zusammen, denn ihre Gehörnerven waren außerordentlich zart, und sie litt auch stets für Vater.

Endlich, nachdem Mutter dann die Suppe aufgetragen hatte, saß man zu Tische. Es war eine ziemlich große Tafelrunde: die Eltern, die zwei Mädchen, rechts und links von Mutter Hans und Gretel. Letztere, noch mit einem Tränchen im Augenwinkel, ließ sich doch brav und gerne füttern. Aber noch war ein Stuhl leer. Lieschen horchte von neuem, und der Vater sagte mit Stirnrunzeln:

»Wo ist jetzt wieder der Schlingel, der Fritz?«

»Eben kommt er um die Ecke, Vaterle,« sagte Lieschen erleichtert. Sie hörte ja viel schärfer als die andern, und richtig, in ein paar Minuten trat der Erwartete in die Stube, erschreckt, daß schon alles bei Tische saß.

»Verzeiht, ich habe gar nicht gewußt, daß es schon so spät ist,« sagte er verlegen und setzte sich rasch an seinen Platz.

»Immer wieder die alte Unpünktlichkeit!« sagte der Vater und löffelte hastig seine Suppe aus.

»Ich kann wirklich nichts dafür,« erwiderte Fritz aufgeregt. »Franke hat mich gebeten, ihm seine Uhr zum Uhrmacher zu tragen und darauf zu warten, bis sie gemacht wäre.«

»Was braucht der Franke dich zu seinen Gängen zu verwenden?« brauste der Vater auf. »Der Schlingel wollte wahrscheinlich, daß seine verdorbene Uhr zu Hause nicht bemerkt würde, darum hat er dich geschickt. Leider Gottes benützt er dich zu gar vielem, was besser unterbliebe,« setzte der Vater aufgeregt hinzu und schob den Teller mit Klößen, den seine Frau ihm vorgesetzt hatte, fast unberührt wieder beiseite.

»Aber ich muß doch tun, was Franke sagt,« wagte Fritz schüchtern einzuwenden. »Er ist doch viel älter als ich und gescheiter und so schneidig und ...«

»So, heißt du das vielleicht auch schneidig, daß er der Anstifter von allen schlimmen Streichen in der Klasse ist? Ich sage der Anstifter und nicht einmal der Ausführende, wozu doch immerhin noch einiger Mut gehört,« sprach Präzeptor Wurm weiter. »Zum Ausführen benützt er meistens Kurt von Wilsdorf, der so schwach ist, ihm zu folgen. Die beiden waren's gestern sicher auch, die mir das Salz in meine Milch geschüttet haben, und mein Herr Sohn sucht sich gerade solche Kameraden aus! Das ... das ist ... zum ... zum ...« Herr Präzeptor Wurm hatte leider die Schwäche, daß er, wenn er in Aufregung geriet, zu stottern anfing und dabei mit dem Gesicht zuckte. Er hatte sich dies einst durch eine große Erregung zugezogen und litt selber sehr darunter, umsomehr da er sich bewußt war, daß es lächerlich wirkte. Er wollte vom Tische aufstehen, denn das Essen war ja heute doch nicht behaglich, und die Mutter fing schon laut zu jammern an.

»Ach, meine guten Klöße! Nicht einmal einen einzigen hast du fertig gegessen!« Da legte sich Lieschens Hand sanft und still auf die des Vaters. Sie streichelte ihn sachte, so daß er nach und nach sich wieder beruhigte. Dann schob sie ihm ganz leise und unmerklich den Teller wieder hin, und als sie ihn dann doch essen hörte, war ihr Herz ganz voll von Glück und Freude. Auch die Stiefel waren schön getrocknet, als er sie kurz darauf wieder anzog. Dann reichte sie dem Vater noch den Überzieher und das Tuch und geleitete ihn zur Haustüre.

»Behüt' dich Gott, Lieschen!« sagte er zärtlich und drückte ihr die Hand.

»Behüt' dich Gott, Vaterle!« sagte Lieschen mit großer Innigkeit. »Der Fritz ist gewiß nicht schlimm, nur ein bißchen dumm,« setzte sie noch schnell hinzu.

»Ja, dumm und schwach,« sagte der Vater im Fortgehen, aber es klang schon nicht mehr so betrübt wie beim Essen.

Lieschen ging langsam in die Stube zurück. Sie hatte so viel innerlich zu verarbeiten, und wenn Vater sich über etwas ärgerte, so lag es ihr doppelt auf der Seele. Wenn sie auch nicht sah, so fühlte sie doch mit großer Feinheit alle Mängel in der Familie und strengte ihre schwache Kraft an, ihnen abzuhelfen, besonders solchen, unter denen Vater litt. Mit ihm verknüpfte sie ein ganz inniges Band. Die Mutter hatte so viel mit dem Haushalte zu tun, das Einkommen war sehr bescheiden, und Frau Wurm, die sich kräftig fühlte, suchte die Magd zu ersparen, und nur des Morgens kam zu der gröbsten Arbeit eine alte Frau.

»Werdet schon einmal froh sein, wenn ich euch die paar Groschen erspart habe,« sagte sie manchmal, und dagegen war nichts einzuwenden. Aber die Kinder und besonders Lieschen vermißten es doch oft sehr, daß sie so wenig von der Mutter hatten, und der Vater wohl auch, aber er schätzte die praktischen Eigenschaften seiner Frau. Da war es nun seine Älteste, die, je mehr sie heranwuchs, ihm auch mehr und mehr für Herz und Geist wurde. Wie müde waren diese oft nach dem langen, mühsamen Tagewerk, wie matt und betrübt oft von den Unarten der Kinder, und wie oft kam auch, wie eben jetzt, körperliche Schwachheit dazu! Da tat es ihm so wohl, wenn die wenigen Stunden zu Hause ihm nicht auch noch Aufregungen brachten, sondern friedlich verliefen.

Als Lieschen sich der Stubentüre näherte, huschte etwas rasch an ihr vorüber.

»Bist du's, Anna?« fragte sie und blieb stehen.

»Ja,« antwortete diese kurz.

»Gelt, du fährst noch ein halb Stündchen vor der Schule die Kleine im Wägelchen vor dem Hause auf und ab und nimmst auch Hänschen mit? Ich glaube, die Sonne kommt ein bißchen durch!« Lieschens erloschene Augen, die aber noch einen leichten Schimmer hatten, blickten nach dem Flurfenster, als sie bittend diese Worte sprach.

»Immer wieder mit den Kleinen, und vor dem Hause ist's so langweilig!« erwiderte Anna in recht unartigem Tone, denn sie wollte zu der Freundin eilen.

»Ich täte es gern, aber ich kann ja nicht,« sagte Lieschen traurig, worauf Anna doch, wenn auch schmollend, in die Stube zurückkehrte, und die zwei Schwestern zogen den kleinen Geschwistern ihre Mäntelchen und warmen Hüllen an.

»Mach doch!« knurrte Anna, als Hans nicht sofort seinen Paletotärmel finden konnte, und: »Strecke doch die Finger nicht so dumm hinaus!« als die kleinen dicken Hände nicht gleich in ihre Hülle schlüpften.

»Du bist dumm,« kam sofort eine Antwort von dem Kleinen zurück, und er schob nun im Trotz immer zwei Finger fest zusammen und machte sie ganz steif.

»Komm, Hans, so geht's nicht!« sagte Lieschen nun mit fester Stimme. »Sieh, wie schön das kleine Schwesterchen sein Jäckchen anhat, und du bist ein großer Bub'. Könntest's eigentlich recht gut selber machen! Siehst du, so! – Das geht ja ganz nett! Und nun rasch gemacht und hinuntergegangen, daß die liebe Sonne sich nicht wieder versteckt!«

Lieschen fühlte sich nun sehr müde, denn jede kleine Arbeit und der kleinste Gang strengten sie an. Sie mußte sich dann stets niederlegen. – Sie deckte noch mit sichtlicher Aufregung den Eßtisch ab, trug das Geschirr mit Geschicklichkeit und Vorsicht zur Mutter in die Küche, lüftete, entfernte den Staub von den Möbeln, und dann suchte sie das große, bequeme Kanapee auf, das an der langen Wand der Stube stand. In der Mitte war der Eßtisch, und vor dem Sofa stand ein zweiter Tisch, um den sich die Familie des Abends bei der Lampe versammelte. Neben dem Kopfende des Kanapees stand ein alter, hochlehniger Großvaterstuhl dicht bei der Ofenecke. In diesem war des Vaters Platz. Dort hatte ihn Lieschen auch ganz nahe in den Dämmerstunden, wo es sich manchmal machte, daß sie sich allein haben konnten. O diese Stunden! Lieschen faltete die Hände, nachdem sie sich ein kleines Kissen untergeschoben und die Füße in einen Teppich gewickelt hatte, und dachte. – Diese Stunden, wo der Vater sich ausruhen durfte, wo ihre Gedanken ihn nicht da und dort suchen mußten, wo er ihr gehörte und ihr, ihr allein erzählte von all den wunderschönen Dingen, die er wußte, von den fremden Ländern voll prachtvoller Schönheit, von den Menschen und ihrem Tun und Treiben, von den großen Lichtern, die am Himmelszelte leuchten, und von dem allergrößten, allerschönsten und strahlendsten Lichte hinter Sonne und Mond, das allüberall hineinleuchtet zu allen Menschen und auch wärmend und erhellend in das Herz eines Kindes. – »Daß ich meinen Weg sehen kann, auch wenn ich blind bin, – gelt Vaterle?« sagte dann jedesmal Lieschen.

Aber manchmal wieder saß der Vater müde und recht traurig da, und wenn Lieschen seine Hände faßte, so waren sie kalt und schlaff. Wenn er dann eine Zeitlang geruht hatte und sie ihn mit leiser, teilnehmender Stimme fragte: »Was haben sie dir wieder getan, Vaterle?« da tat es dem alten Herzen wohl, wenn es sich seine Erlebnisse heruntersprechen konnte. Die Mutter hätte das nicht so verstanden und hätte in ihrer resoluten Art gesagt:

»Hau die Buben halt recht tüchtig durch!«

Als ob es mit dem Hauen geschehen wäre! Gewaltmaßregeln waren überhaupt nicht die Sache des Herrn Präzeptor Wurm. Er war eine fein angelegte Gelehrtennatur, die am liebsten auf die Knaben mit Liebe gewirkt hätte und mit Überzeugung, aber leider ward er hierin nicht immer verstanden. Dazu kam sein unvorteilhaftes Äußere, eine gewisse Schüchternheit und das unglückselige Stottern. Er war oft wirklich hilflos den Angriffen einiger zu schlechten Streichen und Spott stets bereiten Jungen gegenüber, und doch umfaßte er seine Schüler mit der allerinnigsten Liebe.

»Fritz, bist du da?« fragte Lieschen mitten aus ihren Gedanken heraus.

»Ja,« kam eine Stimme vom Fenster her.

»Was tust du denn?« fragte Lieschen aufs neue.

»Bosseln!« antwortete Fritz kurz.

»Gelt, Fritz, du vergißt nicht, daß du bis morgen deinen Aufsatz machen mußt, und nicht wahr, du gibst dir Mühe, daß Vater sich nicht wieder so ärgern muß wie das letzte Mal?«

»Du hast gut reden, Liese,« fuhr Fritz auf, »du brauchst nicht all die dummen Sachen zu lernen, die einem nicht in den Kopf hineinwollen! Das Fadeste von allem ist doch noch das Lateinische!«

»Aber Vater sagt doch, es sei so wichtig,« fiel Lieschen eifrig ein.

»Das ist's ja gerade, was ich gar nicht verstehe, und Kurt Wilsdorf und Franke sagen es auch ...«

»Weißt du, Fritz, darin tät ich doch mehr den Lehrern glauben als den Jungen. Und meinst du denn, Vater plage sich so zum Vergnügen mit euch herum, wenn es nicht nötig wäre? Ich würde mir halt doch diesmal mehr Mühe geben,« sagte Lieschen lebhaft. »Daß Vater keine Freude hat, wenn sein Kind so weit hinten sitzt, und daß eigentlich der Lehrerssohn in allem ein Vorbild sein sollte ...«

»Immer mit dem dummen Vorbild!« rief Fritz sehr ärgerlich. »Ich wollte, mein Vater wäre Baron oder ein reicher Mann wie Frankes Vater, dann könnte ich sein, wie ich wollte, und brauchte gar nichts zu lernen.«

»Sprich doch nicht immer von Franke, der Vater so viel Betrübnis macht!« sagte Lieschen ernst. »Er ist auch so viel älter als du. Ihr paßt ja gar nicht zusammen!«

»Aber er ist lustig und fidel und verkehrt gern mit mir,« sagte Fritz doch ein bißchen verlegen.

»Sieh, das ist's,« eiferte Lieschen. »Aber ich habe immer das Gefühl, als treibe er nur seinen Spaß mit dir. Weißt du, Fritz, ich kenne ihn ja nicht, aber dazu wärst du mir doch viel zu gut!« Lieschens Gesichtchen wurde beim Reden ganz rot. »Wenn du dich doch mehr an Franz Weltingen halten könntest! Vater lobt ihn so sehr.«

»Der will nichts von mir, der hat seinen Kurt von Wilsdorf und auch seinen Greiner,« sagte Fritz nun doch ein bißchen kleinlaut. »Aber jetzt muß ich in die Schule,« fügte er rasch hinzu, und Lieschen hörte, wie er seine Bücher zusammenraffte und dann nach Knabenart die Treppe hinunterpolterte. Gleich darauf kam auch Anna mit den Kleinen zurück, etwas besserer Laune als vorher, setzte noch schnell die kleine Gretel, nachdem sie sie ausgezogen, auf ihren hohen Stuhl neben Lieschen und gab Hans sein Bilderbuch und seine Spielsachen, dann eilte auch sie zur Schule.

»Viele herzliche Grüße an Fräulein Mayer, und ich freue mich so sehr auf morgen,« rief ihr Lieschen noch nach. Fräulein Mayer war die Lehrerin des Töchterinstituts, in das Anna ging, und zweimal in der Woche kam sie zu Lieschen ins Haus, um ihr eine Stunde zu geben. Sie erzählte, las ihr vor und lehrte sie die Blindenschrift. Lieschen war so glückselig, als sie zum ersten Male einen Satz schreiben konnte, und auch das Lesen mit den erhabenen Buchstaben ging schon ganz ordentlich. Fräulein Mayer hatte ihr versprochen, morgen das erste kleine Geschichtenbuch mitzubringen. Wie lieb war sie überhaupt mit ihr, und wie weich und gut klang ihre Stimme! Lieschen legte so großen Wert darauf. Wie konnten nur Anna und die ungezogene Berta Weber über sie lachen! Lieschen bekam ordentlich Herzweh, wenn sie sich das vorstellte. Was mochte das wohl so Ungeschicktes sein, eine rosa Schleife und ein blauer Rock? Davon konnte sie sich keine Vorstellung machen. Sollte denn das so etwas Schlimmes sein? Doch Lieschen konnte nie so lange über die Dinge, die sie beschäftigten, nachdenken, als sie gern gewollt hätte, dafür sorgten die kleinen Geschwister, die nur dann bei ihr gut taten, wenn sie mit ihnen sprach und sie unterhielt. Um drei Uhr kam die Mutter aus der Küche und setzte sich gewöhnlich mit der Näharbeit ans Fenster. Sie übernahm dann auch die Aufsicht über die Kinder, und Lieschen konnte ihre Aufgaben machen oder an den Strümpfen für Hans stricken, was ihr eine große Freude war. Freilich mußte sie da gar manchmal der Mutter Hilfe in Anspruch nehmen, wenn das Abnehmen kam oder eine Masche gefallen war, was ihr stets sehr leid tat, weil der Mutter Arbeit meistens Eile hatte und sie darum nicht gern gestört sein wollte.

Das Haus, in dem Wurms wohnten, war alt und enthielt nur ein Stockwerk. Es stand schief in einer Reihe schöner, neuer Häuser, und sein Anblick störte manchen, der da vorbeiging. Zum Glück für Wurms, die da seit ihrer Verheiratung und gerne wohnten, blieb der Besitzer fest dabei, das Häuschen müsse bei seinen Lebzeiten stehen bleiben. Freilich war er schon alt und lebte einsam mit einer alten Magd in den zwei unteren Stuben. Aber vorderhand dachte niemand an eine Änderung. Wieviel Vorteile bot auch diese Wohnung! Hinter dem Hause war noch ein Hof, zwar sehr klein, aber es war doch einer, und in einer Ecke desselben befand sich sogar etwas wie eine Laube. Einige nicht umzubringende Schlingpflanzen rankten sich jeden Sommer wieder mit rührender Treue um ein etwas lückenhaftes Lattengerüst, aber unter diesem befand sich eine Bank und ein Tischchen, und Lieschen dünkte dieser Platz der schönste zu sein, wenn sie im Frühjahr entweder allein oder mit den Geschwistern herunter durfte. Dicht daneben war ein kleines Waschhaus, in dessen einziger Stube über der Waschküche jahrelang eine alte Nähterin gewohnt hatte. Jetzt, nach deren neulichem Tode, stand sie leer, und es hatte sich noch kein neuer Liebhaber gemeldet. Über der Straße drüben da gab es keine hohen Häuser, da war ein schönes eisernes Gitter, und die Geschwister erzählten von einem wunderbar großen Park mit hohen Bäumen und prächtigen Blumen. Das schöne, stattliche Gebäude darin stand mit der Vorderseite in der Hauptstraße der Stadt und war dasjenige, in das der Schüler Robert Franke gegangen war. Die Rückseite sah in den Park, und aus diesem trug im Frühjahr manchmal der Wind eine Menge von Blütenduft herüber, der den Nachbarn zu gute kam. Aber auch noch eine andere Freude kam für Lieschen von dort. An Tagen, wo es milde war und die Fenster offen standen, oder des Abends, wenn der Lärm auf der Straße schwieg, da konnte Lieschen die Töne des herrlichen Flügels von drüben vernehmen. Manchmal sang eine Mädchenstimme dazu so klar und lieblich, daß Lieschen wähnte, sie habe noch nie etwas Schöneres gehört. Das war Alice Franke, die einzige Schwester Roberts. Sie mochte etwa vierzehn Jahre alt sein, und Lieschen dünkte es wie ein Märchen, wenn Fräulein Mayer manchmal von dem schönen und liebenswürdigen Mädchen erzählte, mit dem sie regelmäßig Klavier übte, das auch zu einzelnen Stunden ins Institut kam, im übrigen aber Privatunterricht hatte.

Anna und Fritz waren von der Nachmittagsschule zurückgekommen, und die Familie trank ihren Kaffee. Anna hatte wieder den Kopf voller Schulgeschichten und erzählte, wie Berta Weber ihren so reizenden Hut mit den roten Blumen nun schon nachmittags in die Schule tragen dürfe, und wie Fräulein Mayer heute nachmittag so zerstreut gewesen sei, daß sie gar nicht bemerkt habe, wie die Mädchen hinten aus Brotkügelchen Puppen gemacht und ihnen aus Fließpapier Röckchen gefertigt hätten.

»Die sieht auch gar nichts,« sagte sie dann mit wegwerfendem Tone, als es schüchtern an die Türe klopfte und die gerade Besprochene eintrat. Offenbar hatte sie nichts gehört, aber Anna war feuerrot geworden, und die andern schwiegen verlegen.

»Ich werde doch nicht stören? Ach, Sie trinken eben den Kaffee? Da will ich lieber wieder gehen und ein andermal kommen. Bitte tausendmal um Entschuldigung!« sagte Fräulein Philippine Mayer in ihrer etwas überhöflichen Art.

»Etwas tut man immer, wenn jemand kommt,« erwiderte Frau Wurm kurz, aber nicht unfreundlich. »Was werden Sie denn wieder fortlaufen? Anna, hol' noch eine Tasse, – es ist schon noch was da. Sie trinken mit uns, und dann sagen Sie, was Sie hergeführt hat!«

»Aber ich werde doch nicht ...,« fing Fräulein Mayer wieder an.

»Gar nichts werden Sie als sich hinsetzen, vielleicht dort neben Lieschen. Mein Mann kommt heute erst gegen Abend nach Hause,« unterbrach sie Frau Wurm.

Nachdem Fräulein Mayer noch einige Komplimente gemacht hatte, wobei Anna Fritz anstieß und leise kicherte, was Lieschen innerlich sehr erregte, trank sie ihre vollgeschenkte Tasse aus, und Frau Wurm, die inzwischen schon wieder ein Paar flickbedürftige Höslein auf den Knien hatte, sagte:

»Na, also!«

»Ich wollte mich Ihnen nur als neue Nachbarin vorstellen und empfehlen,« sagte nun Fräulein Mayer.

»Nachbarin?« fragte Frau Wurm ganz erstaunt.

»Ja freilich,« erwiderte Fräulein Mayer eifrig. »Sie wissen ja, daß ich in wenigen Wochen ausziehen muß. Da fand ich nun ein ganz reizendes Stübchen in Ihrem Hinterhaus; freilich ist's ein bißchen klein, aber hübsch sonnig und still, und meinem lieben Lieschen werde ich dann auch ganz nahe sein,« setzte sie mit großer Herzlichkeit hinzu und streckte dieser die Hand hin. Lieschen strahlte mit dem ganzen Gesicht, Anna aber tuschelte zu Fritz hinüber:

»O je, jetzt guckt sie uns auch noch in das Höfchen, und man weiß nie, ob sie zu Hause ist, und kann gar nimmer lustig sein!« Frau Wurm war erstaunt über die mehr als bescheidene Wahl des Fräuleins, es war aber nicht ihre Sache, viel Worte zu verschwenden, und sie sagte nur:

»Viel Sprünge werden Sie da nicht machen können!«

»O, das will ich auch nicht,« entgegnete Fräulein Mayer. »Die wenigen, aber mir so lieben Möbel meiner seligen Eltern haben darin Platz; den Tag über bin ich ja meist fort, und des Abends finde ich kleine Räume viel behaglicher als große; sie sind auch besser zu heizen,« setzte sie schüchtern hinzu. »Und denken Sie, der Waschkessel von unten gibt noch umsonst seine Wärme ab.«

»Müssen Sie denn so arg sparen?« fragte Frau Wurm. Es war eine ihrer unvermittelten Fragen, die Lieschen oft so peinlich berührten, aber sie meinte es nicht böse.

»Ja, ... nein, ... das heißt doch ...,« sagte Fräulein Mayer in sichtlicher Verlegenheit.

»Das ist doch keine Schande,« beruhigte Frau Wurm in gutmütiger Weise. »Ich habe mein Lebtag kein Hehl daraus gemacht, daß wir nicht viel Geld haben, und da macht's eben jedes so, wie's ihm am besten dünkt.« Dabei klopfte sie mit der Schere auf dem harten Tisch die Nähte des eingesetzten Flickens eben. Fräulein Mayer aber empfahl sich, denn sie mußte noch zu Alice Franke hinüber.

»Sieh nur die Locken!« sagte Anna zu Fritz. »Wenn man so alt ist, trägt man doch keine Locken mehr!« Lieschen war ganz stille geworden. Wenn sie etwas recht im Herzen freute, dann fand sie keine Worte; sie mußte es erst innerlich verarbeiten.

*


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