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Ach, nur einmal Unsinn machen dürfen! – Warum Zoe sagt: »Ich verderrbe mirr den Magen nicht gerrn!« und warum eine Ausgeschlossene in die Nacht hineinhorcht. – Von einer weißen Gestalt und viel Leckereien. – Fräulein Schindlers Rache. – Ein Held werden, ohne Soldat zu sein! – Aus welchem Grunde Robi ein Esel und Siegi ein Schaf genannt wird.
Robi, ja, der verstand Huberta schon besser. Der arme Kerl, der hatte auch vieles, was ihn drückte, wenn er es auch selten aussprach. In der letzten Zeit war er nicht oft gekommen, denn er besuchte doch regelmäßig Siegi im Spital und machte ein Schach- oder ein anderes Spiel mit ihm. Und nun war doch so herrliches Frühlingswetter, wo man so recht gerne weit hinaus marschiert wäre, weiter und immer weiter bis – ach, am liebsten bis in den lieben, lieben alten Wald, wo jetzt die Bäume ausschlugen, die Vögel zwitscherten und am Wegrand wieder die Windröschen blühten. Ja, da war das Leben doch herrlich und sorgenlos gewesen! Manchmal erfüllte Huberta eine wahre Sehnsucht nach Lustigsein, Freisein und planlosem Unsinnmachen. Und dazu hätte sich jetzt gerade eine Gelegenheit geboten, denn seit einiger Zeit bemerkte Huberta, wie die Mädchen untereinander tuschelten, etwas ausmachten, sich Zettelchen schrieben und zuschoben, und wie alle höchst vergnügt dabei zu sein schienen. Aber niemand sagte ihr, was es war. Da fragte sie Zoe Robesko, was denn los sei, und diese, die nie die Vertraute, aber auch nie die Spielverderberin der Pensionäre war, sagte: »Eine Noctürrne wollen sie aufführen! Übermorrgen nacht, wenn alles schläft, wollen sie im Schulsaal zusammenkommen, und eine jede hat von ihrem Taschengeld Orrangen, Schokolade und anderre Eßwarren gekauft, so viel, als sie haben können, und das wollen sie dann alles zusammen verzehren.«
Hubertas Herz klopfte. So etwas mußte doch sehr lustig sein, und sie fragte: »Tust du auch mit, Zoe?«
Diese schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, ich verderrbe mirr nicht gerrn den Magen!«
Huberta aber hatte ein sehr schweres Gemüt, seit sie von diesem Plane wußte, und je mehr sie von den heimlichen Vorbereitungen sah, doch weniger darum, daß die Sache sie viel gelüstet hätte, als darüber, daß man sie vollständig beiseite ließ. Das war doch sehr hart. Ob wohl Rosemarie und Klärchen auch mittaten? Das hätte sie zu gern gewußt, mochte aber nicht fragen.
Der betreffende Abend kam, und das Flüstern und Zuraunen verdoppelte sich. Huberta entnahm einigen Äußerungen, daß eines der Mädchen sogar zwei Flaschen Wein eingeschmuggelt habe und Essenz, und daß man plane, einen Punsch zu machen und nachher so leise wie möglich in Strümpfen und Nachthemden zu tanzen. Wie gerne wäre Huberta dabei gewesen! Wie lustig dachte sie sich das!
Wie sonst immer hatte man sich Gutenacht gesagt, und Huberta war mit dem Schwesterchen hinaufgegangen. Nachdem Annele eingeschlafen war, legte Bertele sich auch hin, horchte aber mit angestrengten Sinnen, ob sie etwas davon hören könne, was unten vor sich ging. Dabei war es ihr so weh ums Herz, daß sie dazwischen hinein weinte: »Ach, wäre das Mämmeli da, dann wäre ich nicht so verlassen! Ach, und wer weiß, am Ende hätte es doch einen Ausweg gefunden, daß ich auch hätte mittun können!«
Es schlug zwölf Uhr, und Huberta horchte noch angestrengter. Es war ihr, als höre sie ein leises Öffnen von Türen und Tappen von Füßen. Und in ihrer Einbildung steigerte sich die Lustbarkeit, die nun da unten ohne sie vor sich gehen würde, bis ins Unendliche.
»Wenn ich nur wüßte, ob die beiden auch dabei sind! Gleichsehen tut's ihnen nicht, denn eigentlich ist's doch etwas Verbotenes.«
Da, während Huberta noch darüber nachsann, warum doch aber nur auch in der Welt gerade das Netteste verboten sei, da hörte sie ein leises Tappen auf der Treppe, und es raschelte so eigen vor ihrer Türe, daß sie sich entsetzlich fürchtete. Dann klopfte es leise, und Huberta brach der Angstschweiß aus, sie hätte um keinen Preis der Welt »herein« sagen können. Aber auch ohne dies ging behutsam die Tür auf, und eine weiße Gestalt schlich sich zu ihr hin.
»Erschrick nicht, Bertele,« sagte eine bekannte Stimme, und Rosemarie kam nun rasch auf ihr Bett zu. Sie legte vor allem ein Paket auf die Decke, während sie schnell ein kleines Tischchen heranholte und einen mitgebrachten Teller darauf stellte.
»Liebes, Dummes, erschrick doch nicht, ich bin's ja!« sagte sie noch einmal zu der an allen Gliedern Zitternden, indem sie die Papierhülle auseinanderfaltete, wobei allerhand Früchte und kleine Kuchen zum Vorschein kamen. Auf dem Teller befanden sich etliche Mohrenköpfe mit Schlagrahm gefüllt und ein Glas mit einer dampfenden Flüssigkeit.
Es war Mondschein, und diese unerwartete Bescherung sah nicht gerade zum Fürchten aus.
»Bist du denn dabei? Hast du denn mitgetan, Rosemarie?« fragte Huberta, noch immer ganz zaghaft, worauf diese mit gedämpfter Stimme, denn es war doch unheimlich späte Nacht, und die Lehrerinnen unten konnten es hören, ihr berichtete: »Jetzt paß einmal auf, Bertele, wie das alles gegangen ist! Vor allem aber laß es dir schmecken!« Und während Huberta in einen Mohrenkopf biß – so etwas war doch zu verlockend – und nachher etliche kleine Törtchen vertilgte, erzählte ihr Rosemarie, daß sie den andern den Spaß nicht habe verderben wollen und, wenngleich mit schlechtem Gewissen, mitgemacht habe, sie und Klärchen, aber daß sie beide sich sofort einen kleinen Sonderplan ersonnen hätten. »Huberta darf nicht ausgeschlossen sein,« hätten sie untereinander gesagt. Und als unten die Mädchen alles ausgepackt hätten, – »ich sag dir, Huberta, wunderbare Sachen sind darunter! – und als wir auch unsere Beisteuer abgegeben, da habe ich mich mitten unter sie alle gestellt und gesagt: ›Ihr werdet doch auch sämtlich damit einverstanden sein, daß wir Huberta und Annele, die gegenwärtig ohne ihre Mutter sind, und die jetzt ganz allein kein Vergnügen haben sollen, auch einen Teil von unsern guten Sachen geben? Und wenn's euch recht ist, trage ich es ihnen geschwind hinauf und richte von euch allen einen recht schönen Gruß aus.‹ Zuerst waren sie etwas verdutzt, und ein paar von ihnen – Huberta schaltete bitter ein: »Natürlich Amalie und Edith!« – sagten: ›Warum? Sie haben ja auch nicht beigesteuert.‹ Da hat aber Klärchen mutig gesagt: ›Beisteuern konnten sie nicht, weil wir sie gar nicht dazu aufgefordert haben, und schicken tun wir ihnen gewiß etwas, weil sie betrübt sind und Sorge haben.‹ Da hättest du nur sehen sollen, wie bereitwillig nun jede vom Besten abgab, und wie sie sagten, ich solle dich recht schön grüßen, und – daß du die Nichte von Fräulein Schindler seist, dafür könntest du ja nichts. Ist das nicht nett?«
Hatte Huberta vorher vor Herzeleid geweint, so schluchzte sie jetzt über diese Erzählung, die sie doch furchtbar freute. Und als Rosemarie aufstand und sagte: »Nun muß ich schnell wieder hinab und dann flink in mein Bett. Meine liebe Frau Forstmeister wäre, fürchte ich, heute abend trotz meiner guten Absicht nicht mit mir zufrieden gewesen.« Da fühlte Huberta zum erstenmal auch beim Nennen von Mämmelis Namen keinerlei Eifersucht mehr, und sie schlang ihren Arm um Rosemarie. Dabei konnte sie nur sagen: »Ich danke dir, und sag auch den andern, daß ich ihnen danken lasse, und – sie dürften ruhig sein, ich hätte schon längst alles gemerkt und hätte sie doch nicht verraten.«
Die leichte weiße Gestalt schwebte wieder leise die Treppe hinunter und richtete das aus, was man ihr aufgetragen hatte. Und – die meisten unter den Mädels waren ja doch gutmütig – gleich darauf erscholl bei leichtem Gläserklingen ein leises »Hoch Huberta! Hoch Annele! Hoch Frau Forstmeister!«
Huberta lauschte angstvoll, ob Rosemarie auch gewiß unangefochten wieder hinabkam. Es war ihr ein paarmal, als hörte sie unter sich, in der Damen Zimmer, gedämpfte Stimmen und Bewegungen. Aber als es dann kurz darauf ein Uhr schlug und sie wußte, daß da die Mädchen in ihre Betten zurückkehrten, beruhigte sie sich. Nur ganz hinten in ihrem Gewissen war's nicht recht sauber. Sie, Tantes Nichte, wußte doch um etwas, was nicht sein sollte. Wenn nur die Sachen nicht so herrlich geschmeckt hätten! Unbehaglich war ihr auch, wohin sie das Übriggebliebene tun sollte. Sie stand noch geschwind auf und legte alles hübsch auf eine Platte und stellte sie ins Büfett. Morgen würde dann weiter Rat werden.
Die Erleuchtung am andern Tage bestand darin, daß Huberta in aller Morgenfrühe es sich wieder recht schmecken ließ und dann auch Annele von den Schätzen gab, die aber selbstverständlich ganz erstaunt fragte: »Ja, wo hast du denn die Krapfen und die Törtchen her?«
Da sagte Huberta rasch: »Von Rosemarie!« und das war auch wahr. Nicht beabsichtigt war aber, daß das warmherzige Annele sofort, als es vor Tisch Rosemarie erblickte, auf sie zuflog und in Gegenwart der Damen ganz laut rief: »Ich dank' dir auch tausendmal für die vielen, vielen guten Sachen, die du mir geschenkt hast! Ich habe vorhin schnell noch eine Meringe und zwei Krapfen gegessen.«
Dabei schlug sie sich mit der flachen Hand auf den Magen, als wollte sie sagen: »Ui, wie fein!«
Huberta und die andern erschraken und wunderten sich sehr, daß keine der Damen irgendeine Bemerkung darüber machte, obgleich Eßwarenverteilen und besonders Essen vor Tisch strengstens verboten war. Noch mehr wuchs ihr Erstaunen und auch ihr Unbehagen, als die Damen an diesem Tage ganz ruhig, als wäre es etwas Alltägliches, verschiedene von den Mädchen behandelten, die Übelkeiten und Leibschmerzen verspürten. Keine hatte geklagt, doch gab es sehr blasse Gesichter und trübe Augen und mancherlei Unterbrechungen. Aber ohne jegliche Frage wurden den Betreffenden stillschweigend sehr große Portionen Kamillen- und Pfefferminztee vorgesetzt statt des gewöhnlichen Essens. Auch wurden einige ins Bett gesteckt, und etliche andere bekamen Zimmerarrest. »Wem nicht gut ist, der bleibt am besten zu Hause,« hatte Tante Lina ganz kurz gesagt. Das war abscheulich, denn man konnte sich nicht wehren! Auch Huberta war unter den letzteren, was sie sehr peinlich berührte, denn morgen war Sonntag, und sie hatte die Erlaubnis gehabt, mit Robi zu Sieghardt ins Spital zu gehen. Beim Essen mußten wieder alle zugegen sein. Aber wie peinlich und beschämend war es, daß heute nicht, wie sonst am Sonntag, süße Speisen und Nachtisch auf den Tisch kamen und dafür Fräulein Schindler ganz ruhig, als handle es sich um gar nichts Besonderes, mit lauter Stimme verkündigte: »Ihr habt vorgestern nacht die Zuckerbäcker so vollständig ausgekauft, daß heute zu meinem Leidwesen nichts mehr bei ihnen zu haben war. Im übrigen wäre es mir lieb, wenn ihr eure Feste künftig nicht bei Nacht, sondern am hellen Tage feiern würdet, ich brauche meinen Schlaf und ihr noch mehr.«
Schluß!
Neben der Beschämung für alle kam fast eine Art Rührung über die meisten, daß Fräulein Schindler diesmal so milde verfahren war, und Edith sagte zu Marieluise: »Ich hätte gar nicht gedacht, daß sie auch Humor haben kann.«
Es war den Mädchen nach dieser Lösung auf ein paar Wochen hinaus wirklich Ehrensache, keine Streiche zu machen und sich in allem mehr Mühe zu geben.
Mit Huberta hatte Tante Lina nachher eine lange Unterredung, die in sehr strengem Tone anfing. Erst als Bertele schilderte, wie alles für sie gekommen sei, und wie schwer sie die Sache bedrückt habe, wurde der Tante Gesicht wieder heller, und sie sagte: »Es ist immerhin hübsch von Rosemarie, daß sie an dich dachte; aber wenn du gewissenhaft gewesen wärest, hättest du die Schleckereien zurückweisen müssen.«
Doch so ganz ernst war es ihr mit diesem letzten Satz wohl nicht, denn sie gab ganz gegen ihre sonstige Art der nun in Tränen ausbrechenden Huberta die Hand und sagte: »Na ja, so geh halt und vergiß nie, daß du meine künftige Hilfe und Stütze sein sollst!« –
Sieghardt lag nun schon in der vierten Woche, und wenn der Arzt baldige Wiederherstellung verhieß, so war doch das Stilliegen etwas sehr Hartes, besonders wo draußen Flieder und Jasmin blühten und Vater einen Kraftwagen gekauft hatte, mit dem täglich Probefahrten gemacht wurden, leider ohne den Sohn. Wohl erhielt Siegt viel Besuche; Vater und Mutter kamen täglich, die O'mama so oft, als sie nur ihres kurzen Atems wegen vermochte. Auch die Prinzen kamen und brachten ihm Bücher und Sträuße aus ihrem schönen Park, und Herr Hausmann mit Robi stellte sich regelmäßig nach der Schule ein.
Aber nichts freute ihn so, als wenn Schwester Eva zur Unterhaltung aus der Kinderabteilung herüber ihm das Rösle holte. Obgleich es nun dem Oberkörper nach gewachsen und ein fast blühendes Mägdlein von vierzehn Jahren war, mußte es doch immer noch getragen werden wie ein kleines Kind. Rösles Beine wuchsen ja nicht. Das konnte nie anders werden. Aber wenn sie in ihrem netten, sauberen Anzug – man hatte ihr zu ihrer großen Freude ein blaues Kleid, gerade so wie die Schwestern es trugen, machen lassen mit einer weißen Schürze – so ruhig und freundlich dasaß und so teilnehmend und eingehend sich erkundigte, wie es gehe, und dann so lustig und vergnügt von allerhand, was sie erlebt, erzählte, da wirkte gar kein anderer Besuch so anregend und beruhigend dabei, wie der dieses seltenen Kindes. Und dazuhin brachte sie nun auch des öfteren das Röteli mit, das sich sehr gut in die neuen Verhältnisse eingelebt hatte, immer zahmer geworden war und so anständig und brav auf Rösles Schulter sitzen blieb und mit den schwarzen Äuglein zu Sieghardt hinüberzwinkerte, als wollte es sagen: »Kennst du mich noch? Siehst du, wie gesittet und zahm ich geworden bin?«
»Das kommt vom Spitalleben,« sagte das Rösle lustig, »das hat das Röteli so gezähmt. Das macht auch viele Menschen oft still und anders.«
»Mich nicht, mich macht's noch böser und wilder, als ich vorher gewesen bin,« sagte Sieghardt. Das Rösle schaute mit seinen blauen Augen ihn fast bekümmert an, und dann schüttelte es mit dem Kopf.
»Ich glaub's nicht, denn sonst müßtest du ja ganz umsonst liegen und Schmerzen ausstehen. So dumm bist du nicht.«
»Doch, ich bin dumm und widerspenstig und ungut und böse und alles!« stieß Siegi hervor.
»Und was noch dazu?« rief Rösle lachend. Aber es war ihr gar nicht so recht zum Lachen zumute. Sie wußte schon, auf was es wieder hinausging, denn sie kannte ja von früher her Wolf Sieghardts größten Schmerz. Heute hatte das Rösle nicht viel Zeit, denn in ein paar Minuten wollte es Schwester Barbara wieder hinüberholen, weil ein paar neue Kranke ankamen, die niemand so wie das Rösle zu beschwichtigen wußte. Sie hörte die Schwester schon auf dem Gange sprechen, deshalb sagte sie kurz: »Ich versteh' dich, Siegi, ich versteh' dich, weil auch mein größter Wunsch ist, ein Held werden zu können.«
Erstaunt sah der Knabe das verkümmerte kleine Geschöpf an.
Da fügte das Rösle nur noch rasch hinzu: »Ich glaube, man braucht kein Soldat zu sein, um ein Held werden zu können. Ein Held ist halt einfach der, der wacker und furchtlos das bekämpft und niederschlägt, was ihm im Wege steht und seinen Frieden raubt.«
Schwester Barbara trat ein und sagte: »Es tut mir leid, Sieghardt, wenn ich unterbreche, aber wir brauchen eben unser Helferle.« Und damit nahm sie das Rösle auf den Arm so behutsam und zärtlich, wie man nur etwas sehr Kostbares und Wertvolles anfaßt, und ging mit ihr fort.
»Ein Held werden, ohne Soldat zu sein!« ... Was doch das Rösle einem für merkwürdige Sachen sagen konnte! Und: »Das niederkämpfen, was einem den Frieden raubt!«
Wäre Sieghardt gesund im Bett gelegen, er hätte sich wohl recht unruhig hin und her gewälzt, so sehr trieb ihn in der nächsten Stunde etwas herum. Aber so war er gefesselt, und nur in seinen Zügen mochte sich ausprägen, daß er einen Kampf durchmachte. Es war zu der Zeit, wo seine Pflegerin bei andern zu tun hatte, und wo die Besuche noch nicht kamen. Nun aber drückte er kräftig auf den elektrischen Knopf, und als Schwester Eva etwas erschreckt hereinkam, sagte er: »Wollen Sie, bitte, gleich telephonieren, daß Robi Hagen womöglich ein bißchen früher als sonst heute nachmittag zu mir kommt, – es ist ja Feiertag.«
Robi hatte elende Tage hinter sich, immer das ausgesprochene Unbehagen im Herzen und dabei eine wirkliche Sehnsucht nach dem Kameraden. Wie langweilig und öde war's doch, daß Siegi ferne war! Öde in der Schule, wo man sonst alles gemeinsam erlebte, und einsam und allein daheim, wo niemand da war zum Spielen und zum Plaudern. Wie sehr sie beide verwachsen waren, merkte Robi erst so recht in diesen Tagen. Herr Hausmann benutzte die letzte Zeit, um sich auf eine Prüfung vorzubereiten, und so hatte er auch nicht viel von diesem. So saß Robi manche Stunde allein in der großen, schönen Lernstube und hatte Zeit, über vieles nachzudenken. Seine Gänge an die Kaserne hatte er seit Siegis Unfall aufgegeben, sie waren ihm ganz entleidet. In den Konfirmandenunterricht, den beide Knaben zusammen besuchten, mußte er nun auch allein gehen, und heute hatte er an das Mämmeli denken müssen, die einmal gesagt hatte: »Es ist merkwürdig, wie packend ein Gotteswort sein kann, wenn einen gerade etwas umtreibt.«
Robi trieb ja etwas furchtbar herum, und nun war's gerade, als ob in der letzten Zeit alles auf ihn paßte, was gesagt wurde. Liebhaben – sich überwinden – ernstlich wollen, das sei das einzig Richtige, und heute erst hatte der Geistliche gesagt: »Wir können nur dann allein wirklich frohe und glückliche Menschen sein, wenn wir suchen, unsere Nächsten glücklich zu machen.«
Es war nach Tisch, Robi saß an seinem Pulte, malte mit der Feder allerlei Schnörkel auf den Rand seines Heftes und dachte dabei über Obiges nach. Da klingelte draußen das Telephon, und ein Diener richtete ihm aus, was der junge Herr Graf ihm sagen ließ.
»Er will mich allein sprechen?« Zuerst erschrak Robi und besann sich schnell auf eine Ausrede. Dann aber kam ihm wie ein Blitzstrahl wieder: »Liebhaben, – sich überwinden!« und indem er sich einen Ruck gab, sagte er unwillkürlich feierlicher, als man sonst an dem Telephon Antwort zu geben pflegt: »Ich will! Sagen Sie, daß ich pünktlich kommen werde.«
Eine Stunde später saßen die zwei Jungen eng aneinander gedrückt in lebhaftem Gespräche beisammen. Wolf Sieghardt hatte sofort, als Robi eintrat, ihm die Hand hingestreckt und gesagt: »Jetzt sind wir doch auch einmal allein, und jetzt muß ich dir schnell, schnell etwas sagen!« Und indem er sich einen Ruck gab: »Gelt, Robi, wegen mir brauchst du dir ja keinen Zwang anzutun, – es freut mich, wenn du zum Militär gehst. – Ich glaube, ich kann es jetzt ertragen,« fügte er etwas leiser noch hinzu.
Robi aber vermochte kaum zu warten, bis der Freund ausgesprochen hatte, daß er ihn um Verzeihung bitten konnte wegen seines herzlosen Benehmens, und daß er ihm allen Ernstes sagen konnte, daß ihn das Soldatwerden gar nicht mehr so freue, und daß er es ganz gewiß gar nicht mehr so wünsche, und daß er fest entschlossen sei, dies dem Paten zu sagen. »Es ist gewiß und wahrhaftig wahr, Siegi, gar nicht nur so geredet, und du mußt es mir glauben!«
Robi hatte einen ganz roten Kopf bekommen, und sein ehrliches Gesicht sah heute womöglich noch ehrlicher drein. Siegi glaubte ihm, denn er kannte ihn zu genau, um nicht zu wissen, daß das ein wirklicher Entschluß war. Aber auch er wollte nicht nachstehen und versicherte immer wieder, daß er ganz gewiß könne und wolle, und daß er deshalb nie und nimmer solch ein Opfer von Robi annehmen würde. Die beiden Freunde wären wohl noch lange nicht miteinander fertig geworden, wenn nicht Sieghardt plötzlich der Humor gekommen wäre und er nach echter Knabenart gesagt hätte: »Bist ein Esel, Röbeli, wenn du's nicht tust.«
»Und du ein Schaf, Siegi, wenn du so fürchterlich brav gegen mich bist.«
Dann aber sahen sich die beiden in die Augen, zwei junge Köpfe legten sich aneinander, und Robis feste, braune Knabenhand faßte die schmale des Freundes.
» Ich will, Siegi, du darfst es mir glauben, es ist mein eigener fester Entschluß!«
Da erwiderte der andere gar nichts mehr außer: »Nun also!«
»Aber trotzdem soll das Leben schön und gut und vergnügt werden,« rief auf einmal Röbeli mit ganz anderer Stimme. Ihm war es plötzlich so leicht zumute geworden. Und als Graf und Gräfin Rieneck gleich darauf kamen, beglückte sie Wolf Sieghardts befreites, fröhliches Aussehen, und sie hörten mit Staunen zu, wie die Knaben wetteiferten, von Zukunftsplänen aller Art zu sprechen, die ganz anders lauteten als noch vor kurzem, die aber, so schien es wenigstens, ernst gemeint waren und bei beiden von Herzen kamen.
An das Mämmeli aber wurde am andern Tag folgender Brief geschrieben:
Mämmeli!
Ich hab' einen schweren Aufsatz zu machen, darum nur kurz! Sag der Großmutter, daß ich ihren Rat von damals befolgt habe, – sie weiß es dann schon. Man muß bei so etwas selber wissen, was man will, und so bin ich nun fest entschlossen, nicht Soldat zu werden, sondern mit Siegi zu studieren. Ich hab's ihm und dem Paten gestern auch gesagt. Siegi hat zwar durchaus anfangs nicht wollen; er ist ein guter Kerl, aber er ist auch ein armer Kerl, und deshalb soll er durch mich nicht auch noch Schweres haben. Und, Mämmeli, ich hätte es nie geglaubt, jetzt, wo ich weiß, was ich will, bin ich so vergnügt, daß ich gestern in meinem Zimmer einen solchen Freudenhupf gemacht habe, daß die O'mama den Krüger herunterschickte und fragen ließ, ob es denn ein Erdbeben gegeben habe. Siegi ist auch vergnügt und darf bald aus dem Verbande heraus. Und in ein paar Wochen geht es in die Ferien nach Rieneck. Hurra! Patin Charlotte hat gestern gesagt, Huberta und Annele dürften auch dann hinkommen, im Fall Du noch fortbleiben müßtest. Aber nun Schluß! Hoffentlich geht es der Großmutter wieder viel besser.
Dein treuer glücklicher Sohn
Robi.