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Paul war wieder in seiner Heimat. Wie war sie verändert! Wie eng waren diese Straßen, wie düster diese Giebel, wie nichtssagend diese Physiognomien geworden, die sie bevölkerten! Er fragte sich erstaunt, ob denn das früher schon so gewesen? Und auch seine nächste Umgebung, wie hatte sie sich anders gestaltet! Früher hätte ihn das Leben, das jetzt im Hause seines Großvaters herrschte, gefreut, ihn aufgeregt, ihn beschäftigt; jetzt, wo es ihn hinderte, seinen düstern Träumereien nachzuhängen, war es ihm unerträglich. Denn nicht allein der Oheim aus Salzburg war zum Besuche und seiner Vermögensverhältnisse wegen anwesend, auch die ganze Familie Dervilliers hatte Aufnahme im Hause gefunden, und obwol der Vicomte und die Seinigen mit der größten Bescheidenheit von der Gastlichkeit des Hausherrn Gebrauch machten, so hatte doch die den Franzosen eigene Rührigkeit und Beweglichkeit des Lärmenden genug. Der Hofgerichtsamtsverwalter war in fortwährender übler Laune; theils hatte der kleine Chevalier die Schuld, der, wie der alte Herr behauptete, bloß um ihn zu ärgern, den ganzen Tag über Thüren auf- und zuschlug, theils der alte Benoit, an dem er nicht vorübergehen konnte, ohne mit dem freundlichsten Gesichte von der Welt die Versicherung zu erhalten, daß es ein außerordentlich schöner Tag sei – eine Angewöhnung, die für einen Mann wie den Hofgerichtsamtsverwalter freilich zu den verdrießlichsten und unangenehmsten gehören mußte, welche Menschen sich angewöhnen können. Dazu kamen »Odiosa« wie er es nannte, anderer und der mannigfachsten Art, z. B. die fatale Manier des Vicomte, ewig von seinem Tode zu sprechen, und daß er die Heimkehr in sein schönes Frankreich nicht erleben werde. Dies hinderte aber nicht, daß der Hausherr und der Vicomte äußerlich nicht die besten Freunde gewesen wären, oder daß sie jemals ihre Suppe anders als kalt zu essen bekommen hätten, da auch die wärmste Suppe hätte kalt werden müssen in der Zeit, welche ihre feierlichen Becomplimentierungen vor der Tafel einnahmen, wobei es ein höchst interessantes, für den der Völker- und Menschenkunde Beflissenen lehrreiches Schauspiel war, in ihnen den Wettstreit altfranzösischer, mit so viel Anmuth verbundener Ritterlichkeit und Feinheit des Benehmens gegen die deutsche würdevolle, abgemessene Feierlichkeit, gegen die Grandezza des Hofgerichtsamtsverwalters zu beobachten.
So machten die kalten Suppen, die schönen Tage Benoit's, die Todesbefürchtungen des Vicomte diese Zeit dem Hausherrn zu der unangenehmsten seines spätern Lebens, und um seine Verdrießlichkeit zu erhöhen, war das benachbarte, von Meerheim's früher bewohnte Haus an einen Bierbrauer verkauft worden, der im Garten sein Gebräu den Gästen verschenkte, die hier ganze Sommerabende versangen und verjodelten, worin der Hofgerichtsamtsverwalter viel weniger Ausbrüche harmlosen Vergnügtseins, als das plebejische Bestreben, just ihm die Ohren vollzuschreien, zu erkennen geneigt war. Auch Paul berührte diese Entweihung der Räume, in welche er seine schönsten Kinderträume eingesponnen, aufs Widrigste.
Dagegen freute ihn, in der Familie des Vicomte ungetrübte Harmonie unter den Eltern und der Tochter zu finden. Diese letztere sah etwas schmachtend und sehnsüchtig aus, war aber ruhig und mit ihrem Loose zufrieden, denn sie erwartete ihren jungen Gemahl nach einigen Wochen, während welcher ihn seine Verhältnisse in Frankreich und zwar in einer der von der Revolution noch weniger aufgeregten Provinzen zurückhielten. Sie war Paul als Madame Adelaide de Mauclerc vorgestellt, ein Wort, das der alte Vicomte regelmäßig Beauclerc aussprach. Herrn von Maupeou war es nämlich gelungen, die Verzeihung seiner Schwiegerältern zu erlangen, auf die Bedingung hin, daß er seinen Namen mit dem seiner Mutter Mauclerc vertausche. Um nun auch noch das üble, erinnernde Mau los zu werden, hatte der Vicomte sich in den Kopf gesetzt, es müße eigentlich Beauclerc heißen, weil er mit einem Beauclerc, der aus derselben Provinz gewesen, im College studiert habe und außerdem sehr viele Leute gekannt, die Beauclerc genannt worden sein; und im Falle Niemand da war, der ihm hierin widersprach, zeigte er sich jetzt sehr geneigt, an seinem Schwiegersohne viele höchst liebenswürdige Eigenschaften anzuerkennen.
Pauls liebster Umgang wurde der heitere geistliche Oheim, obwol ihn dieser zu seinem Aerger mit Fräulein von Lescomte neckte.
Wo ist denn jetzt Fräulein von Lescomte, und wie lebt sie? fragte er ihn.
Ich zweifle nicht, sehr, sehr, sehr zufrieden, versetzte der Domherr. Sie hat einen reichen Gutsbesitzer zum Mann genommen, der außerdem noch den für sie unschätzbaren Vortheil besitzt, das zu sein, was sie einen Philister nennt, ein Mann, dem schon die Natur den struppigen Haarwuchs in die Höhe gestellt hat, um an seinen Beruf zu erinnern, im Dienste der Anstreicherkunst verwendet zu werden. Und da sie das Anstreichen und Ueberfirnissen ganz besonders versteht, und stark dabei aufträgt, so zweifle ich nicht, daß sie sehr zufrieden mit ihm ist.
Der Domherr pflegte sich sonst mit mehr Würde und Rückhaltung über Verhältnisse und Menschen zu äußern, und da Paul aus seinen Worten schloß, daß er in besonderer heiterer Stimmung sei, wagte er ihn weiter zu fragen, indem er ans Fenster trat, um hinausschauend seine bewegten Züge zu verbergen.
Aber lieber Onkel, wir sind hier weit genug von Ihrem Salzburg, dürfen Sie mir hier nicht sagen, wer der junge Mönch ist, den der Administrator von Mondsee Dietburg nannte? Sie wissen, ich nahm damals Antheil an ihm; er schien so unglücklich!
Der Mönch Dietburg? ja so, der; ich darf Dir's jetzt und hier freilich sagen, Paul, doch wünsche ich dennoch, Du machst keinen Gebrauch davon. Es war noch bei Lebzeiten unsers vorigen hochseligen Fürsten, bei dem ich damals Rath und Intimus war. Der gute, gute, gute Herr! Ich seh' ihn noch vor mir stehen, wie er mit der Hand über sein violettes Seidenkäppchen strich, als er eines Morgens, nachdem ich zu ihm gerufen, – in seiner abgebrochenen Weise sagte:
Eine fatale Geschichte und für mich höchst unangenehm! Da hat meine Nichte, die Reichsgräfin von P. sich von einem Jagdjunker entführen lassen. Und verführen auch, fürcht' ich. Und nun noch zu mir zu kommen, als hätt' ich ein Asyl für sie! Was thun wir, Herr v. S.?
Was sollt' ich antworten? Ich citierte dem hochseligen Herrn eine Stelle aus dem Thomas a Kempis. Aber der selige Thomas fand keinen Beifall. Der Fürst beschloß nach den Unterhandlungen, die er mit dem P...schen Hofe gepflogen, und da die Nachrichten von dort sehr gravierend ausgefallen, den Jagdjunker des Landes zu verweisen und seine Nichte – da man sie aus Furcht vor der Geschwätzigkeit der Nonnen in kein Kloster bringen wollte – in einem einsam liegenden, ihm gehörenden Landhause unterzubringen und sie da für ihre übrige Lebenszeit der Welt zu entziehen. Dies ist ausgeführt worden, und zwar, soviel ich weiß, mit einer Vorsicht, daß niemals viel Geschwätz über die Gefangene entstanden ist, denn wer davon hörte, hielt die Sache für ein Mährchen, oder fand nichts Auffallendes an dem Umstande, daß eine Dame einsam auf dem Lande wohne; doch hab' ich gehört, daß sie in der letzten Zeit sich nicht mehr in ihrer Einsiedelei befunden hat. Sie gebar einen Sohn, den man im Stifte Mondsee zur Erziehung unterbrachte. Das ist eben jener junge Mönch, nach dem Du fragst. Wo er jetzt ist, nachdem das Stift aufgehoben, weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist er irgendwo Kaplan oder Vikar geworden. Sein Vater, der Jagdjunker, hieß Dietburg; deshalb nannte der Administrator den Mönch so. Ob jener Jagdjunker eine und dieselbe Person ist mit dem Herrn von Dietburg, der hier das Fräulein von Meerheim vor vielen Jahren geheirathet hat, wie Dein Großvater mir damals schrieb, davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, was mir der hochselige Fürst gesagt hat, und danach war jener allerdings aus Norddeutschland. Nun weißt Du, was Du wissen wolltest, Paul; nimm Dir ein Beispiel daran, Kind; Gelegenheit macht keine Diebe, sondern sie zeigt nur, ob einer ein Dieb ist, wie der selige Thomas a Kempis sagt.
Paul wußte jetzt allerdings, was er zu wissen wünschte, er brauchte nur zu kombinieren, um zu Resultaten zu kommen, die für ihn von der größten Wichtigkeit und eben so erfreulich waren. Louisens Vater war ohne Zweifel der Held und der Uebersender der Erzählung, welche Alfieri vorgelesen hatte. Er konnte ja gerade durch seine Tochter erfahren haben von dem Dichterruhme des Grafen. Die Eleonore dieser Erzählung war eben so wahrscheinlich die gefangene Dame mit der Sammetmaske und Beide waren Manuels Eltern. Wo war nur Manuel? Konnte er dem alten Baron von Dietburg einen Sohn geben, dann war ja dieser nicht mehr allein und verlassen, dann durfte Louise von der Kindespflicht entbunden, dem Manne folgen, den sie liebte. Pauls Herz schlug laut in neuer Hoffnung und neuer Dankbarkeit für die Lenkung seiner Pfade, die, wenn auch durch verwirrte und traurige Verhältnisse, doch durch Zusammenfügung seltsamer Zufälle ihn zu Louisen geführt und auf denen er jetzt auch zu einer neuen überraschenden Aussicht auf das Ziel seiner Gedanken und seiner Lebenswünsche gekommen war. Er hoffte wieder mit einem Vertrauen, wie man auf die Erfüllung einer von oben her empfangenen Verheißung hofft. Louise war seit dem ersten Augenblicke, wo er sie gesehen, ihm wie eine langgesuchte, in seinen frühesten Jugendträumen verheißene Erfüllung seines Wesens und seines Lebens erschienen, er hing an ihr mit der religiösen Andacht, womit wir an all dem schönen und tröstlichen Glauben, an den schützenden Himmelsgestalten, an den Bildern und Ideen hängen, die mit Engelsflügeln in unser Kindesalter niedersteigen. Louise war ihm wie eine religiöse Idee und ihr Besitz eine seinem innersten Wesen offenbarte Verheißung. Und wo hätte in der That dies innerste Wesen Pauls, seine weiche, aufrichtige, kindliche und mit einem Ansatz zu religiöser Schwärmerei versehene Seele, in der eigentlich so wenig tiefe That- und Gedankenkraft, so wenig Anlage zum großen Manne lag, aber so viel, was hierfür entschädigte, eine bessere Erfüllung gefunden, als in der Gestalt der klaren, tiefen, opferfähigen Louise, auf die, wenn auch sonst nichts von den Eigenschaften ihres Vaters, doch in vollem Maße Kraft und Muth übergegangen schienen, während Manuel seine ganze Heftigkeit geerbt haben mochte.
Die gute alte Vaterstadt hielt ihn jetzt nicht länger. Er war ja noch frei und unabhängig; deshalb konnte er, ohne einen Vorwand suchen zu müssen, wieder in den Sattel steigen und den Kopf seines Pferdes nach Norden wenden, um dort den Schlüssel zu allen seinen Erlebnissen zu suchen. Er wollte zuerst den Baron Walther von Dietburg sehen, gegen den seine eigene Tochter eine so schwere Beschuldigung erhoben, indem sie ihm den größten Frevel vorwarf, womit der Mensch seine Göttlichkeit verrathen kann. Jenes Wort hatte Paul aufs Tiefste erschüttert; aber es hatte keine andere Macht gehabt, als die Innigkeit eines Gefühls für die Tochter dieses Mannes zu erhöhen. Es war dies eine Folge von Eigenschaften in ihm, welche die Stärke und Schwäche seines Charakters begründeten.
In dem Städtchen unfern der Nordseeküste, worin wir einst am frühen Morgen eine so seltsame Scene belauschten, war wieder der Held eben jenes Ereignisses angekommen, wie damals seinen Remontekäufen nachgehend. Er saß in dem Gastzimmer des Wirthshauses, welches jetzt auf dem humoristischen Aushängeschild »Zum hängenden Stallmeister« sein Bildniß der Nachkommenschaft überliefert, und heute gerade ungewöhnlich mit fremden und einheimischen Besuchern angefüllt war, weil ein Viehmarkt alle Pächter und wohlhabende Bauern der Umgegend herbeigezogen hatte. Es war ein derber und kräftiger Menschenschlag, diese freien Friesen, stolz im Gefühl ihres Wohlstandes, ächte Nachkommen jener, die einst in freier Volksversammlung um den Upstallsboom sich sammelten, um ihre Asegas und ihre Gesetze zu küren, und als kecke Seefahrer und Anwohner des Meeres an eine großartigere Anschauung der Dinge gewöhnt. Doch lag eine gewisse Rohheit in ihrem Betragen, die den Stallmeister veranlaßt hatte, sich seitwärts an einen Tisch zu setzen, der unter den Fenstern vor der Bank stand, welche rings an den auf halbe Höhe mit blau bemalten Estrich belegten Wänden herlief. Nur ein Fremder, ein junger, scheinbar den höhern Ständen angehörender Mann hatte Platz daran genommen.
Hierhin meinen Schoppen, Engel! sagte er zu der Tochter des Wirths, die hinter ihm stand, und mit einem schelmischen Blick über die Schulter den besten unter allen ihren Bekannten ansah. Er legte den Arm um ihre Taille und fragte leise, wer ist der fremde Herr dort in der Ecke?
Ich weiß nicht, sagte sie, ihren Mund seinem Ohre etwas näher bringend, als es absolut nothwendig gewesen wäre; er hat nach dem Wege nach der Dietburg gefragt, ich habe ihm darüber keine Auskunft geben können, und der Vater hat so alle Hände voll, der hört gar nicht, was man ihm sagt!
Er wird morgen früh desto fester schlafen! Denkst Du es nicht auch, Schatz? sagte lächelnd der junge Mann, während das Mädchen erröthend fortlief und sich durch die Haufen der lärmenden Männer drängte.
Aha, die Frau Stallmeisterin in spe! sagte ein wohlbeleibter Mann in mittlern Jahren, der den Stallmeister mit einem Kopfnicken begrüßte und sich neben ihn setzte.
Der Herr dort, versetzte der Stallmeister, auf den Fremden in der Ecke deutend, wünscht den Weg nach der Dietburg zu erfahren. Geht es nicht über L.? Ihr seid ja aus der Gegend, Meier von Frela?
Der Weg geht über L., antwortete der Meier und warf einen spürenden Seitenblick auf den Fremden, der näher rückte und der Niemand anders war als Paul. Wenn der Herr etwas zu thun hat auf dem Schloß, so wünsch' ich gute Verrichtung! Bin nie oben gewesen, Gott Dank!
Ich möcht' wol sagen, Gott Dank! sagte der Stallmeister lachend, ich weiß davon zu erzählen. Wollt' Ihr's glauben, Meier, daß ich eine Nacht über wie ein Strolch eingeschlossen gewesen bin auf dem Castell? Ein gutes Fohlen hab' ich gekauft, das ist wahr; aber dieser Baron und sein Wilm –
Sind ein Paar Kerle, die den Strick nicht werth sind, woran man sie alsbaldigst hängen wird, fiel ein langer rothhaariger Bursche ein, der hinter den Stuhl des Meiers trat, und mit seiner sommerfleckigen Physiognomie Paul ins Gesicht sah.
Ich will gegen den Baron nichts sagen, versetzte der Meier von Frela, indem er sein Glas dem Rothen über die Schulter darreichte, trinkt einmal, Peter Thila, mein Vater und des Barons Vater sind gute Freunde gewesen und haben mit einander gehandelt, daß mein Meierhof frei geworden von Spanndienst und Rauchhühnern.
Peter Thila, der das Glas hinuntergeschüttet hatte, schien dadurch nur noch mehr Luft zum Sprechen bekommen zu haben und mit feuchten Augen, eine Hand in die Hosentasche neben sein breites Messer steckend und mit der andern gestikulierend, sagte er: Aber ich weiß nicht, warum ich nicht desto mehr sagen soll – und da die Leute, die es angeht, die Schreiber in I. und wo sie's Land regieren, nichts dazu sagen und gesagt haben, alle die langen Jahre her, so wollen wir, wir armen Fischerleute, endlich einmal ein Wort drein sprechen. Ich sage Euch, Meier, es sind handhafte Gesellen dabei, ein Dutzend von Spiker-Oge, viele von Langer-Oge und etliche von Wanger-Oge auch; die haben sich zusammengegeben. Es wird ein lustig Stück Arbeit werden, und ich hoffe, sie warten, bis ich heimkomme. Ist das ein Christenmenschenbetragen, das man länger ansehen könnte? Wir sind's Frohnen müde, das Einsammeln von lauter Sündenwaare und Diebesgut! Wir wollen ihm einmal selber ein Leuchtfeuerchen, solch' ein Nachtlichtchen machen, daß ihm das Sterngucken vergeht! Ich habe oft gedacht, wenn ich bei Nacht so vor meine Hütte hinaustrat und ein Wetter war, als ob's die ganze Oge wegspülen wollte, und wenn ich dann in der Ferne das Licht von der Dietburg flackern sah, so frei, als ob's der Mond wär', den der liebe Herrgott angezündet hat, da hab' ich oft gedacht, sollte denn Niemand ein Einsehn thun, und habe die Arme untergeschlagen und mich bedacht, wie man's anfangen müßte; aber Gottdory, Meier, ich will nichts gesagt haben, unterbrach sich der Fischer hier, da er wahrnahm, daß sich eine Gruppe Zuhörer um ihn gesammelt hatte, durch welche er fortschlüpfte, um gleich darauf die Wirthsstube zu verlassen.
Was wirft man denn eigentlich dem Baron auf der Dietburg vor? fragte Paul den Meier.
Ich will nichts gegen ihn sagen, versetzte dieser, mit einem pfiffigen Blicke den Stallmeister ansehend und sich in seinen Stuhl zurücklehnend. Wißt Ihr etwas, Herr Stallmeister?
Man behauptet, nahm der Stallmeister das Wort, der seinerseits nicht einsah, weshalb er Pauls Frage nicht beantworten sollte, daß der Baron in stürmischen Nächten auf einem seiner Thürme ein großes Feuer anzünden lasse, um verschlagene Schiffe, in dem Glauben, es sei ein Leuchtthurm und ein Hafen in der Nähe, an den Sandbänken und Untiefen unter seinem Schlosse scheitern zu machen; er übt nämlich das Strandrecht an jenem Küstenstrich. Auch sagt man, daß er bei solchen Gelegenheiten selbst zum Strande hinuntergehe und einzelne Schiffbrüchige, die sich ans Land gerettet, wieder in die Wellen stoße, um keine Schererei wegen ihrer strandenden Besitzthümer mit ihnen zu haben. Und wenn ihn Jemand fragt, wozu sein Leuchtthurm diene, dann behauptet er oder sein Factotum Wilm, ein Spitzbube ersten Ranges, es sei ein Arbeitszimmer, in dem der Baron des Nachts geheimen Wissenschaften, Goldkocherei oder Astrologie, oder –, was weiß ich, obliege. Das ist, was man sich von ihm erzählt. Ich kann nur sagen, daß ich ihn als einen düstern und rauhen Mann habe kennen gelernt, und daß er für gut gefunden hat, mich während einer Nacht, welche ich auf der Dietburg zubrachte, einsperren zu lassen – wahrscheinlich, um keinen fremden Beobachter Dessen zu haben, was er in stürmischen Nächten vornimmt.
Aber hätte er, wenn er ihre Beobachtungen gescheut, nicht besser gethan, Sie die Nacht über gar nicht als Gast zu behalten?
Das würde in dieser Gegend für eine zu große Rohheit gegolten haben und hätte ihn um den vortheilhaften Handel gebracht, den ich am andern Tage mit ihm abschloß.
Und noch Eins. Wie können Schiffe sich durch einen Leuchtthurm an eine unbekannte Küste verlocken lassen, wenn sie keinen Lootsen haben und wenn sie den Curs zu dem Hafen nicht kennen, den der Leuchtthurm bezeichnet?
Der Stallmeister sah bei dieser Frage den Meier an. Davon versteh' ich nichts, sagte er. Wißt Ihr es, Meier von Frela?
Der Meier lächelte, klopfte die Asche aus seinem Meerschaum, und da, trotz seiner wiederholten Verwahrungen und seiner diplomatischen Schweigsamkeit in Beziehung auf die Bewohner der Dietburg, die Wendung, welche die Unterhaltung genommen, ihn dennoch in ein gewisses Behagen versetzt zu haben schien, so mochte er ihr Abbrechen verhindern wollen, indem er sich herabließ, zu erwidern:
Es liegt drei Stunden weiter ostwärts ein guter Hafen mit einem Leuchtthurme und einer ganz gefahrlosen Einfahrt, in der man das Steuer dem Kochjungen in die Hand geben könnte; er liegt mehr ins Land hinein, am Ende eines Meerbusens, und ist nicht so bald und so weit sichtbar, besonders für Schiffe, die westwärts segeln, als ein Leuchtthurm sein würde, der da stände, wo jetzt die Dietburg steht, womit ich aber nicht gesagt haben will, daß dieses der Fall sei.
Ihr seid ein schlauer Fuchs, Meier von Frela, lächelte der Stallmeister; aber doch haben wir genug gehört, um zu begreifen, weshalb Schiffe, in dem Wahne, sie liefen durch eine bequeme Einfahrt in einen sichern Hafen, auf den Sandbänken unter des Barons Thürmen scheitern können. Eine verfluchte Art der Piraterie, Herr, wendete der Stallmeister sich wieder zu Paul, mich soll wundern, ob die Engländer ihm nicht nächstens einen Kutter mit einigen Vierundzwanzig-Pfündern vor sein altes Castell legen und es in Grund und Boden schießen!
Die werden sich viel darum kümmern, ob an unserer Küste ein holländischer Käsekrämer mit Mann und Maus untergeht! rief hier der Meier von Frela aus. Ja, wenn wir selber unsere Orlogschiffe hätten! Seht, Herr, das ist, was ich immer sage, Orlogschiffe müßten wir haben, so gut wie die Holländer, wie die Engländer, wie die Dänen, wie die Schweden, wie die Russen – ja, es gibt ja gar kein Volk, das nicht Orlogschiffe hat – nur wir haben keine! Das will mir nicht in den Sinn, Herr! Wenn ich unsere schönen Eichen ansehe, so muß ich denken: das wäre ein Bugspriet für einen stattlichen Orloger von achtzig Kanonen! Wenn ich unsere braven Jungen hantieren sehe in dem Tauwerk von einer schäbigen Torfmulle, so muß ich denken: weshalb stehen dieselben braven Burschen nicht auf den Raaen von einem mächtigen Seefeger von hundert Feuerschlünden und schwenken die Matrosenmütze und rufen: Deutschland oben! Ja wohl, die schwenken die Mütze nicht, aber das Schreibervolk, das schwenkt die Schlafmützen. Der Kaiser sollt'n Einsehen thun! Da ist der alte Fritz gewesen; das war ein kluger Herr und der hat's ihnen schon gezeigt, wie ihm die Franzosen und die Russen und die Panduren gekommen sind! aber so gescheidt, daß er eingesehen hätte, wozu der liebe Gott die Eichen hat wachsen lassen, war er doch nicht! Der Handel, Herr, das ist, worauf der Verkehr und alle Arbeit und die ganze Welt beruht. Was thu' ich mit meinen Grundstücken und mit den Leuten, die an meinem Tische essen, wenn ich sie nicht gebrauchen kann, um Roggen und Waizen und andere Früchte zu bauen? Und was thu' ich mit den Früchten, wenn ich sie nicht verhandeln kann, nach Holland, nach England oder wo man sie sonst braucht? Wenn aber Handel sein soll, so muß auch Schutz für den Handel sein, dann müssen auch Faktoreien, Häfen, Speditionsorte in der Fremde sein, wohin man seine Waaren schicken und woher man sie holen kann, und wo man seine guten Freunde hat, die Einem das besorgen. Da seht die Engländer! Die können zeigen, was es nutzt, feine Orlogschiffe zu haben! Da seht die Franzosen, die Spaniolen an! Aber von denen will ich nichts sagen; ich will nur sagen, was die kleinen Länder sind, wie selbst die uns Deutschländern ein Schnippchen schlagen. Da sind die Portugiesen eine Hand voll Leute und doch haben sie ihre Reiche und Städte in Asien und Afrika und können Handel treiben in Goa, in Mosambique, in Makao. Da sind die Dänen; die haben ihr Trankebar in Ostindien, ihre Plätze in Afrika, ihre Inseln in Westindien. Da sind die Holländer, die haben gar ganze Königreiche von Colonien! Und nun frag ich, Herr, was haben wir? Haben wir eine Colonie, so groß wie diese flache Hand? ein Fleckchen, worauf ich dieses Bierglas stellen kann? Und wenn heute Krieg ausbricht und, will ich setzen, die Schubbejacken, die Spaniolen, schießen uns alle unsere Schiffe in Grund und Boden, überall, in Süd und Nord, können wir etwas Anderes thun, als es nachlesen, wie es in der Zeitung beschrieben steht?
Der Meier hatte seine Rede, bei welcher ihm warm geworden, mit etlichen kräftigen Stößen seiner Flasche auf den Tisch begleitet und blickte jetzt um sich, als ob er jeden Gegner seiner Meinung mit den vollen Lagen seiner »Orloger« in den Grund zu bohren sich unterstehen würde.
Meier, wenn Ihr einmal an Bord geht, dann wackelt's mit Euch, sagte ein dickes Müllergesicht, das sich neben ihm niedergelassen hatte. Wozu hat denn der Herrgott die Eichen wachsen lassen? Hm? Doch wol zu Mühlenachsen, sollt' ich denken, und zu Kammrädern und wessen man sonst benöthigt ist, damit der Mensch das liebe Brot bekommt?
Jetzt gib Acht, Albrecht, sagte leis die Tochter des Wirths, die hinter den Stuhl des Stallmeisters getreten war und die Hand auf seine Schulter legte, jetzt kommt der Zimmermann und behauptet, die Eichen seien da, um Hausgebälk daraus zu machen, und dann ruft der Gerbermeister, der jetzt von der Bank drüben aufsteht, der im rothen Frieswamms, nur um der Borke zum Gerben wegen seien sie da, damit der Mensch Schuh und Stiefel an die Füße bekommt. Das ist immer dieselbe Geschichte, wenn die zusammenkommen und etwas getrunken haben, und wenn die Flaschen dabei ganz bleiben, so kann der Vater sich freuen; denn meist scheinen sie, wenn sie auch über den Zweck der Eichen in Hader gerathen, am Ende über den der eichenen Knittel doch im vollkommensten Einverständniß zu sein, und geneigt, sich dies unverholen verstehen zu geben.
Paul war nicht in der Stimmung, dieser Debatte länger Aufmerksamkeit zu schenken, obwol ihm die Worte des Meiers eine politische Wahrheit zu enthalten schienen, von der er nicht begriff, daß sie nicht lange schon den Lenkern der Geschicke seines Vaterlandes sich aufgedrängt hatte. Aber er dachte an Axel Oxenstierna's unsterbliches Wort an seinen Sohn. Nescis, mi fili, quantilla prudentia mundus regatur. (Du ahnst nicht, mein Sohn, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird.) – Anm.d.Hrsg
Es war Abend geworden und Paul konnte nicht mehr daran denken, seine Reise nach der Dietburg fortzusetzen, so sehr er es wünschte, da ihm, was er aus dem Munde des rothen Fischers gehört, eine gewisse Besorgniß um Louisens Vater einflößte, dem er die Theilnahme nicht versagen konnte, die eine auf der andern Seite ihn erfüllende Scheu vor diesem verbrecherischen Charakter und eine große Erbitterung gegen denselben aufkommen ließ. Aber sein Pferd war müde und auf der ganzen noch langen Strecke bis zur Dietburg war kein Wirthshaus mehr, in dem er hätte übernachten können, und endlich war der Weg, der durch große Moorstrecken führte, bei Dämmerung und Nacht durchaus ungangbar und lebensgefährlich. Er mußte sich zum Bleiben entschließen und wir lassen ihn deshalb in einer lebhaften Unterhaltung mit dem Stallmeister zurück, worin der Letztere ihm genauere Kunde von Dem gab, was er auf der Dietburg gesehen und unter Anderm auch von dem Brieffragment erzählte, welches er dort gefunden und das Paul jetzt einen erschütternden Blick in das unendlich traurige Schicksal Louisens von Meerheim werfen ließ.
Wir eilen ihm voraus in die Räume des unheimlichen und düstern Schlosses, welches das Ziel seiner Reise war. In dem großen Gemache, welches dem Baron zum Wohnzimmer diente und worin das bleiche Bild seiner verstorbenen Gemahlin hing, saß in der Nische eines Fensters eine Frau in mittleren Jahren, die Hände im Schooße faltend und gedankenvoll in die Nacht hinausschauend, die über dem Meere draußen ihre Schleier ausbreitete. Obwol Kerzen im Zimmer brannten, blieb sie doch in ihrem Lehnstuhle in dem dunkeln Eckchen, bis schwere Schritte und Sporengeklirr sich draußen hören ließen und die Thür sich öffnete. Sie sprang auf und trat in den Lichtkreis, den der Schimmer der Kerzen inmitten des weiten Raumes bildete.
Es war eine große, kräftig gebaute Gestalt; das Gesicht zeigte regelmäßige, marquierte Züge, die jetzt bei der grellen Beleuchtung und den dunkeln Schlagschatten, welche der gelbe Lichtschein auf ihr Antlitz warf, so entschieden hervortraten, daß sie wie ausgemeißelt oder wie aus Metall gegossen schienen. Wie sie dastand, den Blick fest auf den Eintretenden geheftet, die rechte Hand etwas erhebend, die linke über den Gürtel legend, fehlte ihr nur der Piedestal, um für eine monumentale Gestalt von bewundernswürdiger Lebenswahrheit gehalten zu werden. Aber für ein Monument eines düstern und kummervollen Daseins, das sich die Ehre, so in Erz erhöht zu sein, um den Preis des Glückes und durch einen heldenmüthigen Kampf mit einer großartigen und siegenden Unglücksmacht verdient. Sie war keine von einem plötzlichen Schmerze überwältigte Niobe, keine vom Ungeheuren mit einemmale ergriffene Iokaste; der Gram, der, langsam zehrend, graue Haare macht, hatte ihrem Gesichte zum unwandelbaren festen Ausdruck das Siegel des tiefen, schneidenden Schmerzes aufgeprägt, dessen charakteristische Züge in so vielen Frauengesichtern auftauchen, wenn sie sich unbeachtet von euch wähnen und durch lächelnde Freundlichkeit ihn nicht verdecken.
Es war Eleonore, Reichsgräfin von P., jetzt die Gemahlin Walters von Dietburg.
Der Baron war eingetreten. Eleonore reichte ihm ihre Hand entgegen. Er nahm sie nicht. An ihr vorüberschreitend und eine Reitgerte auf den Tisch werfend, sagte er:
Ich bin zwei Stunden weit ihnen entgegengeritten. Niemand kommt. Die Nacht ist dunkel und wird stürmisch. Sie werden gar nicht, sie werden nie kommen! Mich flieht Alles! O, hätte ich sie nie dieser Lügnerin von großer Dame anvertraut! Um ein Weib mehr oder minder im Hause ist mir's nicht. Aber ich habe sie einmal erwartet! Ich erwarte den Schurken, an den ich gewöhnt bin und der mir heute zum erstenmale wortbrüchig wird!
Der Schloßherr maß in zorniger Aufregung mit langen Schritten das Zimmer. Eleonore zog sich, in ihren Bewegungen jetzt immer eine auffallende, fast träge Schwerfälligkeit zeigend, als sei sie derselben entwöhnt, in ihre dunkle Ecke in der Fensternische zurück. Nach einer Pause sagte sie:
Walter!
Was gibt's?
Bist Du ruhiger geworden?
Er blieb wie fragend vor ihr stehen.
Weshalb nur ewig diese Bitterkeiten für mich? Wenn es Dich nicht kümmert, ob Deine Tochter um Dich ist, so weißt Du doch, wie ich mit allen Wünschen meiner Seele mich nach Deiner, nach meiner Tochter sehne! Hast Du den Kelch, den Deine Hand mir aufdrang und den ich nahm, als ich jung und thöricht war, nicht genug mit Wermuth gefüllt? O Gott, wie warst Du einst so muthig, so lebensfroh und frisch, so kräftig – wie warst Du so gut! Ein Mann, der ein ganzes Geschlecht aufwog von denen, an deren Anblick ich gewöhnt war! Und jetzt? O Walther, Walther, soll ich es denn bereuen, dem Boten gefolgt zu sein, der mir Kunde von Dir, der mich endlich zu Dir brachte? Soll ich mich zurücksehnen in meine einsame Gefängnißzelle? Sie war so ruhig, so schattig; man brachte mir täglich frische Blumen hinein und ich hatte die Töne meines Instruments. Die Zweige des Waldes nickten durch meine Fenster und die Vögel sangen herein, Lieder, so freundlich wie die Sonnenstrahlen, die, halb von den Aesten aufgefangen, um meine ruhende Hand, um meine ruhig athmende Brust spielten. Ich hatte den Schmerz der Gefangenschaft, der Reue und die Sehnsucht damals – aber hatte ich nicht auch Dich, nicht Dein Bild, das so voll Liebe und voll Trost für mich war? Das Alles hab' ich verloren, und es ist mehr, als ich bei Dir wiedergefunden! Du bist nicht mehr Du! Mit welch schwarzen Farben Du auch meinen Vetter Osmund W. in dem Manuscripte geschildert hat, das Du Alfieri schicktest, um von der Bühne herab meine Schande der Welt preis zu geben und meine Familie zu ärgern, weißt Du, daß Du jetzt schlimmer bist, als Osmund W. je war?
Weib! schrie hier der Baron, dann, wie sich fassend, sagte er: Was ich geworden, bin ich Deinetwillen geworden. Wirf Du es mir deshalb nicht vor. Es war freilich nicht der Mühe werth. Nach einer Pause fuhr er fort: Gib mir meinen Sohn, meinen Erben, Eleonore, dann will ich werden, wie Du mich willst, ja ein psalmenplärrender Mönch, wenn es sein muß! Aber bis dahin will ich Böses und Unheil stiften, so viel ich kann; so wird der Gott, welcher das Böse und das Unheil fernhalten will und soll, doch endlich mir meinen Sohn zu geben gezwungen werden! Und wenn nicht, nun, dann ist der Gedanke, daß ich mit Gott gerungen, so stolz und kühn, daß mein Leben, welches von diesem Gedanken getragen wurde, kein verlorenes sein kann.
Der Baron verließ das Zimmer und ließ die unglückliche Frau allein mit ihren kummervollen und schmerzlichen Gedanken, aus denen als einziger Trost für sie der Wahn emportauchte, Walther wäre nie so geworden, wenn nicht ein unseliges Schicksal ihm ihre Liebe, ihre frühere Macht über ihn, die ganze beschwichtigende, heilende, bessernde Gewalt der weiblichen Milde so früh und so lange entzogen hätte. War es nicht eigentlich der Schmerz der Trennung von ihr, der ihn so rauh gemacht hatte?
So saß sie mehrere Stunden in träumendem Sinnen, oder auch in eine völlige Unthätigkeit des Geistes versunken. Der Baron kam nicht zurück. Draußen wurde es stürmisch und der Wind, der die Brandung lauter machte, fuhr in einzelnen, immer rascher sich wiederholenden Stößen gegen die klirrenden Scheiben, um gleich darauf gurgelnd und pfeifend längs den alten Mauern herzufahren, wie ein verwundeter, wüthender Riesenvogel, der über die Meere daher geflogen, Schutz zu suchen komme und Obdach. Eleonore schaute hinaus, um zu sehen, ob der Lichtschimmer des Leuchtthurmes, der ihr, seitdem sie seine Bestimmung entdeckt hatte, ein solches Grauen in die Seele geworfen, sich draußen über die dunkeln Wogen lege. Nein, es war Alles schwarze Nacht. Aber ein plötzlicher, ungewöhnlicher Lärm erreichte aus dem untern Stockwerk des Gebäudes, wo die Domestiken wohnten, ihr Ohr. Sie hörte Rufe, Thüren, die heftig auf- und zugeworfen wurden, und schwere Schritte in Holzschuhen über Treppen eilen. Das Zimmer verlassend und einen Corridor betretend, sah sie, daß am Ende dieses Ganges durch ein auf den Hof nach der Landseite hin gehendes Fenster ein heller Schein fiel, der gelb und zitternd über alte, im Gange hängende Ahnenbildern schwebte. Ein wüstes Toben, Jauchzen, Rufen war draußen, welches der Sturm in ihrem Zimmer nicht hatte vernehmen lassen, und als sie an dies Fenster trat, sah sie eine wilde Rotte Menschen, die, von Fackeln und flammenden Kienbränden beleuchtet, in den Hof drang. Es waren Bursche in zerlumpten Kleidern, die Gesichter geschwärzt, einige als Weiber vermummt, alle irgend eine Stange oder einen Knittel als Waffe schwingend, während sie Schreie ausstießen, deren Sinn Eleonoren entging, die aber die äußersten Drohungen zu enthalten schienen. Ueber den Köpfen dieser schrecklichen Horde wirbelte der Qualm der Fackeln und Brände in dichter Wolke; der Wind warf die Flammen hin und her und schien ihr glührothes Scheinen an den hohen Mauern der Dietburg emporjagen, wie einen hellen Mantel um ihre runden Thürme werfen und in jede dunkle Ecke der Gemäuer treiben zu wollen. Das Schloß und die Nebengebäude schützten die Brände, welche eben erst aus Laternen entzündet schienen, vor dem Verlöschen im Winde.
Eleonorens erste Regung war, mit einem Schrei des Entsetzens in das Zimmer des Barons zu eilen. Er war nicht mehr da. Als ein plötzlich ausbrechendes verdoppeltes Geheul sie zu ihrem frühern Standpunkt, an das Corridorfenster, zurückzog, sah sie, wie er unten auf den Perron der Haustreppe getreten war und mit einer Kugel-Büchse, den Kolben anschlagend, dem Haufen drohte. Dieser war auseinander gewichen. Während deß hatte sich rechts von der Thür ein niederes Fenster des Erdgeschosses geöffnet, aus dem die Domestiken, einer nach dem andern, jeder ein schnell zusammengerafftes Bündel tragend, hervorschlüpften, um sich ohne besondere Furcht in dem Haufen draußen zu verlieren, der sie, wie es schien, ohne Feindseligkeit aufnahm und umringte.
Das Vieh aus den Ställen! rief eine Stimme jetzt, den Lärm übertönend, und gleich darauf waren zwanzig Fäuste damit beschäftigt, die Thüren der Nebengebäude einzubrechen und, wo die Hand nicht fertig wurde, mit Stangen und Bäumen sich Weg zu bahnen.
Der Lärm nahm mit jedem Augenblicke zu. Das Rufen der tollen Menge, das Heulen der Hofhunde, das Einbrechen der Stallthüren, aus denen man Rinder und Pferde und den ganzen Viehstand des Barons hervor- und dann durch das Hofthor in die Nacht hinaustrieb, das Brüllen und Wiehern der erschrockenen Thiere, die sich meist sträubten, aus den dunkeln Ställen in den hellen Fackelschein zu kommen – es war ein wahrer Hexensabbath. Um ihn vollständig zu machen, schoß der Baron seine Büchse ab; der Knall hallte wie ein Kanonenschlag zwischen den engen Mauern. Die Geduld schien den Schloßherrn verlassen zu haben; er hatte in den dicksten Haufen geschossen, wo ein als Weib verkleideter Bursche wankte und sank, bis ihn die Zunächststehenden in ihre Arme nahmen. Hiermit aber war das Signal zur losgebundensten Wuth für die Menge gegeben. Steine, Latten, Knittel flogen nach dem Schloßherrn, und als er eine Doppelflinte, die hinter ihm an der Thürbrüstung lehnte, anschlug und abdrücken wollte, wurde ein so gewaltiger Hieb mit einer Schalter darauf geführt, daß beide Läufe krumm gebogen wurden und das Gewehr der Hand des Barons entsank. Er sprang zurück, um sich hinter der Thür zu bergen, die er so eilig als möglich verriegelte. Zu seinem Erstaunen ließ man ihm volle Zeit dazu. Der Haufen hatte sich unterdeß an die Ausführung seines eigentlichen Vorhabens gemacht; er brachte Feuer an jede Stelle, wo das Aeußere der Gebäude etwas Brennbares darbot, er schleuderte Fackeln durch das von den Domestiken geöffnete Fenster, zündete in den Nebengebäuden das Stroh, die aufgestapelten Haufen gestrandeter Waaren an, und, von dem heftigen Winde gepackt, geschürt, gepeitscht, schlug nach kurzer Zeit eine hohe gewaltige Lohe um das Schloß zusammen. Das untere Geschoß zuerst ergreifend, war es, als ob die aufzüngelnden, pfeifenden, sprühenden, wie in hungriger und rasender Gier heulenden Flammen das düstre, sie überragende Gebäude mit seinen lehnsherrlichen Thürmen und stolzen Wappen in den dunkeln Nachthimmel emporhüben und trügen, als ob sie ihm zu einer Art höhnischer Apotheose lohten. Und um dies erschütternde und grauenhaft schöne Schauspiel zu vervollständigen, zu dem der Sturm der Nacht, die gewaltige Orgel des Himmelsdomes, in den tiefsten Tönen rollte, und das sich weithin in den goldgrün aufblitzenden Schaumwogen des Meeres spiegelte, welches zu rasen begann, als ob beide entfesselten Elemente um den Preis der Furchtbarkeit wettkämpfen wollten, wurde das Fenster über dem Hauptthore des Gebäudes offen geworfen und, nur wenige Schuh über den höchsten Flammenzungen noch, blickte das vom Schrecken verzerrte, aber wie in Bronze ausgeprägte Gesicht Eleonorens heraus. Es war nur ein kurzer Augenblick, denn Qualm und Hitze trieben sie zurück; aber lang genug, daß die, welche die plötzliche Erscheinung sahen, mit einer abergläubischen Furcht erfüllt wurden, als sei das Gespenst des Baues ihnen sichtbar geworden in diesem gelben, von Todesangst entstellten, spukhaft beleuchteten Kopf. Sie machten mit allen Geberden des Schreckens nach oben deutend, ihre Genossen darauf aufmerksam; und als die Erscheinung verschwunden war, noch ein tiefes Grauen fühlend, nachdem ihre Wuth sich gelegt, und die Flammen es für sie übernommen hatten, ihren Racheplan zu vollziehen, fingen sie an, sich zu zerstreuen, um beim Lichte der Feuersbrunst die Wege nach ihren heimatlichen Hütten aufzusuchen.
Das Gerücht, daß die Dietburg abgebrannt sei, hatte sich am folgenden Tage bald verbreitet. Auch Paul erfuhr es, als er auf dem Wege dahin war. So überraschte es ihn nicht, als er, nach Mittag an der Stelle ankommend, statt des Schlosses einen Haufen ausgebrannter Mauern, verkohlende Balken und noch rauchende Schutthaufen fand; weit umher war Alles schwarz gesengt und die umgebenden Baumgruppen hatten sich in dieselbe Farbe gekleidet, als trauerten sie über die zusammengesunkenen Thürme, die sie so lang umstanden. Versprengtes Vieh trieb sich draußen unter den Bäumen, in den Gärten, auf den nächsten Feldern umher und ein Fohlen kam auf Paul zugesprengt, als ob es mit seinem Wiehern ein neues Obdach von ihm verlange; eine Katze drängte sich schnurrend an seine Füße und auf einen Pfeiler des Hofthores hatte sich kauernd ein indischer Hahn gesetzt, als sei er wie ein Bramine seiner Heimat in Betrachtungen über die Gewalt der ewigen gottathmenden Elemente versunken. Paul betrat das Innere der Ruinen. Die Asche glühte unter seinen Füßen und stäubte in weißen Flocken und Funken auf; in einer Ecke des Hofes lag eine Kette mit einem schweren Halsband und daneben Reste verbrannter Thierknochen, wahrscheinlich von einem Hunde, an den Niemand gedacht. Durch die Mauerlücken, die an der Stelle der Fenster entstanden waren, sah er das noch wogende, von Nebeln überhangene Meer; rechts und links die öden, grauen Sanddünen, die es einfaßten. Von diesen zerfallenen, von Brandgeruch erfüllten schwarzen Schutthaufen und Trümmern aus war das Ganze ein Bild von unendlicher Trauer, von einer unsäglichen Oede und Verlassenheit. Der Geist der Vernichtung schwebte, in dem Schmerzensschrei der einsamen Möve laut werdend, über diesen Wellen und den eben so unendlichen Sand- und Haidestrecken.
Als Paul erschüttert und zugleich rathlos, wie er seine Absicht, den Vater Louisens zu sehen und zu sprechen, erreichen könne, da Niemand in der ganzen Gegend sichtbar war, sich abwandte und die Ruinen verließ, gewahrte er landwärts in der Ferne drei Gestalten auf der braunen, von Moorstrecken durchzogenen Haide, die eilenden Schrittes näher kamen, einem langsam auf schlechten Wegen sich fortarbeitenden Wagen vorausschreitend. Paul erwartete sie; sie kamen rasch näher; es waren zwei Männer und eine Dame; die Dame, welche Walther von Dietburg schon am Abende zuvor erwartet hatte, – es war Louise. Manuel und Wilm waren die Männer, welche sie begleiteten.
Empfindungen, wie sie die vier Menschen bewegten, die nun bald in einer Gruppe vereinigt auf dem Schutte standen, zu dem das Vaterhaus Louisens zusammengesunken war, wären eben so schwer zu schildern, wie es vergeblich wäre, die verschiedenen Ausdrücke wiedergeben zu wollen, worin ihre Ueberraschung und ihre Sorge laut wurden.
O Gott, wo ist mein Vater, mein armer Vater! rief Louise, nachdem sie die erste Erschütterung und Ueberraschung, so plötzlich vor Paul zu stehen, überwunden hatte, und einer Ohnmacht nahe an seinem Arm sich aufrecht haltend.
Ich sollt' es nicht, – ein Vaterhaus finden! sagte Manuel halblaut und wie tief zerknirscht. Als es das meine wurde, mußte der Blitz es treffen!
Am gewaltsamsten äußerte sich Wilm's Sorge um seinen Herrn, auf eine Weise, die etwas mit dem rohen Gesellen Aussöhnendes hatte. Es schien, als ob er an seinem Gebieter gehangen habe mit der Treue eines bissigen Hundes. Thränen rollten ihm über die braunen Wangen, während er eine Fluth gotteslästerlicher Flüche ausstieß. So rannte er suchend durch die Trümmer und verschwand endlich die in den Felsen gehauene Stiege hinab, die von dem etwas erhöhten Plateau, auf welchem das Schloß stand, zum kiesigen Strande niederführte.
Gleich darauf hörte man ihn hier einen lauten Schrei ausstoßen. Die Andern eilten ihm nach und fanden bald, seinem Rufen und Winken folgend, neben ihm vor einer niedern dunkeln Grotte, einer Art Keller, der in den Felsen ausgehauen war, welcher das Schloß getragen hatte, wenn man anders ein langes, aber kaum zehn bis zwölf Schuh hohes Steinlager Felsen nennen darf. Die Grotte mochte dazu gedient haben, Waarenballen und dem Aehnliches schnell unter Dach zu bringen oder Arbeitern am Strande und ihren Geräthschaften Schutz gegen plötzliche Regenschauer zu gewähren, denn sie war ohne Thüre und jetzt nur durch ein paar vor die Oeffnung gestellte Planken vor dem Winde geschützt. Im Hintergrunde dieser Grotte lag auf einem Haufen aufgeschütteten Strohes die arme Eleonore, den rechten Arm und das Haupt auf die Knie Walthers von Dietburg stützend, der auf einem umgestülpten Zuber neben ihr saß und sich über sie beugte.
Als der Letztere die Herannahenden wahrnahm und aufblickte, sein wirres Haar aus der Stirn zurückwerfend, in seinem Auge ein unstetes und unheimliches Funkeln zeigend und einen dumpfen Schrei ausstoßend, da war es, als wenn ein wunder alter Löwe sich erhebe, um mit seiner letzten Kraft die Seinen zu vertheidigen. Er hatte Eleonore, die bewußtlos geworden, aus dem brennenden Gebäude getragen, von fallendem Gebälk verwundet, versengt, vom Rauche halb erstickt, mit äußerster Lebensgefahr, bis es ihm gelang, durch eine Hinterthür mit ihr zum Strande und in die Grotte zu kommen. Hier hatte er sie bald ins Leben zurückgerufen, aber bis jetzt nicht gewagt, dies Asyl zu verlassen, weil er von der Horde, die sein Schloß angezündet hatte, für sein Leben fürchtete; oder vielmehr Eleonore hatte ihn nicht von sich gehen lassen. Zum erstenmal seit sie ihn wieder gesehen, war er ganz Sorge, ganz Liebe für sie; er hatte ihretwegen sein Leben gewagt, er hielt ihr Haupt auf seinen Knien, er hatte sie wieder »liebe Eleonore« genannt, er fragte nach ihren Schmerzen, ihren Bedürfnissen. O Gott! alle Schmerzen waren vorüber, als er so fragte. Sie lag auf einem Haufen Stroh in einem düstern Kellerloch, gegen Wetter und Wind nur durch ein paar Bohlen und kalte Steinwände geschützt. Sie war krank und zu ihrer Erquickung kein Tropfen frischen Wassers in der Nähe; sie mußte ihr Leben bedroht glauben, wie das ihres Mannes, von der wüthenden Bevölkerung der Umgegend – alle ihre Habe war Asche, ihre Wohnung ein Haufen Trümmer – und doch war sie glücklich, die arme Frau. Sie hielt Dietburg's Hand in der ihren, diese Hand, die jetzt den Druck erwiderte, wenn sie sie drückte; sie wußte, er verdiente keine Liebe, aber wen hatte sie anders auf der weiten Erde, um ihn zu lieben? Nein, sie wollte, sie konnte diese Hand nicht fahren lassen, er mußte bei ihr bleiben, und er blieb, weil sie es wollte.
Sie sollte noch glücklicher werden. Als der blasse junge Mann zu ihr trat, der ganz dasselbe Profil, dieselben Augen hatte, wie sie, als er und Paul ihr erzählt, was sie zu der Annahme berechtige, daß er ihr Sohn sei, als sie Manuel an ihre Brust drückte, als sie Dietburg den Erben zeigen konnte, den er von ihr verlangt hatte, und als sie endlich mit einem Strom von Thränen, die seit Langem in ihren Augen versiegt waren, an Louisens, ihrer Tochter Halse schluchzte, während Dietburg mit einem unbeschreiblichen Ausdruck seines sonst so harten steinernen Gesichts beide Hände auf Manuels Schultern gelegt hatte, daß dieser glaubte, darunter zusammensinken zu müssen, und nun mit einem gewissen Zorn der Liebe in die Züge seines Sohnes starrte.
Wir lassen den Vorhang sinken vor dieser letzten der Scenen, die wir vorübergeführt haben, und schließen mit einem kurzen Epilog.
Schloß Dietburg hatte nach anderthalb Jahren, während deren ein wohnliches Unterkommen im nächsten Pfarrhause gefunden war, sich neu aus seinen Trümmern erhoben. Es war heller und geräumiger geworden und Manuel war der Besitzer, den der alte Baron nach Gutdünken schalten ließ. Des Letztern Kraft war gebrochen. Er ging im Hause umher müssig, mürrisch, wie eine Dogge, der die Zähne ausgebrochen sind. Er blieb einsilbig, wie er immer gewesen, aber es schien, daß eine innere Angst ihn quäle, in welcher seine ganze Seele sich an Eleonore anklammerte, als finde er bei ihr allein Sicherheit. Sie hörte nach jener Nacht nur noch selten ein unfreundliches Wort von ihm. Zuweilen war es, als ob sein geistiges Vermögen gelitten habe und er unter dem Einfluß fixer Ideen stehe. So gehörte zu den Lieblingsgegenständen seiner Unterhaltung die Sitte indischer Wittwen, sich mit den Männern verbrennen zu lassen, die er ganz in der Ordnung fand, und der noch barbarischere Gebrauch afrikanischer Völker, mit ihren Königen Alles zu bestatten, was ihnen auf Erden theuer gewesen. Am Ende forderte er in allem Ernst von Eleonoren das Versprechen, mit ihm zu sterben, und, wenn er in den letzten Zügen liege, neben ihm verscheiden zu wollen, wenn auch auf gewaltsame Weise. Es war als ob er einen Balsam für seine Todesangst in diesem Versprechen sehe, in dieser letzten und höchsten Forderung, zu der es der ehemännliche Egoismus bringen kann.
Zur Verwunderung Aller widersetzte er sich Manuel nicht, als dieser ein Jahr später von einer heftigen Leidenschaft zu einem schönen Fischermädchen aus der Umgegend erfaßt, zu einem andern Glaubensbekenntniß übertrat, um sie heirathen und zur gnädigen Frau auf der Dietburg machen zu können. Manuel lebte glücklich mit ihr, wenigstens so glücklich, als ihr völliger Mangel an Bildung und sein heftiger unsteter Sinn es zuließ. Das Beste war, daß seine hübsche Fischerin ihn lieb genug hatte, und zugleich oberflächlich genug war, um bald zu vergessen, was die Wallung des Augenblicks aus ihm sprach.
In dem so seltsam zusammengesetzten Familienkreise auf der Dietburg blieb Louise nicht. Sie sah, daß das Opfer, welches sie ihrer Kindespflicht gebracht, von ihr zurückgenommen werden durfte. Ihr Vater hatte Eleonoren, hatte Manuel jetzt, und sie selbst fühlte sich wie eine Fremde unter diesen Menschen. Noch ein harter Kampf, in welchem Paul Alles aufbieten mußte, um sie zu überzeugen, daß seine Leidenschaft nicht vermindert sei, seitdem er ihren Vater kennen gelernt und daß sie ihm und ihrer Liebe folgen dürfe, und sie erklärte sich besiegt und bereit, ihm in seine Heimat zu folgen.
Ist euch nicht manchmal, als ob ihr euch gerade in derselben Lage, in der ihr jetzt seid, in derselben Stimmung, in derselben Beschäftigung, genau mit allen Nebenumständen, schon einmal befunden, als ob plötzlich ein Augenblick eurer Vergangenheit in die Gegenwart getreten sei? Es war Paul so zu Muthe, mehrere Jahre, nachdem er aus dem Schutt und Graus der Dietburg Louise entführt hatte, die weiße Lilie, die für ihn über jenem schwarzen Grunde aufgeblüht war, als er eines schönen Sommerabends in seinen Garten trat. Es war derselbe Garten, in welchem er einst zu Louise von Meerheim durch die Hecke geschlüpft war, in welchem sie ihm Blumen geschenkt und Mährchen erzählt hatte, in welchem sie ihm selber wie eine der Feen ihrer Mährchen vorgekommen war. Er hatte das Haus mit dem Garten angekauft und bewohnte es. Jetzt, als er im Hintergrunde neben dem plätschernden Brunnen der Gruppe ansichtig wurde, die ihn dort erwartete, war ihm, als sei er um mehr als ein Vierteljahrhundert in seine Vergangenheit zurückversetzt. Die fröhlich blickende, wenn auch etwas blasse Frau, die dort auf dem Gartenstuhle saß, war es nicht Louise von Meerheim? und der lockige, rothbäckige Knabe, der vor ihr stand und ihr neckend die Bänder ihres Strohhutes aufzerrte, war er es nicht selbst, sagten nicht die Leute wenigstens, er sei ihm wie aus dem Gesichte geschnitten? Dieselben Bäume standen umher, deren Zweige einst über ihm nickten, in einer fremden seltsamen Sprache flüsternd; über ihre blühenden Wipfel schaute ernst und düster derselbe hohe Giebel, der einst sie überragt hatte, der Giebel, hinter dem die Schwedenkugeln lagen, hinter dem der Mann im rothen Rocke spuken ging, aus dessen Fenstern sein Großvater nach dem Wetter schaute.
Doch nein, die Zeit war hin; über dem Großvater war längst das Requiem gesungen und es kümmerte ihn nicht mehr, ob ein scharfer Ost durch die Halme über seinem Grabe rieselte, oder ob sie thaubetropft in der Morgensonne eines schönen Tages glänzten. Louise von Meerheim lag begraben in der Gruft einer Dorfkirche am öden Meeresstrande, jetzt taub für die Stürme, die nächtlich über das Meer fahrend einst ihre Seele mit Schrecken und Graus erfüllt, die sie wie eine Blume zerblättert und vernichtet hatten. Die Vergangenheit war dahin, nur die Poesie war geblieben, die in dem Gedanken an die Vergangenheit lag und die, das Glück der Gegenwart weihend, eben dadurch dieses reicher machte, als die Vergangenheit je gewesen.
Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.