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Fanny schwebte als Ziel und als Inbegriff aller Herrlichkeiten Neapel vor und Sorrent. Man war zwar mitten im Sommer, aber in Sorrent, das hatte Fanny in einem Romane gelesen, lebte man im kühlen Schatten von Orangen- und Citronenwäldern und badete täglich in der blauen Flut des Golfs.
Nach Neapel also! Ziehen wir unserm Paare voraus, voraus an das Gestade jenes blauen, sonnigen Golfs, und sehen wir, wie eben ein rascher Dampfer, der von Westen, von der Seite der Insel Ischia her kommt, mit der weithin zurückgeworfenen Rauchschlange hinter sich der Zauberstadt Parthenope zugleitet. Sowie das Schiff näher und näher heranzieht, wie es jetzt über die Rhede daherschießt, nimmt man immer deutlicher wahr, daß es kein irgendeiner Gesellschaft gehörender und zwischen den Häfen des Mittelmeeres den Dienst thuender Dampfer ist – es ist dazu zu schlank und zierlich gebaut, es trägt die zwei leichten, nach rückwärts geneigten Masten und das Takelwerk zu kokett in seinem raschen Gange – es muß irgendeine Privatjacht sein. Darauf deutet auch der langflatternde, ein Wappen entfaltende rothe Wimpel. Jetzt hißt es die Flagge, welche die alten deutschen Reichsfarben, Schwarz-Roth-Gold, zeigt, die Flagge der belgischen Marine – das Schiff muß aus Belgien kommen.
Die Rauchsäule über dem raschen und beweglichen kleinen Dampfer verdichtet sich; die Maschine arbeitet nur noch mit halber Kraft; so fährt die Jacht in den Hafen ein und nähert sich dem weitaus ins Meer sich erstreckenden breiten Molo. Wie ein Pferd, durch die Hand des Reiters gezügelt, hält sie dann einige hundert Ellen von diesem Molo entfernt plötzlich in ihrem Laufe inne, von jedem Seemannsauge am Strande oder auf den vor Anker liegenden Schiffen beobachtet und wegen ihres eleganten Baues und ihrer schnell kräftigen Bewegungen bewundert.
Die Jacht wirft die Anker aus. Nachdem dies geschehen, wird langsam und gemessen eine Schalupe niedergelassen, und dann steigen von der Schiffstreppe vier gleichgekleidete Matrosen nieder, die als Ruderer die Schalupe bemannen; und endlich kommt ein dunkelgekleideter, untersetzter Mann, der ins Boot steigt, sich an das Steuerende niedersetzt und das Steuerruder ergreift – die Ruderer tauchen mit Einem Schlage wie auf ein Commandowort ihre Riemen ein, und die Schalupe schießt dem Molo zu.
Als sie an diesem angelegt hat, verläßt der Mann, augenscheinlich der Kapitän, das Boot. Er schlägt den Weg zu dem nahen Hafencommissariat ein, um sich die Prattica zu holen – die Erlaubniß, mit dem festen Lande verkehren zu dürfen, die erst durch Erledigung einiger Formalitäten erwirkt werden muß.
Die Matrosen in der Schalupe haben unterdes ihre Ruder eingezogen und warten mit untergeschlagenen Armen auf seine Rückkehr.
Auf dem Molo war wenig Leben um diese Stunde. Es war die Siestazeit, und obwol man erst im Anfange Juni stand, so prallte doch die Sonne mit einer so intensiven Kraft auf die Quadern und breiten Steinplatten des mächtigen Baues, daß jetzt nichts zu sehen ist von den Spaziergängern, die in den Morgen- und in den Abendstunden sich darauf einfinden, um die frische Meeresluft zu athmen, und sehr wenig von dem neapolitanischen Volksleben, das sich sonst an dieser Stelle entwickelt und bewegt.
Nur ein großer Mann, von schlanker und hoher Gestalt, mit dunkelm Kopfe und schwarzem Haar, in leichter Sommertracht, schien sich um die Hitze nicht zu kümmern. Er kam von dem Ende des Molo lässig herangewandelt, betrachtete durch ein kleines Perspectiv sehr aufmerksam die Jacht und blieb dann an der Stelle des Hafendammes stehen, neben welcher die harrende Schalupe lag. Mit goldenen Buchstaben stand am hintern Bordrande der Schalupe das Wort »Miranda« zu lesen.
Miranda! Dann sind wir Landsleute, sagte der Fremde zu den Männern im Boote in vlämischer Sprache.
Auf die Matrosen schien diese Mittheilung keinen großen Eindruck zu machen. Sie sahen mit mistrauischen Blicken zu ihm auf; nur einer antwortete:
Ihr sprecht aber nicht wie ein echter Vläme!
Mag sein, ich bin mehr gewohnt, französisch oder auch deutsch zu sprechen. Aber die Miranda erkannte ich schon in der Ferne – ich habe sie im Hafen von Antwerpen gesehen.
Das könnt Ihr schon, erwiderte der Ruderer nicht sehr zuvorkommend – es haben sie viele Leute da gesehen, da und in andern Häfen.
Wen habt Ihr an Bord? fragte der Fremde.
Keine große Gesellschaft – einen einzelnen Herrn, versetzte der Mann im Boote, sich abwendend.
Den Eigenthümer?
Der Matrose schüttelte mit dem Kopfe. Den nicht – der ist eben auf Reisen in Deutschland, sagte er langsam und phlegmatisch und den Fremden wieder mit einem mistrauischen Blicke messend.
Wer ist denn Euer Passagier?
Ihr fragt mehr, als wir selbst wissen, lautete die Antwort, worauf der Seemann sich auf die andere Seite wandte, als ob er entschlossen sei, keine weitere Auskunft zu geben.
Wenn Ihr's glaubt wissen zu müssen, sagte jetzt ein anderer der Matrosen, so fragt den Kapitän – er kommt eben mit den Leuten von der Douane daher.
Wie heißt Euer Kapitän?
Ganz gewiß so, wie er getauft ist! sagte lachend der Matrose, der zuerst gesprochen.
Der Fremde wandte ihm den Rücken.
Diese groben Wassergeusen sind sehr unzugänglich, sagte in französischer Sprache der Fremde, weiterschreitend, für sich – und doch muß ich wissen, wie die Miranda hierher nach Neapel kommt und wer an Bord ist – ich werde abwarten müssen, wer das Schiff verläßt.
Nach einer Weile hatte er den Kapitän erreicht, der ihm in Begleitung von Hafenbeamten auf dem Wege zur Schalupe begegnete. Er blieb einen Augenblick wie unschlüssig vor ihm stehen – dann schritt er weiter.
Der Kapitän hatte einen forschenden Blick auf den Fremden geworfen; weiter gehend sagte er dann, zu einem der Hafenbeamten gewendet: Kennen Sie den Herrn?
Nein – ein Forestiere ohne Zweifel, ein verrückter Anglese, der sich hier den Sonnenbrand holen will.
Ich meine, ich habe das Gesicht schon einmal gesehen, bemerkte der Kapitän, aber an einem ganz andern Platze – doch was thut's! Es ist gewöhnlich nicht viel an den Leuten, die man in gar zu verschiedenen Häfen vor Anker findet!
Der Kapitän sagte dies in französischen Worten, welche für seine Begleiter verloren schienen.
Die drei Männer erreichten die Schalupe, bestiegen sie und wurden der Jacht zugerudert, in deren Innerm sie verschwanden.
Der Fremde setzte seinen Spaziergang auf dem Molo fort. Von Zeit zu Zeit bewaffnete er seinen Blick mit dem Glase, das er in der Hand trug, und spähte nach der Miranda hinüber. So verging etwa eine Viertelstunde; dann nahm er wahr, wie die die Schalupe aufs neue bestiegen wurde, von den Ruderern zuerst und darauf von einem Manne, der weder der Kapitän noch einer der beiden Beamten war.
Die Schalupe stieß ab und steuerte auf den Molo zu; in weniger als fünf Minuten regte sie an diesem an. Der Mann, der auf dem Polster im Hintergrunde geruht hatte, erhob sich, und nachdem er dem Steuermanne einige Worte gesagt, verließ er das Boot und sprang auf den Molo.
Welchen Prinzen haben wir denn da? fragte sich der Fremde, mit scharfen Blicken den Ankömmling musternd.
Er sah in der That so ungefähr wie ein Prinz aus. In seiner Haltung, seiner Bewegung, in dem stolzen Zurückwerfen des Kopfes mit dem reichgelockten dunkelbraunen Haar, in den schönen Zügen des ernsten Gesichts lag etwas sehr Vornehmes, sehr Selbstbewußtes, wenn auch der einfache Anzug, die dunkle kleine Ledertasche, die an einem Riemen über die rechte Schulter hing, und der verknitterte, graue Reisehut andeuteten, daß der junge Mann, der etwa sechsundzwanzig Jahre haben mochte, keinen Anspruch darauf machte, sich durch sein Aeußeres Geltung zu verschaffen.
Er wandte sich dem Kai zu. Sein Beobachter, der etwa in der Mitte zwischen dem Landeplatze der Schalupe und dem Kai gestanden hatte, setzte sich langsam schlendernd nach derselben Richtung in Bewegung. Er war in wenigen Minuten von dem Neuangekommenen überholt, und da er dem letztern in diesem Augenblicke sein Gesicht zuwandte, legte der Passagier der Miranda mit flüchtigem Gruße seine Hand an seinen Hut und sagte in einem wenig fließenden Italienisch:
Muß ich dort auf dem Kai links gehen, um zum Caffè dell' Europa zu kommen?
Sie müssen links gehen, antwortete der Fremde in derselben Sprache und setzte dann in französischer hinzu: Ich gehe denselben Weg und werde Ihnen gern als Wegweiser dienen, wenn Sie nicht zu sehr eilen – denn ich möchte in dieser Hitze meine Schritte nicht zu sehr beeilen, auch einem Landsmanne zu Liebe nicht, den ich in Ihnen voraussetze …
Sie sind sehr gütig, unterbrach der andere in derselben Sprache; ich werde Ihnen um so dankbarer sein, je weniger ich glaube, daß wir Landsleute sind.
Ich bin Belgier.
Und ich Deutscher – Sie werden schon gehört haben, daß Französisch nicht meine Muttersprache ist.
In der That, ich höre das heraus, obwol Sie recht fließend französisch sprechen.
Ich habe in den letzten Wochen ziemlich viel Gelegenheit gehabt, mich zu üben, versetzte der Deutsche – ist das da oben Sant-Elmo?
Es ist Sant-Elmo; dort rechts am Ufer liegt das Castell del Carmine; das Castell links ist das Castell Nuovo; dahinter liegt das Castell del'Uovo und ganz links dort oben ist der Vomero mit seinen Kasernen. Sie sehen, man hat für einige dunkle Schlagschatten in diesem heitern Bilde des Golfs und der goldenen Stadt Parthenope gesorgt.
Dunkle Schlagschatten bilden diese dräuenden Burgen allerdings, besonders für den, der weiß, daß im Castell Nuovo der blutige Karl von Anjou hauste und dort neben dem Castell del Carmine der letzte Hohenstaufe hingerichtet wurde, und dort in den Gewölben der düstern Feste del'Uovo die Witwe und die Kinder des letzten Normannenkönigs Tancred von Lecce schmachteten.
Wie glücklich ist ein Deutscher, versetzte lächelnd der Belgier; er versteht es sofort, jeden Boden mit den Gestalten seiner Romantik zu verschönern, und je trübseliger, je peinlicher, je mehr des Vergessens werth diese Gestalten sind, desto näher stehen sie seinem Herzen; wie glücklich ist man durch solche schwärmerische Interessen! Wir müssen hierher, geradeaus.
Ist das Trübselige darum des Vergessens werth und ist es Schwärmerei, für tragische Schicksale ein warmes Herz zu haben, das sie nacherlebt?
Des Vergessens werth ist so ziemlich alles, was man vergessen kann, aber es ist eine große Kunst, zu vergessen. Und auch der größte Künstler in dieser Kunst pflegt es nicht dahin zu bringen, alles zu vergessen, was er zu vergessen wohl thäte.
Das ist eine etwas seltsame Philosophie im heitern Neapel; ich hoffe eine Stadt zu finden, welche mir viele Eindrücke, manche Stunde, manches Bild, manche Empfindung bringt, die ich nie aus dem Gedächtnisse gelöscht wünschen werde!
Meine Philosophie stammt auch nicht aus Neapel, erwiderte der Belgier, sie datirt aus andern Gegenden – Sie sind zum ersten mal in Neapel?
Zum ersten mal.
Und werden lange verweilen?
Ich bin glücklich genug, Herr meiner Zeit zu sein.
Dann werden Sie zunächst eine Wohnung suchen?
Allerdings – ich beabsichtige das, sobald ich im Caffè dell' Europa gespeist haben werde.
Die Fremden wählen gewöhnlich die Gegend von Santa-Lucia, dort in der Nähe des Castell del'Uovo, zum Aufenthalte. Ich habe ein sehr hübsches Quartier dort gefunden mit der Aussicht auf den Golf, einen großen Theil der Stadt, den Vesuv, den Monte Sant-Angelo – dazu beherrscht mein Balkon die ganze Rhede – die einlaufenden Kriegsschiffe senden mir ihre Salutschüsse gerade ins Fenster hinein. – Jetzt aber müssen wir uns rechts wenden – dort hinaus.
Auch mein Kapitän hat mir empfohlen, auf Santa-Lucia ein Hotel garni zu suchen, antwortete der Deutsche – für diese Nacht aber werde ich noch auf dem Schiffe schlafen.
Man kam in dem Café an, welches an der Ecke des Toledo und des Platzes di San-Francesco e Paolo liegt, an einem der belebtesten und schönsten Plätze der Stadt; der Deutsche fand so viele Gegenstände, welche seine Aufmerksamkeit auf sich zogen, daß er dem Gespräche nur noch sehr zerstreut folgte; der Belgier schien für alle Dinge um ihn her abgeschlossen und unzugänglich; sein Blick lag, so oft es unbemerkt sein konnte, forschend auf seinem Begleiter, und sein bleiches Gesicht mit dem hohen, fahl werdenden Vorderkopfe, den dunkeln Falten zwischen starken, schwarzen Brauen und den zwei tiefen Zügen, die von den Nasenflügeln nach den Mundwinkeln liefen, hatte dabei mehr den Ausdruck einer gewissen Unruhe oder innerer Spannung, als gerade des Wohlwollens für den Mann an seiner Seite.
Im Café nahm der letztere an einem der kleinen Marmortische Platz und gab dem Kellner seinen Auftrag. Der Belgier setzte sich an den zunächststehenden Tisch und bestellte Eis. Er schien abwarten zu wollen, ob der Deutsche die Unterhaltung fortzusetzen Lust zeige oder nicht.
Sie hatten sich eine heiße Stunde zu Ihrem Spaziergange auf dem sonnigen Molo gewählt, sagte dieser, sich die Stirn mit seinem Tuche abtrocknend.
Der andere lächelte. Allerdings, versetzte er; aber ich bin so glücklich, die Hitze und die Kälte ziemlich gleichgültig unbeachtet lassen zu können.
Haben Sie sich so abgehärtet?
Abgehärtet wäre nicht das rechte Wort. Es ist eine Eigenthümlichkeit meiner Natur. Ich verstehe andere Menschen nicht recht, wenn sie über Hitze oder Kälte klagen. Die Aerzte behaupten, es sei eine ganz ausnahmsweise Stärke und Festigkeit meines Nervensystems; ich weiß nur, daß es eine Eigenschaft ist, welche mir hier im Süden sehr zu statten kommt.
Nicht allein im Süden, auch in Augenblicken der Gefahr muß es sehr angenehm sein, keine Nerven zu haben.
Allerdings, wenn Furcht oder Erschrecken Wirkungen der Nerven sind. Das ist nun freilich nicht immer der Fall, und deshalb ist, kein Interesse am Leben zu haben, wol ein besseres Mittel, ruhig der Gefahr zu begegnen, als keine Nerven zu haben, wie Sie es ausdrücken.
Der Belgier sagte das in einem eigenthümlichen Tone von Abspannung und Niedergeschlagenheit. Der Deutsche warf einen fragenden Blick auf ihn; dann sagte er:
Sie sprachen das beinahe, als sollte sich das Sprichwort: » Vedi Napoli è puoi mori«, an Ihnen bewähren, als wollten Sie sagen: ich habe das erstere gethan und kann jetzt zum zweiten übergehen. Aber mir scheint das Sprichwort sehr falsch; es hieße nach dem Eindrucke, den ich bisjetzt erhalten, besser: »Siehe Neapel und gewinne das Leben lieb.« Das Rundgemälde, welches meine Blicke in sich sogen, als meine Jacht in den Golf einlief, müßte einen Anachoreten berauschen!
Der Belgier antwortete nicht. Er nahm das Eis, welches der Kellner ihm brachte, und begann es zu schlürfen. Vor dem Deutschen wurde das bestellte Mahl aufgetragen, und während dieser mit gutem Appetit zulangte, sagte er für sich hin:
Der Mann ist entweder ein Dichter, dessen Trauerspiel man daheim ausgepfiffen hat, oder ein Verliebter, dessen Geliebte sich mit einem andern verheirathet; interessant ist diese Persönlichkeit unter allen Umständen, ich möchte mehr von ihm erfahren!
Kennen Sie Sicilien? fragte er nach einer Pause.
Nein; ich werde es auch wol nicht berühren; ich werde, wenn ich ein Geschäft in der Heimat abgemacht habe, wohin ich zurück will, wieder hierher kommen und dann weiter südwärts ziehen.
Auch ich habe diesen Plan; ich beabsichtige ebenfalls, den Orient zu besuchen.
Ich gedenke nicht, in den Orient zu reisen, versetzte der Belgier wenigstens nicht nach Syrien und Aegypten, was man gewöhnlich darunter versteht, sondern nach einem andern Punkte.
Constantinopel?
Nein – zum Berge Athos.
Zum Berge Athos? fragte der Deutsche. Was ist das, der Berg Athos? wiederholte er seine Frage, da der Belgier ihm keine Antwort gab, sondern schweigend sein Eis weiter schlürfte.
Dieser sagte jetzt: Das wissen Sie nicht?
Ich muß beschämt meine Unwissenheit gestehen. Ich habe den Namen allerdings gehört, mehrfach gehört oder gelesen; aber ich weiß in diesem Augenblicke wirklich nicht, welche Vorstellungen ich damit verbinden muß.
Der Berg Athos ist ein Vorgebirge, ein Halbeiland im Aegäischen Meere, das durch eine schmale und niedere Erdzunge mit dem festen Lande, mit Macedonien, zu dem es gehört, verbunden ist. Dieses zwanzig Stunden lange und etwa fünf Stunden breite Gebirge ist eine Welt für sich; es trägt nur Klöster, Kapellen, Einsiedeleien; es ist nur von Mönchen oder Einsiedlern bewohnt; es ist der Walddom der morgenländischen Christenheit, der heilige Mittelpunkt des anatolischen Glaubenslebens, der Vatican des Orients, wenn Sie wollen.
Jetzt entsinne ich mich, sagte der Deutsche, mit der Hand über die Stirn fahrend. Es ist so etwas wie eine Republik, deren Bürger nur Mönche sind.
Man könnte es so nennen, wenn der kleine Freistaat mit seinen sechstausend Bewohnern, wovon weitaus die meisten Weltüberwinder und lebenssatte Söhne des heiligen Basilius sind, nicht unter der Gewalt des ökumenischen Patriarchen stände. Die Hohe Pforte macht wenig Rechte über ihn geltend, wenn sie ihren jährlichen Tribut richtig erhält.
Sie wollen doch nicht etwa auch in die Reihe der Weltüberwinder eintreten? fragte der Deutsche.
Der andere zuckte die Achseln. Ich habe mir wenigstens den Berg Athos darauf angesehen und beabsichtige, zu ihm zurückzukehren.
Der Kellner trat an den Belgier heran, um die geleerte Eisschale fortzunehmen, der letztere bezahlte und erhob sich, als wenn er gehen wolle.
Es thut mir leid, daß Sie gehen, bemerkte der Deutsche – ich würde sonst Ihre große Güte noch einmal in Anspruch genommen haben – dahin, mir den Weg nach Santa-Lucia zu zeigen. Können Sie mir die Richtung, die ich von hier einzuschlagen habe, ein wenig andeuten, so würde ich Ihnen sehr dankbar sein – ich brauchte mich dann nicht in eine italienische Unterhaltung darüber mit diesem Kellner zu stürzen.
Der Belgier setzte sich wieder, indem er sagte:
Ich werde ein wenig warten, bis Sie Ihr Diner beendigt haben, und Sie dann bitten, mir zu folgen. Ich gehe in meine Wohnung auf Santa-Lucia.
Das ist zu viel Güte, mehr, als ich annehmen kann!
Es treibt mich nichts. Ich bin Ihnen im Gegentheil verbunden, wenn Sie mir ein Stück meiner überflüssigen Zeit abnehmen.
Und doch verbinden Sie mich. Darf ich Ihnen meine Karte überreichen?
Der Deutsche zog sein Taschenbuch hervor und nahm eine Karte heraus, die er dem Athospilger übergab.
Dieser nahm sie und warf einen anscheinend sehr gleichgültigen Blick darauf. Er las die Worte: Dankmar von Gohr.
Dann übergab er die seinige, auf welcher der Name: Le Baron Jauffroi de Montenglaut, geschrieben stand.
Ich darf voraussetzen, warf er dann wie halb zerstreut hin, daß Sie in einer geschäftlichen Verbindung mit dem Eigenthümer der Nacht stehen, auf welcher Sie die Reise machten?
Kennen Sie den Eigenthümer dieser Jacht?
Ein wenig, erwiderte der Baron Montenglaut. Ich las den Namen der Jacht am Bord Ihrer Schalupe und erkannte das Schiff auch wieder, welches ich im Hafen von Antwerpen sah.
Da Dankmar von Gohr keine weitere Auskunft gab, setzte der Baron wie forschend hinzu:
Ich verstehe … eine diplomatische Mission?
Dankmar antwortete nicht, er erhob sich und zahlte dem herbeieilenden Kellner seine Zeche. Dann gingen beide. Das Gesicht des Barons und die Blicke, welche er im Gehen von Zeit zu Zeit seitwärts auf seinen Begleiter warf, hatten sich nicht sehr erheitert.
Dankmar war in der ihm neuen Stadt zu viel mit dem beschäftigt, was sich seinen Augen darbot, außerdem war der Straßenlärm und das Gedränge um ihn her zu groß, als daß es möglich gewesen wäre, die Unterhaltung fortzusetzen. Auf dem Kai von Santa-Lucia angekommen, blieb der Baron Montenglaut vor einem großen Hause mit mehrern Balkonen daran stehen und sagte:
Mein Quartier ist in diesem Hause. Es stehen mehrere Wohnungen darin leer, fast das ganze Haus, wie natürlich um diese Zeit, wo Neapel leer von Fremden ist. Wenn Sie die Wohnungen sich ansehen wollen, so bin ich gern bereit, mein Führeramt bis an die Thür der Donna Teresa, der Padrona, fortzusetzen.
Wenn die Wohnungen in diesem Hause nicht zu theuer sind …, warf Dankmar ein.
Die Wohnungen sind bescheiden eingerichtet und um diese Zeit auch sehr wohlfeil – also kommen Sie.
Der Baron schritt voran durch das Einfahrtsthor des Hauses und eine Treppe hinan, dann viele, sehr viele Stufen hinauf, bis man im dritten Stocke an die Wohnung der Padrona gelangte. Als der Baron die Klingel gezogen, erschien Donna Teresa selbst in einem sehr leichten Hauscostüme auf der Schwelle; es war ein kleines, sehr rasch sich bewegendes und sehr rasch sprechendes Mütterchen, welches im Augenblicke die Schlüssel herbeigeholt hatte und dann vor den beiden Herren die Treppe in ihren ausgetretenen Pantoffeln hinabklapperte, um im zweiten Stocke eine Thür zu erschließen, welche in eine bescheiden eingerichtete Garçonwohnung führte – mit Möbeln von erblichener Politur, mit einem Sofa und einem Fauteuil unter verblichenem Ueberzuge und mit den obligaten Porzellanvasen und künstlichen Blumen unter Glasstürzen auf dem marmornen Kaminsims. Das Schlafzimmer stand in Harmonie mit dieser Ausstattung des »Salons«, wie Donna Teresa sich ausdrückte.
Der Preis war billig, und Dankmar nahm die Zimmer, schon der wundervollen Aussicht wegen, die sie auf den Golf boten. Als man handelseins geworden und Donna Teresa versprochen, gleich am nächsten Morgen die Fenstervorhänge aufhängen zu lassen, ging der Baron hinaus und öffnete, nachdem Dankmar ihm gefolgt war, draußen auf dem Corridor die nächste Thür.
Hier ist meine Wohnung, sagte er – ich bitte Sie, einzutreten!
Dankmar folgte der Einladung, während sich Donna Teresa in ihre obern Gemächer zurückzog. Die Wohnung des Barons war ungefähr wie die eben in Augenschein genommene; nur sah sie durch ausgepacktes Reisegeräth, Bücher und Papiere, welche auf dem Tische lagen, gemüthlicher aus – das Reisegeräth des Barons war höchst elegant und sogar luxuriös. Dankmar's Auge fiel auf ein auf einem Spiegeltische stehendes geöffnetes Reisenecessaire von solcher Vollendung der Arbeit und so reicher Ausstattung, daß es ein wahres Prunkstück war – auch der auf dem Tische liegende Dolch mit dem kostbaren ciselirten Griffe fiel Dankmar auf. In seiner äußern Erscheinung, seiner Kleidung zeigte der Baron durchaus keinen Luxus; er war im Gegentheil nachlässig gekleidet und sein schwarzes Haar, durch das er oft mit der Hand fuhr, hing wild und wirr um den Kopf.
Der Baron bat Dankmar, in dem Lehnsessel Platz zu nehmen, welcher vor der geöffneten Balkonthür stand; er selbst schob sich einen andern daneben, und nachdem er seinem Gaste eine Cigarre angeboten und sich selbst eine genommen, streckte er sich in dem Sessel aus und sagte, auf den Golf hinausblickend:
Mit unserer Aussicht können wir zufrieden sein.
Es ist wahr, versetzte Dankmar. Ich fühle in diesem Augenblicke, daß wir nur ein klein wenig mehr Philosophie zu besitzen brauchten, um Stunden im Leben zu finden, welche uns ein vollkommenes Glück gäben. Wessen bedarf der Mensch eigentlich mehr, als so behaglich ausgestreckt den Dampf einer guten Havanna zu saugen, gesund zu sein und dabei hinauszublicken auf die zaubervolle Herrlichkeit der Bucht von Neapel – hier alle die malerischen, an Erinnerungen reichen Punkte der Stadt, dort das Meer, drüben die reizenden Inseln, jenseits der Vesuv, Portici, Sorrent und das Gebirge – und über alles ausgebreitet die unvergleichliche Pracht der Farben – sollte man sein Schicksal nicht durch alle Mittel so zu gestalten suchen, daß man ewig hier bleiben könnte?
Der Baron antwortete nicht; er blickte ziemlich finster auf das schöne Panorama hinaus.
Kann der Berg Athos schöner sein? fuhr Dankmar fort.
Der Berg Athos ist sehr schön, versetzte leise und halb wie zerstreut redend der Baron. Er hat eine südliche, eine fast tropisch üppige Vegetation von unendlichem Reichthume. Von dieser mächtigen Waldvegetation beschattet, liegen an den schönsten Punkten die Klöster oder die Einsiedeleien der Anachoreten oder die Zellen der Kellioten, wie die am strengsten sich abschließenden Klausner genannt werden; sie liegen im immergrünen Dickicht, in den Einsenkungen des Laubwaldes, an den Wasserfällen quellenreicher Schluchten, auf Vorsprüngen des Gebirges, von Weinreben umrankt, den Blick auf das blaue Jonische Meer bietend …
Ihre Phantasie, fiel Dankmar ein, mag ihnen das sehr verlockend ausmalen – die meine stößt sich an der Staffage des Bildes – diese Tausende von Mönchen …
Jeder Wald hat seine Thiere, antwortete trübe lächelnd der Baron – auch der immergrüne Buschwald des Hagion Oros – und ich meine, diese sind harmlos und gutmüthig. Ziehen Sie das Gethier, das da unter uns auf dem Kai, auf dem Fischmarkte da links vor uns tobt, schreit, Maccaroni verschlingt, sich balgt und sich Messerstiche versetzt, vor?
Sie haben recht; aber …
Es war, fuhr der Baron Jauffroi fort, ursprünglich nur ein Zufall, der mich die Entdeckung dieser früher mir ganz fremden Welt machen ließ. Ich wollte reisen, in den Orient meinethalb, es war mir gleichgültig, wohin. Da erhielt ich einen Auftrag an einen der Bewohner jener Klöster, der, für die übrige Welt gestorben, in voller Abgeschiedenheit dort seine Tage zubrachte.
Als griechischer Mönch? fragte Dankmar.
Nicht das. Es kann jeder sich in eine dieser Klöster aufnehmen lassen. Man zahlt eine geringe Summe, ein paar tausend Francs, ein einziges mal ein, und dafür gewährt Ihnen das Kloster für Ihre ganze Lebenszeit eine Zelle, seine frugale Kost, seinen süßen, feurigen Wein, ein Maulthier, um das immergrüne Paradies des heiligen Berges zu durchschweifen, – und daneben den ewigen Frieden des geretteten Weltüberwinders!
Den mußten Sie doch in der eigenen Seele mit sich in dieses Mönchsparadies bringen, um ihn da zu finden!
Auch der Wille, auch die Uebung in der Selbstbeherrschung kann ihn erreichen, und in solcher Umgebung eher.
Und hat jener Weltüberwinder, zu dem Ihr Auftrag Sie führte, ihn dort gefunden?
Ich glaube es. Er würde sonst nicht viele, viele lange Jahre dort geblieben sein, da ihm die Rückkehr an jedem Tage freistand. Uebrigens fand ich ihn nicht mehr unter den Lebenden.
Und doch zweifle ich, daß Sie an Ort und Stelle so lange aushalten würden!
Weshalb nicht? Schon die Eine Rücksicht würde mich dort halten können, daß man so aller Arbeit für die Existenz überhoben ist. Die Existenz scheint mir nicht werth zu sein, daß man irgend Arbeit und Mühe für die Fortsetzung derselben aufwendet, seine Lebenskraft als Betriebskapital in dieses schlechte Geschäft steckt. Doch von solchen Dingen darf man mit einem so jungen Manne wie Ihnen nicht reden. Sie verstehen das nicht. Wenn man glücklich ist …
Halten Sie mich für so glücklich? unterbrach ihn Dankmar.
Nun, ich meine doch, entgegnete der Baron mit einem forschenden Blicke in Dankmar's Züge. Sie stehen ganz in jenem Stadium des Lebens, wo das Gefühl des Lebens allein schon Genuß gewährt. Sie genießen dieses Leben aber in der That, Sie fahren auf der schönen, mit allem Luxus ausgestatteten Miranda da unten auf dem Mittelländischen Meere umher, Herr Ihrer Zeit, Ihrer Entschlüsse – die blaue Meerflut trägt Sie zu den bezauberndsten Punkten, welche die Welt bietet – nennen Sie das nicht Glück?
Genügt das in der That, sich glücklich zu fühlen?
Sie sprechen das mit einem Tone, fuhr der Baron fort, der bei einem so jungen Manne in Ihrer Lage lächeln macht.
Und doch haben Sie unrecht, darüber zu lächeln. Auch ich kenne den Schmerz und habe einen Blick in die dunkeln Seiten des Lebens geworfen, obwol mich dies nicht hat am Leben verzweifeln lassen oder gar zu dem Entschlusse geführt, Anachoret, auf dem Berge Athos zu werden. Aber nun, schloß Dankmar aufstehend, treibt mich die Ungeduld, etwas mehr von Neapel zu sehen, von dieser schönen Stelle fort. Ich denke, den berühmten Toledo aufzusuchen. Also auf Wiedersehen – ich hoffe, wir halten gute Nachbarschaft!
Ich wünsche nichts lebhafter, sagte der Baron, sich ebenfalls erhebend, und dann deutete er Dankmar den Weg an, welchen er zu nehmen habe, um den nahen Toledo zu erreichen.
Dankmar entfernte sich. Anfangs waren seine Gedanken lebhaft mit dem neugewonnenen Bekannten beschäftigt, dessen seltsamer Charakter einen im ganzen anziehenden Eindruck auf ihn gemacht hatte, obwol er sich sagen mußte, daß die düstere Lebensanschauung des Mannes und sein wunderlicher Entschluß mit versteckten Leidenschaften oder einer Vergangenheit in Zusammenhang stehen könne, deren Enthüllung ihn vielleicht als aller Sympathie unwerth erscheinen lassen würde. War es nicht möglich, daß Baron Montenglaut nichts war als ein ruinirter Spieler, daß sein so philosophisch scheinendes Vorhaben auf weiter nichts hinauslief, als mit dem Reste einer vergeudeten Habe ein Unterkommen zu suchen, wobei er ehrlicher Arbeit und aller Anstrengung überhoben war? Der Mann sah in der That wol so aus. Vielleicht war es sogar nöthig, sich vor ihm in Acht zu nehmen – er hatte zuweilen etwas so kalt Forschendes in seinen Fragen, seinen Blicken gehabt!
Aber Dankmar konnte diesen Gedanken nicht lange folgen – in dem lärmenden Volksgewühle, in den Hunderten von verschiedenen Eindrücken, welche auf ihn eindrangen, lag etwas alle Sinne Gefangennehmendes. Er schlenderte anfangs bis zum Caffè dell' Europa den Weg, den er gekommen, zurück und stieg dann die meilenlange, menschendurchwogte Toledostraße hinauf; überall gab es Gruppen, Gestalten, Erscheinungen und Dinge, welche seine Schritte fesselten; so wurde es Dämmerung, als er ans Ende der Straße gelangte und sich wendend sie wieder herunterzuschreiten begann.
Die Nacht tritt schnell ein im Süden; als Dankmar die Mitte des Toledo erreicht hatte, war es dunkel. Die Sterne waren am klaren, tiefen Nachthimmel hervorgetreten. Er beeilte seinen Schritt, bis ihn plötzlich ein ganz eigenthümliches Schauspiel wie an den Boden geheftet stehen bleiben ließ. Er war da angekommen, wo die breite Querstraße Santa-Brigida auf den Toledo mündet; diese Straße hinunterblickend, sah er staunend eine furchtbare Flammenlohe am Himmel emporschießen und drüber eine dicke Qualmwolke durcheinanderwirbeln. Von dem Punkte, von welchem aus die Flammenlohe emporgeschleudert wurde, gingen zugleich drei Flammenströme wie feurige Bänder aus, die über die Seiten eines hohen Bergkegels hinabgeworfen waren. Die erste Flammenlohe war bald erloschen; wenige Augenblicke, während derer nur die drei Ströme feuriger Lava die Bergumrisse erhellten, folgten; dann schnaubte der Vulkan eine neue Lohe empor, eine Qualm- und Aschenwolke darüber.
Es war ein ganz unbeschreibliches Schauspiel. Dankmar hatte bei der Einfahrt in den Golf heute oft genug sein Auge auf den schönen Linien des Vesuv und des Somma haften lassen, er hatte die Rauchwolken über dem Krater wahrgenommen – aber die dunkelnde Nacht machte ihm jetzt ein Bild sichtbar, dessen unbeschreibliche Großartigkeit und traumhafte Eigenthümlichkeit einen Eindruck auf ihn hervorbrachte, wie er ihn nie in seinem Leben empfunden.
Er stand und stand und konnte sich von dem Flecke nicht trennen, der ihm dieses Schauspiel bot. Er hätte aufjubeln mögen darüber; und dann kam ein Gefühl unsaglichen Schmerzes über ihn, der Schmerz des Alleinseins. Weshalb stand er verlassen und allein einem solchen Bilde gegenüber, weshalb war niemand, den er liebte, weshalb war sie nicht bei ihm?
Er hatte dieses selbe Gefühl immer in sich getragen, seit er, frei wie eine Möve des Meeres, die blaue Salzflut nach allen Richtungen hin durchkreuzt, wohin ihn sein Gelüst führte; er hatte heute es verdoppelt empfunden, während vor dem rauschenden Kiele seines Schiffes näher und näher das große Panorama von Neapel emporstieg, die Herrlichkeit Parthenopes sich immer entzückender enthüllte; und jetzt stürmte jenes Gefühl mit einer Macht auf ihn ein, daß es zu einer halben Verzweiflung wurde! –
Eine Viertelstunde später war er auf dem Molo und fand an der Stelle, wo er gelandet war, die Schalupe der Miranda pünktlich seiner harrend. Nachdem er sie bestiegen, brachten ihn die kraftgeschnellten Ruderschläge der vier Matrosen rasch an Bord.
Auch hier hatte er dasselbe Schauspiel, welches ihn vorher gefesselt; dazu noch das Schauspiel des dunkeln Seespiegels, der zahlreichen Schiffe, der weit ausgespannten Stadt und ihrer Höhen und Castelle, alles im Schleier der hellen Nacht des Südens. Er ging wie in Traum befangen auf dem Verdecke auf und ab.
War sein Leben überhaupt nicht wie ein Traum? Ein armer Flüchtling, war er von daheim weggewandert, von der Strafe des Gesetzes, von Gericht, Schmach und Kerker bedroht; und diese Flucht hatte ihn nach kurzer Fahrt in die Nähe des Meeres, in die volkerfüllte Hafenstadt gebracht, wo er in müder Haft das Fahrzeug ausgekundschaftet, das ihm ein Asyl gewähren sollte. Erwartungsvoll, besorgt, welche Aufnahme er finden werde, beklommen, war er den Führer dieses Fahrzeugs angegangen, seinen Brief in der Hand … und dieser Mann, der einsilbige Seefahrer, hatte sich vor ihm verbeugt, als empfange er einen Fürsten, und hatte ihn durch sein ganzes kleines Reich, die Räume dieses bewundernswürdig gebauten Schiffes geführt, das unterdeß seine Ketten gelöst und seine Maschinen gehoben, und rauschend hinausgeschossen war aus den Kanal- und Stromengen in die freie hochwogende See!
Und seitdem herrschte er in diesem kleinen Reiche für sich, das ihn wie ein Zauber gefangen genommen, das ihn, noch ehe er zur Besinnung gekommen, davongeführt, und wo alles ihn jetzt wie seinen Herrn und Gebieter zu betrachten schien; wo man nach seinen Befehlen wie denen des Herrn fragte, wo man nach seinem Winke die Anker lichtete und auswarf, den Kiel richtete, nach welchem Punkte des Horizonts er wünschte. Wie schüchtern und unsicher hatte er anfangs diese Wünsche ausgesprochen, wie bald sich daran gewöhnt, daß diese Wünsche Gesetz waren in dem kleinen Reiche, das ihm seinen Gehorsam entgegentrug und geradezu aufdrängte!
Und so war er in den Süden gekommen, hatte die Säulen des Hercules umschifft, die Küsten Spaniens gesehen, die Hafenstädte Italiens besucht, und heute hatte ihn die rasche, behende Schöne, dieses gute Schiff Miranda dem glänzendsten Punkte, dem leuchtendsten Kleinode Ausoniens zugetragen – sie hatte ihren Anker ausgeworfen im Hafen von Neapel, und da lag sie nun, mit erloschenem Feuer, mit schweigender Maschine, ruhig der Stunde harrend, wo es ihm gefallen würde, durch einen Wink dieses Feuer wieder aufflammen, diese Maschine mit Riesenkraft sich in Thätigkeit setzen und die Schaufelräder wieder in die Wogen greifen zu lassen, um ihn andern Gestaden zuzuführen.
Ja, es war in der That ein Traum – ein Traum, in den ein armes, einsam stehendes junges Mädchen ihn versenkt hatte, wie durch Zauber- und Wunderkraft. Und war nicht auch das ein wunderbarer Zauber, was ihn diesem Mädchen gegenüber vom ersten Augenblicke an erfaßt hatte, was ihn seitdem nicht mehr losgelassen, diese tiefe, halb selige, halb unselige Bestrickung seiner Seele, dieses stete, ewige Gebanntsein an den Einen Gedanken, an dieses Eine Bild, das nie mehr vor seinem innern Auge verschwand, das über all den hundert Bildern von wechselnder Schönheit, die er seitdem in sich aufgenommen, schwebte, und diesen ihre Farbe, ihr Reden, ihre Wirkungsfähigkeit auf sein Herz nahm?
War es nicht ein Zauber, dieses ewige, schmerzliche Gefühl der Leere inmitten der Menschenfülle, dieses Sehnen nach einer Heimat, die nicht die Heimat war, sondern der Erdfleck, wo Sie athmete, diese Empfindung von der gründlichen Werthlosigkeit jedes Genusses, jeder Erregung des Gemüths, jedes Ergriffenseins, das Sie nicht theilte – war nicht das alles Zauber?
Und wo war die Zauberin? Oder besser, was war sie, woher kam ihre Macht, weshalb hüllte sie sich in Geheimnisse, in Geheimnisse auch vor ihm? Weshalb hatte sie ihm, dessen Neigung sie so stolz zurückgewiesen, nicht wenigstens enthüllt, wer sie sei, weshalb wußte er so gar nicht, aus welchem Grunde er hoffnungslos sein müsse; ob deshalb, weil er ihr Herz nicht gewonnen, oder deshalb, weil Verhältnisse, die er gar nicht ahnen konnte, ewig trennend zwischen ihr und ihm standen? Sein Hirn zermarterte sich mit diesen Fragen. Er lag förmlich auf der Folter auf all den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, in welche seine Gedanken sich eingewühlt hatten.
Und – es war empörend – auch seine Schwester that nichts, um ihn dieser Folter zu entziehen. Er hatte ihr einen langen Brief geschrieben und ihr das Zauberreich geschildert, in das seine Flucht ihn geführt. Er hatte ihr geschildert, wie er ungehindert die Niederlande erreicht, wie er im Hafen von Rotterdam den stattlichen Dampfer gefunden, und wie er sich dann im Gedanken an das, was er Fräulein Morell zugesagt, darein ergeben, so unumschränkt über fremdes Eigenthum zu gebieten. Und wie er nun die Welt durchschweife, frei und ungebunden wie ein Junker Harold, nur ruheloser und bewegter noch wie Junker Harold – wenn auch so hoffnungslos wie er; und stürmisch hatte er dann von Hermine einen Brief verlangt und alle Auskunft darin, die sie geben konnte über Anna Morell, über das Schicksal des von ihm verwundeten Menschen, über alles …
Er hatte auch eine Antwort von Hermine erhalten. Sie hatte ihn beruhigt über Baron Beltram's Verwundung; der junge Mensch sei bald wieder so weit hergestellt worden, daß Prinz Günther, der die Gastlichkeit des Hauses Edern selbst nicht länger in Anspruch nehmen können, ihn zu den Barmherzigen Schwestern in der nächsten Stadt fortschaffen lassen und ihn ausgeschlossen habe aus seinem frommen Institut. Anna Morell aber sei zu ihr nach Gohr herübergezogen; sie habe eine Freundin, eine Schwester in ihr gefunden – wie sie hoffe auf Lebenszeit – sie sei unendlich glücklich dadurch; Anna habe auch keine Geheimnisse vor ihr, aber sie, Hermine, dürfe den Schleier dieser Geheimnisse nicht lüften, sie müsse darin dem Willen ihrer Freundin gehorchen, so schwer es ihr werde; auch müsse sie sich schon deshalb darein ergeben, weil es ganz unmöglich sei, in einem Briefe auseinanderzusetzen, weshalb ihre Freundin sich in ein Geheimniß hülle, das einer so ausführlichen und vollständigen Erklärung bedürfen würde, um Anna nicht in einem falschen und verkehrten Lichte erscheinen zu lassen.
Und dann schrieb Hermine von Gundobald Burghaus und von Zander's Mittheilungen über ein merkwürdiges Testament Nesselbrooks, das untergegangen sei, und dem merkwürdigen Rechtsstreit, in den Gundobald mit den Ederns gerathen, und von der Wandlung, die seitdem in seinem Wesen vorgegangen, von dem männlichen Ernste, der über ihn zu kommen begonnen, seitdem er seine Kraft in Anspruch genommen gesehen für ein ernstes Ziel und ein würdiges Interesse. Hermine verweilte dabei mit sichtbarer Genugthuung und war sehr ausführlich über Gundobald; das Interesse für ihn blickte aus jeder Zeile hervor. Sie schien dies ihrem Bruder auch gar nicht verhehlen zu wollen; sie gestand es in einer Weise ein, die hinreichend andeutete, welche Wendung das Verhältniß Herminens zu Gundobald genommen hatte. Dankmar war innig darüber erfreut.
Am Schlusse forderte Hermine den Bruder auf, sein Reiseleben noch für einige Zeit fortzusetzen; es sei das Anna's Wunsch wie der ihre; nicht deshalb, weil Anna sie verlassen müsse, sobald Dankmar heimkehre, sondern um Dankmar's willen. Auch würde seine zu frühe Rückkehr in bedenklicher Weise den Gedanken an seine That auffrischen, und wenn ihn auch gerichtliche Verfolgung nicht mehr zu bedrohen scheine, so sei es doch Anna's lebhaftester Wunsch, daß er noch fern bleibe und jenen Gedanken in den Gemüthern der Menschen erst mehr erlöschen lasse. –
Diesen Brief hatte Dankmar in Genua vorgefunden. So viel Beruhigendes für ihn darin lag, so viel Erfreuendes sogar – an Hoffnung, an Trost für das Verlangen seines Herzens war er arm; nur das, daß Anna seiner Schwester Freundin geworden, warf einen hellen Lichtstrahl in seine Seele. Aber zugleich schien ihm auch, daß die beiden Frauen etwas wie ein Bündniß wider ihn geschlossen, um ihn fern und im Dunkeln zu halten.
Und im Dunkeln hielt ihn ja auch, wenn er ihn ausforschen wollte, der wortkarge und stille Kapitän seines Schiffes. Herr Schmieder gab ihm alle Auskunft, die er verlangte; über die Fahrt, über Wetter und Wind, über jedes Schiffsmanöver, er sprach mit ihm über die Hafenplätze, die sie anliefen, schien in allen bekannt, wußte in allen Weg und Steg anzugeben; aber er vermittelte nie die Bekanntschaft seines Passagiers mit irgendeinem Menschen in diesen Hafenstädten, und auf directe Fragen gab er keine andere Antwort, als daß seine Jacht das Eigenthum des Barons Chevaudun sei, der die Miranda in Amerika habe bauen lassen und zu seinem Vergnügen halte; daß er den Befehl, sie Dankmar zur Disposition zu stellen, vom Eigenthümer erhalten, und daß er ein Fräulein Morell gar nicht kenne, auch nicht denken könne, wer diese Gouvernante Anna Morell sei. Der Brief, den Dankmar ihm überbracht, sei ein Brief des Barons Chevaudun gewesen; wie er in die Hände des genannten Fräuleins gekommen, darüber wollte Kapitän Schmieder sich gar keine Vorstellung machen können.