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Schwere, plumpe, alltäglich aneinander gereihte Häuser, hellgrün, rosa oder auch gelb angestrichen, armselige Kramläden, in welchen Legionen von alten Stiefeln und Schuhen, dazu alte Hosen, alte Hüte, alte Haare und unter Umständen alte Knochen zum Verkaufe ausgeboten werden, unappetitliche Winkelschlächtereien, in denen das Fleisch nicht frisch, Hökerladen, in denen das Gemüse welk ist, dazwischen eng verschlossene, unheimlich stille Baracken mit verschmitzten Hehlermienen, hier und da ein zufällig ge [4]öffneter Thorweg, durch den man in ein rembrandtdüsteres Schattenlabyrinth blickt, dazu eine rachytische, schachernde, schnarrende, theils jüdische, theils christliche Bevölkerung, eine Atmosphäre von Knoblauch, schlechtem Fett und ungesunder Ausdünstung, im ganzen Aussehen die cynische Lässigkeit eines Viertels, in dem die Allgemeinheit des Elends einen Jeden davon befreit, sich seines speziellen Elends zu schämen und es zu verstecken, etwas, das an die finstere Verdrossenheit des Trastevere in Rom und zugleich an den zudringlichen Straßenschacher des mercato vecchio in Florenz erinnert: das ist die Judenstadt zu Prag, nun freilich schon seit geraumer Zeit durch die moderne Humanität in »Josefstadt« umgetauft!
In diese theils nüchterne, theils ekelhafte [5] Umgebung träumt der berühmte Judenfriedhof hinein, ernst und schauerlich wie eine alte Legende, die sich in den Roman eines modernen Realisten verirrt hätte.
Zwischen der schwermüthig murmelnden Moldau und einem Hospital, das ein edler Jude für Kranke ohne Unterschied der Konfession hat erbauen lassen, von einer plumpen Synagoge und schnödem Winkelwerk umschlossen, liegt er da, eine kühle, grüne Friedensstätte inmitten des kränklich fiebernden Ghetto-Lebens!
Mooszerfressen, zeitverdorben, eng aneinander gedrückt, ragen die Grabsteine aus dem smaragdfarbenen Rasen empor, unter welchem zahllose Generationen ihres letzten Schlafes genießen.
[6] Wilde Stachelbeerbüsche beugen sich mit liebkosender Schwermuth über die alten Denkmäler, und schwarzstämmige Hollunderbäume spannen darüber ihr anmuthiges Geäst. Andere liegen sturmgeknickt und von ordnender Hand unberührt am Boden. – Es heißt, die Hollunderbäume seien hierher verpflanzt worden eines hygienischen Prinzips halber, um die Ausdünstung der Gräber an sich zu ziehen und durch den Geruch ihrer Blüthen im schwülen Junimonat die Miasmen zu bannen, welche, wahrscheinlich seiner großen Ueberfüllung wegen, ehedem schädlich dem Todtenacker entschwebten. Sieben Schichten hoch ruhen die Todten hier über einander, sintemalen nach jüdischem Gesetze keine Menschengebeine ausgegraben werden dürfen, [7] sondern der Erde bleiben muß, was ihr einmal anvertraut worden. Wer dem entgegen handelt, der beschwört den Zorn Jehovas herab, und auch von irdischen Richtern wird seine Schuld als Schändung der Religion furchtbar geahndet.
Blumen sucht man auf dem Judenkirchhofe vergebens, auch kein kleinlicher Zierath entweiht den starren Ernst der Stätte, und immer seltener werden sogar die Steinchen, welche die Pietät frommer Juden auf die historisch berühmten Denkmäler legt. Man sieht, daß der Schmerz der Lebenden den Frieden dieser verschollenen Gräber nicht mehr stört, daß dies ein Todtenacker ist, der mit der Welt abgeschlossen hat.
Nur ein Grab giebt es hier, an dem der [8] Führer den Fremden heute noch nicht ohne Grauen vorüber geleitet, und das ist das Grab des Lippmann Beck, der hier als einer der letzten beerdigt ward im Jahre 1784.
Dem Todtenacker der Kinder steht das Grab gegenüber, durch einen schmalen, spitzgiebligen Leichenstein bezeichnet, zwischen zwei uralten Denkmälern von zeitverdorbener Ehrwürdigkeit. Ein gebrochener Hollunderbaum liegt daneben, dumpfe, unheimliche Traurigkeit umschwebt den Ort, denn eine gar schreckliche Begebenheit hängt mit dem Grabe zusammen – so todesgrausig, mit ekelster Fäulniß und poetischem Reiz vermischt, daß die Einbildungskraft sich sträubt den Spuren der Wahrheit zu folgen. Nur einen Augenblick lüften wir den Schleier, dann aber decken wir [9] ihn eilig über die Vergangenheit, wenden wir uns ab und suchen zu vergessen die Geschichte der Esther Blümele!
* * *
Wie war sie so schön, die Esther Blümele! Ihre goldenen Haare und blauen Augen wurden von der ganzen schwarzlockigen und schwarzäugigen Bevölkerung der Judenstadt gerühmt, und viele vornehme Leute aus den christlichen Vierteln kamen sogar in den Ghetto, das schöne Judenmädchen zu schauen. Und immer in Sammt und Atlas und goldstrotzenden Brokat gekleidet, ging sie einher und war gehalten wie eine Prinzessin. In ihrer Wohnung konnte man zu End des vorigen Jahrhunderts – damals eh' noch Lippmann Beck [10] begraben worden – manch kostbaren Tand bewundern; es blinkte in dem kleinen Zimmer von florentinischem Goldgeräth, von venetianischen so wie französischen Spiegeln und Kronleuchtern und allerhand seltenem sächsischen Porzellangeschirr. Denn der Vater der Esther, der Salomon Blümele, war der reichste Mann der Judenstadt und er hatte seine Tochter gar lieb. Auf welche Art er seinen Reichthum zusammengescharrt, wußte Niemand, es hieß, daß an seinem Golde Thränen und Blutstropfen hingen. Mochte dem nun sein, wie ihm wollte, zu Hause benahm er sich immer sanft und gut und seine Tochter verwöhnte er über die Maßen.
Er wohnte in einem kleinen Gebäude, das knapp neben dem Kirchhof stand, hoch und [11] schmal, fast wie ein Thurm, und mit kunstvoll verschnörkelten Balkonen aus geschmiedetem Eisen verziert. An den Fenstern, die auf den Kirchhof hinaussahen, da saß die Esther oft Stunden lang und träumte – besonders an lauen Junitagen, wenn die Hollunderbäume in der Blüthe standen – denn der Duft der Hollunderblüthen, so widrig er den meisten Menschen erscheinen mag, übte auf sie geradezu einen unheimlichen Zauber aus; aufregend und giftsüß drang er ihr in Seele und Herz und brachte ihr wonnige Betäubung. Wenn zu Zeiten der Hollunderblüthen der Mond schien, dann kam eine große Unruhe über sie, und oft stieg sie des Nachts aus ihrem Fenster und wandelte, sich mit den langen weißen Fingern weiter tastend, an den verschnörkelten [12] Mauervorsprüngen entlang, stieg manchmal auch hinab in den Friedhof und schritt langsam zwischen den Grabsteinen einher; fast schien es, als suche sie unter den Todten ein geheimnißvolles, schauerliches Glück.
Wenn sie dann den nächsten Morgen erwachte, wußte sie nichts von solch' nächtlicher Wanderung, fühlte sich jedoch sehr müde und litt an heftigem Kopfschmerz. Die Aerzte sagten, man solle sie bewachen, nicht aber einen ihrer schlafwandelnden Anfälle jählings stören. Mit der Zeit würde sich dieser, krankhafter Nerven-Ueberreizung entspringende, Zustand von selbst bei ihr verlieren.
Wegen ihrer Blässe und unheimlichen Lieblichkeit, vielleicht auch weil sie eine Vor [13]liebe für diese Blume hegte, nannte man Esther im Ghetto »die Hollunderblüthe«.
Ja, sie war ein seltsam Geschöpf, und seltsamer Art war auch ihre Schönheit! Ihr Wuchs war hoch und schlank, der Hals lang und lang die schön geformten, etwas dünnen Arme. Ihr reiches, ins Röthliche hinüberschillerndes, blondes Haar legte sich um ein längliches Gesicht von durchsichtiger Blässe, aus dem die Lippen scharf abgegrenzt und dunkelroth hervortraten. Ihre blauen, von goldenen Wimpern beschatteten Augen blickten unter den fein und schwach gezeichneten Brauen mit feierlicher Starrheit in die Ferne.
Kalt und rein sah sie aus wie eine Schneeflocke und erinnerte an die blonden Engel, [14] wie sie Boticelli in seinen Heiligenbildern malt, neben dem Thron der Gottesmutter, eine Lilie in der Hand.
Wenn sich die Seele eines solchen Geschöpfes irgendwo festträumt, so ist sie nicht loszureißen von dem Gegenstande ihrer Sehnsucht, und wenn die Liebe in das Herz eines solchen Geschöpfes einzieht, so wüthet sie darin wie ein Fieber und ist nicht auszurotten noch zu tödten, man schlüge denn das Herz mit todt.
Esther Blümele liebte!
Der, den sie liebte, war kein Anderer als jener Lippmann Beck, der Kassirer eines reichen Bankhauses, auf dessen Grab noch heute der schmale, hochzugespitzte Leichenstein zu sehen.
Ein wüster Geselle war er, der seinen [15] Geschäften mit geringschätzendem Leichtsinn oblag, aber von vornehmem Wesen und schöner Gestalt. Es hieß, und Lippmann selbst behauptete es oft mit widerlicher Prahlerei, sein Vater sei ein Edelmann gewesen, der sich bis zum Wahnwitz in ein schönes Judenmädchen verliebt, in wilder Ehe mit demselben gelebt und schließlich von seinesgleichen ausgestoßen, elend und verschuldet im Ghetto eine Zufluchtsstätte gesucht, wo er bald darauf verschieden.
Um dieses Vaters willen verachtete Lippmann Beck seine Umgebung und ward von allen Juden gehaßt und der Ketzerei beschuldigt. Den Frauen aber gefiel sein herrisch wegwerfendes Wesen, es gefiel ihnen, daß man von ihm erzählte, er habe außerhalb des Ghetto manch schönes adliges Lieb, es gefiel [16] ihnen, daß er die gelben Judenborden, das Abzeichen der Aechtung, so geschickt unter allerhand modischem Aufputz zu verstecken wußte. Er aber kümmerte sich um Keine in dem ganzen Ghetto, außer um Esther Blümele – die Hollunderblüthe.
Ihr Vater wollte von ihrer Verbindung mit ihm nichts wissen. Er stellte ihr vor, daß Lippmann, ein verlüderter Geselle, sie nicht suche aus herzlicher Neigung, sondern nur aus Müdigkeit, um von seinem wüsten Leben auszuruhen, daß er ihr das Herz brechen würde durch Rohheit und Gleichgültigkeit. Auf dieses alles antwortete sie nichts, sondern senkte stumm den Kopf in geziemender Demuth.
Dabei wurde sie blässer, und ihre Augen wurden hohler mit jedem Tage, und die [17] Nächte lang schleppte sie sich auf und nieder, die Hand auf dem Herzen, rast- und ruhelos, und stand am Fenster und blickte mit starren Augen hinab auf den Friedhof.
Da starb der alte Blümele.
Esther betrauerte ihn aufrichtig. – Drei Monate später verlobte sie sich mit Lippmann Beck. –
Im Ghetto erscholl ein dumpfes Murren und Grollen. Nur Unglück, so hieß es, könne entspringen aus so ruchlosem Beginnen. Die Vornehmsten des Viertels wandten sich ab von Esther.
Sie aber schwelgte in seligem Taumel und schmückte sich herrlich und schmückte auch auf das Schönste die Wohnung, in welche sie einziehen sollte mit ihrem Bräutigam. Sie [18] hatte dazu die unteren Räume des Hauses bestimmt, fast als ob sich ihr Zartgefühl dagegen gesträubt, in die oberen Gemächer, wo sie ihre Jugend neben ihrem Vater hingebracht, den Gatten einzuführen.
Alle Tage durchschritt Esther die schön geschmückten Zimmer langsam, träumerisch, mit starren Augen in süße Wahnbilder versenkt.
Da kam ein Montag Nachmittag im Juni 1784. Esther stand in ihrem Gemach und erwartete den Geliebten. Gar prächtig war sie gekleidet in ein silberdurchädertes Brokatgewand, und mit einem blaßgelben Schleier um den Kopf. So stand sie erwartungsvoll in dem Zwielicht des Frühlingsabends. Die meisten Geräthschaften des Gemachs waren bereits in verschwommene Dämmerung ge [19]hüllt, wie ein dunkler Rauch senkte sich's von der Zimmerdecke, nur da und dort ließ ein gelbes Flimmern einen bronzenen Lüster und ein goldenes Gefäß errathen.
Da erscholl plötzlich Lärm auf der Treppe, wüster, unheilkündender Lärm! Sie legte die Hand auf das Herz und horchte hinaus. Die Thüre öffnete sich, die Menge strömte herein, und bald war die Stube von Wehklagen und Schadenfreude durchhallt. Einer hatte es eiliger als der Andere, Esther die schreckliche Botschaft zu bringen.
Vor einer Stunde hatte man den Lippmann Beck in einer verrufenen Gasse, vor einem übel beleumundeten Spielhause gefunden, todt, mit einem Dolche in der Brust!
Esther stieß einen Schrei aus, dann blieb [20] sie wie erstarrt stehen mit weit vorgestreckten, ins Leere greifenden Armen!
Keine einzige Thräne floß aus ihren Augen, aber den Leuten, die sie sahen, stockte das Blut im Herzen. Und selbst die Schadenfrohsten überkam es wie eine Art Mitleid, und sie boten ihr ein Wort des Trostes.
Sie hörte nichts, und dumpf wimmernd, wie ein tödtlich verwundetes stummes Geschöpf, drängte sie durch die Menge gegen die Thüre.
»Wohin?« fragten die Leute.
»Zu ihm, ihn noch einmal sehen, ein einzig Mal,« ächzte sie.
Die Gevatterinnen hielten sie zurück. Es sei nicht schicklich für ein lediges Frauen [21]zimmer, die Wohnung eines unverheiratheten Mannes zu betreten, erklärten sie.
Während Esther, diesen Anstand predigenden Widerreden zum Trotze, noch wie irrsinnig hinausstrebte, schwanden ihr plötzlich die Sinne und sie sank ohnmächtig zurück.
Als sie erwachte, war ihre Erinnerung an das Geschehene dumpf und verworren. –
* * *
Sie zogen dem Leichnam ein weißes Leichenhemd an und hüllten ihn in den Gebetmantel von schwarzumrändertem, weichem Weißzeug. Sie legten ihn in den deckellosen Sarg von einfach gebohnten Brettern, in welchem arme und reiche Juden ihre Todten bestatten, und begruben ihn, [22] dem Gottesacker der Kinder gegenüber, dort wo noch heute sein Grabstein steht.
Esther stand am Fenster des schmalen, hohen Hauses, das einen langen Schatten auf den Kirchhof warf, und blickte hinab.
Um ihren Vater, gegen den sie sich versündigt, hatte sie geweint, viel und aufrichtig, – um den Geliebten weinte sie nicht. All' ihr Denken und Empfinden zog sie in die Vergangenheit zurück. Sie träumte von süßen Stunden und lächelte.
Der nächste Tag, der, welcher Esther's Hochzeitstag hatte sein sollen, brach herein.
Eine schreckliche Unruhe kam über sie. Sie geberdete sich wie wahnsinnig wimmerte wandelte unstät aus einem Zimmer in das andere, und rang die Hände. Sie stieg in [23] die Gemächer hinab, die für ihr neues Leben vorbereitet waren. Später sahen die Leute sie am Fenster stehen, den heißen, durstigen Blick starr auf den Kirchhof gerichtet. –
An dem Fenster stand sie bis tief in die Nacht! Es war eine schwüle Frühlingsnacht, und der Mond schien, und der Hollunder blühte! –
* * *
Den nächsten Tag stellte es sich heraus, daß Esther sich in der verflossenen Nacht die Haare abgeschnitten, nach Sitte jüdischer Bräute bei ihren Hochzeiten, und nun ein Tuch auf dem Kopfe trage, wie es einer jüdischen Ehefrau geziemt.
[24] Die Leute sagten – der Schmerz um den Todten habe ihr den Sinn verwirrt! Kurz darauf brach in den Häusern, die dem der Esther am nächsten standen, eine häßliche Seuche aus, und da die Aerzte den Ursprung derselben in den Ausdünstungen zu finden glaubten, welche dem überfüllten Todtenacker entschwebten, so durfte seitdem, und zwar auf allerhöchsten kaiserlichen Befehl, keine Leiche mehr in dem alten Friedhof bestattet werden.
* * *
Jahre vergingen – mannigfach veränderte sich den neuen Anforderungen entsprechend, die schnell zusammengefügte Notharchitektur in den schmalen Straßen der Judenstadt. [25] Dies Haus wurde erhöht, jenes erweitert; – das Haus neben dem Kirchhof mit dem zierlichen Eisenbalkon blieb unverändert, wenigstens durch Menschenhand; nur Zeit und Wetter trieben damit ihr triumphirend verwüstendes Spiel. Der Mörtel sprang ab – bald hier, bald dort blickte das Gestein dann bläulich oder roth hervor. Die kunstvoll geschwungenen Mauervorsprünge, an denen sich ehemals die schlafwandelnde Esther weiter getastet, zerbröckelten, schlüpfrig schleimige Flechten und grauer Schimmel umwucherten die Fenster! – Und still ging's in dem Hause zu, todtenstill und dürftig und karg. – An schwülen Junitagen, wenn der Hollunder blühte, sah man öfters an einem der Fenster ein mageres Weib in einem schlechten braunen [26] Kleide mit einem dunklen Tuch um den Kopf, aus dem das Gesicht wachsbleich und unheimlich starr wie eine Todtenmaske hervorblickte. Es war Esther Blümele. Ihre Züge hatten sich wenig verändert, und der edle, zarte Schnitt war ihnen in merkwürdig hohem Maße geblieben, ihr Ausdruck aber war stumpf und seelenlos. Nur manchmal zuckte es darüber hin wie ein unheimlich sehnsüchtig Lächeln.
Und die Alten erzählten dann ihren Kindern, das seltsame, dürftig gekleidete Weib sei dereinst das reichste und schönste Mädchen gewesen in der ganzen Judenstadt.
Etwas Geheimnißvolles umschwebte die Gestalt der Blödsinnigen – der Volksglaube hatte eine böse Sage über sie ausgestreut. [27] »Die Esther sei nicht blödsinnig hieß es, sondern thue nur so, um ihre dämonische Weisheit desto besser zu verbergen. Sie halte es mit dem Tode, und von Zeit zu Zeit kehre der Sensenritter bei ihr ein, dann aber verbreite sich jedesmal eine verheerende Krankheit über das Judenviertel, denn die Esther habe den Ghetto verflucht und verhext, um Rache zu nehmen an den Juden, die ihren Bräutigam getödtet!« Dies alberne Gerücht hatte seiner Zeit viel böses Blut gestiftet und meistens sogar einem Volksauflaufe zum Anlaß gedient; mit den Jahren war es vergessen worden wie Esther's verblühte Schönheit und ihr verlorener Reichthum.
Wo war der große Reichthum hin? – Mit Esther zusammen wohnte eine Alte, die [28] schon zu Lebzeiten des Salomon Blümele in seinem Hause gedient. Die reichsten Juden waren damals an Dienerschaft arm. Sarah Katz vertrat in ihrer Person allein Esther's ganzen Dienertroß. Sie zählte etwa fünf bis zehn Jahre mehr als Esther und hatte ein gelbes Gesicht mit scharfen Raubvogelzügen und Augen so kalt und dunkel wie ein offenes Grab. Sie war unverheirathet geblieben, nicht aus besonderer Abneigung gegen den Ehestand und auch nicht um einer unglücklichen Liebe willen, sondern weil sie zu arm gewesen, um einen Freier zu reizen, und das Heirathen der Juden bei der damaligen, ihrer raschen Vermehrung sehr abholden Gesetzgebung mit großen Schwierigkeiten verbunden war. Darum hatte sie ihr [29] Herz an ihren Bruder gehängt und dessen Kinder, deren eines sie sich zu besonderer Abgötterei ausgewählt, den hinkenden, schwarzgelockten Ignatz.
Und fast täglich gegen Abend, wenn die Dämmerung dumpf und dicht auf den Schmutz und das Elend des Ghetto hinabzugleiten begann, so daß nur hier und da ein fahler Lichtschimmer eine Pfütze oder ein paar Fensterscheiben röthete, und wenn das schrille Geschacher zu einem heiseren Murmeln sich abgedämpft hatte, so daß das Schluchzen des Flusses hinter dem alten Friedhof vernehmbar klagend das Stadtviertel durchklang – da schlich sich an die Schwelle des Blümelehauses ein gelber, hinkender Judenknabe. [30] Wenn er aus dem Hause heimkehrte, war's schwarze Nacht! –
Der schwarzlockige Knabe wuchs heran. Er stand an der Spitze des reichsten Geschäftes im Ghetto und hatte eine schöne Frau und zahlreiche Kinder. Und der alten Sarah lachte das Herz im Leibe!
Viele Jahre vergingen, da wurde die Stadt Prag durch eine Seuche verheert, die bösartiger wüthete als irgend eine Krankheit, deren die ältesten Leute sich zu erinnern vermochten. Siegreich durchzog der Todesengel die Straßen, an alle Thüren klopfte er, gebieterisch fordernd und Niemand schonend – weder Kind noch Greis, weder Bettler noch Fürst. Auf den Gassen sanken die Menschen nieder, röchelnd sich windend [31] in wahnsinnigem Schmerz und mit den widerlichsten Symptomen einer jähen Vergiftung. Manche litten ein paar Stunden lang, andre starben nach kürzerer Frist, und ihre Leichen wurden schwarz.
In der Kirche ereilte sie der Tod an den Stufen des Altars, wo sie den Allmächtigen um Schutz angefleht, in dem Postwagen, in den sie sich gestürzt, um der Seuche zu entfliehen, an der Tafel, wo sie sich rohen Schwelgereien ergeben hatten, um das böse Sterben zu vergessen. Die, welche fasteten, die, welche praßten, die, welche beteten, und die, welche fluchten – alle wurden sie gemeinsam hinweggerafft. Niemand kannte die Krankheit, die Aerzte gaben ihr einen Unheil kündenden, fremd klingenden Namen. –
[32] In den schmalen Straßen der Judenstadt herrschte Angst und Schrecken. Nur Ignatz Katz gab vor über solch' kindische Furcht erhaben zu sein. Er hängte sich und seinen Kindern jedem ein großes, rundes Blechstück um den Hals und sagte, nun sei er gegen die Seuche gefeit.
Es war am Samstag Abend. Die Juden saßen in ihren weißen Gebetmänteln, den Hut auf dem Kopfe, in den Gotteshäusern und flehten Jehova an, auf daß er Erbarmen habe mit dem Volke Israel und die schreckliche Seuche von ihnen abwende.
Dumpfe schwere Sommerluft erfüllte die Judenstadt. Die Wolken hingen tief. Von Zeit zu Zeit durchzischte ein heißer Windhauch die brütende Schwüle und erstarb wimmernd. [33] Auf den Straßen sah man um die Stunde nur Frauen und Kinder. Einige gingen vereinzelt, den Kopf weit vorgestreckt, sehr hastig und von Zeit zu Zeit stehen bleibend, als eilten sie nach Hause und fürchteten sich doch vor dem, was ihrer dort harre. Manche gingen zu Zweien und erzählten einander etwas Schauerliches. Hier und da fand sich eine Gruppe zusammen. In den Geruch von welkendem Gemüse und fauler Ausdünstung, den spezifischen Geruch dieses ärmlichen Straßengewinkels, mischte sich der Qualm von verbrannten Kräutern und anderen Räucherungsmitteln. Aus einigen Häusern tönte heiseres Gebetmurmeln und auch das Röcheln eines Kranken bis auf die Straße hinaus.
[34] Plötzlich entstand eine eigenthümliche Bewegung. Etwas Dunkles, Unheimliches war um eine Straßenecke gehuscht – ein dürres Weib, eine Greisin in schwarzen Gewändern, mit weißem Haar, das ihr unter ihrer schwarzen Haube wirr um das gelbe Gesicht flackerte. Sie ächzte, keuchte und zerriß ihre Kleider. –
»Wer ist's?« fragten die Leute einander, … »wer ist's?«
»Die Sarah Katz!«
»Ist der Blümele etwas geschehen?«
»Gott bewahre, dem Ignatz aber sind zwei Kinder gestorben heute über Nacht, nun, heißt es, habe er sich selber niedergelegt. Darüber hat die Alte den Kopf verloren. Sie liebt ihn wie ihr Augenlicht. Wohin [35] sie eilen mag? – in die Apotheke? Sarah!«
Doch Sarah hörte nicht. Bis an die Thüre der Alt-neu-Synagoge schleppte sie sich mit wankenden Knieen und stolpernden Schritten.
Die Juden traten aus dem Gotteshaus, ein röthlicher Lichtschein schimmerte hinter ihnen durch die Thoröffnung. Die Alte packte den Rabbiner beim Arm. Er fuhr von ihr zurück. »Hört mich, um Gotteswillen hört mich!« keuchte sie, »ich habe Euch ein schauerliches Geheimniß anzuvertrauen – – so bleibt doch, hört: ein Verbrechen ein furchtbares Verbrechen ist begangen worden, hört, auf daß mein Geständniß zur Sühne diene für meine Mitschuld.«
Man hielt sie für wahnsinnig. Keiner [36] achtete anfänglich ihrer Worte. Noch einmal versuchte der Rabbi sie abzuschütteln. Sie aber klammerte sich an ihn, und ihre Hände waren wie eiserne Krallen.
»Ihr wißt's oder wisset es nicht denn es ist schon lange her,« begann sie, »da hat man der Esther Bräutigam, den Lippmann Beck, erstochen an einer Straßenecke gefunden und ihn dort begraben dem Todtenacker der Kinder gegenüber. Aber das Grab ist leer, hört Ihr, leer! Denn in der Nacht, die ihre Hochzeitsnacht hätte sein sollen, da ist es über die Esther gekommen wie ein Fieber, sie hat keine Ruhe gehabt, nicht an dem Ort, nicht an jenem, hat beständig seinen Namen gerufen und sich schließlich an das Fenster gestellt und die Arme hinausgestreckt zu dem [37] Kirchhof – und dann … dann hat sie ihr Brautkleid angethan und ist hinabgeschlichen in den Kirchhof und hat sich niedergeworfen auf sein Grab und es geküßt und mit den Nägeln die Erde aufgewühlt. – Und dann – dann … für uns Juden war damals kein Platz auf der Erde und nicht unter der Erde – kaum einen Schuh tief hat man die Leichen verscharrt. – – – Sie hat den Todtengräber bestochen – er hat auswandern wollen mit dem Gelde, ist aber den nächsten Tag plötzlich vom Schlage gerührt verschieden.«
Bis dahin hatte man ihrer Rede keine Wichtigkeit beigelegt, nun aber erhob sich aus der Menge die Stimme eines verwitterten Greises, der rief: »Das ist wahr, ich erinnere mich dessen. Man hat zwei goldene Arm [38]spangen gefunden bei dem Todten und eine schwere, goldene Kette.«
Die Menge wurde aufmerksam. Die Augen Sarah's glühten wie zwei Kohlen, ihre schlaffen Lippen zitterten vor Angst und Entsetzen. »Sie haben ihn ausgescharrt, und ich ließ es geschehen. Die Esther hat sich das Haar abgeschnitten, dann haben sie ihn hineingeschleppt durch ein Fenster in das Haus der Esther, dort haben sie ihn niedergelegt, und seine Leiche war noch unversehrt und gar schön zu schauen. Esther hat die Leiche umarmt und mit Küssen bedeckt …«
Die Alte zitterte am ganzen Leibe, von abergläubischen Gewissensbissen gefoltert, und stieß ein furchtbares Röcheln aus, als schaudere ihr vor dem, was sie noch zu erzählen habe.
[39] Der Rabbi nahm sie sanft beim Arme. »Kommt fort,« sagte er leise, und wollte sie hinwegführen – »kommt – Ihr wißt nicht, was Ihr sagt, Ihr redet im Fieber,« und sich zu der Menge wendend, sagte er: »es ist ein schrecklich Phantasma, das sie quält – und was sie sagt, ist unmöglich!«
Die Spannung der Menge jedoch war bereits auf das Aeußerste gewachsen. Alle wollten hören, der Rabbi vermochte nichts gegen den Andrang des Pöbels, und Sarah erzählte weiter.
Ihre Worte kamen heiser röchelnd aus ihrem Munde, und während sie sprach hielt sie sich die Hände vor das Gesicht. – Wie die Leiche zu verwesen begann, wie ein schrecklicher Ekel, eine panische Rathlosigkeit plötzlich [40] die unglückselige Todtenbraut erfaßt, wie sie schließlich die Leiche mit der Esther hinabgeschleppt in den Keller, wo dieselbe langsam verfault und deren Gerippe wohl noch zu finden sei, – das Alles erzählte die Sarah Katz an der Thüre der Alt-neu-Synagoge. Kaum die Dauer eines Athemzuges blieb die Menge still. Da mit einem Mal hieß es: »Zurück, zurück, die Seuche!«
Die Leute drückten sich gegen die Wand, um einer Bahre Platz zu machen, auf der man einen Kranken unter der Sackleinwand, mit der er bedeckt war, unheimlich zucken sah.
Die Bahre zog vorüber! – – – da wie ein Gewittersturm – erst leise stöhnend, nach Athem ringend, dann laut tobend, so klang [41] es durch die Straßen, das Rachegeheul der empörten Judenschaft! –
* * *
An dem Fenster des schmalen Hauses neben dem Kirchhof steht ein blasses, schwächliches, alterndes Weib und lächelt hinab auf den blühenden Hollunder. –
Die tobende Rotte dringt ein, kreischend und fluchend stürmt der Pöbel die Treppe hinan. Plötzlich erschallt aus dem Gemache der Esther ein furchtbarer Schrei. Als man hineindrang, war es leer! Sie hatte offenbar die Menge heranstürmen hören und war entflohen. Auf das Aeußerste gereizt, raste die Meute von Zimmer zu Zimmer …
[42] Einer Irrsinnigen gleich geberdete sich Sarah. »Dort … dort,« rief sie endlich triumphirend aus, indem sie auf einen halbgeöffneten Kasten deutete. In der Tiefe des Kastens befand sich eine geheime Thür, diese führte durch verborgene Gänge hinab in den Keller, worin Salomo Blümele geschmuggelte Waaren zu verstecken pflegte. – »Licht! – Licht!«
Wie eine Schaar schwarzer Rachegeister stürzten sie die schmale, feucht schlüpfrige Kellerstiege hinab – Allen voran, eine rothflackernde Kerze in der Hand, Sarah Katz. Eine abscheuliche Moderluft schlug aus dem Keller hervor. Die Flamme der Kerze erlosch! Sie stolperten durch einander, sie heulten und schrieen! Durch einen trüben, [43] vergitterten Fensterspalt flimmerte ein fahler Lichtstrahl.
»Dort … ja dort …« tönte es durch den Keller gellend laut. Dort gegen die feuchte Wand gedrückt, lag Esther todt. Neben ihr, von ein paar halb vermoderten Lappen umhüllt, ein menschliches Gerippe! –
* * *
Jahre sind verstrichen seit jener Zeit. Das Haus der Esther ist der Erde gleich gemacht und Alles hinweggetilgt worden, was noch an ihre grausig gerächte Schuld erinnerte!
Der Hollunder aber blüht noch alle Jahre über den stillen Gräbern des alten Friedhofs, und, o Wunder! trotz Schmutz, Elend und [44] Uebervölkerung und die Luft einengenden Winkelwerks zählt die Judenstadt heute zu den gesundesten Stadttheilen Prags!
Die Seuchen sind gewichen! – [45]