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In Monplaisir hatte sich indes Manches geändert, – besser geworden war nichts.
Es lag wie eine schwere Wolke über dem freundlichen Waldschlößchen, eine Wolke, die weder Regen spendete noch Blitze schleuderte, sondern nur den Sonnenstrahlen den Weg versperrte und einen drückenden Schatten über die Erde warf – einen von den kalten, schwarzen Schatten, in denen nichts gedeiht als Mißmuth, Zwietracht und ähnliche, zu gänzlichem Lebensüberdruß beitragende Zustände.
Der Hofmeister war fort, seine lustigen, wenn auch etwas nichtsnutzigen Schüler waren in eine Schule geschickt worden, und zwar nach Wien ins Theresianum, und Liesel war wie ausgetauscht. Die Stiefmama konnte sich die Veränderung, welche mit ihr vorgegangen, nicht erklären.
Sie bemühte sich, das kleine, festverschlossene Herz des Kindes aufzuschließen, aber von allen Schlüsseln, mit denen sie's versuchte, paßte keiner.
Liesel war traurig, Liesel zwitscherte nicht mehr von früh bis Abends, und Liesel war auch nicht mehr so folgsam, wie sie's früher gewesen war. Wenn man ihr eine Weisung ertheilte, so zog sie die feinen Brauen zusammen und machte ganz finstere Augen; und wenn sie schließlich doch that, was man von ihr verlangte, so geschah es offenbar widerwillig, und nur aus dem Grunde, daß sie sich zu klein und schwach wußte, um sich zu sträuben. Die Stiefmama behauptete, das Kind sei eigensinnig und habe einen schlechten Charakter, und der Papa sah traurig aus, zuckte die Achseln, küßte Liesel und wußte sich nicht zu helfen. – Einmal, als er sie so recht zärtlich auf den Knieen geschaukelt und ihr zugeredet hatte, ihm ihren Kummer zu gestehen, da hatte sie ihm laut schluchzend mitgetheilt, daß sie sich nach – Peterl sehne. Warum war man so grausam gewesen gegen Peterl? – Peterl habe Niemandem auf der Welt etwas zu Leide gethan, und er hatte so traurig ausgesehen in der Kiste, in der man ihn fortgeführt hatte auf die Bahn. Sie konnte seine armen, verängstigten Augen nicht vergessen!
Und sie schluchzte und schluchzte, wie nur vierjährige Kinder schluchzen können, die mehr Schmerz in ihrem kleinen Herzen fühlen, als ihr kleiner Kopf zu fassen vermag.
Sie glaubte wirklich, daß sie sich nur nach dem Hund sehne. Aber es war nicht nur der Hund, – es war Wärme, Zärtlichkeit – Heiterkeit – Zerstreuung – kurz, alle guten Geister, die Monplaisir unter dem unvernünftigen Einfluß einer Frau verlassen hatten, der jegliches Verständniß für ihre neue Umgebung fehlte.
Der Papa begriff Liesel's Schmerz besser als sie selbst. Er beruhigte und liebkoste sie, erzählte ihr, daß er Peterl schreiben und daß sich Peterl gewiß beeilen würde, zu antworten, – und was dergleichen zärtlicher Unsinn mehr ist, – bis sie wieder ganz lustig geworden war. Da, während er sie noch auf den Knieen hielt, öffnete sich die Thür, und die Stiefmama steckte den Kopf herein.
Liesel, die ihr Gesichtchen an Papas Brust gedrückt hielt, sah die Mama nicht – der Mann aber sah sie und erschrak über die schreckliche Eifersucht, die er aus ihren Augen herauslas.
Liesel war von ihren drei Stiefkindern der Liebling der jungen Frau gewesen; sie hatte sich bemüht um die Gunst der Kleinen, wie sie's eben verstand, und wenn der Trotz, mit dem das Kind ihren gutgemeinten Freundlichkeiten begegnete, sie auch geärgert und sogar veranlaßt hatte, das Kind falsch zu beurtheilen, so war doch die Neigung zu dem verführerischen Geschöpfchen dieselbe geblieben.
Aber die überströmende Zärtlichkeit, welche ihr Gatte dem Kinde zuwendete, zeigte ihr's zum ersten Mal so recht grell und deutlich, was sie in ihrer Ehe entbehrte.
Warum hatte er nie so herzlich zu ihr gesprochen, warum sie nie – nein, nicht ein einziges Mal, selbst während der ersten Flitterwochenzeit, so zart und liebkosend berührt, wie er das Kind berührte? Er war nie zärtlich mit ihr – ritterlich, höflich, aufmerksam, geduldig – aber zärtlich nie.
Er liebte sie nicht – das sah sie deutlich.
Ach, wenn er nur einmal zu ihr gesprochen hätte mit der Stimme, mit der er zu Liesel sprach, wenn er sie nur einmal berührt hätte mit der Zartheit, mit der er Liesel über das braune Krausköpfchen gefahren war!
Aber nein – nie . . . nie . . . und als sie sich darüber ganz klar geworden, zog der Haß in ihr Herz ein, ein großer, grausamer Haß gegen das schwache, unschuldige Kind, das ihr Mann mehr liebte als sie, seine Gattin! – Und sie wurde geradezu spitzfindig darin, stärkende Nahrungsmittel für ihren Haß aufzustöbern.
»Er liebt das Kind, weil es seiner Mutter ähnlich sieht,« sagte sie sich. »Jeder Kuß, den er dem Kinde gibt, gilt seiner verstorbenen Frau.«
O, wie das weh that!
Sie wollte ihm nichts davon sagen, natürlich nicht – kein einziges Wort, dazu war sie viel zu stolz. Aber anläßlich irgend einer Kleinigkeit verlor sie ihre Selbstbeherrschung, und sie sagte ihm nicht nur ein Wort, sondern viele Worte – die bittersten, giftigsten, die sie finden konnte.
In der nächsten Stunde hätte sie alle zurücknehmen wollen, aber es war nicht möglich. Nichts ist schwerer zurückzunehmen als ein gesprochenes Wort!
Herr von Feldeck ging noch öfter auf die Jagd als früher. Die Jahreszeit bot ihm jetzt reichlich Gelegenheit dazu. Manchesmal stellte er Betrachtungen an über sein verpfuschtes Leben; aber es energisch zurechtzurücken, dazu fehlten ihm einerseits die Roheit und die Kraft, andererseits der Tact und die Ausdauer.
Sich fürderhin viel mit Liesel abzugeben, war unter den Umständen und bei seiner chronischen Angst, Scenen heraufzubeschwören, nicht seine Sache. Auch fürchtete er, jegliche Aufmerksamkeit, die er dem Kinde bewies, würde die Stiefmutter noch mehr gegen dasselbe reizen. Und das war auch der Fall. Frau von Feldeck fand jeden Augenblick etwas an Liesel zu rügen. Das Kind war störrisch, unfolgsam; Frau von Feldeck behauptete, die alte Kinderfrau sei nicht streng genug und ließe ihm alles durchgehen, da müsse es verdorben werden. Sie sagte das so lange, bis der Mann ihr gestattete, der alten Kinderfrau zu kündigen. Die arme, gute Frau Streubel verließ Monplaisir, und an ihre Stelle trat eine Kindergärtnerin, die sich in Liesel's kleines Wesen ebenso wenig wie die Stiefmutter hineinverstand, und die ihren Tag damit verbrachte, entweder das vierjährige Kind durch gelehrte Spiele zu unterrichten oder ihre eigene Weisheit durch das Studiren schwieriger Bücher zu vermehren. Denn sie war eine ehrgeizige Person und bereitete sich heimlich für das höhere Lehrerinnen-Examen vor.
Während sie tief in ihre Lectüre vergraben dasaß oder auch, ein aufgeschlagenes Buch in den Händen, halblaut vor sich hin murmelnd auf und ab ging, sollte Liesel allein mit ihren Puppen spielen. Es gehörte zu den Erziehungsprincipien der Kindergärtnerin, daß das Kind lernen solle, sich selbst zu beschäftigen.
Wie die meisten Menschen schmiedete sie ihre Principien ihrer Bequemlichkeit auf den Leib, aber Liesel war damit nicht einverstanden. Sie war eine gesellige, mittheilsame kleine Natur, und sich allein zu beschäftigen, paßte ihr wenig. So saß sie oft halbe Stunden lang ganz still mitten zwischen ihrem Spielzeug da, die Beinchen vor sich gestreckt, und aus ihren großen, schönen Augen war es herauszulesen, daß sie über allerhand brütete, was sie nichts anging. Dann wurde sie von ihrer Erzieherin, denn diesen Titel hatte sich die Kindergärtnerin beigelegt, wegen ihrer Unthätigkeit zurechtgewiesen und gescholten. Sie wurde so viel ausgescholten, daß sie sich schon gar nichts mehr daraus machte, ebenso wie Menschen, neben denen man alle Tage Kanonen löst, es nicht mehr merken, sondern ruhig über dieses Geräusch hinüber schlafen.
Aber in ihrem Herzen war eine beständige aufrührerische Bitterkeit, die sich mit namenloser Langeweile paarte, und was sich aus dieser Verbindung für böse Dinge herausentwickeln, weiß Jeder, der einen solchen Zustand eine Weile mit angesehen hat.
Liesel, die herzige, gutmüthige Liesel wurde jetzt wirklich eigensinnig, unfolgsam und rachsüchtig. Wo sie konnte, spielte sie der gelehrten Kindergärtnerin einen Streich. Einmal schnitt sie ihr mit einer Schere ein Kleid entzwei, ein zweites Mal schüttete sie das Tintenfaß über einen acht Seiten langen Brief aus, welchen die Lehrerin kurz zuvor mit großer Mühe und der Hülfe von zwei Wörterbüchern und einem Conversationslexikon verfaßt hatte. Für das massacrirte Kleid wurde Liesel mit der Ruthe gezüchtigt, für den verdorbenen Brief aber von der Kindergärtnerin in einen großen Kleiderschrank eingesperrt. Aus der Ruthe machte sich Liesel nicht viel, aber das stundenlange Eingesperrtsein war ihr schrecklich.
Wenn ihr Papa zu Hause gewesen wäre, so hätte er wohl trotz seiner bodenlosen Passivität gegen diese Strafe Einspruch erhoben. Aber der Papa war nicht zu Hause, er war fast nie mehr zu Hause.
Wie man die Kleine aus dem Kleiderschrank entließ, stellte es sich heraus, daß sie verschiedentliche der Kleider als Taschentuch benutzt hatte. Da wurde sie wieder geprügelt, und so kam sie aus dem Gestraftwerden gar nicht mehr heraus.
Natürlich verdiente sie Schläge, aber die Kindergärtnerin verdiente gerade doppelt so viel.
Die Stiefmama war anderer Meinung. Sie belobte die Lehrerin vor dem kleinen Mädchen, sagte ihr das Anerkennendste in Betreff ihrer strengen Erziehungsgrundsätze.
Das brachte Liesel ganz außer sich, und in ihrem kleinen Kopfe heckte sie schließlich einen ganz furchtbaren Plan aus. Sie wollte fliehen – vom Hause fort, von der Stiefmutter fort, zu ihrer alten Kinderfrau, der Frau Streubel. Man hatte ihr gesagt, sie wohne hinter dem Wald, der sich an den Park schloß, und sie wollte quer durch den Wald bis zu ihr. Sie war so fest davon überzeugt, sie wieder zu finden, wie es manche Leute sind, den vor ihnen Gestorbenen im Paradiese zu begegnen.
Arme kleine Liesel! Jedesmal, wenn sie an die Ausführung ihres Vorhabens schreiten wollte, klopfte ihr doch das Herz ganz fürchterlich. Einmal, da sie unbewacht war, machte sie zwei Schritte aus dem Haus heraus, und ein anderes Mal fünf und ein drittes Mal zehn, aber jedes Mal kehrte sie um. Das erste Mal hatte sie sich erinnert, daß sie Apfelkuchen zu Mittag bekommen würde, das zweite Mal lief ein Hund vorbei, vor dem sie sich fürchtete, das dritte Mal hatte es angefangen zu regnen.
Da verzichtete sie vorläufig auf ihren Vorsatz, aber sie gab ihn nicht auf. Und jedesmal, wenn sie von Neuem an die Ausführung ging, machte sie ein paar Schritte mehr.
Und an einem schönen Octobertag, als die sich durch die feuchte Luft schrägenden Sonnenstrahlen wie Gold auf den abgefallenen Blättern schimmerten, die unter den Bäumen die Parkwiesen bedeckten, – da war Liesel verschwunden.
Die Kindergärtnerin erschrak Anfangs gar nicht, sie ärgerte sich nur; sie war überzeugt, daß Liesel ihr irgend einen Schabernack gespielt und sich versteckt hatte. Sie meldete es auch Niemandem, daß sie »den boshaften Balg«, wie sie sich ausdrückte, nicht finden konnte, – sie sagte sich einfach: wenn das kleine Ding Hunger hat, wird es schon zum Vorschein kommen. Und so fuhr sie denn fort, nachdenklich vor einem mit glattem, weißem Papier bespannten Reißbrett zu sitzen und, mit einem Zirkel bewaffnet, tiefsinnige geometrische Probleme auszurechnen.
Aber als die Stunde zum Mittagessen schlug, und Liesel noch nicht wieder erschienen war, wurde die Kindergärtnerin unruhig. Sie fing an, nach Liesel zu fragen, sie fing an, Liesel zu rufen – sie strich durch die Parkwege wie von Sinnen und rief immer wieder: »Liesel, Liesel,« aber Niemand antwortete ihr.
Endlich mußte sie sich entschließen, es der Stiefmama mitzutheilen, daß Liesel verschwunden sei. Die Stiefmama gerieth außer sich vor Schrecken. Sie lief mit der Kindergärtnerin um die Wette im Park herum, hin und her, rief »Liesel – Liesel« – aber vergeblich. Das Dienstpersonal wurde alarmirt, Boten wurden nach allen Richtungen ausgesandt in die Förstereien – Förster und Heger rückten aus . . . umsonst! – Liesel's Vater war nicht zu Hause – aber was würde er sagen, wenn er bei seiner Rückkehr das Kind nicht fände.
Die arme Stiefmutter wußte es nicht mehr, daß sie eifersüchtig auf das Kind gewesen war – sie erinnerte sich nur noch, daß sie sich oft lieblos gegen dasselbe gezeigt hatte, und jede Fiber in ihr brannte vor Schmerz, wenn sie eines herben Wortes oder gar eines Schlages gedachte, mit dem sie Liesel gezüchtigt.
Sie sah sie vor sich, mit den großen, klugen, schelmischen, braunen Augen, mit dem herzigen Mund, der auf so viele verschiedene Arten zu lächeln verstand, – sie sah die kleinen, weichen Hände mit den Grübchen hinter den Fingerwurzeln; immer wieder war's ihr, als müsse sich die Thür öffnen und ein kleines Figürchen mit schlanken, schwarzen Beinchen müsse hereintrippeln und sich vor sie hinstellen, trotzig und schelmisch zugleich, und ihr zurufen: »Da bin ich – straf mich!«
Aber sie wollte nicht mehr strafen, – gut machen wollte sie, was sie an dem Kind verbrochen, sterben wollte sie, wenn sie mit ihrem Leben das des Kindes erkaufen könnte. Noch immer lief sie die Parkwege entlang – hierhin – dorthin . . . die Dämmerung fiel, sie stieß gegen einen Stamm, – immer dichter fiel die Dämmerung . . . Und jetzt war es noch ärger, – sie konnte nicht mehr laufen. Stillstehen mußte sie vor dem Schloß – warten – warten – auf was?
Und mit einem Mal dachte sie an Peterl! . . Wenn der arme kleine Köter da wäre, der hätte das Kind gefunden, wo es auch sein mochte. Ja, warum hatte sie damals den Hund weggeschickt? . . . Ihr Bruder hatte sie gewarnt, – sie war besorgt gewesen . . . die Wissenschaft . . . ach, ein gräßlicher, ungerechter Zorn gegen die Wissenschaft entbrannte in ihr – auf diese Art Wissenschaft, die uns beständig neue, weitentlegene Gefahren vor die Augen führt und uns dadurch vergessen läßt, an die nächstliegenden zu denken. – Ob der Verkehr mit dem armen, treuen Hund dem Kind schädlich hätte werden können, war fraglich; aber daß es schädlich war, das Kind unbeaufsichtigt zu lassen, das war sicher.
Wie sie sich nach dem Kinde sehnte, wie sie das Kind liebte! – und wie sie sich haßte!
Da stand sie vor dem Schloß, horchte – horchte. Wenn sie irgend einen Schritt hörte, fuhr sie zusammen und schrie: »Wißt ihr etwas, – habt ihr sie?«
Aber Niemand wußte etwas, – und es wurde finster, und man hatte sie noch immer nicht.
Die uralten Linden von Monplaisir zeichneten sich schwer und dunkel ab gegen den blassen Himmel, an dem die Sterne glänzten, die Luft war feucht und kalt. Ein Schauer lief durch die Bäume, die Blätter raschelten auf den Rasen nieder, und immer noch horchte sie . . . nichts . . . nichts . . . nein, aber dort in der Ferne Räderrollen . . . ein Wagen, der näher, immer näher kommt . . . der Wagen, der Liesel's Vater nach Hause bringt.
In Peterl's Schicksal war indessen eine Wendung eingetreten.
In der Nacht, welche dem Tage von Liesel's Flucht aus Monplaisir voranging, schlich sich, während die anderen Komödianten fest in dem Thespiskarren schliefen, der kleine Honzik hinaus und leise bis zu Peterl heran, der, an seinem Rad angebunden, vergeblich den Strick, der ihn festhielt, durchzubeißen trachtete. Honzik kniete neben ihm nieder, schlang seine mageren Arme ein letztes Mal um den Hals des Hundes, küßte ihn und schnitt dann mit einem Messer, das er zu dem Zweck mitgebracht hatte, den Strick entzwei. Er hatte einige Mühe, denn das Messer war stumpf, und der Strick war fest, wie aus Draht zusammengeflochten. Aber endlich war er fertig. Da flüsterte er dem Hund zu » s pánem Bohem!« und versetzte ihm einen aufmunternden, zärtlichen Schlag auf den Rücken.
Peterl verstand. Er wackelte dankbar mit den Ohren, schoß wie ein Pfeil in die Nacht hinaus, raste aber gleich darauf, einen weiten Bogen beschreibend, wieder zurück, leckte dem weinenden Knaben das abgemagerte Gesichtchen, dann ein leises Geräusch in dem Karren vernehmend, fuhr er zusammen und lief nun, was er laufen konnte.
Der kleine Komödiant schlich sich indessen in den Karren zurück. Das Thürchen knarrte, während er sich hindurchzuschieben trachtete. Seine Mutter wachte auf. »Was hast Du draußen gemacht?« fragte sie.
»Der Hund war unruhig, ich dachte, er würde sich losreißen wollen,« sagte er; »da hab' ich ihn fester angebunden.«
Dann verkroch er sich in seinen Winkel, faltete die kleinen Hände und ließ den Kopf auf seine Brust fallen.
Morgen würde doch herauskommen, was er gethan, und da würde es Prügel setzen. Das war Nebensache, – die Prügel war er gewöhnt. Aber . . . aber – er hatte seinen besten Freund verloren! – Bei dem Gedanken wurde sein Herz schwer.
Indes flog Peterl über die Stoppeln und das frisch geackerte Feld dahin. Erst als er eine ganze Weile weit gelaufen sein mochte, und sich in einem dunklen Wald geborgen sah, hielt er inne.
Er bedachte, was zu thun sei. Vor Allem wollte er nach Haus. Was dann mit ihm geschehen würde, war ihm gleichgültig; wenn sie ihn todtschlagen wollten, – nun so sollten sie. Er war ganz munter, trotzdem er diese Möglichkeit ins Auge faßte. Das Gefühl seiner Befreiung war ihm in alle Glieder gefahren. Zugleich aber fing ihn an zu hungern. Er lief an den Rand des Waldes, wo sich ein mit Binsen durchwachsener Graben hinzog, und nahm ein paar Schluck Wasser zu sich; dann begab er sich auf die Jagd und verspeiste seine Beute, ein junges, graues Kaninchen, mit großem Behagen. Ach, wie ihn das an Monplaisir erinnerte. Seit er von dort hatte fort müssen, hatte er ja seinem Lieblingssport, der Kaninchenjagd, nie mehr fröhnen können. Hierauf, ohne sich aus dem Schatten des Waldes heraus zu wagen, überlegte er, welche Richtung er einschlagen sollte. – Zwischen den alten Kieferstämmen sah er hinaus in die weite Ebene, auf der die Dämmerung ruhte. Sie wurde durchsichtiger, immer durchsichtiger. Die Luft machte fast den Eindruck von getrübtem Wasser, das sich langsam klärt. Dann schimmerte es rosa über die Wolken am östlichen Horizont. Peterl wußte natürlich nicht, daß es der östliche Horizont war, aber er wußte es ganz genau, daß jetzt die Sonne aufgehen würde.
Ein rosiger Schein schwebte über der Erde, wie ein Lächeln seliger Erwartung. Dann flimmernd und leuchtend breiteten sich die Sonnenstrahlen über die Welt; behaglich breit streckten sie sich über den thaufrischen Boden, bis sie sich endlich verloren in der allgemeinen Helligkeit.
Es war Alles sehr schön, und es flößte Peterl Muth ein.
So lief er denn vorwärts, was Zeug hielt, in der Hoffnung, vielleicht durch Zufall auf bekannte Gegenden zu stoßen – als er einen Schuß hörte. Zugleich empfand er einen brennenden Schmerz im rechten Hinterbein.
Nun war's ihm, als ob es überhaupt mit Allem aus sei . . . Da kam ihm plötzlich ein sonderbarer Gedanke! War's nicht der ihm wohlbekannte Heger aus Monplaisir, der ihm den Schrot nachgejagt hatte? . . . Sein alter Feind – derselbe, der sich immer mit dem Kutscher in den Haaren gelegen hatte. Zwischen den halb entblätterten Zweigen eines wilden Rosenbusches, unter die sich der zu Tode geängstigte Peterl hinein geduckt hatte, blickte er dem Schützen nach. Kein Zweifel darüber . . . Der Heger war's! . . .
Nun wußte er, was er zu thun habe, um den Weg zurück zu finden nach seinem geliebten Monplaisir!
Er fing an zu schnuppern . . . Ja, das war's . . . der Geruch – genau der Geruch des Hegers, dem brauchte er nur zu folgen, um sein Ziel zu erreichen.
So machte er sich denn von Neuem auf die Beine.
Seine Wunde brannte ihn schmerzlich. Er lief öfters auf drei Beinen als auf einem – aber vom Fleck kam er doch, wenn auch, in Folge der vielen Ruhepausen, die er machen mußte, recht langsam!
Die Nacht war längst hereingebrochen, als er etwas sich weithin breitendes, verwischt Schwärzliches zwischen den helleren Feldern sich hindehnen sah, das theilweise von einer weißen Mauer eingefaßt war. Das war der Park von Monplaisir!
Er sprang auf vor Freude und bellte schrill . . .
Dann aber schüttelte er nachdenklich seinen kleinen Kopf. Jetzt wo er dem Ziel so nahe war, verlor er plötzlich den Muth darauf zuzustreben. Eine schmerzliche Schüchternheit und Beschämung kroch über sein müdes und hungriges Körperchen, da er der Grausamkeit gedachte, mit welcher er vor wenigen Monaten aus dem Schloß hinausgewiesen worden war.
In Folge dessen gab er den Gedanken, bis in den Hof zu laufen und an der Stallthüre zu kratzen, auf. – So gern ihn die im Stall mochten, wußte er doch, daß sie ihn einfach für die Nacht versteckt, dann aber weggeschickt hätten, ehe er Liesel's ansichtig geworden war.
Es blieb ihm nichts Anderes übrig. als irgendwo im Park zu übernachten, damit er dann bei Tag ein Momentchen abwarten könne, wo sie vorüber ging.
Da er wußte, daß um diese Zeit das Parkthor immer verschlossen war, so spähte er nach dem Loch in der Mauer, durch welches er sonst zu schlüpfen pflegte, wenn er leider manchmal heimlich einen lustigen Spaziergang durch die umliegenden Felder und Wälder unternommen hatte.
Da merkte er zu seinem großen Erstaunen, daß das Thor weit offen stand.
Ungestört trippelte er hindurch.
Ach, es war doch ein schönes Gefühl, den Boden seiner Heimath von Neuem zu betreten. Er erkannte dort einen Baum, da einen Busch! Unbeholfen in Folge seiner Wunde, aber toll vor Freude, fing er an, über die Grasplätze zu rasen und die trockenen Blätter aufzuwirbeln . . .
Plötzlich hörte er angstvoll und schrill den Namen »Liesel« schreien – »Liesel – Liesel!«
Nicht nur eine . . . verschiedene Stimmen riefen ihn.
Ein hoher, dunkler Mann, den Peterl sofort als Liesel's Vater erkannte, kam mit großen Schritten aus der Richtung des Waldes. Ein Anderer trat ihm entgegen. Sie sprachen aufgeregt mit einander, und ihre Stimmen, besonders die des Vaters, klangen so heiser und traurig, daß es Peterl durch Mark und Bein ging.
Mitten im Gespräch sah der Gutsherr sich um – horchte offenbar, schrie noch einmal »Liesel – Liesel!« worauf er von Neuem der Richtung des Waldes zueilte.
Peterl's treues, kleines Hundeherz klopfte zum Zerspringen. – Liesel's Vater hatte ihn zwar recht schlecht behandelt, aber jetzt fühlte er doch Mitleid mit ihm, obzwar er noch nicht begriffen hatte, was sein Unglück ausmachte.
Er lief noch ein Stückchen, um sich zu orientiren – jetzt erblickte er das Schloß.
Trotz der vorgerückten Nachtstunde waren alle Fenster erleuchtet, die Eingangsthüre stand offen, und auf der Terrasse schleppte sich, laut schluchzend, mit versagenden Gliedern, eine Frau auf und ab, die sich die Haare raufte und aus ihrem Schluchzen heraus mit heiserer, schriller, abgemüdeter Stimme »Liesel – Liesel!« rief.
Es war Liesel's Stiefmutter. – Jetzt hatte er begriffen – Liesel war fort – Liesel war verloren gegangen – und man suchte sie.
Da bemächtigte sich seiner ein einziger, Alles bezwingender Gedanke: Wenn einer auf der Welt sie findet, so bin ich's. – Und die Nase an der Erde, suchte er ihre Spur.
Als er bereits im eifrigsten Suchen war, raschelten ein paar Tropfen durch die Herbstblätter. – Dichter und dichter fielen sie. – Jetzt regnete es in Strömen.
Peterl schüttelte sich – der Regen erschwerte Alles – auch die Auffindung der Spur.
Nichtsdestoweniger schnupperte er und schnupperte . . . er riß die Blätter aus einander . . . ach, wenn er sie nur finden hätte können . . . Liesel . . . die arme, herzige Liesel!
Im Schloß hatte man sich schließlich der verzweiflungsvollen Ueberzeugung hingegeben, daß sie entweder von Zigeunern gestohlen oder in einem der tiefen Waldteiche ertrunken sei.
Sie war weder von Zigeunern gestohlen worden noch in einem Teich ertrunken, sie hatte sich nur verirrt. Armes, herziges, kleines Liesel!
Warum war sie davongelaufen, warum war sie unfolgsam gewesen! Ach, alles auf der Welt war besser – selbst die ungerechten Strafen der Kindergärtnerin waren besser als dieses Alleinsein in dem schaurigen, dunkelnden Wald! – – –
Es war ein so schöner Tag gewesen, und die Sonnenstrahlen hatten ihr gewinkt, und die ganze Erde hatte einladend geduftet, – und der Gedanke an die gute, alte Kinderfrau, die sie gewiß auf den Schoß nehmen und bedauern und mit süßen Kuchen füttern würde, war zu verlockend gewesen. – Eine kleine Beklommenheit hatte sie allerdings zu überwinden gehabt, da sie sich vom Schloß wegschlich. Aber damit war sie bald fertig geworden. Zur Gesellschaft hatte sie eine Puppe mitgenommen auf den Weg und war Anfangs recht flink über Stock und Stein mit ihren zierlichen, in schwarzen Strümpfen steckenden Beinchen hingehüpft. Es war warm, der Sonnenschein durchdrang ihren zarten Körper, wie er eine Blume durchdringt. Sie freute sich des Lebens, sie lachte und klatschte in die Hände.
Sie hörte den Förster vorbeikommen. Da duckte sie sich in das Farnkraut hinein, das bereits angefangen hatte zu welken, damit er sie nicht sehen sollte. Sein Hund schnupperte nach ihr hin. Der Förster, welcher ihm die Absicht zumuthete, einen Hasen aufscheuchen zu wollen, rief ihn zurück, und da er ein wohlerzogener Hund war, ließ er sich abrufen.
Kaum waren der Förster und sein Hund verschwunden, so lief Liesel weiter. Sie hatte gehört, daß Frau Streubel ganz nah wohnte . . . knapp hinter dem Wald. – Sie hatte keine Ahnung, daß es quer durch den Wald hindurch weiter sein könne als über eine der Parkwiesen in Monplaisir.
Fröhlich lief sie weiter.
Der Wald wurde jetzt viel dichter, – die Sonnenstrahlen hatten größere Mühe hineinzudringen – aber der mit trockenen Kiefernnadeln bedeckte Boden war noch mit Licht übergossen, und da oder dort hoch oben in einem dunklen Wipfel hatte sich ein Lichtstreif verirrt. Auf einigen der Kiefernstämme schimmerte es erst roth wie Feuer, dann roth wie Blut, die hier und da in dem Kiefernwald verstreuten Eichenbäume lohten wie Flammen. Liesel's Muth fing an zu sinken. Sie wäre jetzt gern umgekehrt, aber sie fürchtete sich. Sie war ja immer so streng bestraft worden für ganz kleine Unarten, was würde man ihr erst anthun, jetzt, wo sie etwas wirklich Schreckliches gethan hatte?
Nein, nein, sie konnte jetzt nicht mehr umkehren, konnte nicht nach Haus, sie mußte so rasch als möglich zu der alten Kinderfrau zu gelangen suchen, die sie verstecken und vor Strafe behüten würde. Es konnte auch gar nicht mehr weit sein! – Sie lief noch ein Stückchen – aber plötzlich verglomm der rothe Schimmer, durch die Luft glitt's wie grauer Staub, der dichter und dichter wurde; sie vermochte die Entfernung der Bäume nicht mehr richtig zu bemessen. – Mit einem Mal wurde es ganz dunkel. Eine rasende Angst befiel sie. Sie versuchte vor dem Dunkel davonzurennen, wie vor einem Feind, sie stieß in einen Eichenstamm, blieb liegen, versuchte sich aufzuraffen, stieß noch einmal in etwas hinein und kauerte sich endlich, ganz außer sich vor Schrecken zusammen, drückte die Puppe an sich, fing an zu beten, dann zu weinen, dann zu schreien. Es nützte Alles nichts. Sie weinte und schrie, bis sie müde war, und dann schlief sie ein. Mitten in der Nacht erwachte sie in dem dunklen Wald, in den jetzt ein paar blasse Mondstrahlen hineinglitten. Sie versuchte aufzustehen, aber sie konnte nicht; ihre Glieder waren steif, und ihre Kleider hingen schwer und feucht an ihr. Ihr Kopf that ihr weh, sie hatte Durst und Hunger. Aber alles das ging unter in einem namenlosen Angstgefühl.
Sie rührte sich nicht mehr, sie dachte nicht mehr, sie fühlte nichts als Angst. Sie fürchtete sich vor dem Mondstrahl, der durch die Zweige drang, vor dem Schatten, der über das Moos huschte, vor dem Wind, der durch die Baumkronen strich. Und das Mondlicht wurde immer unheimlicher, und der Wind schrie immer lauter, – ein garstiger, heulender, pfeifender Wind! Zugleich raschelten große Tropfen durch die Eichenäste über ihrem Köpfchen und fielen einer nach dem anderen.
Immer dichter fielen sie . . .
Plötzlich hörte sie, wie etwas auf sie zulief. Sie hörte es trappeln und schnuppern. Sie wollte sich aufrichten, fliehen, – sie konnte nicht. Es kam näher, immer näher – etwas, das hellgrau durch das bleiche Mondlicht schimmerte. – Sie schrie! . . . Doch, da hatte es sie schon am Röckchen gepackt. Es kauerte sich neben sie hin, sprang ihr auf die Schulter. – Sie fühlte, daß es etwas Warmes und ihr freundlich Gesinntes war . . . Ein Hund! . . . Sie sah ihn ziemlich deutlich in dem weißen Mondlicht.
»Peterl!« rief sie. Mit wahnsinniger Freude sprang Peterl auf ihren Schoß und fing an, ihr die Schultern, das Hälschen, ja selbst die Wangen zu lecken.
Und Liesel hielt ihn fest mit beiden Aermchen, sie schmiegten sich in einander – der verstoßene Hund und das verirrte Kind, und waren beide glücklich und hatten beide ein Gefühl freundlichen Geborgenseins; sie wärmten sich an einander, fürchteten sich mit einander und hofften mit einander.
Um sie vor dem Regen zu schützen, schmiegte er sich schützend neben sie, und sie schlief ein. – Er wachte – er dachte darüber nach, wie er Liesel zurückbringen könne.
Er hätte ihr gern den Weg gezeigt nach Hause – aber sie konnte nicht mehr gehen – sie war ganz steif. – Sie schlief fest, und er wedelte freundlich mit dem Schweife und ließ den Regen an sich herunterfließen.
Es mochte gegen vier Uhr früh sein – der Regen hatte aufgehört – da weckte den Kutscher in Monplaisir ein sonderbares Kratzen an der Stallthür. Er stand auf – und da der Mond jetzt untergegangen und es in Folge dessen ganz dunkel war, nahm er die Laterne und sah, was es gab. Vor der Thür stand ein ihm anscheinend unbekannter Hund, wimmernd und von so traurigem Aussehen, daß er ihn für irgend einen verlaufenen Köter hielt und schroff anschrie, worauf der Arme mit tief gesenktem Schweif und Kopf davon eilte.
Der Kutscher wollte sich noch einmal niederlegen, konnte jedoch nicht einschlafen. Plötzlich kam ihm der Gedanke, wenn es Peterl gewesen wäre, den er davon gejagt hatte! Wenn der am Ende etwas von Liesel wisse! . . .
Er stand auf, rief »Peterl« – pfiff – umsonst – keine Antwort erfolgte.
Nach einer Weile weckte er den kleinen Stallbuben und begann mit ihm die Pferde zu striegeln.
Er hatte die Arbeit gerade beendet, hinter jedem Stand lag ein längliches Häuflein dunkelgrauen Staubes, als es von Neuem an die Thür des Stalles kratzte. – Diesmal öffnete er rasch. In die Thüre des mit einer Wandlampe beleuchteten Stalles trat eine sonderbare Erscheinung.
Ein Hund, der, ganz in den angetrockneten Lehm der Straße eingehüllt, wie ein bewegliches Tropfsteingebilde aussah und eine Puppe im Maule hielt. – Kutscher und Stallbub erkannten beide die Puppe Liesel's.
»Peterl!« schrie der Kutscher, »Peterl!«
Aber er hatte keine Zeit, seiner Freude Ausdruck zu geben.
»Schließ die Stallthür, daß der Hund nicht davonläuft,« rief er dem Stalljungen zu, »und gib ihm zu fressen – Milch, alle Milch, die im Hause ist. Weck mein Weib!«
Damit eilte er ins Schloß, – dort schlief Niemand – mehrere Fenster waren erleuchtet – Liesel's Vater kam sofort heraus. »Was gibt's?« fragte er.
Der Kutscher theilte ihm mit, daß Peterl zurückgekehrt sei, und daß er Liesel's Puppe gebracht habe.
»Um Gottes willen!
Ehe eine Minute verstrichen war, zogen Liesel's Papa und der Kutscher in den Wald hinaus, dem voraneilenden Peter nach. Ueber eine Stunde dauerte es – zweimal erlosch die Laterne, welche ihnen leuchtete. Der erste bleiche Morgenschimmer, welcher der Morgenröthe vorangeht, schlich durch den Wald, da nahm Peterl Reißaus, lief in rasender Eile durch die Büsche – Diener und Herr hielten inne, sahen sich an, wußten nicht mehr, wohin sich wenden, als sie das laute Bellen des Hundes herbeirief.
Dort unter einer alten Eiche lag Peterl neben irgend etwas Regungslosem . . . Herr von Feldeck beugte sich nieder . . . es war Liesel.
Der Vater nahm sie in die Arme – sie war steif und kalt! Er dachte, sie sei todt, aber ihr kleines Herz schlug noch. »Gottlob!« murmelte er und trug sie, so rasch er vermochte, nach Hause.
Und Peterl!
Nachdem Liesel gefunden worden war, hatte er eigentlich seine Mission erfüllt. Er wußte es selber. Kein Mensch hatte Zeit, an ihn zu denken, ihn zu loben, zu streicheln. Er wunderte sich gar nicht darüber – er war keine gute Behandlung mehr gewöhnt. Er fragte sich nur, was er noch mit sich anfangen solle – er suchte sich ein Plätzchen zum Verenden. Die Schrotkörner, die ihm der Heger in den Schenkel gejagt und die er über den Aufregungen der letzten Stunden vergessen hatte, schmerzten ihn jetzt sehr. Er schleppte sich halbwach wie durch einen dichten Nebel, ohne recht zu wissen, wohin – bis er die äußeren Umrisse des Stallhofes erkannte.
Vor dem Thor brach er zusammen und schmiegte sich leise wimmernd neben dem Pfeiler nieder. Dort bemerkte ihn ein vorüberfahrender Knecht, der ihn nicht kannte und auch nichts von seiner Heldenthat erfahren hatte. Der schlug mit der Peitsche nach ihm und wollte ihn davon jagen. Aber Peterl rührte sich nicht – fest entschlossen, an der Schwelle der Heimath zu sterben.
Da lief der Kutscher hinaus, um zu sehen, was es gebe, und als er Peterl bemerkte, nahm er ihn in seine Arme, so schmutzig er war, und trug ihn in den Stall – und die Kutschersfrau und der Stallbub kamen herbei, und Alle streichelten Peterl und brachten ihm Leckerbissen, und an dem Streicheln freute er sich sehr, aber an Leckerbissen konnte er sich nicht freuen – er war müde und elend.
Da steckten sie ihn in ein warmes Bad und wuschen ihm seine Wunde und reinigten ihn und rieben ihn trocken und legten ihn schließlich in den alten Verschlag, in dem er mit seinen kleinen Geschwistern gespielt hatte.
Während er schlief, beobachtete ihn das Stallpersonal. Sie fanden alle, daß er viel hübscher geworden sei. Sein Fell war lang und seidig, sein Schweif buschig geworden, und sein ausdrucksvolles Köpfchen machte sich gut selbst im Schlaf.
»Ich glaube, der gnädige Herr wird ihn nicht wieder hinaus jagen!« murmelte der Stallbub.
Da wachte Peterl auf, und nun gab's ein Loben und Liebkosen und Füttern. Er ließ sich's auch gern gefallen und trank mit Enthusiasmus einen ganzen Liter Milch aus. und der Kutscher klopfte ihn ab und rief einmal über das andere: »Mordskerl!« Dann blies er die Backen auf und erklärte: »Wenn dich der Herr jetzt noch hinauswirft, so geh' ich mit dir. Wir bleiben bei einander, Alter!«
Aber sie sollten doch nicht bei einander bleiben.
Im Schloß hatte man indessen große Sorgen. Liesel erholte sich nicht ganz so rasch wie ihr zottiger Freund. – Erst nach mehreren Stunden schlug sie die Augen auf und blickte in das Gesicht ihres Vaters, das sich besorgt über sie beugte.
»Liesel!« murmelte er nur, »Liesel!« Sie dachte, er würde schelten, aber er schalt nicht, und die Stiefmutter, die am Fußende des Bettes saß, schalt auch nicht und sah nicht böse aus und hatte vom Weinen rothe Augen.
Liesel wurde plötzlich ganz seltsam zu Muthe bei dem Gedanken, daß die Stiefmutter um sie geweint hatte. – Sie blickte sie starr und reuig an, und plötzlich richtete sie sich ein wenig auf und sagte mit einem dünnen, heiseren Stimmchen: »Mammi!«
Da umschloß die Stiefmutter sie mit beiden Armen und drückte sie fest an sich.
Dann brachte sie der Kleinen eine Tasse süßer Milch – ach, die that wohl! – und dann fragte sie, ob Liesel irgend einen Wunsch habe.
Da bekam Liesel plötzlich Muth und wagte etwas ganz Großartiges.
»Peterl!« flüsterte sie; »ich mochte den Peterl haben!«
Da wechselte das Ehepaar einen Blick – einen kurzen, inhaltsschweren Blick . . . dann merkte der Gatte, daß er gesiegt hatte, ein für allemal, und daß Alles gut war.
Die Mama stand auf und ging hinaus. – Ein paar Minuten später kam sie wieder, hinter ihr Peterl, verschämt mit dem Schweif wedelnd, steif, hinkend, aber sauber und überglücklich. Liesel richtete sich ein klein wenig auf und rief: »Peterl!«
Er aber sprang auf sie los und leckte ihr Händchen, und sie klopfte ihm auf den Kopf und murmelte: »Lieber Peter! guter Peter!«
Und die Stiefmama ließ es geschehen. Als sie merkte, daß der Blick des Gatten fragend und ein wenig belustigt auf ihr ruhte, citirte sie, wie um sich für ihre Nachgiebigkeit zu entschuldigen, seine eigenen Worte: »Weißt Du, Leopold, vor Allem kann man sich nicht behüten, etwas muß man auch dem lieben Gott überlassen.«
Er aber traf sie mit einem ernsten, milden Blick und murmelte! »Ja, Marie, aber nicht zu viel!«
Ihr stürzten die Thränen aus den Augen . . . »Du hast Recht!« murmelte sie, während er sie umarmte und herzlicher küßte, als er sie je zuvor geküßt hatte. –
Aus schlaftrunkenen Augen blickte Liesel die Eltern an. Ein Gefühl unsäglichen Wohlbehagens hatte sie überkommen. Sie streckte ihre kleinen Glieder und schlief ein.
Peterl sah erst den Herrn, dann die Frau an; da die Beiden aber, anstatt ihn hinaus zu jagen, ihn Eines nach dem Anderen streichelten und ihm Kosenamen gaben, dann aber gänzlich seine Gegenwart vergaßen, kauerte er sich ruhig auf dem weißen Fell vor Liesel's Gitterbettchen zusammen und schlief auch ein.
Plötzlich weckte ihn ein Geräusch. Das Hausmädchen war herein getreten. Sie komme den Hund holen, sagte sie; der Kutscher habe Angst, der Peterl könne die Herrschaften belästigen . . .
Da aber erklärte Herr von Feldeck, der Peterl käme überhaupt nicht mehr in den Stall zurück, der solle im Schloß bleiben ein für allemal.
Da spitzte Peterl die Ohren und stieß einen langen, behaglichen Seufzer aus. Er war jetzt ganz beruhigt und hatte die feste Ueberzeugung gewonnen, daß ihn Niemand mehr hinaus weisen würde aus Monplaisir.
Und er behielt Recht!
Nicht nur, daß ihn Niemand hinauswies – aber alle thaten ihm schön, – er war der ausgemachte Liebling von ganz Monplaisir!
Vor allem natürlich war er Liesel's Wächter und Freund. – Des Nachts schlief er neben ihrem Bettchen, und wenn sie spazieren ging, lief er neben ihr her. – Und das dauerte viele Jahre so fort – als Liesel schon ein ganz großes Mädchen war. Und Peterl war immer gleich unzertrennlich von ihr. – Nur wenn sie lernen mußte, da wurde er ihr untreu.
Lange hatte er ihre mit absolutem Stillsitzen verbundenen Lektionen als eine grausame Quälerei, – eine seiner geliebten kleinen Herrin auferlegte Strafe betrachtet, so daß er gegen alle ihre Lehrer die Zähne gefletscht hatte, wenn er nicht energischer gegen sie zu Felde gezogen war.
Als aber Liesel selber die Partei der Lehrer ergriff und ihm eines Tages mit ihren herzigen Händchen auf den Kopf klopfend zurief: »Du dummer Peter, das verstehst Du nicht . . . das muß sein, das Lernen! . . .« Da ließ er die Lehrer in Ruh'.
Es mußte wohl sein, – und er verstand es nicht – aber ansehen brauchte er sich die Quälerei auch nicht.
Drum lief er jedes Mal, wenn Liesel's Stunden anfingen, davon. Er benützte die Zeit, um nach Herzenslust herumzusausen im Park von Monplaisir, Kaninchen zu jagen und seinem alten Stall Visiten abzustatten. – Bei all' diesen Erlustigungen begleitete ihn sein vornehmer Papa Peter der Große!
Ein Umschwung hatte sich eingestellt in seinen Gefühlen. – Er war jetzt stolz auf seinen Sohn. Er fand, daß man einen Helden mit einem anderen Schönheitsmaßstab zu messen hat, als andere Hunde.