Ossip Schubin
Im gewohnten Geleis
Ossip Schubin

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Eine sehr merkwürdige Beobachtung machte Hans. Nixa kam nicht zum Vorschein. Wie er später erfuhr, haßte sie die schönen, trotz ihrer äußerlichen Leutseligkeit sehr stolzen Mädchen, die ihr einmal durch irgend eine Schattierung ihres Benehmens zu verstehen gegeben hatten, daß sie sie nicht völlig als ihresgleichen betrachteten.

Graf Miroslaw war von seinen reizenden Nichten entzückt, er verbrachte den Nachmittag abwechselnd an seinem Schreibtisch und in der anregenden Gesellschaft der jungen Mädchen. Wie er sich selber ausdrückte, konnte er sich bei der Jugend erholen von den schweren Sorgen, die ihn am Schreibtisch bedrückten.

Das waren aber auch Sorgen! Um den Ansprüchen der jungen Damen zu genügen, hatte Graf Miroslaw dem in Abwesenheit des Obersten das Regiment führenden Major Müller geschrieben, mit der Bitte, ihm so viele Tänzer als möglich aus dem Offiziercorps zu senden, er hatte ihm carte blanche gegeben für die Einladungen.

Wie es schien, hatte aber der Major eine schlechte oder gar keine Wahl getroffen, was übrigens den Standpunkt des Grafen Miroslaw in Ehren, immerhin das Taktvollste gewesen war. Dies sah der Graf natürlich nicht ein, sondern seufzte tief über die bunte Reihe der Gäste. Nun, man mußte sich eben schon etwas gefallen lassen, dem armen Fery zuliebe.

Aber trotz aller Opfer, die er seinem Liebling zu bringen bereit ist, fährt der Graf schließlich doch aus der Haut, als er, die von Müller gesandte Liste durchsehend, darunter den Namen des Rechnungsoffiziers entdeckt.

»Fehlt nur noch der Kurschmied!« ruft er in höchster Entrüstung seiner Gattin zu, der er, wie in allen schwierigen Lebenslagen, sein Leid klagt. »Fehlt nur noch der Kurschmied! Und ich hätte doch wirklich darauf rechnen können, daß sich der Müller uns dankbar erweise, schon dafür, daß man seine Frau eingeladen hat.«

»Ja, das finde ich auch,« versichert mit humoristischer Ueberzeugung die Gräfin. »Da er es aber unterlassen hat, so würde ich gute Miene zum bösen Spiel machen und sehen, daß meine Gäste sich wohl fühlen, wer immer sie sein mögen, und mir wegen der Geschichte keine grauen Haare mehr wach Aber Graf Miroslaw ist noch immer nicht beruhigt, Wehrpflicht das alles nicht nötig hätten!« sprudelt er weiter, als er wieder unter die lachende Jugend zurückkehrt.

»Was?« fragen die Nichten.

»Nun, das G'schichtenmachen mit dem Regiment. Wenn es sich nicht um das Freiwilligenjahr meines armen Buben handelte, hätte ich einfach die Offiziere eingeladen, die mir passen, und mich den Teufel um die anderen geschert. Aber so muß ich mit den Wölfen heulen. Es ist ein Kreuz! Ich kann euch gar nicht sagen, was ich mich ärgere, wenn ich mich an die allgemeine Wehrpflicht erinnere! Ich versichere euch, Kinder, die Schlacht von Königgrätz habe ich Bismarck längst verziehen...«

»Ich auch!« versichert Ungadyi lächelnd.

»Na, ihr Ungarn habt guten Grund dazu – hm! ... hm! ... aber ...« »Onkel Max! ... Der Fery, der Fery!« ruf Clemence und klatscht in die Hände, da sie eben ein Phaeton an der Veranda vorüberrollen sieht. »Auf dieses Vergnügen war ich gar nicht gefaßt!«

»Teufelsbub! Was fällt denn dem ein! Ist mir durchaus nicht recht, daß er seine Studien unterbricht! Da muß ich gleich sehen, was das ist,« Von beiden Nichten begleitet und mit vor Freude glänzendem Gesicht geht der Graf seinem Hoffnungsvollen entgegen, um »ihm eine Strafpredigt zu halten«.

»Na, wie kommst denn du eigentlich hierher, Ferus, was fällt dir denn ein, woher weißt denn du, daß heute bei uns getanzt wird?«

Fery sieht den Vater aus lustigen blauen Augen groß an ... »Woher?... Woher?... Du hast mir's ja geschrieben, Papa!«

Und wieder lachen die Nichten.

Der Abend ist hereingebrochen. Die Logiergäste sind bereits alle angekommen. In den Korridoren begegnet man hie und da einer Kammerjungfer, die, eine Haarkräuselmaschine in der Hand, nach Spiritus verlangt.

Graf Miroslaw hat endlich die harte Arbeit der Tafelordnung beendet und prüft jetzt die Vorbereitungen, die sonst noch zum Empfang der Gäste gemacht worden sind. Mit feierlicher Hausherrnbefriedigung gleitet sein Blick über die langen Tafeln in dem Speisesaal, einem ganz weiß gestrichenen, mit Stuckarabesken aus der besseren Rokokozeit reich verzierten Raum. Alles, wie es sich gehört! Blendend weißes, wie Atlas glänzendes Tischzeug, durchsichtiges Krystall, schweres altes Silber, als einzige Verzierung silberne Körbe von allerhand Formen, dicht mit Rosen gefüllt, die späterhin zum Cotillon verwendet werden sollen. Es ist diesmal in dem Saal ebener Erde gedeckt worden, wie denn überhaupt das ganze Fest in dem Erdgeschoß abgehalten werden soll, das sich an das Treibhaus schließt. Zwischen dem Speise- und dem Tanzsaal liegt die Bibliothek, in welcher die Spieltische aufgestellt worden sind für die »vernünftigen Menschen«, die dem Tanzvergnügen nicht mehr frönen, und während Graf Miroslaw auch da nachsieht, ob alles in Ordnung ist, beschäftigt sich Fery der Hoffnungsvolle mit dem »Tapeur«, der sich bereits an den Flügel gesetzt hat, um zu probieren, und dem Fery die aus Prag mitgebrachten allerneuesten Tanzstücke vorlegt.

Der »Tapeur« ist aus Trischkow, der nächsten Kreisstadt, ein alter Mann mit langen, weißen Haaren um eine glänzende Glatze herum und mit großen glutigen Augen hinter weit vorspringenden Backenknochen. Ein verbummeltes Genie sozusagen, hat er sich vor zwanzig Jahren aufs Land zurückgezogen, um ungestört an einer Oper mit einem »packenden« Libretto zu schreiben. Die Oper ist noch nicht fertig, der geniale Komponist ernährt sich hauptsächlich durch Klavierstimmen, wobei er jedesmal seine Thätigkeit damit abschließt, daß er, um die Tonreinheit des gestimmten Instruments zu probieren, die effektvollste Nummer seiner unvollendeten Oper – Trauermarsch mit eingeflochtenen Tanzmotiven – in die Tasten hineindrischt, und zwar gerät er dabei jedesmal in ein solches Feuer, daß er gleich darauf von neuem zu stimmen anfangen muß. Es läßt sich nicht leugnen, daß der Polka-Trauermarsch ein wenn auch paradoxes, immerhin geniales Musikstück ist, aber Papa Machkowsky, wie er sich seit seinen Konservatoristentagen mit Vorliebe nennen ließ, hat längst nur noch einen Ehrgeiz, man möge den Trauermarsch, welchen er frei nach Smetana »Aus meinem Leben« betitelt hat, hinter seinem Sarge spielen, wenn er dereinst zur letzten Ruhestätte getragen oder gefahren werden wird. Der Trauermarsch schließt mit einer Polka ab, und komischerweise behauptet Machkowsky, die Polka sei das allertraurigste an der ganzen traurigen Rhapsodie.

Machkowsky ist eine Legende, sein Genie ein Glaubensartikel in der Familie Miroslaw. Noch heute ist Graf Max fest davon überzeugt, daß der Machkowsky im Grunde genommen mindestens ebensoviel Talent gehabt habe als Smetana, und daß es nur seiner Faulheit beizumessen sei, wenn er nicht zwei »Verkaufte Bräute« geschrieben habe. Graf Fery findet zwar, daß der Machkowsky »gewesen«, daß er steife Finger habe und klappere, aber für die ältere Generation sind das Blasphemieen, die ältere Generation hört Machkowsky mit der Erinnerung an die Zeiten, wo er Verlobungen zusammenzuspielen verstand wie sonst keiner, an die Zeiten, wo niemand an seinem Genie zweifelte, nicht einmal er selbst – bis er eines schönen Tages seine ganze Zukunft verkaufte für eine Schüssel Knödel, das heißt für eine hübsche Fleischhackerstochter, die sie zuzubereiten verstand ...

»Bravo, Machkowsky!« ruft Graf Miroslaw dem Alten, welcher soeben eine zugleich schmachtende und ritterliche Mazurka probiert, aus der Bibliothek zu, dann, sich an Graf Ungadyi wendend, welcher bereits im Gesellschaftsanzug zu ihm getreten ist, um ihm empfangen zu helfen, erzählt er dem Edelmann die Biographie des böhmischen Musikanten, aus welcher er, dem ungarischen Landsmann zu Ehren, recht eigentümliche, den ganzen czechischen Nationalcharakter beleuchtende Schlüsse zieht.

»Siehst du, Bela,« ruft er, »aus diesem einen Menschen erkennst du das ganze böhmische Volk! Die schlechteste Eigenschaft des Böhmen ist seine Genügsamkeit; wenn ein Böhm' einmal seine Marjanka und seine Knödel hat, so lockst du ihn mit keiner Chimäre aus seiner gutgeheizten Ofenecke heraus. Das ... das – diese verfluchte Genügsamkeit ist's allein, weshalb die Böhmen vielleicht einmal eine tüchtige und sehr wahrscheinlich eine wichtige, aber nie, nie eine besonders glänzende Rolle spielen werden. Das ist der Grund, weshalb wir euch Ungarn nicht schon längst über den Kopf gesprungen sind!«

»Wirklich ... und ist das auch die Ansicht eures großen politischen Nationalgenies?« fragt etwas skeptisch Bela.

»Von welchem Nationalgenie sprichst du?« fragt Graf Miroslaw.

»Von Ronsky – von wem denn sonst? Von allen Seiten hör' ich, daß man sich so viel von ihm versprochen hat.«

»Versprochen hat – ob man sich aber noch sehr viel von ihm verspricht...«

»Nun, wie es heißt, soll in der allernächsten Zeit eine großartige politische Broschüre von ihm erscheinen.«

»Hm!... hm!...«

»Du scheinst nicht sehr an die glänzende politische Zukunft Ronskys zu glauben ...« lacht Bela. »Fürchtest du vielleicht auch, daß die Genügsamkeit sein größter Fehler ist und er einmal für eine Marjanka und eine Schüssel Knödel seine Carriere aufgibt?«

»Mein lieber Bela, das ist ein Witz, der nicht schlecht ist, der aber doch beweist, daß du von unserer politischen Lage gar nichts weißt. ... Die Nation, der ich die Genügsamkeit zum Vorwurf mache, ist ja nur das politische Material, mit dem wir arbeiten, aber wir gehören eigentlich nicht zu dieser Nation. Wir sind von böhmischen Kinderfrauen verwöhnt worden, wir sind mit böhmischen Liedern in den Schlaf gesungen worden, wir lieben die Nation oder lieben vielmehr das Volk, das gutmütige, feinfühlende, anhängliche Volk, das die Sprache der Nation spricht und dem mit der Sprache seine Individualität, seine Poesie, seine Abgeschlossenheit genommen würde – aber wenn wir anderen von unserer böhmischen Nationalität sprechen, so ist das eine Pose. Der böhmische Adel ist weder aus seiner Nation herausgewachsen, noch mit ihr zusammengewachsen, der böhmische Adel wählt sich seine Nationalität, wenn er erwachsen ist, wie sich bei gewissen Sekten die Menschen den Glauben wählen... ich bitte dich, mein lieber Bela, ein Glaube und eine Nationalität, die man sich wählt, die sind beide nicht waschecht. Der böhmische Adel hat keine Nationalität, er hat nur einen Kaiser, und er hat sich auch um nichts anderes zu scheren als höchstens um den Wohlstand und das Wohlergehen der Provinz, in welcher er zufälligerweise geboren worden ist. Wir lernen jetzt alle böhmisch, aber wir lernen es, wie man eine fremde Sprache lernt. Wir sprechend im Ausland aus Spaß und im Inland aus Pflichtgefühl, aber der Teufel hol' mich, wenn's zehn unter uns gibt, die am Abend ihr ›Vaterunser‹ böhmisch beten!«

Damit hatte sich Graf Miroslaw außer Atem gesprochen, und doch war er noch lange nicht fertig mit seiner Weisheit. Jedenfalls hatte er lange genug gesprochen, um dem Neffen die Ueberzeugung beizubringen, daß Onkel Max eigentlich ein verflucht gescheiter Kopf sei und von seinen Standesgenossen nur deswegen unterschätzt werde, weil seine Gescheitheit nicht mit dem Grad von Pedanterie »angerichtet« war, der ihr in den Augen des größten Teils der Menschheit erst die Würde verleiht, Infolgedessen hörte er aufmerksam zu, als Graf Miroslaw, nun wieder zu Atem gekommen, von neuem anhob:

»Siehst du, mein lieber Bela, ich bin gerade gescheit genug, einzusehen, daß ein aus unserer Klasse herausgewachsener ›Führer‹ der böhmischen Nation ein Unding ist!«

»Und Ronsky?« fragt Bela.

»Ronsky ist eben noch nicht gescheit genug, um es einzusehen. Er wird gerade gescheit genug werden, sobald ihm die Nation samt seinen Idealen heimgeleuchtet haben wird. Wenn sich die böhmische Nation noch zu etwas Großem entwickelt, so wird es ohne unser Hinzuthun und, wenn ich mich nicht sehr irre, durchaus nicht zu unserer Freude geschehen. Sie wird die demokratischste aller Nationen sein, und ihre demokratische Organisation wird halten, weil sie nicht wie bei allen anderen Nationen ein Uebergangsstadium, sondern ein Ausruhestadium sein wird – ein Ausruhen in der Genügsamkeit, die den Aufschwung schwer, hingegen das Sichbescheiden zwischen engen Grenzen, das Sichfügen in ein erreichtes Ziel möglich macht .... Aber ich bitte dich, was soll denn unsereins in so einem Paradies für Gebrüder Schuster und Handschuhmacher? Was spielen wir da für eine Rolle?«

»Wir dürfen eben nicht mehr daran denken, eine Rolle zu spielen, sondern einzig und allein daran, unsere Pflicht zu thun!« ruft jetzt mit Pathos Fery Miroslaw, der sich soeben den beiden anderen zugesellt hat.

»Woher hast denn du die Weisheit?« fragt der hinzutretende Graf Flintsch, Ronskys ehemaliger diplomatischer Kollege, der jedoch seinem Beruf treu geblieben und nur mit einem Urlaub für ein paar Wochen auf das Gut seiner Eltern zu Besuch gekommen und zu dem heutigen Fest geladen worden ist. Die Worte Ferys erscheinen dem Grafen Flintsch als der Inbegriff alles »Geschwollenen«, und Fery, der sie offenbar im selben Licht betrachtet, beeilt sich zu erklären: »Von mir stammt die Weisheit nicht, das kannst du mir glauben! Von Ronsky rührt sie her, ich hab' sie aus seiner letzten, soeben erst dem Druck übergebenen Flugschrift citiert.«

»Na, von Hans Ronsky dürfte dieses Diktum auch nicht stammen,« erklärt Graf Max, »Das ist so ein Stück zum Gemeinplatz verhärteter Allerweltsweisheit, mit der sich Ronsky aus Mangel eigener Erfindungsgabe ausgeholfen hat.«

»Ja, was ist denn eigentlich mit dem Ronsky?« wirft Graf Flintsch ein. »Ich erinnere mich, daß am Tag seiner Promotion in Prag sehr viel Lärm geschlagen wurde. In Berlin waren wir zusammen, dann kam er mir aus dem Gesicht, und jetzt, als ich durch Prag reiste, hörte ich sehr viel von seiner neuesten That, einer politischen Flugschrift, die soeben veröffentlicht werden soll. Wißt ihr etwas Näheres darüber?«

»Weißt du etwas Näheres?« wendet sich Graf Miroslaw an Fery.

»Nun, Eugen Binsky, der sogenannte ›Getreueste‹ Ronskys, hat uns neulich bei Onkel Karl in Prag Bruchstücke daraus vorgelesen. Er – Binsky – machte ein Aufhebens davon, als handle sich's mindestens um einen dritten Teil Faust.«

»Na, und was sagten die anderen?«

»Die anderen sagten ... Hm!... Einige sagten, das ganze Schriftstück sei ›ein Unsinn, der sich gewaschen hat‹. Hierauf meinten welche, ein gewaschener Unsinn sei doch noch besser als ein ungewaschener, und Onkel Karl sagte ...« »Was sagte Onkel Karl, darauf kommt's mir nämlich an,« fragt Graf Miroslawm. Onkel Karl war derselbe alte Staatsmann, der bei Hans Ronskys Promotion so viel von dessen Zukunft erhofft hatte.

»Onkel Karl... Onkel Karl war sehr betrübt – er sagte, Ronskys Schreibweise mache ihn so unruhig wie der Blick eines Menschen, der mit jedem Aug' nach einer anderen Weltrichtung schielt.«

»Da haben wir's!« ruft entzückt Graf Miroslaw. »Ganz meine Ansicht, nur, daß ich nicht so viel Jahre gebraucht habe, um sie mir anzueignen. Und wenn Ronsky sechs Augen hätte, so würde er mit jedem nach einer anderen Weltgegend schielen. Eine redliche politische Ueberzeugung laß ich mir gefallen, mag sie auch noch so paradox sein. Vor einem Ravachol Hab' ich Respekt, vorausgesetzt, daß er sich mit Courage hinrichten läßt; aber vor einem Politiker, der zugleich Aristokrat, Sozialist, Deutscher und Czeche sein will, vor dem kann ich keinen Respekt haben – Gott bewahre mich vor so einem Konglomerat!«

»Und dabei ist er ein famoser Mensch, wenn die Politik aus dem Spiel ist,« meint Fery. »Neulich bei Weißenbergs hat er einen Rehbock auf zweihundert Schritt geschossen, natürlich mit der Kugel!«

Flintsch und Ungadyi lachen. Graf Miroslaw aber wird nachdenklich: »Nein, meine Lieben, selbst wenn die Politik nicht im Spiel, ist er ein Mensch, der stets Mittel und Wege finden wird, sich nach reiflicher Ueberlegung zwischen zwei Stühle zu setzen.« Damit ist sein Urteil über Hans Ronsky abgeschlossen.

Fery aber fordert Flintsch lebhaft auf, den neuen Walzer mit ihm zu probieren, den der Machkowsky soeben spielt, worauf die beiden jungen Herren in den Tanzsaal eilen und seelenvergnügt zu den zündenden Rhythmen Machkowskys als einziges, aber außerordentlich animiertes Paar durch den Tanzsaal wirbeln, so lange, bis sie draußen den ersten Wagen rollen hören.

Das »Tanzerl« in Wodanka gehörte entschieden zu den »gelungensten Festen« der Saison. Selbst in der »Bohemia«, dem ersten deutschen Journal Prags, erschien am Tag nach dem Fest eine Notiz darüber, eine Notiz, die von keinem anderen herrührte als dem braven und dankbaren Rechnungsoffizier Runkel und die in einer so schwungvollen Tonart verfaßt war, daß sie schließlich auch den Grafen Miroslaw mit der Anwesenheit des Hauptmanns unter seinem gastlichen Dach versöhnen sollte.

Eine umsichtigere Hausfrau als die Gräfin Klotilde konnte man sich nicht denken, und ein liebenswürdigerer Hausherr als Graf Miroslaw, nachdem er mit seinen präludierenden Unausstehlichkeiten fertig geworden, wäre überhaupt auf der ganzen Welt nicht zu finden gewesen.

Daß die ritterliche Vornehmheit seiner Erscheinung bei solchen Gelegenheiten besonders zur Geltung kam, braucht wohl kaum erwähnt zu werden, ebensowenig, daß er für jeden seiner persönlichen Bekannten stets das Wort traf, welches er oder sie gerade zu hören wünschten. Das gehörte zum Abc. Aber er fand auch den Weg in alle Ecken, in die sich verschüchterte Individuen geflüchtet hatten, er wußte jeden aufzurichten, der aus Verlegenheit in der Konversation gestolpert war, er legte ein Genie an den Tag, die plumpste Dummheit in ein verzeihliches Licht zu rücken.

Gräfin Leontine schwebte als segnender Genius über allen Anordnungen. Von Zeit zu Zeit schlich sie sich an den Hausherrn oder die Hausfrau heran, um aus verwandtschaftlicher Liebe auf irgend einen Uebelstand aufmerksam zu machen.

Aber selbst diese aufopfernden Freundschaftsbeweise waren nicht im stande, die Stimmung zu trüben. Das ganze Fest duftete nach Rosen, und das silberne Lachen der Komtessen schwirrte durch den Duft hin wie das Plätschern eines über Stock und Stein springenden Gebirgsbaches.

Die Gräfin Clemence trug ein rosa Kleid, das anmutig und frisch war wie sie selbst. Ihrem ganzen Wesen war es anzumerken, daß sie an nichts dachte, als sich zu unterhalten, zu tanzen und die jungen Herren zu necken, zu »hetzen«, wie sie es nannte – ohne irgend eine weiterliegende Absicht, wie zum Beispiel einem romantisch angelegten Jüngling den Kopf zu verdrehen oder einen gut situierten Majoratsherrn zu einem Heiratsantrag zu veranlassen.

Die Gräfin Ungadyi, welche in einem blauseidenen Gewand mit schönen Spitzen, Brillantboutons und einem Spürchen Würde (ihrem verheirateten Stand zu Ehren) eingetreten war, vergaß diesen ganzen Ballast nach der ersten Polka und tanzte bald mit einem Feuer, einer Leichtigkeit und Unermüdlichkeit, daß kein Mensch mehr ihren eigenen Ansichten über Nestlesches Kindermehl viel Vertrauen entgegengebracht hätte.

Die beiden Wiener Komtessen zeigten sich anfangs ein wenig wählerisch in Bezug auf die Tänzer aus dem Offizierscorps, wollten nur mit diesem und nicht mit jenem Leutnant tanzen, aber der sonst ziemlich phlegmatische Fery trat so energisch für seine zukünftigen Regimentskameraden auf, daß die Damen ihre Zurückhaltung aufgaben, ehe sie Zeit gehabt hatten, eine Verstimmung zu verursachen, worauf auch sie, von der allgemeinen Heiterkeit angesteckt, sich mit der Unbefangenheit der anderen jungen Mädchen dem Tanz und der Freude hingaben.

Der Raum war herrlich. Auf dem Parkett hatte man, wie Gräfin Clemence behauptete, mit hölzernen Beinen tanzen können, und die Musik war über alles Lob erhaben. Der alte Machkowsky führte heute aber auch gar zu tolle Kunststückchen aus. Von »Klappern« war keine Rede mehr. Der Flügel, ein Bechstein, dröhnte unter seinen Händen wie ein ganzes Orchester; dann wieder weinte und lachte er weich und innig wie eine verschleierte Menschenstimme; er jauchzte, tobte, klagte, flehte, raste, triumphierte, alles in den packenden Tanzrhythmen, die der Spieler als echter böhmischer Musikant auch in seiner überschwenglichsten Begeisterung nie zu markieren vergaß.

Er spielte jede Nummer für irgend ein besonderes Paar, das er in die Augen faßte und während der ganzen Dauer des einen Tanzes nicht aus den Augen verlor, und er sah es dem einen Paar stets genau an, ob es ein rasches oder ein langsames Tempo, eine lebhafte oder schmachtende Vortragsweise verlangte. Zu den ihm von Fery vorgelegten Walzern improvisierte er die kühnsten Bässe, verstärkte die Melodieen durch die interessantesten Einschaltungen.

Sonderbar nahm sich seine Erscheinung aus, sein fleischloses Gesicht mit den großen Augen, die aus so tiefen Höhlen herausglühten, daß man sie kaum sah, die aufgeworfene Nase mit den großen Nasenlöchern, die eingesunkenen Wangen. Von Zeit zu Zeit leckte er sich die trockenen Lippen und zeigte seine großen, gelben, lückenhaften Zähne. Dann wurde er unheimlich.

»Er sieht aus wie ein Totenkopf,« sagte Graf Flintsch, »es ist, als ob ein Skelett im schwarzen Frack zum Tanz aufspielte.« Graf Miroslaw fand das auch. Ein andermal wollte er den Machkowsky hinter einer spanischen Wand oder wenigstens hinter einer grünen Pflanzenpalissade spielen lassen. Nur war er nicht ganz sicher, ob das nicht am Ende den armen Alten kränken könnte.

Um das Skelett im schwarzen Frack wirbelte die blühende, neckende, jauchzende, lachende Jugend. Himmelblau – meergrün – rosa – blaßviolett und silbrigweiß, es war wie ein zerflatternder Regenbogen, aus dem Engelsköpfchen herausnickten. Die hellblauen Röcke der Offiziere paßten zu dem Ganzen, nur sehr wenige schwarze Fracks störten die Farbenwirkung.

Natürlich wurde die Frage angeregt, welches unter den anwesenden jungen Mädchen das schönste sei. Graf Miroslaw stimmte für seine Nichte Clemence. Zu seinem Erstaunen aber konnte man sich hierüber nicht einigen. Mehr als einer der benachbarten Herrschaftsbesitzer versicherte, die Gräfin Clemence sei wirklich ganz reizend, fragte jedoch gleich danach, wer das junge Mädchen sei mit dem goldblonden Haar. Und als Mitternacht vorüber war, ließ sich's nicht mehr leugnen, daß Nixas Anmut die Reize aller anderen Komtessen überstrahlte. Je länger sie tanzte, um so leuchtender und weißer wurde ihre Haut, um so tiefer das Rot auf ihren Lippen und das Blau in ihren Augen.

Sie trug ein weißes Kleid, nicht eine Blume, nicht ein buntes Band, als einzigen Schmuck zwei ungewöhnlich große Brillanten in den Ohren, Brillanten, welche ihrer Mutter gehört hatten und welche alle Lichtstrahlen des Tanzsaales an sich zu ziehen schienen. Ihr Kleid war sehr einfach gemacht, aber es legte sich um ihre Glieder wie das Kleid keines der anderen anwesenden Mädchen. Und diese Glieder, wie schön waren sie, besonders die Arme! Ihre Handschuhe reichten kaum bis an den Ellenbogen hinauf, und Aermel trug sie überhaupt nicht, nur eine Spange, die die Taille an den Schultern zusammenhielt. Im übrigen war das Kleid nicht mehr und nicht weniger ausgeschnitten als die Kleider der anderen Komtessen, dennoch hatte Ronsky allerhand daran auszusetzen, und gelbe und rote Flammen flackerten ihm jedesmal vor den Augen, wenn er Monika in den Armen ihres Tänzers vorüberwirbeln sah.

Ach, wenn er nur wenigstens hätte mittanzen können, aber nein! sein verstauchter Fuß schmerzte ihn nach einem mißglückten Versuch, eine Quadrille zu gehen, mehr denn zuvor. Er konnte sich kaum rühren. Sie dagegen tanzte unermüdlich. Von Zeit zu Zeit rauschte sie dicht an ihm vorbei, so dicht, daß ihr leichtes Kleid an sein Knie schlug. Einmal streifte ihn ihr Blick, aber dann nicht wieder; es war fast, als ob sie sich bemühe, von ihm wegzusehen. Nur eine weiße Erscheinung mit lohendem Haar, ein herrlicher Nacken, über den sich der Kopf eines fremden Mannes beugte ... dann ... als sie längst fort war, umschwebte ihn noch das leise Nachzittern des eigentümlichen Duftes, den ihre kundige Mutter sie bereiten gelehrt, der allen ihren Kleidern entströmte, der von ihrer Person selbst auszugehen schien. – –

Es wurde schwüler im Saal, auch die Gefühlstemperatur erwärmte sich. Hans sah, wie alle Männerblicke nur nach Nixa strebten, an ihr hängen blieben. Er schloß die Augen, aber dadurch wurde die Qual nur noch stärker! Rings um ihn das Wogen der erhitzten Luft, durch die sich geheimnisvolle magnetische Strömungen zogen, das Hüpfen und Schleifen flinker Füße, das Rauschen duftiger Gewänder, das Klingeln leichter Sporen, das rasche Atmen junger Lippen.

Ach! ... Wie eine laue Welle stieg's an ihm hinauf, am Herzen faßte es ihn. Ihm war's, als müsse er ersticken! Machkowsky spielte wie verrückt!

Es war beim Cotillon, daß Hans die Augen geschlossen hatte. Als er sie wieder öffnete, war der Cotillon beendigt...

Die Paare spazierten an ihm vorbei in die Bibliothek und von dort in den anstoßenden Saal auf die bereit stehenden Erfrischungen zu.

Alle jungen Mädchen trugen Rosen in den Händen, ihre Augen glänzten wie die Sterne, um sie herum vibrierte eine Atmosphäre erhöhter Lebenslust.

Ein Paar blieb in dem Saal zurück – Monika und Doppelberg.

Ronsky sah, wie der Offizier sie bei beiden Händen nahm und innig auf sie einredete. Dann verschwanden beide ins Treibhaus.

Das Tageslicht fing an in den Kerzenschimmer des Tanzsaales ernüchternd hereinzuschweben. Durch die langen, kleinscheibigen Fenster sah man hinaus auf eine verschlafene Welt mit blaßgrünen, weiß überschimmerten Rasenplätzen und mit Akazienbäumen, die mit weißen Blüten wie mit Wellenschaum gekrönt waren und deren grüne Wipfel sich leise gegen einen hellrosa Himmel hin und her wiegten. In das Rauschen der Bäume klang das Rufen des Kuckucks, das hohe, dünne, aber unendlich süße Zwitschern der Lerchen. Dazwischen hörte man das Rollen und Traben davoneilender Equipagen.

Der Tanzsaal war leer. Wer von den Gästen noch nicht heimgefahren war, hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen. Fery, der seinen Aufenthalt bei den Eltern wie immer bis zum letzten Augenblick auskosten wollte, hatte es nicht der Mühe wert gefunden, sich niederzulegen, und war mit dem Jäger auf den Anstand gegangen, um noch in aller Eile einen Bock zu schießen. Zum Ausschlafen war Zeit in Prag. Die Professoren würden ein Einsehen haben, sie waren immer so rücksichtsvoll.

Durch die Korridore zog ein leises Klirren von Silber und Porzellan. Der alte Kammerdiener verstand keinen Spaß und ließ nicht locker, bevor nicht sämtliches Geschirr wieder verschlossen war.

Graf Miroslaw rieb sich die Hände aus Vergnügen darüber, daß es überstanden war, so gut überstanden war. Clemence hatte ihn zum Schluß umarmt und ihm versichert, daß sie sich im Laufe des ganzen Faschings nicht so gut unterhalten habe, und daß Fery wie ein Engel tanze. Für beides war der Graf sehr empfänglich. Jetzt stand er eben im Begriff, seiner Gattin auf das ritterlichste für ihren freundlichen Beistand zu danken, bei welcher Gelegenheit er sich erkundigte, ob sie keine unzufriedenen Gesichter bemerkt habe. Das würde ihm sehr leid thun.

Anfangs wußte sie sich an keines zu erinnern, dann... »Nun ich's überleg'!... Hans Ronsky war sehr verstimmt. Was hat er nur?«

»Ronsky... was er hat? Ja, was er hat... er ist verliebt in die Nixa und kann sich nicht entschließen, sie zu heiraten!« erklärte achselzuckend Graf Miroslaw. »Der flößt mir kein Mitleid ein!« – –

Indessen saß Hans verdrossen in der Bibliothek. Er konnte sich auch nicht entschließen, schlafen zu gehen. Eine gespannte Neugier hielt die Ruhe von ihm fern. Wenn er nur seiner Schwester hätte habhaft werden können, aber sie war wie in den Erdboden versunken. Er hatte zu ihr hinaufgeschickt – »nein, Ihre Excellenz haben sich noch nicht zur Ruhe begeben.«

So saß er denn da und wartete. Eine Schlaftrunkenheit überkam ihn. Er war halb eingenickt, als ihn das Geräusch nahender Tritte aufscheuchte. Seine Schwester Leontine in der Gesellschaft der beiden Miroslaws war in die Bibliothek getreten. Die Worte: »Sie hat sich Bedenkzeit ausgebeten« – schlugen an sein Ohr.

»Leontine!« rief er heiser. Da segelte sie bereits auf ihn zu, in ihrem langhinschleppenden, schwarzen Moirékleid, auf dem Kopfe einen langen Spitzenschleier, den eine Brillantnadel zusammenhielt. Alles an ihr raschelte und knisterte von Seide.

»Sie rauscht wie ein Strom im Frühjahr,« hatte heute der witzige Fery, von ihr behauptet.

»Wünschest du etwas von mir, Hans?« fragte sie mit ihrer sanftesten Stimme.

»Wünschen? Ich suche dich seit einer halben Stunde. Es kann auch eine ganze gewesen sein. Aber mit meinem humpelnden Bein konnte ich deinem hohen Flug nicht folgen, du warst wie das Glück immer gerade da gewesen, wenn ich irgendwo ankam. Hm!... Ich wollte nur wissen... die Geschichte mit Doppelberg... ich hätte gern erfahren, wie's steht.«

»Wie es steht? Er hat sich heute erklärt,« erwidert Gräfin Leontine.

»So... und sie...?« Die Worte fielen kaum hörbar von seinen Lippen.

»Sie hat sich Bedenkzeit ausgebeten.«

»Bis wann?«

»Bis morgen früh,« erklärte Leontine.

»Hm!... Liebt sie ihn?«

»Bah! sie wird ihn lieben, wenn sie einmal verheiratet ist,« mischte sich Graf Miroslaw in das Gespräch.

»Darauf kann ich mich als ihr Vormund nicht verlassen,« erklärte Hans mit einer aufgeregten Schärfe in der Stimme, die alles verriet. »Ich bin meinem verstorbenen Bruder für ihr Schicksal verantwortlich. Ist sie noch auf?«

»Ja, sie wünschte sehr, sich mit dir zu beraten. Sie wartet auf dich im Treibhaus.«

Hans erhob sich, ohne sich nach rechts oder links umzusehen. So gerade, wie es ihm sein kranker Fuß erlaubte, ging er auf den Ballsaal zu, durch welchen man in das Treibhaus gelangt.

»Du, Hans! ... Ich an deiner Stelle ...« rief Graf Miroslaw ihm nach. Aber Hans wandte sich nicht mehr um.

Da zuckte Graf Miroslaw nur langsam, sehr langsam die Achseln und seufzte, die unsterblichen Worte Goethes citierend: »Da macht wieder einmal einer einen dummen Streich!« – –

In das erwartungsvolle Schweigen hinein, welches die Bibliothek erfüllte, klangen jetzt seltsam unheimliche Töne: eine feierliche Melodie im Viervierteltakt, dann plötzlich ein Haschen und Hüpfen, Lachen und Kichern – etwas wie eine ironische Heiterkeit, dann wieder ein wollüstig um verlorene Freude klagender Schmerz – die tragischen Accorde des Anfangs wiederholten sich ... dann ... ein Hexensabbath von durcheinanderklingenden Dissonanzen, ein unreines Geklapper und schließlich eine ganz nüchterne Polka.

»Was ist denn das?« fragt Leontine.

»Ach nichts ... nur der Machkowsky, der seinen Trauermarsch spielt.«

Seit vierzehn Tagen hat es nicht mehr in Sanssouci geregnet, seit acht Tagen ist es schwül wie im August. Das Gras ist abgemäht und liegt in großen, grünen, duftenden Schwaden auf den Wiesenstoppeln, die von der Sonne braun und gelb gebrannt sind. Ueber dem zarten, übermäßig rasch entwickelten Laub schwebt eine große Müdigkeit. Alles scheint langsam vor Durst zu sterben. Die ganze Farbenskala ist um ein paar Töne heller – fast möchte man sagen um eine Oktave höher als vor zwei Wochen. Der Lebenssaft in der Natur scheint ausgetrocknet zu sein, und doch befindet man sich in den ersten Tagen des Juni, der Frühling ist noch nicht vorbei. Alles lechzt nach Regen wie nach der Erlösung.

Von Zeit zu Zeit haben sich ein paar Wolken gezeigt, aber ein kleiner, austrocknender Wind, der bald nergelnd dicht an dem Erdboden hinzischelt, bald zornig an den Kronen der alten Bäume zerrt, hat sie immer wieder verscheucht. Weder Tag noch Nacht hat er geschwiegen, die ganzen acht Tage. Er hat in die Pein des Durstes die Aufregung des Fiebers gemischt.

Heute endlich ist der Wind verstummt – am südwestlichen Horizont ballt sich's finster zusammen. Kein Blatt regt, nichts bewegt sich als dichte Schwärme von Bienen, welche um die blühenden Akazienbäume wogen und um die Rosenhecken vor dem Schloß. Denn in die große Dürre hinein blühen die Rosen und Akazien wie noch nie. Es ist, als schwebten Wolken von Blüten auf den Aesten der Bäume, an denen das Laub welkt, und an den Rosenhecken vor dem Schloß drücken sich die rosigen Blüten Kopf an Kopf, und ringsherum in den Triumphgesang der Bienen hinein knistert das Fallen der Blütenblätter, das Rauschen und Schauern des von der Hitze beschleunigten Welkens.

Marie Rheinsberg saß in dem großen Kuppelsaal, in dem es immer kühl war, und in dem eine beruhigende Dämmerung herrschte. Sie arbeitete an einer Häkelei, hastig, wie es Frauen thun, die ihre Gedanken nicht wach werden lassen möchten.

Früher hatte sie draußen gesessen, aber sie hatte sich vor der Hitze ins Schloß geflüchtet, vor der Hitze und vor dem Duft; besonders der Duft der Akazien regte sie auf.

Seit acht Tagen hatte sie keine Nachricht mehr von Hans. Vor acht Tagen einen herzlichen, nein, mehr als das, einen leidenschaftlichen Brief – einen Brief, der ihr das Paradies aufzuschließen schien, und auf den hin sie ihn täglich, stündlich erwartet hatte – seither nichts... nichts!...

Auch heute hatte ihr die Post keinen Brief von ihm gebracht, aber doch eine interessante Nachricht. Während sie, um sich langsam von ihrer Enttäuschung zu erholen, in der Zeitung blätterte, war ihr ein Feuilleton aufgefallen, »Ein politisches Chamäleon« überschrieben.

Ihr ahnte Böses. Ja, der Artikel beschäftigte sich mit Ronsky, mit seiner neuen politischen Broschüre, die der Verfasser des Artikels behandelte, wie sie es verdiente. Der Feuilletonist polemisierte nicht, er lachte nur.

Marie war starr. Das hatte sie ihm ersparen wollen, er aber hatte ihren Rat nicht beachtet. Sie war noch ganz in die Lektüre des Feuilletons vertieft, als ein leises Pochen an der Saalthür sie weckte.

Sie blickte auf. An der Glasthür des Saales stand Hans Ronsky. Er sah hübscher aus als je. Dennoch nahm Marie sofort eine ungünstige Veränderung an ihm wahr. Seine großen schwarzen Augen hatten ihren alten treuherzigen Blick verloren. Der Blick war ausweichend und unruhig geworden. Er streifte alles und hielt nichts fest.

»Wie geht's, Marie?«

»Ganz gut – ein wenig einsam!« gab sie ihm zurück. Ihre Stimme klang wie immer, sie lächelte.

Er zog die Brauen zusammen und blickte sie forschend an. »Sie sehen nicht gut aus, Marie,« sagte er, »waren Sie krank?«

»Ich ... ganz wohl war mir nicht, das Schlößchen ist feucht wie alle unbewohnten Bauten. Ich habe ein wenig Malaria gehabt und bin noch nicht ganz wiederhergestellt.«

»Haben Sie den Arzt konsultiert?«

»Wozu?« entgegnete sie. »Wenn's nicht bald gut wird, verlaß ich Sanssouci und fahr' für ein paar Wochen nach Homburg, das ist alles. Es sind Freunde von mir dort.«

Das klang so natürlich, so fröhlich, daß Hans sich plötzlich in feinen Skrupeln und Aengsten, die ihm bis an die Schwelle von Sanssouci gefolgt waren, wie ein selbstgefälliger Gimpel vorkam. Er fühlte sich beschämt, verdrossen, ärgerte sich plötzlich über sich und bewunderte sie mehr als je. Ihm war's, als ob er im Laufe seiner Abwesenheit vergessen habe, wie schön und liebenswürdig sie sei. Der vornehme Raum war für ihre Erscheinung wie gemacht. Durch das bernsteinfarbene Halbdunkel des hohen Kuppelsaales mit seinen freskenbemalten Wänden leuchteten ihre Augen märchenhaft.

Während der verlegen durchschwiegenen Gesprächspause streiften Ronskys Augen das Zeitungsblatt mit dem unseligen Feuilleton. Sie wollte die Hand danach ausstrecken und den Artikel verbergen, aber es war zu spät.

»Ach, Sie haben gelesen,« sagte er.

»Ja,« erwiderte sie, »es hat mir sehr leid gethan.«

»Was?« fragte er. »Daß ich so hart mitgenommen worden bin?«

»Ja, das, und auch, daß Sie meinen Rat mißachtet haben.«

»Das hat mir natürlich auch leid gethan,« bemerkte mit einem linkischen Lächeln Hans. »Nur ... schließlich ... ich hatte meine Flugschrift ein paar politisch gereiften Freunden vorgelegt – die erklärten sich einstimmig für die Veröffentlichung. Es war dumm von mir – nicht mehr Wert auf Ihr Urteil zu legen, Marie, aber ... Sie hatten auch zu schroff geschrieben – es war sehr kindisch von mir ... aber ich gesteh's, ich war wütend über Ihren ersten Brief ... jetzt seh' ich ein, daß ich unrecht gehabt habe.«

»Schade, daß Sie einer mündlichen Auseinandersetzung aus dem Wege gegangen sind,« murmelte sie. »Ich fürchte, daß Ihre Broschüre, in der manches Packende, poetisch Schwungvolle steht, aber fast gar nichts Zweckentsprechendes, Ihrer politischen Carriere, von der ich ... von der man doch sehr viel erwartet hat, hinderlich sein wird.«

»Ach, vorläufig denke ich nicht mehr an eine politische Carriere. Vielleicht kommt es noch einmal später – aber jetzt...«

»Jetzt?« sie fragte es schroff. Ihre Augen hefteten sich mit einem finsteren Ausdruck auf ihn; eine Ahnung kam ihr plötzlich.

»Ich... ich habe Ihnen eine Neuigkeit mitzuteilen, Marie!« stammelte er.

»Nun?«

»Ich... wir sind immer gute Freunde gewesen – meine beste Freundin waren Sie stets und werden es bleiben, hoffe ich,« stotterte er, »und darum sollen Sie auch die erste sein, der ich die große Neuigkeit mitteile. – Ich habe mich – verlobt!«

Wie ihr zu Mute war! Als habe jemand die Sonne ausgelöscht und die Erde aus dem Gleichgewicht gehoben. Alles um sie herum war schwarz und der Boden unter ihr schwankte. Sie wähnte ohnmächtig zu werden. Aber das dauerte nur eine Sekunde. Dann wußte sie ganz genau, daß der Augenblick gekommen war, den Kampf aufzunehmen mit sich selbst, daß es hieß: siegen oder nie mehr den Kopf hochhalten dürfen im Leben! Für sie hieß das so viel als siegen oder sterben.

Der Heldenmut der Frau wirkt Wunder, er ist in seiner Art großartiger als der Heldenmut des Mannes. Der Heldenmut des Mannes stürmt auf Flügeln der Begeisterung, sozusagen von Militärmusik angefeuert, vorwärts, begleitet von dem beobachtenden Beifall der Welt. Er hat fast immer ein Publikum. Die Frau aber hat zumeist kein Publikum, darf keines haben, wenn nämlich, wie es in den häufigsten Fällen geschieht, ihr Heldenmut mit ihrem Anstandsgefühl Hand in Hand geht, wenn sie rücksichtslos auf ihr gebrochenes Herz treten muß, damit niemand sehen möge, daß es gebrochen ist. –-

»So... verlobt haben Sie sich?" sagte Marie. Ihre Stimme klang ganz ruhig, nur etwas herb. »Das freut mich von Herzen! Meinen Glückwunsch, Hans!« Sie reichte ihm von neuem die Hand.

Ihm stieg das Blut in die Wangen. Wahrhaftig, ein Gimpel bin ich gewesen... ein Gimpel, mir einzubilden, daß sie etwas anderes für mich fühlt als Freundschaft... eine Frau wie die, dachte er; und wenn der Gedanke ihm einerseits Erleichterung bot, so verdroß er ihn doch andererseits recht empfindlich. Indessen streifte er die ihm dargebotene Hand mit den Lippen, worauf er weiter stotterte: »Ja, verlobt hab' ich mich ... so etwas hätten Sie mir nicht zugetraut, als ich von Ihnen Abschied nahm, wie?«

Sie sah ihn immerwährend an mit großen, kalten, überlegenen Augen.

»Und mit wem haben Sie sich verlobt?« fragte sie.

»Mit meinem Mündel, Monika Ronsky.«

»Ach ...! Ich gratuliere und hoffe, daß wir uns gut vertragen werden – die junge Frau und ich!«

»Das hoffe ich auch,« versicherte er eifrig. »Ich würde es meiner Frau nie verzeihen, wenn sie Sie nicht zu schätzen wüßte!«

»Ist das nicht eine sonderbare Bedingung, die Sie an Ihre Gunst knüpfen?« fragte Marie trocken und etwas wie leichter Spott huschte um ihre Mundwinkel.

»Ich halte darauf, daß meine Frau meine Religion teilt,« erwiderte er, »infolgedessen auch den Marienkultus!«

»Was für ein schönes Talent Sie haben, Phrasen zu drechseln,« warf Marie hin, dabei fragte sie sich heimlich: Wie lange werde ich das noch aushalten? Wann geht er endlich? Aber äußerlich ließ sie sich nichts merken und ihre Stimme klang immer gleich ruhig, während sie sich mit den Worten zu ihm wendete: »Haben Sie ein Bild Ihrer Braut?«

»Ja.« Er reichte ihr ein Kabinettbild.

Sie merkte, daß die Bewegung, mit der er es hervorzog, zögernd und gezwungen war, die eines Menschen, der seines Erfolges nicht sicher ist.

Sie betrachtete das Bild aufmerksam. »Sie ist sehr hübsch, sieht klug, energisch und sehr leidenschaftlich aus!« sagte Marie, indem sie ihm das Bildchen zurückgab.

»Das ist sie auch,« versicherte Hans. »Es ist merkwürdig, wie Sie sich darauf verstehen, Physiognomieen zu enträtseln, Marie! Uebrigens thut ihr das Bild nicht Gerechtigkeit. Sie ist wirklich reizend! Sie hat eine so wundervolle, leuchtend weiße Gesichtsfarbe, so viel Leben, und dann, ihre raschen, flinken Bewegungen. Sie hat die bestrickende Leichtigkeit der ersten Jugend. Wenn sie durch den Wald läuft, denkt man, es kommt ein Reh! Uebrigens bin ich überzeugt, Ihr Einfluß, Marie...«

Diesmal unterbrach sie ihn etwas scharf. »Mein Einfluß! Ich bitte Sie, geben Sie sich in Bezug auf meinen Einfluß keinen zu großen Hoffnungen hin, Sie dürften herbe Enttäuschungen erleben. Uebrigens ist das Ganze ein Unsinn. Zwischen Mann und Frau soll kein dritter treten. Wenn Sie etwas an Ihrer Frau verbessern wollen, müssen Sie es selber besorgen!"

Sie erschrak, wie scharf ihre Stimme klang. Aber es war auch nicht mehr zum Aushalten! Würde er denn immer da bleiben und an ihr herumblicken, ohne den Mut zu finden, ihr in die Augen zu sehen? Sie haßte ihn, sie verachtete ihn und erschrak doch auch wieder über die Heftigkeit, die sie in sich aufsteigen fühlte. Sie stand knapp davor, die Macht über sich zu verlieren. Ihre moralische Temperatur brauchte nur noch um einen Grad zu steigen, und die Mauern, welche die Erziehung um ihr innerstes »Ich« aufgerichtet hatte, brachen zusammen. Die Dressur kapitulierte vor der Leidenschaft.

Sie nahm sich zusammen: sie durfte ihren Halt nicht verlieren.

»Und was haben Sie für die nächste Zeit vor?« fragte sie weiter. »Bleiben Sie jetzt hier?«

»Ach nein! Nächste Woche muß ich nach Wien, wo meine Braut durch meine Schwester verschiedenen von unseren Verwandten vorgestellt werden soll. Nixa will bei dieser Gelegenheit mit Leontine auch die Ausstattung besorgen.«

»Und wann soll die Hochzeit sein?«

»Anfang Juli!«

So plauderten sie noch eine Weile weiter. Endlich machte er Miene, sich zu entfernen. Er hatte sich's so eingerichtet, nicht zum Thee in Sanssouci bleiben zu können. Sie war froh, daß er ging.

Als er Abschied von ihr nahm, trug sie ihm Grüße auf an seine Braut, dann lächelte sie noch einmal, er küßte ihr die Hand – und dann ... Gott sei Dank, war er fort.

Sie war allein mit ihrem Schmerz! ... Endlich!

Sie hätte Lust gehabt, sich in ihrem Schlafzimmer einzusperren, den Kopf gegen die Wand zu stoßen und zu weinen ... weinen! ... Aber wie abscheulich wäre es gewesen, sich dem Schmerz hinzugeben, wie unwürdig! Und sie mußte sich hüten vor allem, was unwürdig war. Es paßte nicht zu ihr. Es gab ja Frauen – viele – die meisten vielleicht, denen man Schwächen verzieh. Mit denen aber hatte sie sich nie vergleichen wollen. Nun hieß es die Sonderstellung, die sie stets eingenommen hatte, zu behaupten, sich zu hüten vor einer feigen Kapitulation.

Und das Aergste, das Allerärgste war ... die Enttäuschung, die sie an ihm erlebt hatte, der Gedanke, daß er sich so klein gezeigt, so klein, daß er des großen Schmerzes gar nicht wert war. Wie demütigend war es, sich um ihn zu grämen! Einen Augenblick dachte sie, die Liebe sei untergegangen in der Verachtung.

Aber sie irrte sich – so leicht stirbt die Liebe nicht.

Wie lang der Tag war! Sie zählte die Stunden, und dann fragte sie sich plötzlich, was sie erwartete. Es war mit allem vorbei auf der Welt, was sie freuen konnte. Wenn der Tag vorüber war, würde ein anderer kommen, der gerade so schwer zu ertragen, gerade so von Schmerz und Verzweiflung erfüllt sein würde wie dieser.

Als die Schatten länger wurden, fing eine schreckliche Rastlosigkeit an, sie zu martern. Sie ging in den Park hinaus. Die Akazien dufteten betäubend – sie konnte den Duft nicht aushalten, ohne zu wissen, was ihr daran widerstrebte. Sie eilte in die fernen Teile des Parkes, wo alte, ernste Fichten sich erhoben. Hier war die Luft voll stärkender, würziger Herbigkeit. Sie atmete freier. Zwischen den Stämmen der Fichten sah sie in die Ferne, in den dunkelblauen Duft, hinter dem sich Wunder zu verbergen schienen. Und plötzlich fing der Duft an zu flimmern und zu glühen, die untergehende Sonne hatte ihn angezündet. Zwischen Himmel und Erde brannte es lichterloh. Es dauerte nicht lange, dann verglomm das Feuer und über den Duft zog sich's wie ein schwarzer Flor. Ein Klagen, das immer stärker wurde, schluchzte in den Wipfeln der alten Kiefern und Fichten. In den herben Atem der Nadelbäume mischte sich der betäubende Duft, dem Marie hatte entfliehen wollen, stärker, süßer, und wie sie sich bückte, sah sie, daß der Boden mit welkenden Akazienblüten bestreut war. Der Wind hatte die Blüten von den Bäumen gestreift und ihr zu Füßen geweht. Sie konnte nirgends sicher sein vor der peinigenden Süßigkeit dieses Duftes.

Sie wandte ihre Schritte heimwärts. Durch die sinkende Dämmerung schimmerte ein grüßendes Licht. Als sie näher trat, merkte sie, daß es aus der Kapelle kam, derselben Kapelle, in der sie getraut worden war. Sie eilte darauf zu und blickte durch die Thür. Der Raum war leer. Sie setzte sich in einen der alten Betstühle und vergrub das Gesicht in die Hände. Draußen sang der Wind, durch die offene Kirchenthür trug er den Duft der Akazien. Jetzt wußte sie, woran sie der Duft erinnerte, an den Duft von Orangenblüten, an ihren Brautkranz. Sie wußte, daß sie ihm nicht mehr entfliehen konnte, daß sie ihn ertragen mußte, bis der Frühling vorüber und die Blüten tot waren. Nur die Vernichtung von all dieser Schönheit konnte ihr Beruhigung verschaffen, nur der Tod ihrer eigenen inneren Jugend ihr Frieden bringen.

Ihr Herz klopfte peinlich stark; tausend kleine Züge von Eitelkeit, von Charakterschwäche Ronskys fielen ihr ein. Sie fragte sich, wie ihr Herz dieses ungeheuerlichen Irrtums fähig gewesen war. Mit einemmal gedachte sie des grauen Novembertags, an dem sie in dieser selben Kapelle dem alten Mann angetraut worden war. Es kam ihr wie eine Erleuchtung. Die Jugend, die um ihr gutes Recht betrogene Jugend hatte sich an ihr gerächt – das war alles. Sie wußte es jetzt ganz genau, aber das Bewußtsein brachte keinen Trost.

Draußen klagte der Wind nicht mehr: der Sturm hatte ihn abgelöst, und der klagte nicht, sondern tobte und schrie. Plötzlich hörte er auf. Dumpfes Donnergeroll klang aus der Ferne, dann fielen große Tropfen ernst und schwer zwischen den noch wie im Fieber schauernden Zweigen der alten Kiefern und Fichten, der Linden und Akazien von Sanssouci.

Sie hörte es wie im Traum. Sie warf sich auf die Kniee vor dem Altar und stieß den Kopf gegen die scharfe Kante der Stufen ...

Ridona mi la calma! ... Wie aus weiter Ferne schwebten die Worte durch den Gewitterduft des sterbenden Frühlings. Draußen grollte der Donner, der klagende Wind trug weiße Blüten in die Kirche und die Regentropfen klirrten gegen die Fensterscheiben ...

Um die Stunde, wo sich Marie zum Diner anzukleiden pflegte, fing man an sie zu vermissen, und als das Gewitter loszubrechen begann, fing man an sie zu suchen. Endlich fand man sie! Ohnmächtig vor dem Altar, an welchem sie auf den Frühling des Lebens verzichtet hatte, welke Frühlingsblüten rings um sie herum.

Es war um fünf Jahre später, in Paris Ende Juni.

Paris fing an sehr leer zu werden. Aber ein paar Menschen, die Zeit genug übrig hatten, sich nach Unterhaltung zu sehnen, und Geld genug, um dafür zu zahlen, gab es doch noch. Und für deren Bedürfnisse mußte gesorgt werden. Infolgedessen stand ein Teil der Theater noch offen, und wurden auch noch einige Konzerte gegeben, freilich meistens in den Cafés chantants, so halb und halb im Freien.

Nur eine sogenannte Elitetruppe hatte noch ausgehalten in der französischen Hauptstadt, trotz der täglich zunehmenden Hitze und der täglich abnehmenden Anzahl zahlungsfähiger Musikliebhaber. Und das war die Truppe des berühmten russischen »Volkssängers« d'Agranjeff, welcher regelmäßig zweimal in der Woche im Trocadero seine Chöre mit immer derselben Präzision abwechselnd im russischen und im westeuropäischen Kostüm dirigierte.

Dank der bereits damals aufsprießenden Vorliebe der Franzosen für alles Slavische, ebenso wie einer erstaunlichen Niedrigkeit der Eintrittspreise fand sich ausnahmsweise noch immer ein recht anständiges und vielzähliges Publikum bei diesen Konzerten ein. Immerhin wurde die Zahl der Zuhörer bei jeder Aufführung geringer, und Zweifler, wie sie jedes heroische und aufopfernde Unternehmen unwandelbar heraufbeschwört, prophezeiten mit Sicherheit, daß d'Agranjeff seinen Entschluß nicht würde ausführen können, sondern seine Konzertthätigkeit in Paris vor dem vorausbestimmten Termin, dem 14. Juli, würde abschließen müssen.

Diesmal war das Konzert allerdings sehr leer. Auf eine Numerierung der Plätze hatte man unter den Umständen verzichtet, oder vielmehr kümmerte sich niemand um die Nummern der Stühle, sondern setzte sich, wo es ihm gerade gefiel, und da für jeden der Anwesenden eine große Auswahl ausgezeichneter Plätze übrig blieb, so zeigten sich die Liebhaber russischer Musik im Trocadero sehr verträglich.

In der Mitte des Saales saß in einem anständigen grauen Anzuge ein etwas hölzern aussehender Mann mit schlauen und feurigen braunen Augen in einem flachen, stumpfnäsigen Gesicht und schrieb von Zeit zu Zeit Notizen in sein Taschenbuch.

Es war Herr Czerny, einer der drei ehemaligen Hofmeister Hans Ronskys, und zwar der Czeche, der mit einem journalistischen Auftrag in Paris weilte und gekommen war, sich von der anstrengenden Beobachtung einer Kammersitzung in Versailles auszuruhen. Die russischen Lieder umschmeichelten recht wohlthuend sein böhmisches Ohr, und das Zuhören hinderte ihn nicht daran, fleißig an dem »Pariser Brief« zu schreiben, den er jede Woche für seine czechische Zeitung zu liefern hatte.

Plötzlich hob er den Kopf. Auf die fast gänzlich leere Reihe, in welcher er saß, kamen in einer Pause des Konzerts noch zwei Herren zu, der eine, blond mit einer Glatze und einem rötlichen Vollbart, zwinkerte ihn aufmerksam durch seine goldumränderte Brille an, der andere, ein kleiner, breitschulteriger, krausköpfiger Schwarzer, rief sofort mit sehr ausgesprochenem ungarischen Accent: »Czerny, Sie hier, was machen's hier?«

Nun rief auch der Blonde: »Richtig, Czerny! welches Zusammentreffen der Umstände, daß man sich hier finden muß! ... drei Oesterreicher in Paris! Es klappt wie in einem Roman!« Und darin hatte Doktor Schwarz recht. »Was machen Sie eigentlich hier?«

»Geschäft!« antwortete der Czeche kurz und deutete auf die dicht beschriebene Seite seines Notizbuches, das er hiermit zusammenklappte und in der großen, auffällig aufgesetzten Brusttasche seines neuen grauen Rockes verschwinden ließ.

Arbeiten und sich vormusizieren lassen, das ging; aber arbeiten und plaudern, das ging nicht. Und vorläufig war ihm das Plaudern lieber. Ungar, Czeche und Deutscher schienen übrigens gleichermaßen erfreut, einander wiederzusehen, und ganz vergessen zu haben, daß sie vor zehn Jahren in bitterer Feindschaft auseinandergegangen waren. Das Zanken war gut zu Hause, im Ausland fühlte man eine entschiedene Zusammengehörigkeit. Man hatte doch sehr viele gemeinschaftliche Interessen.

Nach verschiedenen Hin- und Herfragen stellte sich's heraus, daß der Ungar bereits seit Jahren als Sekretär des österreichischen Hilfsvereins in Paris thätig war, und daß Doktor – jetzt »Professor« – Schwarz mit ersparten Kollegiengeldern eine Bildungsreise nach Paris unternommen und bei dieser Gelegenheit Herrn Fekete als einen im Auslande möglicherweise nützlichen Bekannten aufgesucht hatte.

Eine neue Nummer auf dem Podium schnitt ihnen die Rede ab. Herr d'Agranjeff trat diesmal im Frack auf, welches Kleidungsstück ihn außerordentlich unvorteilhaft kleidete. Wenn Herr d'Agranjeff im westeuropäischen Kostüm auftrat, so bedeutete das auch so viel wie westeuropäische Musik, und da lohnte es zumeist nicht, zuzuhören. Nichtsdestoweniger zischten die Menschen in der Reihe vor ihnen die halblauten Gesprächsversuche der drei Oesterreicher nieder, so daß sie mit ihrem Gedankenaustausch bis zur nächsten Pause warten mußten.

Aber die Pause blieb nicht lange aus und als sie kam, war sie ausgiebig. Denn im Laufe dieser Pause galt es nicht nur für Herrn d'Agranjeff, sondern für sein ganzes Personal, sich aus dem Westeuropäischen ins Russische zurückzuverwandeln, und das brauchte Zeit.

Das Gespräch war auch bald in vollem Schwung und wurde wie immer – Böhmen und Ungarn mögen es mir verzeihen –-, wenn sich drei Oesterreicher vertragen, deutsch geführt. Jeder der drei Beteiligten sprach natürlich sein eigenes Deutsch – aber das so nebenbei!... Deutsch war es doch.

»Wie kommen Sie denn eigentlich in diese Butike, Schwarz?« fragte Czerny den Professor.

»Weil seit gestern wieder eine Bombenepidemie spukt und unser Freund Fekete mir versicherte, der Trocadero sei momentan der einzige bombensichere Ort – so lange er nämlich unter russischem Protektorat steht.«

»Hm! hm!... und, abgesehen von den Bomben, wie gefällt's Ihnen in Paris?« fragte Czerny.

»O, recht gut,« sagte Professor Schwarz, »das Bier ist schlecht!«

»Das find' ich auch,« rief eifrig der Czeche, »und teuer!« »Und die Kost ist so langweilig,« klagte Schwarz, »immer Fleisch ... man sehnt sich – nein, nicht daß ich Ihnen schmeicheln möchte, Czerny – aber auf mein Wort, ich sehne mich nach einer böhmischen Mehlspeise!«

»Hätt' auch nichts dagegen,« brummte der Ungar.

»Na, wenn's den Herren angenehm wäre, so könnt' ich sie in ein von einem böhmischen Gastwirt gehaltenes Bierhaus führen, das mich gestern ein Landsmann kennen gelehrt hat. Echtes Pilsener, wenn auch nicht so gut wie zu Haus, aber doch Pilsener, und dazu ein Rindfleisch ...!«

»Gekochtes Rindfleisch mit Sauce!« rief der Deutsche, »ah, famos! Und Knödel dazu!«

»Ja, Knödel,« bestätigte ernsthaft der Czeche und sandte vor Begeisterung ein Kußhändchen ins Leere.

»Da bin ich Ihnen sehr dankbar,« versicherte Professor Schwarz, »noch heute müssen wir hin.«

»Für böhmische Knödel hab' ich eine Schwäche,« versicherte der Deutsche, »und gar Dalkerln – die trifft kein französischer Koch. Erinnern Sie sich noch in Stiblin? ... Alles andere hat der Koch zusammengebracht – nur Knödeln und Dalkerln nicht.«

»Ach, Sie meinen bei Ronskys?« unterbrach ihn der Ungar. »Sie haben ganz recht ... Wie lang das her ist! – Haben Sie in letzterer Zeit etwas von Ronsky gehört? Ich meine von Hans, unserem Schüler?«

»Ja,« erwiderte der Deutsche, »ich war im vergangenen Frühjahr bei ihm in Natek, hab' ihm helfen sollen, seine Rede vorzubereiten an seine Wähler.«

»Ah ... hat er sich jetzt für die deutsche Partei entschieden?« fragte etwas gereizt der Czeche.

»Bewahre – er hat sich noch immer für nichts entschieden, hat seine Rede deutsch und böhmisch gehalten, was zur Folge gehabt hat, daß ihm die Deutschen und die Böhmen die Fenster eingeschlagen haben. Seit der Zeit grollt er seinem undankbaren Vaterland und hält sich vom politischen Leben fern!«

»Hm! Schade um ihn,« meinte der Ungar, »war ein famoser Bursch – wenn er ein Ungar gewesen wäre, so wär' was aus ihm geworden.«

»Hm! Vielleicht rafft er sich auf!«

»Ich glaube kaum, es ist aus!« sagte der Czeche.

»Er hat auch eine zu dumme Heirat gemacht,« meinte nachdenklich der Deutsche.

»Nun, wie ist denn die Gräfin?« fragte Czerny.

»Die Gräfin geht noch an – tyrannisiert ihn mit Zärtlichkeit, betäubt ihn mit Küssen. Von einer hübschen jungen Frau läßt man sich's gefallen – aber was arg ist, das ist die Alte, wissen Sie, Czerny – die Mutter der Gräfin. Das ist eine alte Kartenschlägerin, und der Graf muß sie dulden, wochenlang. Was Wunder, daß die Hälfte seiner alten Bekannten von ihm abgefallen ist!«

»Nun, das begreif' ich nicht!« rief Fekete. »Beim Flügel nehmen und 'rausschmeißen die Gredl. Die Frau würde schon klein beigeben. Ein wenig Energie in so einem Fall ist absolut nötig.«

»Wann hat unser Hans Energie aufbringen können, hm!« brummte Czerny, »wissen Sie, es gibt ein französisches Sprichwort, das heißt: On ne peut pas faire une omelette sans casser des oeufs – heißt so viel als: man kann keinen Eierkuchen machen, ohne Eier zu zerbrechen!«

»Und Sie denken,« meinte der Deutsche, »daß Ronsky sich nie entschließen würde, Eier zu zerbrechen? – Ja, das glaub' ich selbst, er ist zu rücksichtsvoll, zu zartfühlend!«

Der Czeche spitzte die Lippen. »Hm! ... Nie entschließen... das ist nicht das Wort... zu spät entschließen wird er sich – zu lang überlegen wird er sich's! Und das ist das Aergste! Die Menschen, die nicht mit sich fertig werden können, die sich weder entschließen können, die Eier zu zerbrechen, noch die Eier in Ruhe zu lassen, die Menschen, die die Eier zerbrechen, wenn sie angebrütet sind! Denken Sie an mich – zu denen gehört unser Freund Ronsky! In seiner Ehe ebenso wie überall anders wird er Skandal machen, wenn der Skandal nichts mehr nützt!«

»Es ist ein Kreuz!« seufzte Professor Schwarz. »Hm!... Ist es Ihnen zufällig eingefallen, daß heute gerade der Jahrestag ist von seiner Promotion? Wissen Sie noch, wie lustig wir damals waren, wie wir auf seine Gesundheit getrunken und was wir uns von ihm versprochen haben?«

»Ja!« sagte der Czeche, »und wie wir uns dann gezankt haben? Wenn ich jetzt zurückdenke, ist es zum Lachen – ich habe seither oft gelacht über uns! Wenn man sich einmal das Vergnügen gegönnt hat, vom Eiffelturm auf Europa herunterzuschauen, so lernt man die Dinge objektiver betrachten, man wundert sich dann wirklich darüber, wie es kommt, daß die Völker sich nicht vertragen können!«

»Sind Sie einmal so vernünftig?!« rief entzückt der Deutsche, »das freut mich von Herzen. Ein gescheiter Mensch wie Sie mußte es einsehen lernen, daß es besser ist, in der erhabenen deutschen Nation aufzugehen, als sich in einem engherzigen czechischen Partikularismus abzuschließen!«

»Ach, so habe ich das nicht gemeint! Ich dachte, Sie würden in Paris die Ueberzeugung gewonnen haben, daß man freie Bahn läßt für alle, und daß man den Völkern die Sprache gönnt, die ihnen Gott gegeben hat. Nein, das sollten Sie wirklich einsehen, Schwarz, wir mögen ja mitunter zu viel Wert legen auf Kleinigkeiten – aber ein jeder wehrt sich seiner Haut, wie er kann. Und wir sind nun einmal die Pioniere einer großen Bewegung, die Spitze des gegen Westeuropa vorgeschobenen Keils des Slaventums – und regen Sie sich auf, wie Sie wollen, Schwarz – den Slaven gehört die Zukunft!«

»Das ist geradezu unverschämt!« ereiferte sich Schwarz, und der kleine Ungar, der bis dahin das Gespräch recht gleichgültig über sich hatte ergehen lassen, rief ebenfalls: »Das ist unverschämt!« Schon wollte er eine rabiate politische Rhapsodie vom Stapel laufen lassen, als ihn das plötzliche Auftreten d'Agranjeffs und seines Chors auf andere Gedanken brachte.

Im alten Bojarenkostüm wirkte der Russe ebenso großartig, als er sich im westeuropäischen Kostüm gewöhnlich ausgenommen, und auch die Choristen und Choristinnen kleidete die malerische russische Tracht vortrefflich.

Das russische Kostüm bedeutete, daß von nun an nur russische Lieder zur Aufführung kommen sollten.

Der erste der drei noch auf dem Programm verzeichneten Gesänge war kein Volkslied, sondern nur ein Gassenhauer; der zweite eine anspruchsvolle, aber nicht sehr originelle Komposition, ein effektvoller Gemeinplatz; der dritte aber, das Lied der Schiffer auf der Wolga, war ein echtes russisches Volkslied und von so bannender Wirkung, daß selbst die drei aufgeregten Oesterreicher atemlos zuhörten.

Es war wie ein banges, sehnsüchtiges Rufen und Verhallen – Stimmen, die furchtsam nacheinander tasteten in einer sternlosen Nacht – die Stimme der Hoffnung und die der Angst, die sich abwechselnd riefen und antworteten und schließlich in einem wehmütigen Murmeln erstarben. Das alles nahm sich aus wie das Rauschen eines tiefen Stromes, der über Angst und Hoffnung und Verzweiflung, über Träume und Wirklichkeiten mit derselben feierlichen Gleichgültigkeit hinwegfließt. Da alle drei Oesterreicher musikalische Naturen waren, so brachen alle in Beifall aus, der jedoch sofort seine Einheit einbüßte, als der Czeche mit vor slavischer Begeisterung glühenden Augen ausrief: »Ein so schönes Volkslied hat weder das große Deutschland noch das kleine Ungarn aufzuweisen! Es ist wie die Stimme des großen slavischen Stromes, der seiner Zukunft entgegenrauscht!«

Daraufhin hörte natürlich sowohl der Ungar als der Deutsche auf, die Hände zu rühren.

Indessen applaudierte, was an Musikliebhabern oder auch nur an slavophilen Bummlern in dem Saale anwesend war, wie toll. d'Agranjeff in seinem goldgestickten, rotumgürteten Bojarenkostüm verbeugte sich immer wieder, wollte aber sein Schifferlied nicht wiederholen lassen, worin er recht hatte. Ein Kunststück kann man wiederholen – ein Wunder gelingt nicht zweimal hintereinander.

Doch lasen es die Stammgäste der russischen Konzerte seinen Mienen ab, daß der Augenblick gekommen war, wo sie sich eine Nummer seines reichhaltigen Repertoires wählen durften.

Von einer Galerie herunter scholl der Ruf: »Kde domow muj!«

Bald wiederholten ihn mehrere Stimmen, am lautesten die Stimme des Herrn Czerny.

Bekanntlich ist das Kde domow muj ein sehr friedliches böhmisches Nationallied, welches von einem Kapellmeister Skraup gegen Mitte dieses Jahrhunderts komponiert, im Jahre 48 in die Mode kam. Auf dem Programm des Russen paradierte es als »Kriegshymne, gesungen von den Böhmen bei der Schlacht am Weißen Berge – bei welcher, Ende des vierzehnten Jahrhunderts (?!), die böhmische Nation ihre Unabhängigkeit einbüßte« – eine Bezeichnung, welche zwar für die Geschichtskenntnis d'Agranjeffs ein trauriges Zeugnis ablegte, dafür aber den Nimbus der einfachen und lieblichen Melodie vor dem Pariser Publikum um ein Bedeutendes erhöhte.Authentisch, wie die ganze im Trocadero spielende Scene.

» Kde domow muj – Kde domow muj!« schrie Herr Czerny wie besessen und stieß dabei mit seinen beiden dicken Absätzen ebenso wie mit dem Stock seines Schirms zornig und enthusiastisch auf den Boden.

Das wurde dem Ungarn neben ihm zu arg. Er brüllte aus voller Kehle: »Rakocyi-Marsch – Rakocyi-Marsch,« welcher ebenfalls eine Programmnummer des Konzertes war.

Nun wurde Professor Schwarz ganz und gar rabiat und verlangte das »Deutsche Lied«. Das stand zwar nicht auf dem Programm des russischen Volkssängers, aber dem Deutschen war das gleichgültig.

Da alles, was ungarisch, deutsch und böhmisch im Saale des Trocadero war, mitschrie und sich alle drei Nationalitäten ziemlich stark vertreten zeigten, so entstand bald ein so grauenhafter Lärm, daß sich unter den friedliebenden und unbeteiligten Konzertbesuchern eine Panik zu entwickeln drohte. Da erschien der schnell besonnene d'Agranjeff noch einmal auf dem Podium an der Spitze seines Chors und ließ die russische Volkshymne fortissimo anstimmen. Bei diesen feierlichen Klängen verstummte der Czeche, während der Magyar noch stärker pfiff als zuvor. Der Deutsche stutzte und spitzte die Lippen. Ehe er jedoch noch mit sich einig geworden war, ob er sich der feindseligen Demonstration des Ungarn anschließen solle oder nicht, war die Hymne beendet, worauf sich des Germanen ein recht unbefriedigtes Gefühl bemächtigte. Vielleicht hatte er auch einmal den Zug versäumt.


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