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In einem freundlichen Appartement im dritten Stock fand er den Bruder. Man hatte ihm das Bett in den Salon gestellt, weil es das geräumigste Zimmer des kleinen Gelasses war. In Eisumschlägen verpackt bis unter die Achselhöhlen, lag Konrad halb aufgerichtet in den Kissen, die Hände auf der Decke vor sich ausgestreckt. Das Gesicht und die Hände waren beide wachsbleich. Die Schwägerin saß am Fußende des Bettes in einem fleckigen roten Schlafrock mit türkischem Besatz, ein weißes Tuch um die Stirn geknüpft.
Als Hans eintrat, erhob sie sich und kam ihm ziemlich übellaunig entgegen.
»Quel malheur!« rief sie. »Quel malheur!«
Konrad öffnete die Augen, »Hans!« murmelte er, »also bist du doch gekommen!«
»Aber, Konrad, wie konntest du zweifeln! ... Wie geht's?« ... Hans faßte den Bruder bei einer der blassen Hände, die so kraftlos auf der Decke lagen.
Die Hand war heiß und trocken.
»Wie's geht? – in zwei Tagen werde ich sterben – ich hoffe wenigstens...«
»Konrad!« rief vorwurfsvoll Sascha und brach in einen Strom von Thränen aus.
»Ach, laß mich um Gottes willen – nur nicht den Lärm!« stöhnte Konrad; dann die Faust ballend: »Wirf sie hinaus, hörst du – wirf sie hinaus!«
Das Fieber brannte ihm in roten Flecken auf den Wangen. Hans trat an die Schwägerin heran. »Ich denke, es ist besser, Sie entfernen sich – Sie sehen, er spricht im Fieber. Gönnen Sie ihm Zeit, sich zu beruhigen!«
»Ach, im Fieber!... Es ist immer dasselbe – nicht einmal vor den Kellnern weiß er sich zu beherrschen! C'est une honte – une honte – une honte!
»Ich pflege ihn wie ein kleines Kind, hundertmal am Tag braucht er mich, und wenn er mich einen Augenblick nicht braucht, so jagt er mich hinaus. Es ist eine Schande, ja, eine wahre Schande, eine Schmach!«
Damit ging sie.
»Mach das Fenster auf, ich kann den Geruch nicht vertragen, er ist mir widerlich!« stöhnte Konrad.
Hans öffnete das Fenster, dann setzte er sich an das Bett des Bruders. »Ist Monika nicht hier?« fragte er.
Konrad schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, daß sie kommt,« sagte er; »wenn ich das gewollt, hätte ich längst um sie telegraphiert – aber hm, es war ohnedies schwer, sie von Sascha loszureißen. Jedesmal in den Ferien hat's Scenen gegeben, denn wenn das Mädel und die Mutter sich eigentlich recht schlecht vertragen, so sind sie doch nicht auseinanderzubringen, sobald sie wieder zusammengekommen sind. Weißt du – Sascha hat eins – sie macht's einem unglaublich bequem im Leben! ... Man braucht sich nie für irgend etwas zu schämen neben ihr!«
Er schwieg erschöpft... Dann mit noch matterer Stimme: »Sie verwöhnt nicht... sie demoralisiert!... Na, jetzt ist's zu End'... zu End'!«
Er blickte weit vor sich hin, hob ein wenig die Hände und ließ sie wieder sinken ...
»Hans!«
»Konrad!«
»Ich habe eine Bitte. Du ahnst es wohl, daß ich dich nicht nur hercitiert habe, damit du mir's Sterben... das ist das Wort, Sterben« – er stieß die zwei Silben mit großer Bitterkeit heraus; es waren die einzigen, die er fast laut sprach – »das Sterben erleichterst – nein!... Es handelt sich um mein armes Mädel. Willst du mir versprechen, dich ihrer anzunehmen? Willst du ihr Vormund sein?«
»Von Herzen gern,« versicherte Hans und reichte ihm die Hand.
»Ich danke dir ... sie soll nicht zu ihrer Mutter zurück. ... Laß sie in der Pension. – Und wenn du einmal verheiratet bist – dann bitt' deine Frau .. . du bist einer, dem keine Frau leicht etwas abschlägt, bitt' deine Frau, sich ihrer anzunehmen, dann wird sie geborgen sein!«
»Gewiß – ich geb' dir meine Hand darauf! Da, Konrad. ... Nur noch eins . .. weiß unser Vater, daß du verwundet bist, hast du ihm telegraphieren lassen? Trotz allem, was euch auseinandergerissen hat im Leben – vielleicht gerade deshalb, würde er dich gewiß noch gern sehen wollen.«
Konrad schüttelte den Kopf. »Gern sehen ... was würde er sehen? Es wäre, als ob er einen Sarg aufreißen ließe, um jemand zu sehen, der schon längst tot ist; was findet er? Einen Haufen Fäulnis, das ist alles! Ist auch schon längst nichts mehr übrig von mir als ... na, weiter.... Er braucht mich nicht mehr zu sehen; aber eh' ich mich da draußen am Campo Marte vor die Pistole Neveris gestellt hab' ... er hatte recht und ich hatte unrecht, darum hab' ich mich auch zusammenschießen lassen, drum ... und auch ... ach! ... Nun, vordem hab' ich einen Brief an meinen Vater geschrieben – den bring ihm – und ... wenn's nicht deutlich genug darin stehen sollte, wie leid mir's thut, daß ich ihn so tief gekränkt habe im Leben, so sag's ihm von mir! ... War alles nicht der Mühe wert ... nicht der Mühe wert, nicht der Mühe...« Konrad unterbrach sich.
Die Barke mit den zwischen allen Schatten von Venedig herumirrenden Liebesliedern glitt jetzt unten vorbei, Konrad horchte...
Eine weiche, wollüstige Melodie schwebte durch das geöffnete Fenster mit dem Wind, der nach Rosen duftete, und nach der faulen Ausdünstung des Kanals. Einen Augenblick hielt die Barke unten; dann glitt sie vorbei.
»... nicht der Mühe wert ...« murmelte Konrad.
Durch den Korridor tönte ein Schritt; er hielt vor der Thür des Kranken. Es war der Doktor, ein großer Mann mit einem roten Gesicht und breitem Nacken, dessen Hauptgeschicklichkeit darin bestand, seinen sterbenden Patienten die unwahrscheinlichsten Hoffnungen glaubwürdig darzustellen und sich ausgezeichnet dafür bezahlen zu lassen. Hans stellte sich ihm vor, doch der Arzt schien über seine Persönlichkeit orientiert zu sein. Er war gekommen, um nach dem Stand der Wunde zu sehen und die Eiseinpackung Konrads zu erneuern, wobei ihm Hans behilflich war.
Als er dem Sterbenden versichert hatte, daß es über Erwarten gut mit ihm stünde, seufzte er tief, worauf er sich mit der breiten Zange über die trockenen Lippen fuhr, die einer Anfeuchtung zu bedürfen schienen, und sich in dem Zimmer umsah wie nach etwas, das er dort zu finden gewohnt war.
»Der Sherry steht dort,« murmelte Konrad, die eine Hand ein wenig aufhebend.
»Ach, richtig – Sie denken doch noch an alles, Herr Graf – an alles! Das ist ein gutes Zeichen – ein sehr gutes Zeichen!« Damit schenkte er sich ein sehr großes Glas voll Sherry, trank's auf einen Zug aus und verabschiedete sich. Hans gab ihm das Geleit.
Als er zurückkam, fragte Konrad: »Wie steht's?«
Hans, unvorbereitet, zögerte mit der Antwort.
Worauf Konrad mit gereizter, heiserer Stimme murmelte: »Du kannst mir die Wahrheit sagen; ich fürchte mich nicht vor dem Sterben. Im Gegenteil, ich wünsche mir den Tod.«
Und Hans, der diesen Ausspruch buchstäblicher nahm, als solche Aussprüche zumeist genommen werden sollen, faßte Konrad bei der Hand. »Alter!« murmelte er.
»Ach, also ganz hoffnungslos? In den nächsten vierundzwanzig Stunden?« Konrad zog den Atem fast pfeifend zwischen seinen Lippen ein, dann biß er die Zähne fest aufeinander.
Hans fragte den Bruder, ob er nicht einen Priester wünsche. Aber Konrad schob die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf.
Die Stunden vergingen.
Hans hatte auf des Bruders Bitte das elektrische Licht abgedreht. Das Zimmer, in dem er sich mit dem Sterbenden befand, war dunkel bis auf den Schimmer, der vom Kanal herauf durch die Fenster drang, und den gedämpften Lichtstrahl, der durch die halboffene Thür des Zimmers kam, in das sich Sascha zurückgezogen hatte.
Anfangs hörte man sie leise wimmern und weinen, nach und nach verstummte sie.
Hans stand auf, spähte durch die Thür; er dachte, sie kniee irgendwo im Gebet versunken auf dem Boden – aber nein! ... Sie saß an einem Tisch, auf dem neben einer Puderquaste und einer Weinflasche eine kleine, rotverschleierte Nachtlampe stand, und legte sich die Karten.
Das Fieber stieg jetzt bei dem Sterbenden von Minute zu Minute. Seine Schmerzen wurden qualvoll, sein Bewußtsein verwirrte sich immer mehr und mehr, bis zu Delirien, die von kurzen Momenten der Zurechnungsfähigkeit unterbrochen und von entsetzlichen Angstgefühlen durchzogen wurden.
Er schrie einmal um das andere: »Vater!... Hans! Vater... Vater!« mit einer schrecklichen, heiseren, krächzenden Stimme. Manchmal rief er auch: »Mutter!« Dann aber wurde die Stimme viel dünner und weicher, fast als ob er sich in seine Kindheit zurückversetzt geglaubt hätte...
Nach dem, was Hans aus den wirr durcheinander gestammelten Worten des Sterbenden entnehmen konnte, wurde Konrad von dem Wahn gequält, sich in einem finsteren Wald verirrt zu haben, in dem schreckliche Ungeheuer, die er nicht sehen konnte, durchs Dickicht um ihn herum raschelten und ihn mit heißem Atem anfauchten.
Hans machte Licht, aber das konnte Konrad auch nicht aushalten. Wenn er Licht sah, war's ihm, als ginge der ganze Wald in Flammen auf. Er schrie wie ein Wahnsinniger. Hans hatte Mühe, ihn im Bett zu halten.
Sascha wollte ihm helfen, aber ihr Erscheinen vermehrte die Aufregung des Unglücklichen; sie durfte nicht bei ihm bleiben.
Draußen auf dem Korridor öffneten sich verschiedene Thüren, geängstigte Touristen verließen ihre Zimmer, um sich gegenseitig zu beklagen. So etwas war nicht zum Aushalten, man mußte mit dem Wirt sprechen!
Hans schickte noch einmal zu dem Doktor. Aber der Doktor kam nicht; er war nicht zu finden.
Gegen drei Uhr morgens fiel plötzlich das Fieber, die Schmerzen hörten auf. Hans erschrak. Der Doktor hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß dies kurz vor dem Tode geschehen würde und daß es ein sehr schlechtes Zeichen sei.
Das Bewußtsein kehrte zurück.
»Hans!« rief Konrad mit einer Stimme, die so schwach und verändert war, daß Hans sie nicht als die des Bruders erkannt hätte, »Hans!«
»Hast du noch einen Wunsch, Konrad?« Hans beugte sich über ihn.
»Ja ... einen ...« Konrad sprach sehr langsam, seine Stimme klang schwächer, immer schwächer, es war, als rücke sie in die Ferne. »Es ist wegen meines Grabes ... früher dacht' ich, es wär' mir einerlei, aber ...«
»Du wirst doch bei uns liegen, Konrad, in unserer Gruft in Stiblin?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein ... aber auf der Pawlowska – du weißt, oben – von wo man auf die Elbe hinunterschaut – ein freier Platz – knapp am Walde – das duftet – nach Quendel – und frischer ... streichender Luft ... frischer.... Dort steht ein altes schwarzes Kreuz – und vor dem Kreuz hat mich meine Mutter als kleines Kind zum erstenmal – niederknieen und ein Gebet sagen gelehrt ... dort ...«
»Ja, Konrad, ja! Sei ganz ruhig, Konrad!« Konrad drückte ihm schwach die Hand und versank in dumpfes Schweigen.
Mit einemmal war das Zimmer voll Licht, voll glänzendem, feierlich reinem Morgenlicht – die Glocken in den Kirchen fingen an zu schwirren.
Hans hörte ein leises Knistern und Rauschen – er sah auf – in der Thür stand Sascha mit rotgeweinten Augen, die Karten in der Hand.
Plötzlich bemerkte er, wie sie die Karten fallen ließ – ihr Gesicht wurde grünlich blaß. Hans blickte nach Konrad. – Er war tot.
In dem Leben Marie Rheinsbergs ging alles seinen gewohnten Gang, wenigstens äußerlich. Aber die innere Harmonie ihres Denkens und Empfindens war gänzlich gestört. Das Fieber zehrte an ihr, eine Unruhe, deren sie nicht mächtig werden konnte. Und anfangs war sie selber im unklaren über den Grund ihrer inneren Zerfahrenheit gewesen; aber plötzlich erkannte sie's, wonach ihr Herz verlangte, nach wem sie sich Tag und Nacht sehnte. Ein Blitz, so ein scharfer Gefühlsblitz, wie er manchmal plötzlich unser ganzes Wesen zerreißt, hatte ihre Seele aufgehellt und ihr schonungslos die Wahrheit gesagt.
Marie kämpfte mit ihrer Sehnsucht, mit ihrer Neigung. Hundertmal des Tages mußte sie mit irgend einem Gefühl, einem Gedanken ringen, der sie zu ihm zog.
Es war ein aufregendes, böses Ringen, aber der rechte Schmerz, der rechte Ernst war noch nicht dabei. Es war doch immer eine wilde, unsinnige Freude, mit der sie rang, und mochte sie thun, was sie wollte, während des Ringens kam die Freude, die sie töten wollte, ihr näher und schmiegte sich enger, wärmer an ihre Seele, so daß Marie es schließlich besser fand, sich nicht mit dem unnützen Bekämpfen des mächtigen Gefühls weiter abzugeben, sondern in ihrem Herzen wachsen zu lassen, was wachsen wollte, und, so gut es ging, darüber hinwegzuleben.
Aber es ging eben nicht gut.
Bei einem Ballfest, das die Frühlingssaison einleitete, hatte sie den Kotillon mit Hans Ronsky tanzen sollen. Das war nun unmöglich.
Als das Fest kam, wurde sie verdrießlich, und obgleich sie indessen den Kotillon an einen der hervorragendsten Kotillontänzer von ganz Berlin verschenkt hatte, erklärte sie ihrem Gatten im letzten Augenblick, daß sie sich unwohl fühle und keine Lust habe, das Fest zu besuchen.
Graf Rheinsberg zuckte die Achseln und meinte: »Wie du willst!« Aber sein Blick und seine Stimme waren so kalt, daß sie es sich doch noch anders überlegte und sich auf den Ball begab. Sie entfaltete aber an dem Abend nichts von ihrer gewohnten Liebenswürdigkeit, sondern zeigte sich wortkarg und launisch, und, was das Aergste war, sah elend aus, so elend, daß ihr die einen anrieten, Buzzi, die anderen Schweninger zu konsultieren. Sie ließ die Ratschläge geduldig über sich ergehen ohne darauf zu erwidern, ohne auch nur zuzuhören.
So war eine Woche vergangen und einige Tage darüber. Marie wußte, daß Konrad gestorben war; so viel hatte ihr Hans in einem kurzen Briefchen mitgeteilt. Sie wußte, daß der Verstorbene zu Hause hatte begraben werden sollen, in Böhmen, und daß hierauf Hans nach Berlin zurückkehren würde. Sie erwartete ihn von einem Tage zum andern. Sie verzehrte sich vor Aufregung, sie tröstete sich damit, daß alles ins gewohnte Geleise zurückkehren würde, sobald er wieder da wäre, sobald sie keinen Grund mehr haben würde, beständig an ihn zu denken, weil sie zu oft die Freude haben würde, ihn zu sehen. Dann trat der kalte Blick ihres Mannes ihr ins Gedächtnis, die trockene Art, mit ihr zu reden, welche er in letzter Zeit angenommen hatte. Sie fragte sich, wie das werden sollte, ob der alte Herr Hans je wieder mit derselben freundlichen Unbefangenheit empfangen würde wie früher.
Eine schreckliche Angst durchschauderte ihr die Adern und hemmte ihren Atem.
Nein! ... In die liebe Vergangenheit gab's keinen Weg zurück. Ein rasender Zorn über sich selbst erfaßte sie, ein Zorn über den Mangel an Selbstbeherrschung, durch den sie ihr Gefühl verraten hatte. Und sie wußte eigentlich gar nicht, wie es gekommen war, daß sie sich verraten hatte, wann und wodurch es geschehen war. Nur so viel wußte sie genau, daß ihr Gatte, der so lange ihr warmer, alter Freund gewesen, den Grund ihrer inneren Aufregung ahnte, daß er unzufrieden mit ihr war.
Manchmal durchklangen ihre Seele plötzlich die Worte: »Sollte ich dich vielleicht doch überschätzt haben, Marie?«
Eine gewisse Feindseligkeit gegen ihn regte sich in ihr. Sie sagte sich, daß er sie mißverstand, daß er sie durch sein unerhörtes und unberechtiges Mißtrauen quälte. An etwas wirklich Unrechtes dachte sie ja nicht – nie. Im ungebundensten Traum war ihr das nicht eingefallen.
Sie fing an, sich zu beobachten. Wenn zufällig die Rede auf Ronsky kam, so trachtete sie seinen Namen mit einer ganz besonders gleichgültigen Betonung auszusprechen. Manchmal machte sie eine abfällige Bemerkung über ihn. Aber sie sah bald ein, daß sie jeden anderen eher täuschte als den Grafen Rheinsberg. Die Verstellung war nicht ihre Sache, die Scham stieg ihr in die Wangen bei dem Gedanken, daß sie sich in dieser erniedrigenden Kunst versucht hatte.
Und über all das innere Fieber, den inneren Schmerz ging das Leben äußerlich seinen gewohnten Gang. – –
Der zehnte April kam: Maries Geburtstag. Er wurde gefeiert wie immer, etwas mehr als der letzte sogar, da sich diesmal Graf Rheinsberg ganz wohl befand und nicht wie im vergangenen Jahr den ganzen Tag in Watte verpackt neben dem Kamin verbringen mußte.
Auch diesmal hatte Graf Rheinsberg seine junge Frau mit einer Auswahl der herrlichsten Juwelen beschenkt. Ein Wald von Treibhausblumen erfüllte die Bibliothek, in welcher der Aufbau der Bescherung hergerichtet worden war. Die vielen Sträuße, die mit Blumen gefüllten Vasen und Körbe sowie die blühenden Flieder- und Mandelbäumchen in geschmackvoll verkleideten Blumentöpfen konnten gar keinen Platz mehr finden auf den Tischen, der halbe Fußboden war damit bedeckt. Aber wie sehr sich Marie auch bemühte zu lächeln, zu danken – es war kein Licht in ihrem Lächeln, keine Wärme in ihrem Dank. Graf Rheinsberg merkte, daß sie beständig zwischen Visitenkarten, die an den Blumen staken, zwischen den Briefen und Telegrammen, die sich auf einer silbernen Platte häuften, etwas suchte; und jedesmal, wenn ein Telegramm hereingebracht wurde, wechselte sie die Farbe.
Sie hatte einen Geburtstagsgruß von Hans erwartet. Aber der Vormittag verging, und es war kein Lebenszeichen von ihm eingetroffen.
Den ganzen Nachmittag kamen Leute. Marie empfing sie alle mit demselben geistesabwesenden Lächeln und fiebrigen Blick, goß ihnen Thee ein, reichte die Bonbons herum, die sie aus allen Weltgegenden in den entzückendsten Kassetten – Schachteln konnte man das nicht nennen – zugeschickt bekommen hatte, und zeigte geduldig ihre Geschenke. Aber die gewohnte Lebhaftigkeit fehlte – man wunderte sich, daß es um Marie Rheinsberg herum so müde zugehen konnte.
Mit einemmal belebte sich die Situation. Ein junger Sekretär aus dem auswärtigen Amt kam mit einem erschrockenen Gesicht und einem Extrablatt.
Hatten die Herrschaften schon von dem entsetzlichen Bahnunglück gehört, das sich auf der Strecke zwischen Bodenbach und Dresden zugetragen? Der Wagen erster Klasse war zertrümmert, buchstäblich zertrümmert, zwei Wagen zweiter auch gänzlich zerschlagen, die Zahl der Opfer noch nicht festgestellt, die Leichen nicht agnosziert. Und gerade eine Bahnstrecke, die so viele Bekannte benutzten! Man zitterte vor den genaueren Nachrichten.
Ein aufgeregtes Zusammenflattern, Durcheinanderfragen folgte der Mitteilung – dann Grabesstille.
Aber aus dieser Stille heraus hörte Marie plötzlich ganz deutlich die Worte: »Der arme Ronsky ist ja schon tot – –« Ein Schwindel, eine Uebelkeit, eine Empfindung, als ob die Wände um sie herum schwankten, dann sich zusammenschoben. Alles Licht war ausgelöscht – eine fürchterliche Atemnot – für einen Augenblick, kurz, aber entsetzlich deutlich, das Gefühl des Lebendigbegrabenseins, dann nichts mehr ...
Als sie wieder zu sich kam, lag Marie auf einer Chaiselongue in einem Zimmer, in dem keine Blumen, keine Geschenke und keine Gäste waren. Ihr Kleid war gelockert, eine gestickte Decke über sie ausgebreitet, rings um sie herum die Atmosphäre von einem scharfen Aethergeruch durchzogen.
Ihr Mann stand neben ihr. Besorgt blickte er in ihre langsam und verwirrt zu ihm aufsehenden Augen.
Sie legte die Hand an die Stirn, trachtete sich zurechtzufinden, ihre Gedanken tasteten in die Vergangenheit zurück – ein schmerzlich entsetzter Ausdruck durchzuckte ihre Züge.
Ehe er sich noch ganz darauf ausgeprägt hatte, bemerkte Graf Rheinsberg: »Marie, dein Schrecken beruht auf einem Irrtum – Hans Ronsky lebt. Er ist vor einigen Stunden in Berlin angekommen. Der, von dem heute nachmittag die Rede war, ist sein Bruder!«
Ein paar Stunden waren vergangen. Marie war von neuem in den Salon zurückgekehrt. Sie war noch zu matt, um zu denken und Entschlüsse zu fassen, um sich vor der Zukunft zu fürchten, sich die Zukunft überhaupt auszumalen. Sie konnte sich nur freuen darüber, daß Hans Ronsky noch lebte. Alles andere auf der Welt war ihr gleichgültig.
Einen großen Teil der Blumen hatte sie wegtragen lassen, weil ihre gereizten Nerven den zu starken Duft nicht ertragen konnten. Aber ein Strauß Theerosen stand auf einem Tischchen neben dem großen Fauteuil, in dem sie lehnte.
Sie hatte sagen lassen, daß sie heute keine Besuche mehr empfangen würde. Da hörte sie draußen im Flur eine Stimme, bei der ihr's wie eine elektrische Strömung durch die Glieder fuhr. Ihre von Aufregung geschärften Ohren vernahmen durch die schwere Thür hindurch die Worte: »Das thut mir unendlich leid – sagen Sie Ihrer Excellenz ...«
Man wies ihn ab, man ließ ihn nicht vor! Alles zuckte in ihr! Ja, wie sollten denn ihre Leute ahnen, daß der Befehl, welcher die ganze Berliner Gesellschaft von ihrer Schwelle wies, nur für den einzigen nicht gültig war!...
Aber nein ... einer von ihnen mußte es doch geahnt haben! Oder hatte Hans darauf bestanden, fragen zu lassen. Das lag sonst gar nicht in seiner korrekten, weltmännischen Art.
Der Kammerdiener brachte seine Visitenkarte mit den Worten: »Herr Graf lassen fragen, ob er Excellenz einen Augenblick sehen könnte?« ...
Eine Minute später trat er ein, in Trauerkleidern, aber mit einem feuchten Glanz in den Augen, den sie noch nie darin bemerkt hatte und dem ihr Herz entgegenjauchzte.
»Marie!« – er kniete vor ihr nieder – »es war sehr indiskret von mir, Ihre Thür zu stürmen, aber ich hatte so sehr den Wunsch, Sie zu sehen! Man sagte mir, Sie seien unwohl, Sie sähen schlecht aus, Sie seien heute mitten in Ihrer Geburtstagsfeier ohnmächtig geworden.«
Daß man ihm die Veranlassung des Schreckens, welcher ihre Ohnmacht herbeigeführt, mitgeteilt hatte, verschwieg er zartfühlend, aber sie las es doch aus seinen Augen.
Sie errötete, und etwas von ihm wegblickend, murmelte sie: »Ich war allerdings die letzte Zeit nicht ganz auf dem Posten, und heute die Hitze, die vielen Menschen, der starke Blumenduft! Ich habe fast alle Blumen hinausschaffen lassen müssen, es war heute ein Wald ... ein Wald!«
»Und von mir war kein Strauß da!« sagte Hans. »Und seit Wochen hatte ich mich darauf gefreut, Ihren Geburtstag ganz besonders zu schmücken; ich hatte bereits eine solche herrliche Kombination im Kopf ...«
»Und heut haben Sie vergessen.« Sie lächelte matt.
»Ich ... aber Marie!« Er hatte sich auf einen kleinen Sessel niedergelassen, auf dem er fast zu ihren Füßen saß. »Aber Marie! ... nein, nichts hatt' ich vergessen, und den ganzen Tag hab' ich an Sie gedacht; aber Ihnen aus meiner tiefen Trauer heraus« – er blickte auf seine Kleider herab – »Blumen schicken – das könnt' ich nicht! Ich hatte mir vorgenommen, spät zu kommen, wenn alle Gäste gegangen wären, um Ihnen Glück zu wünschen, und als mich die Nachricht traf, Sie wären unwohl geworden und empfingen nicht mehr, mußte ich wenigstens nach Ihrer Gesundheit fragen. Ach, ich bin Ihnen so dankbar dafür, daß Sie mich empfangen haben ...«
»Ja, aber Sie müssen versprechen, nicht lang zu bleiben ...«
»Ich gehe gleich ...«
»Nein, noch eine Minute ...«
Die Worte flogen hin und her, hastig, fiebrig, ohne deutlichen Sinn; es waren eigentlich gar keine rechten Worte, nur die in Silben ausklingenden Schläge von zwei fiebernden Herzen, die sich riefen und antworteten.
Marie gegenüber, hinter dem Rücken des ihr zu Füßen kauernden jungen Mannes, öffnete sich die Thür. Graf Rheinsberg sah herein, trat jedoch sofort zurück.
Hans war so vertieft gewesen, daß er die Thür nicht hatte gehen hören. Aber Marie konnte sich nicht mehr sammeln. Ihre Stimmung war gestört.
»Ich habe mich sehr gefreut, daß Sie gekommen sind, aber ... ich bin doch sehr müde ... es ist besser, Sie gehen jetzt!«
»Adieu! Ach, es war so wunderschön, wieder bei Ihnen zu sein!«
Sie saßen einander gegenüber an jenem Abend bei Tisch, wie so viele Abende, Graf Rheinsberg und seine junge Frau. Den Gästen, welche gebeten gewesen waren, hatte man Maries wegen wieder abgesagt.
Die Eheleute befanden sich allein. Graf Rheinsberg sprach in seiner sachlichen Art von politischen Tagesneuigkeiten und gesellschaftlichen Ereignissen. Marie konnte nicht reden; sie hatte deutlich das Gefühl, daß sich etwas Entscheidendes vorbereite. In welcher Form es kommen würde, davon fehlte ihr jede Ahnung.
Nach dem Diner verfügten sich beide in die Bibliothek wie alle Tage. Marie schenkte den schwarzen Kaffee ein, Rheinsberg trank seine Tasse stehend in einem einzigen Zug aus. Während er sie niederstellte, heftete er die Augen auf Maries Porträt, das über dem Kamin hing.
»Das Bild ist sehr ähnlich,« sagte er, »nur macht es dich um zehn Jahre älter! Ich möchte wissen, ob du in zehn Jahren so oder ganz anders aussehen wirst.«
»Was meinst du, Wilhelm?« fragte sie, durch seine Worte unbestimmt erschreckt.
»Ich meine, daß es noch gar nicht ausgemacht ist, nach welcher Richtung hin sich deine Individualität entwickeln wird.«
Sie erwiderte nichts.
Er ging zweimal in dem großen Gemach auf und ab, dann knapp vor Marie stehen bleibend, sagte er kurz: »Marie, möchtest du dich scheiden lassen?«
Sie fuhr zusammen.
»Wilhelm, woran denkst du ... ich versichere dir ...«
Wie versteinert war sie in ihrem Lehnstuhl sitzen geblieben. Er setzte sich ihr gegenüber, sein Gesicht war sehr ernst, aber von keinem zornigen, eifersüchtigen, unedlen Gefühl aufgeregt oder entstellt.
»Du willst mich versichern, daß du dir mir gegenüber nichts vorzuwerfen hast. Das weiß ich so gut wie du selbst. Du bist noch makellos, aber ... Marie ... es fängt an, dir schwer zu fallen!«
Sie senkte den Kopf.
Er rückte etwas näher an sie heran, und seine Stimme klang weicher. »Du mußt nicht glauben, daß der Zorn aus mir spricht,« sagte er, »oder die kleinliche Eifersucht eines alten Mannes. Nein, aus mir spricht die Angst eines Freundes, der um die Zukunft eines seinem Herzen sehr nahe stehenden Menschen besorgt ist, außerdem spricht aus mir die Reue eines alten Mannes, der schlecht an einem jungen Mädchen gehandelt hat und es gut machen möchte.«
»Du schlecht an mir gehandelt ...?« Sie strich sich die Haare aus der Stirn.
»Ja, Marie. Du interessiertest mich vom ersten Augenblick, da ich dich erblickt hatte. Sehr bald kam mir der Wunsch, dir im Leben ein wenig zu helfen, etwas für dich zu thun. Das hätte ich ja auch können, aber ich durfte nicht deine Notlage ausnutzen, um dich an mich zu ketten. Anfangs ging die Sache ja gut, du schienst dich in deiner außergewöhnlichen Existenz so zufrieden zu fühlen, daß sich die Skrupel, welche ich mir sehr bald nach meiner Verheiratung zu machen begonnen hatte, wieder verflüchtigten. Du warst so wundervoll, so eigentümlich, so einzig in deinem Wesen, daß ich dich für etwas fast Ueberirdisches ansah – mich daran gewöhnte, Uebermenschliches von dir zu erwarten. Ich hatte unrecht – ich seh' es ein.«
Er hielt inne. Sie war keines Wortes mächtig. Weiß wie Alabaster, mühsam atmend, lehnte sie in den dunkelroten Polstern. »Wenn ich ein jüngerer Mann wäre,« begann er von neuem, »so hätte ich kurzen Prozeß gemacht und Hans Ronsky irgendwie aus meinem Hause entfernt. Ich hätte dein momentan betäubtes, aber sehr starkes Pflicht- und Ehrgefühl wachgerufen, was mir nicht schwer gefallen wäre, und ich bin überzeugt, binnen kurzem wäre die Sache beigelegt gewesen. Da ich aber um siebenunddreißig Jahre älter bin als du, darf ich nicht so schroff vorgehen. Ich geb' dich frei! Und indem ich dich freigebe, dank' ich dir noch für die schönen zehn Jahre, die ich mit dir verlebt habe. – Ich weiß, daß eine Scheidung bei euch Katholiken große Schwierigkeiten macht, eine Wiedervermählung einen Religionswechsel im Gefolge hat; ich weiß auch, daß das alles deine Vereinigung mit Ronsky erschweren würde. Aber in unserem Falle ist vielleicht mehr als eine Scheidung, es ist eine Ungültigkeit unserer Ehe zu erreichen. Und ich will, was ich an politischen Verbindungen habe, daran setzen, um sie für dich durchzuführen. Antworte mir heute nicht, Marie. Du bist nicht fähig dazu. Ueberlege dir die Sache, und wenn du sie reiflich überlegt hast, dann komm zu mir und teile mir deinen Entschluß mit. Und jetzt: gute Nacht!«
Sie hatte sich niedergelegt. Wie sie in ihr Bett gekommen war, hätte sie später nie mehr zu sagen vermocht. Das Bewußtsein von allen äußerlichen Dingen war ihr abhanden gekommen. Sie wußte nicht mehr, was um sie herum geschah, sie wußte nur, was in ihr vorging.
Erst war's nur eine entsetzliche Angst, eine Angst vor der siegreichen Schwäche, die uns der Willenskraft beraubt; eine Angst vor dem großen Wahnsinn, der uns um unsere Zurechnungsfähigkeit betrügt.
Und der Wahnsinn war da, von allen Seiten schmiegte er sich an ihre Seele! Ach, und er war schön! ... Es war, als ob sich blühende Zweige durch die Risse von kahlen Mauern streckten, kahle Mauern eines Gebäudes, das noch vor kurzem stolz und stark war, und in das nun ein Blitz hineingefahren ist. Warum mußte man die Blüten hinausstoßen – warum sollten die Mauern kahl bleiben ...? Mochte doch von den zerrissenen Mauern fallen, was noch fest geblieben war, was noch aufragte, was einen noch hinderte und beengte, damit man ganz frei hinaufjauchzen konnte in den sonnendurchglühten blauen Himmel und untergehen in einem Meer von Blüten!
Ah! ... der Wahnsinn ... Sie hatte Mühe, nur einen Zipfel ihrer alten sittlichen Überzeugungen zu erhaschen, um sich daran festzuhalten, um nicht zu versinken. Und es war so angenehm dieses Gefühl des langsamen Sinkens, des Fallenlassens einer großen Last – des Aufhebens seines Ichs!
Ihr Schicksal lag in ihrer Hand. Ihr Mann gab sie frei, und Hans ... heute zum erstenmal hatte sie es gemerkt: Hans liebte sie. Warum noch zögern?
Aber da kam ein ganz anderer Gedankenstrom. Sie sah die Kapelle vor sich, in der sie dem alten Mann angetraut worden war; sie sah die mitleidigen, befremdeten Gesichter, mit denen ihr ihre Angehörigen nachblickten, während sie zum Altar schritt; nicht nur ihre Angehörigen, auch die Armen des nächsten Dorfes, ihre Armen – selbst die Allerärmsten bemitleideten sie.
Dann dachte sie ... an den nächsten Morgen – den Morgen, wo sie mit einemmal die Blicke begriffen, und erkannt hatte, welchen Preis sie für die Veränderung ihrer Lebenslage gezahlt. Sie dachte, was sie in all diesen Jahren dafür genossen. Wie viel dazu gehört hatte, um ihre schiefe Stellung gerade zu richten, so daß niemand mit den Augen zu zwinkern wagte über sie.
Und sie sagte sich, daß, wenn sie jetzt fahnenflüchtig würde, sie nichts Besseres war als ein armutsscheues Mädchen, das ihre Jugend an einen Greis verkauft hatte für ein gutes Leben.
Das Fieber schüttelte sie. Ihr war's, als ob alles an ihr, alles, was mit ihr in Berührung kam, in Flammen aufginge.
Sie sprang aus dem Bett, öffnete das Fenster, das Fenster, das in den Garten sah, in dem die Rosen nicht blühen konnten, weil die Mauern ringsherum zu hoch waren, und in den sich im vorigen Jahre doch eine Nachtigall verirrt hatte. Sie hakte die Fensterrahmen gegen die Wand – o, sie war stark und geschickt, wußte sich selbst zu bedienen!
Dann kroch sie in ihr Bett zurück. Durch das Fenster schwebte eine herbe Kälte, sie drang ihr bis ins Mark, bis ins Herz. Eine große Beruhigung überkam sie, sie atmete freier.
Der Wind blies scharf, eisig, die Zweige der Bäume im Garten unten ächzten.
Eine große Traurigkeit stieg in Maries Seele auf, ein Mitleid mit den armen Knospen, die die kalten Schatten der hohen Mauern hinderten aufzublühen. Dann verschwand auch das. Ihre Atemzüge kamen lang und regelmäßig – die Schlacht war gewonnen. Sehnsucht und Schmerz würden noch kommen und sich hinschleppen, vielleicht jahrelang, wie nach jeder Schlacht. Aber die Unruhe, der Kampf, die waren vorbei. Sie wußte nun, was sie zu thun hatte, und würde es thun.
Eine feierliche und stolze Wehmut überkam sie, die Wehmut, mit der man die Toten begräbt, die siegreich für eine gerechte Sache gestorben sind.
Sie dachte an den sonderbaren Traum, den sie damals an ihrem Geburtstage geträumt hatte. Die großen Flügel hatten sie emporgetragen, hinweg von dem blühenden Garten, in dem die Nachtigallen sangen.
Am nächsten Morgen, als Graf Rheinsberg in seinem Ankleidezimmer frühstückend seinen Thee trank und die Zeitung las, klopfte es leise an seine Thür.
»Marie!« rief er; er ahnte, daß sie es war.
Sie sah noch blasser aus als am Tage vorher; aber die träge Schwermut war aus ihrer Haltung geschwunden.
Sie hielt sich sehr gerade und kam auf ihn zu, rasch, freundlich lächelnd, mit einem Lächeln, das die Schatten unter ihren Augen dunkler zeichnete.
»Hast du gut geschlafen?« fragte sie ihn.
»Nein! – Und du?«
»Gar nicht,« erwiderte sie, und dann setzte sie sich ihm gegenüber.
Eine kleine Weile blieben sie beide stumm. Sie spielte mit einem Falzbein aus Ebenholz, das auf dem Tische lag, wo des Grafen Frühstückzeug stand.
Plötzlich hob sie an; ihre Stimme klang heiser, und sie sah ihm nicht in die Augen beim Sprechen: »Wilhelm! Willst du mir einen Gefallen thun?«
»Marie! ... Du weißt ...«
»Ja, Wilhelm, ich weiß, wie gut du immer zu mir warst. Willst du dir von deinem Arzt eine Badekur verschreiben lassen, irgend wohin, recht weit weg von Berlin. Ich möchte mit dir fort! Gleich ... so bald als möglich!«
»Marie, hast du dir's gut überlegt?«
Sie senkte den Kopf.
»Es war nichts zu überlegen, ich bin nur aus einer Betäubung erwacht – das ist alles!«
»Marie!«
»Ja, ich bin erwacht, und da hab' ich mich erinnert an Dinge, die ich vergessen hatte ...« Sie sprach ungleich, bald hastig, bald langsam, immer sehr leise: »Alles, was ich im Leben Gutes und Schönes genossen habe, verdank' ich dir – aber ... davon sprechen wir lieber nicht – ich verdank' dir mehr. Ich war ein unzufriedenes, unreifes, zerfahrenes Ding, als du mich nahmst. Du hast mich erzogen, du hast mich sehen und verstehen gelehrt. Du hast mich zu der Frau gemacht, die jetzt vor dir steht und sich schämen würde, der hohen Meinung, welche du von ihr gehegt hast, nicht würdig zu sein.«
»Aber, Marie! Verlang nicht mehr von dir, als du zu leisten vermagst – bedenke, dein Entschluß ist bindend ein für allemal – ein zweites Mal komme ich auf die Sache nicht zurück. Ich kann noch viele Jahre leben!«
»Ich hoff's!« flüsterte Marie. »Und ich werde jedes Jahr segnen!«
»Marie!«
»Ja!« Sie sprach jetzt kaum hörbar. »Das ... das andere, das ist eine Krankheit, ein Wahn – sprechen wir nicht davon! Es wird vorübergehen ... ich hoffe – wenn du mir hilfst. Aber mein Gefühl für dich wird bleiben. Ich habe niemand auf der Welt so gern gehabt wie dich, seitdem sie mir die Mutter begraben haben.« Sie kniete nieder neben dem alten Mann und küßte seine Hand.
Er sagte nichts, entzog ihr nur seine Hand und legte sie auf ihren gebeugten Kopf. Die Berührung dieser kühlen Hand that ihr wohl.
Ein seltsames Gefühl der Beruhigung überkam sie; dasselbe Gefühl, das sie heute im grauen Morgendämmer überkommen, als sie das Fenster geöffnet hatte und der eisige Windhauch über ihren heißen Körper gestrichen war. – –
Es ist um drei Jahre später – in Böhmen – und zwar auf Schloß Wodanka, dem Herrensitz des Grafen Miroslaw, desselben Grafen Miroslaw, welcher damals, am Tag der Promotion Hans Ronskys, der Begeisterung seiner Standesgenossen widersprechend, den Leistungsfähigkeiten der neuen Leuchte von Oesterreich eine so skeptische Beurteilung entgegengesetzt hatte.
Das Ehepaar Miroslaw, ebenso die seit acht Tagen sich in Wodanka aufhaltende Schwester Hans Ronskys, Gräfin Leontine Woronitzky, befinden sich im Salon, nicht in dem großen mit Gobelins bespannten, in dem man Gäste zu empfangen pflegt, sondern in einem kleinen, freundlichen, intimen, der sich an die Zimmer der Gräfin Miroslaw anschließt.
Außerordentlich traulich, hat das Gemach doch gar nichts von dem fein ausgeklügelten Raffinement der »modernen« Einrichtungen. Möbel und Wände sind mit lustig geblümter Cretonne bezogen; an den Wänden hängen ein paar Bilder in altmodischen Goldrahmen, Familienporträts, meistens von Schrozberg: Graf Miroslaw in der Kammerherrnuniform, seine Gattin im weißen, spitzenbesetzten Atlaskleid, dekolletiert, mit einem hermelingefütterten Mantel über der linken Schulter und kurzen, nur wenig über das Handgelenk hinausreichenden weißen Handschuhen.
Ende April. Das Mittagessen ist vorüber. Draußen gießt's, im Kamin prasseln ein paar dicke Holzscheite, die bis in die Mitte des Zimmers hinein Funken sprühen und einen harzigen Geruch ausströmen. Durch die geschlossenen Fenster sieht man, von grauen Regenschleiern abgetönt, den sich in frühlingsmäßiger Farbenungleichheit hinziehenden Park. Hie und da ein Stück zarten Grüns zwischen sich noch kahl in den blassen Himmel hineinzeichnendem Gezweig. Es ist wie ein hastig angetuschtes Aquarell, unfertig, aber vielversprechend.
Das Rauschen des Regens, das Rieseln des Wassers aus den Dachrinnen tönt in das Prasseln der flammenden Holzscheite. Dazwischen, weich zwitschernd, hört man das Stimmchen eines irgendwo zwischen zartem Laub zusammengeduckten Vogels, der vergeblich nach der Sonne späht.
»Ist das gemütlich!« ruft die Hausfrau aus. Sie sitzt neben dem prasselnden, nach brennendem Holz duftenden Kamin und strickt an einem weißen Kinderdeckchen, welches für ihre Schwiegertochter, die Gattin ihres ältesten, erst seit einem Jahr verheirateten Sohnes, bestimmt ist. Es ist ein ganz gewöhnliches Deckchen, aber die Gräfin häkelt es mit großer Sorgfalt auf einem über ihre Kniee gebreiteten weißen Tuch. Infolgedessen ist es blendend weiß geblieben, sieht freundlich und appetitlich aus, und Gräfin Klotilde Miroslaw freut sich bereits darauf, es, mit rosa Bändchen durchzogen, auf der Wiege ihres ersten Enkelkindchens ausgebreitet zu sehen.
Sie ist eine hübsche, rosige Frau in den Vierzigern, mit einem wohlwollenden Gesichtsausdruck und einem weißen Putzhäubchen auf ihren graudurchschimmerten blonden Wellenscheiteln. Ziemlich stark, von phlegmatisch behäbiger Anmut, trägt sie ein anspruchsloses lila Foulardkleid, aus dem ihre Handgelenke rund, glatt und weiß hervorsehen. Ganz besonders hübsch nehmen sich ihre weichen, vollen Kinderhände aus bei ihrer anmutig emsigen Geschäftigkeit.
»Hm! ja, ja, recht gemütlich!« bestätigt Gräfin Leontine Woronitzky. Sie sitzt über einen weitläufigen Stickrahmen gebeugt und arbeitet an einem Meßgewand.
Ihre Erscheinung sticht eigentümlich ab gegen die ihrer liebenswürdigen Cousine. Die Gräfin Leontine weiß das selbst. Außerdem ist sie fest davon überzeugt, daß sie vorteilhaft absticht von der »guten Kloklo«.
Sie ist eine Frau, die einmal sehr schön gewesen sein muß, die Gräfin Leontine, eine von jenen schönen Frauen, die sich in das Altwerden nicht finden können und darauf bestehen, alle Veränderungen ihres Aeußeren, welche die einfachen Folgen zunehmender Jahre sind, als etwas Vorübergehendes zu betrachten und infolgedessen zu bekämpfen.
Ebenso korpulent, wenn nicht noch stärker als Gräfin Klotilde, schnürt sie sich im Gegensatz zu dieser nicht nur bis zum Krankwerden, sondern trägt fast immer eng anliegende Kleider, in der irrigen Hoffnung, schlank darin auszusehen.
Ihr Teint ist leicht kupferig. Sie pudert sich stark und sieht infolgedessen nicht gerade frisch und jugendlich, dafür aber fast immer mehr oder minder heliotropfarbig aus.
Ihr Blick ist hart und scharf, ihr Lächeln geziert und vorsichtig. Sie lächelt stets mit der Absicht, liebenswürdig zu sein, ihrem Nebenmenschen eine besondere Huld zu erweisen, und bedeckt dabei die Zähne, soweit es angeht, mit den Lippen, aus Angst, ihre Zahnplomben bloßzulegen. Sie trägt natürlich wie immer so auch heute ihre schwarze Schneppe mit weißem Vorstoß und – so behauptet wenigstens Graf Max Miroslaw – macht den Eindruck, als wäre sie die inkognito reisende Maria Stuart.
In den letzten drei Wochen hat sie allen ihren intimen Bekannten mitgeteilt, daß sie in diesem Frühjahr »wirklich endlich einmal« diese guten Miroslaws besuchen muß – sie kann es ihnen nicht anthun, heuer wieder nicht zu kommen.
Zu gleicher Zeit hat sich Graf Miroslaw in Wodanka mehr als einmal gegen seine Gattin geäußert: »Wenn uns nur nicht die Leontin' überrumpelt; sie hat heuer in Wien nichts Rechtes zu thun. Ich fühl' so etwas wie ein Telegramm von ihr in der Luft. Wenn uns nur nicht die Leontin' überrumpelt!«
Dies hat ihn jedoch nicht verhindert, als das gefürchtete Telegramm richtig den Weg in sein Haus gefunden hatte, den wenig erwünschten Besuch in höchst eigener Person vom Bahnhof abzuholen und auf das ritterlichste willkommen zu heißen, obwohl der Besuch noch obendrein nicht allein, sondern in Gesellschaft eines jungen Mädchens, und zwar des Mündels Hans Ronskys, erschienen war.
So ist es in der Welt. Acht Tage lang hat er ihr die liebenswürdigsten Huldigungen entgegengebracht, jetzt aber fängt ihm der Weihrauch an auszugehen. Die Gräfin Leontine hat auch nach dieser Richtung zu große Ansprüche an ihn gestellt! –-
»Wirklich recht gemütlich ...« wiederholt sie und zieht einen langen Faden aus ihrer Stickerei. »Wenn das Wetter nur nicht so scheußlich wäre. Ich bitte euch, habt ihr denn je gutes Wetter hier? Jedesmal, wenn ich da bin, regnet's!«
Graf Miroslaw beißt sich auf die Lippen, schweigt aber, wenn auch mit Anstrengung.
Nach einer Weile hebt Gräfin Leontine von neuem an: »Ist die Post denn noch immer nicht gekommen?«
Es ist heute bereits das dritte Mal, daß Gräfin Woronitzky sich nach dem Posteinlauf erkundigt, was nicht verfehlen kann, ihren Gastgebern auffällig zu werden.
»Leontine, wenn du ein junges Mädchen wärst, würde ich darauf schwören, du erwartest einen Liebesbrief,« meint die Hausfrau mit gutmütiger Schelmerei.
»Ach, was das anbelangt« – die Gräfin Leontine hebt die dunklen Augensterne zum Himmel – »was das anbelangt, haben wir Witwen immer mehr Auswahl an Courmachern als junge Mädchen. Wenn ich mir die Freier nicht so energisch vom Leib geschafft hätte nach meines armen Mannes Tod, hätt' ich einen an jedem Finger, Aber ich will nicht ... will durchaus nicht mehr heiraten! Das haben meine Verehrer endlich verstanden, und jetzt hab' ich Ruh' ... gottlob!«
»Wenn du dich nur nicht eines schönen Tages nach all den zurückgewiesenen Huldigungen sehnst!« meint Gräfin Klotilde. Sie geht stets auf die »Wahnvorstellungen« ihrer Base ein, es macht ihr Spaß und vermeidet Unannehmlichkeiten.
»Ach, meine liebe Klotilde, ich brauche nur den Finger auszustrecken,« seufzt elegisch Leontine, »aber ich will nicht ... will absolut nicht!«
»Ist auch gescheiter,« brummt der Hausherr.
Er ist noch immer schlank und hat noch immer durchdringend helle blaue Augen unter buschigen dunklen Brauen in einem von Sportsvergnügungen im Freien geröteten, regelmäßig geschnittenen Gesicht. Nur ist er ein wenig kahler geworden als früher und sein spitzig zulaufender Vollbart etwas weißer.
Augenblicklich sitzt er in einer tiefen Fensternische und legt sehr bedächtig Patiencen mit kleinen, hübsch gemalten Kärtchen, die nicht mehr neu sind. Whist mit auch nur etwas abgebrauchten Karten zu spielen, wäre ihm unstandesgemäß und widerwärtig erschienen; aber bei Patiencekarten ist ein wenig Schmutz erlaubt. Patiencekarten schlagen in den Kreis der Pietät, und Dinge der Pietät können immer ein wenig Patina an sich haben; es sind das sichtbar gewordene Erinnerungen, die an ihnen kleben.
Dabei raucht er eine dicke, dunkle Zigarre. Gräfin Leontine hat ihm gleich nach ihrer Ankunft in Wodanka gestattet zu rauchen. Sie »gestattet« immer alles mögliche in den Familien, in denen sie sich zu Gaste befindet. Das gehört zu ihren Eigentümlichkeiten. Ehe in irgend einem Hause, das sie mit ihrer Anwesenheit beehrt hat, eine Woche nach ihrer Ankunft verfließt, ist sie Hausfrau geworden. Dabei hilft ihr, daß sie in ganz Oesterreich als eine hervorragende Kapazität bekannt ist, weshalb sich's unter ihren Gastgebern verschiedentliche zur Ehre anrechnen, von ihr entthront zu werden. Die Herrschaften auf Wodanka gehören nicht zu diesen übermäßig bescheidenen Persönlichkeiten, worüber Gräfin Leontine in ihrem Innersten staunt.
»Ist's erlaubt, zu fragen, aus welchem Grunde dich die Post heute so besonders interessiert? Vielleicht wegen der Fortschritte der Cholera in Rußland?« wendet sich der Graf nach einem Weilchen von neuem an seine Base.
»Ach, ich fürchte mich nicht vor der Cholera – anständige Menschen bekommen keine Cholera,« versichert Gräfin Leontine. »Im übrigen soll sie nur kommen, man hätte ein interessantes Feld der Thätigkeit.«
Graf Miroslaw schweigt, aber um seine Lippen schwebt ein Lächeln wie das Gespenst einer erwürgten Bosheit.
Im Gegensatz zu seiner Cousine ist er durchaus kein Philanthrop von Profession, nichtsdestoweniger scheint er zu finden, daß es für eine von der Cholera verseuchte Bevölkerung vielleicht doch ein geringer Trost wäre, der Gräfin Leontine Woronitzky ein interessantes Feld der Thätigkeit zu bieten.
Eine Pause – nichts zu hören als das Rauschen des Regens gegen die Fensterscheiben und das immer mutlosere Gezwitscher der Vögel, die auf den Sonnenschein warten.
Nach einer kleinen Weile nimmt Leontine den Faden des Gesprächs von neuem auf. »Einen Brief von Hans erwarte ich,« bemerkt sie. ›Seit einer Woche hat er mir nicht mehr geschrieben. Das ist recht merkwürdig! Entweder ist er krank, oder seine Gedanken sind durch irgend etwas von mir abgezogen.«
»Vielleicht hat er eine Liebschaft,« bemerkt gleichgültig Graf Miroslaw.
»Ach, das wäre nicht das Aergste,« erwidert ihm Leontine. »Du weißt, Max, ich bin nicht engherzig – Jugend muß austoben.«
»Meiner Ansicht nach tobt Hans viel zu wenig,« brummt der Graf.
»Eben ... eben, und da könnte es am Ende etwas Ernstliches sein, das ihn vom Schreiben abhält. Und ich muß sagen, wenig auf der Welt wär' mir unangenehmer als eine Schwägerin, die mir nicht paßt! So etwas könnte ich einfach nicht zugeben – da müßte ich einschreiten.«
»Davon bin ich überzeugt,« versichert der Hausherr. Und wieder schweben ihm Gespenster totgeschlagener Bosheiten um den Mund.
Die Gräfin Leontine merkt nichts davon und ist fest überzeugt, er habe ihr Beifall gezollt. Für den Augenblick lenkt ihre Arbeit sie von andern Interessen ab. Sie arbeitet mit sehr langen Fäden, sich von Zeit zu Zeit zurückbeugend, um ihr Meisterwerk aus der Ferne zu prüfen. Dann wieder nimmt sie eine Lupe und mustert es. »Bitte, bemüh dich ein wenig hierher, Kloklo. Würdest du diese Arabeske in Gold oder Silber ausführen?« wendet sie sich jetzt an die Cousine.
»Aber liebe Leontine, du weißt ja, daß ich davon rein gar nichts verstehe,« wehrt sich gutmütig die Gräfin Miroslaw. »So wie du es machst, wird es gewiß am allerschönsten sein!«
»Ach ja ... ich weiß ja, daß ich ein bißchen Geschmack habe – es wäre kindisch, wenn ich das in Abrede stellen wollte – aber komm' immerhin!«
»Hm! Du meinst, ein Bettler und der Papst sehen mehr als der Papst allein,« lacht Gräfin Klotilde.
»Gewiß!« erwidert Leontine verbindlichst. Sie bildet sich ein, besonders höflich zu sein und etwas bestätigt zu haben, was für ihre Cousine schmeichelhaft ist. Solche Zerstreutheiten des Hochmuts begegnen ihr oft.
Gräfin Klotilde, die ganz genau weiß, daß sie nicht gerufen worden ist, um zwischen der Ausführung in Gold oder Silber zu wählen, sondern einfach um die Leistung ihrer Cousine zu bewundern, hüllt ihre Großmutterarbeit sorgfältig in das auf ihren Knieen ruhende weiße Tuch und tritt dann erst an den Stickrahmen. »Wunderbar! Aber geradezu fabelhaft!« ruft sie. » Magnifique! Superbe!« Sie stockt, weil ihr Vorrat von Beiwörtern versiegt ist. »Wo hast du denn das Dessin herbezogen?«
»Bezogen?« Leontine zuckt die Achseln. »Ich beziehe nie ein Dessin. Die Vorzeichnungen, die man in den Laden fertig bekommt, langweilen mich. Es muß immer etwas Eigenes, eine freie Erfindung dabei sein, wenn's mich packen soll. Ich bin ja vielleicht eine verrückte Gredl!« – mit einem liebenswürdigen Aufblinzeln nach ihrem Vetter hin, der allerdings manchmal diese Ansicht hegt – »ja, ja, Max, ich weiß schon, ich bin einmal so!... Wo ich das Dessin herhabe? Die ursprüngliche Idee hat mir eine Vorlage in der ›Modenwelt‹ gegeben, aber ich habe sie adaptiert – adaptiert. Zum Schluß hab' ich mir den Lietzenmeyer kommen lassen ... wir haben einen halben Tag über den Streifen beraten, und dann hat er mir ihn von einem seiner Schüler zu Ende zeichnen lassen.«
»Donnerwetter! ... Daß der Lietzenmeyer auch noch Stickmuster beaufsichtigt!« brummt der Hausherr, indem er zugleich mit großer Sorgfalt mischt, weil ihm seine Patiencen nicht ausgehen wollen.
»Das that er natürlich nur für mich,« versichert Gräfin Leontine. »Aber ich bin nun einmal so – es muß immer ein großer Zug sein in einer Arbeit, sonst komm' ich damit nicht vom Fleck. Ich ärgere mich oft über mich selbst – bin halt eine verrückte Gredl ...!«
»Zu dummes Wetter!« murmelt der Graf, sich ins Zimmer zurückwendend, und damit schiebt er die Patiencekarten zusammen und gähnt. An ein Hinausgehen ist nicht zu denken, und die häuslichen Vergnügungen sind für ihn bald erschöpft.
»Ich wundere mich wirklich, daß du's noch bei uns aushältst, Leontin'. Jetzt regnet's schon den vierten Tag. Du mußt dich ja sterblich langweilen bei uns,« bemerkt er.
»Warum denn? Ich langweile mich nie, ich weiß mich zu beschäftigen, und dann ... ich muß ja noch abwarten, wie die Geschichte mit der Nixa ausfällt!«
»Was für eine Geschichte?«
»Nun, der junge Doppelberg macht ihr ja so auffallend den Hof,« erklärt Gräfin Leontine. »Er ist ganz und gar in sie vernarrt. Ich hab' sie neulich gefragt, ob sie ihn allenfalls nehmen würde, und weißt du, was sie mir geantwortet hat? ›Darüber soll Onkel Hans entscheiden – wenn er wünscht, daß ich ihn heirate, so nehm' ich ihn!‹«
»Armer Hans! Was man von ihm nicht alles verlangt!« brummt Graf Miroslaw. »Nun, ich sag', wenn der Doppelberg wirklich Ernst zeigt, dann ... fort mit Schaden! Je eher, je lieber.«
»Wenn Hans halbwegs vernünftig ist, so wird er, da gegen den guten Doppelberg nach keiner Richtung hin etwas einzuwenden ist, sagen, in so etwas misch' ich mich nicht; da muß sich das Mädchen allein entscheiden,« meint Gräfin Klotilde. »Ein Veto kann und muß man mitunter in solchen Fällen abgeben, bestimmend darf man nur sehr selten eingreifen!«
»Ach was! Ich würde mich in diesem Fall nicht genieren,« brummt Graf Miroslaw, »ich sage noch einmal: fort mit Schaden! Ich bitte dich, liebe Leontin', mit Mädeln wie Nixa muß man sich beeilen. Das bißchen beauté du diable ist bald verblüht – was bleibt dann übrig? Eine alte Jungfer mit einem unbändigen Temperament und einer unmöglichen Mutter – die bringst du dann nicht mehr an.«
»Ach, was die Mutter anbelangt, die zählt nicht; die ist aus Nixas Leben gestrichen. Im übrigen ... nun ... Max, du verstehst die Nixa nicht!«
»Ach, ich versteh' sie vielleicht besser als du!« erklärt Graf Miroslaw. »Ich versteh' nur nicht das Wesen, das du mit ihr treibst.«
»Nixa ist für mich ein interessantes Feld der Thätigkeit!«
»Wie die Cholera,« murmelt der Graf.
Ohne diese Einschaltung zu bemerken, fährt Leontine fort: »Ich brauche ein Feld der Thätigkeit; ich muß immer etwas erziehen und vervollkommnen. Und da der liebe Gott mir keine Kinder gegönnt hat ...«
»Und dein Mann gestorben ist ...« murmelt der Graf beiseite.
»Da mir der liebe Gott keine Kinder gegönnt hat, so freu' ich mich wenigstens, die Kinder anderer zu erziehen, und die Nixa hat sich mir so attachiert...«
»Hm! ich gratuliere dir zu deiner Eroberung!« versichert der Graf.
»Sie steht entschieden nicht in Gnaden bei dir. Nun ja, sie ist nicht banal, ist nicht wie andere junge Mädchen,« meint die Gräfin, »sie ist eine tiefe, leidenschaftliche Natur!«
»Gott gnad' dem Mann, über den sie den Pantoffel schwingt!« brummt Graf Miroslaw. »Ach, die Post!« ruft er jetzt, von neuem zum Fenster hinaussehend. »Sieh, sieh! Die Nixa ist dem Joseph in den Regen hinaus entgegengelaufen und untersucht den Postsack. Na, ich hoffe, das Mädel führt keine geheime Korrespondenz.«
»Um Gottes willen, interpellier sie nicht, Max; du würdest alles verderben!« warnt ihn die Gräfin Leontine. »Wenn jemand etwas aus ihr herausbekommt, so bin ich's.«
Kurz darauf öffnet sich die Thür, und herein tritt ein hochaufgeschossenes, schlankes junges Mädchen in einem einfachen Wollkleid, darüber eine derbe Lodenjacke mit großen Hirschhornknöpfen. Ohne eigentlich schön zu sein, ist sie doch eine auffallende und für Männer eine verführerische Erscheinung, dank ihrer jungen, biegsamen, schlanken Gestalt, dank ihrer herrlichen, weißroten Hautfarbe, dank ihrer vollen, leidenschaftlichen, wie mit Blut gefärbten Lippen. Um ihre ganze Person hängt ein Duft von Chypre und Peau d'Espagne; sie hat offenbar von ihrer Mutter die Gewohnheit ererbt, sich stark zu parfümieren.
»Sieh da, wir haben einen neuen Postboten!« neckt sie der Graf. »Seit wann zeigt man denn ein besonderes Interesse für den Posteinlauf?«
Nixa wird feuerrot. Gräfin Leontine macht, hinter ihr stehend, warnende Zeichen, dann nimmt sie das junge Mädchen um die schlanke Taille. »Du siehst, du bist beobachtet worden, liebes Kind,« sagt sie. »Onkel Max hat aus dem Fenster zugesehen, wie du den Postsack untersuchtest, und die Herren sind so kurios, gleich dachte er, du habest eine geheime Korrespondenz.«
»Ich scherzte nur,« brummt der Graf.
»Das sagt er jetzt, weil ich ihn ausgelacht hab'!« ruft die Gräfin Leontine. »Was mich anbelangt, leg' ich für dich die Hand ins Feuer. Ich weiß sehr gut, daß es sich, falls du wirklich einen Brief heimlich erwartest, nur um irgend ein kleines, bestelltes Cadeau handelt, wahrscheinlich für meinen Geburtstag. Hab' ich recht geraten. Kleine?«
»Nein, ich erwarte nichts,« erwidert Nixa trotzig mit einer etwas rauhen, tiefen Stimme, »es ist auch nichts an mich gekommen.«
»Und ist ein Brief an mich gekommen?«
»Ja, einer von deinem Bruder Hans.«
Nixa setzt sich und wartet offenbar gespannt darauf, daß man ihr etwas von dem Inhalt des Briefes mitteile.
Die Gräfin Leontine beginnt auch richtig das zwischen ihren Händen entfaltete Schriftstück mit dem ihr eigenen salbungsvollen Selbstgefühl laut vorzutragen, stockt aber bald, fängt erst an, undeutlich zu murmeln, worauf sie gänzlich verstummt. Der Ausdruck einer schlecht verhehlten, verdrießlichen Aufregung zeichnet sich deutlich um ihre Mundwinkel.
Ihr Vetter hat indessen die Zeitungen durchgeblättert.
Der einzige Brief, welchen er erhalten hat, befindet sich in einem bläulichen Umschlag und stammt aus einer Advokatenkanzlei, gehört somit unzweifelhaft in die Kategorie der Geschäftsbriefe, weshalb ihn der Graf ruhig liegen läßt. Seiner zum Prinzip krystallisierten Ansicht gemäß sollte man sich nie beeilen, Geschäftsbriefe zu öffnen – man ärgert sich doch nur darüber.
Für Gräfin Klotilde ist ein ganzer Stoß freundlich aussehender Episteln angelangt, von ihrem Sohn, von ihrer Schwiegertochter, von ihrer Schwester. Sie gehört zu den Menschen, mit denen man gern korrespondiert, weil sie sich für alle mitgeteilten Nachrichten wohlwollend interessieren und keine besonderen Ansprüche an den Briefstil ihrer Korrespondenten stellen. Nachdem sie den letzten Brief zu Ende gelesen hat, sieht sie sich nach ihrem Gatten und ihrer Cousine um.
»Darf man wissen, was dich so verstimmt hat, Leontine?« fragt Gräfin Klotilde.
»Ach ... ach ... Ich werd' dir's später sagen,« erwidert sie mit einem Blick auf Nixa, welche indessen mit finsterer Aufmerksamkeit die Gräfin Leontine beobachtet hat, als ob sie es ihr hätte vom Gesicht herunterlesen mögen, was der Brief enthält.
»Ach ... hm! ... Ich bitte dich, Nixa ... es ist Zeit, daß du ein wenig musizierst. Geh hinauf und spiele die neunte Etüde von Kramer, ich komm' dir sogleich nach.«
Der Blick des jungen Mädchens wird noch finsterer; fast macht es den Eindruck, als ob es Lust hätte, sich dem Wunsch der Gönnerin zu widersetzen; dann aber nimmt sich Nixa zusammen, wirft nur im Hinausgehen Gräfin Leontine ein einschmeichelndes: »Nicht wahr, du kommst bald nach?« zu und entfernt sich.
»Nun?« fragt Gräfin Klotilde, »was gibt's denn, meine arme Leontine? Es wird vielleicht nicht so arg sein!«
»Was es gibt? Ich hab' es ja gewußt – ich hab' es ja gewußt: die Existenz meines Bruders steht auf dem Spiel – das gibt's.«
»Ach, du siehst immer alles im schrecklichsten Licht – das habt ihr groß angelegten, romantischen Naturen. Einer so hausbackenen Person wie mir wird die Sache gewiß nicht halb so fürchterlich erscheinen!«
»Das heißt, sie wird dir nicht so nahe gehen!« erwidert Leontine.
»Wir wollen sehen! ... Hat dein Bruder vielleicht die Absicht, eine Koryphäe aus dem Variététheater zu heiraten?« fragt etwas spöttisch Graf Miroslaw, der indessen angefangen hat, Kartenhäuser zu bauen, wobei er beständig mißtrauische Blicke nach dem uneröffneten Geschäftsbrief wirft, wie nach einem aus einem Hinterhalt auf ihn lauernden Feind.
»Ach, es ist vielleicht noch ärger!« klagt Leontine. »Aber ich will euch den Brief vorlesen, dann urteilt ihr selbst.
»Liebe Schwester!
Was Du mir über Dein gemütliches Leben in Wodanka schreibst, freut mich sehr und ebenso der Umstand, daß die Miroslaws dich so sehr feiern und für Deine hervorragenden Eigenschaften ...« – Gräfin Leontine blättert um –– »Das gehört nicht hierher – ihr wißt, wie Brüder sind, wenn sie sich mit ihren Schwestern überhaupt vertragen, so überschätzen sie sie ... hm! ... so ... aber hier ...«
»Sehr freundlich finde ich es, daß Max und Klotilde auch Nixa mit verwandtschaftlicher Herzlichkeit willkommen geheißen haben. Wie du schreibst, hat sie einen sehr günstigen Eindruck auf Quido (ich glaube, wir nannten ihn immer ›Quietsch‹) Doppelberg gemacht. Ich kann nur sagen, daß ich mich freuen würde, wenn da eine Heirat zu stande käme. Doppelberg hat, wenn auch sein Stammbaum nicht ganz rein ist, immerhin einen recht guten Namen und etwas Vermögen. Mit dem, was Nixa mitbringt, könnten sie sehr gut leben. Ein solider Bursch ist er auch, also ...«
»Fort mit Schaden!« schaltet Graf Miroslaw ein. »Du siehst, Hans teilt meine Ansicht. Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich ihn vernünftig finde! ... Wenn das der Grund deiner Aufregung ist ...«
»Ach, nein ... natürlich nicht ... obgleich es mich allerdings kränkt, daß ... Aber höre nur weiter ...«
»Auf Deine Proposition, in Dresden mit Dir und Nixa zusammenzukommen, kann ich vorläufig nicht eingehen, liebe Schwester. Ich bin durch allerhand festgehalten. Es geht mit der Bevölkerung gar nicht, wie ich es möchte ...«
»Hm!« brummt Graf Miroslaw. »War nicht anders zu erwarten! Nachdem er selber die Gegend auf den Kopf gestellt hat, wundert er sich, daß sie nicht mehr auf zwei Beinen geht!«
Gräfin Leontine fährt indessen fort: »Du schreibst, daß unser Vetter Max meine Broschüre ›Es muß anders werden in Oesterreich‹ etwas abfällig beurteilt, und daß er sich geäußert hat: ›Wissen wir schon lang! Aber wie soll es werden?‹ Nun bin ich gerade mit einer zweiten Broschüre über dieses ›Wie‹ beschäftigt.
»Aber der Stoff häuft sich mir, ich brauche eine ordnende Hand. Und denke Dir, da kommt mir wie vom Himmel heruntergeschneit ein hilfreicher Engel, wenigstens erwart' ich ihn täglich, stündlich! ... Du weißt doch, wie sehr befreundet ich mit den Rheinsbergs in Berlin war. Da, gestern, als ich von der Bahn nach Natek fahre und dabei den Weg durch den Park von Sanssouci nehme, merk' ich um das verwahrloste Schlößchen herum eine auffällige, säubernde, ordnende Thätigkeit. Auf meine Frage, was das bedeute, teilt man mir mit, daß die Frau Gräfin erwartet wird. Nichts hätte mich mehr freuen können als die Aussicht auf diese Nachbarschaft. Der Verkehr mit Marie wird nicht nur ein sehr angenehmer, sondern ein fördernder und anregender für mich sein.
»Sie hat vierzehn Jahre an der Seite ihres Mannes im Mittelpunkt des interessantesten politischen Getriebes gelebt; ich freue mich, etwas zaghaft, ihr meine neueste Arbeit vorlesen zu dürfen. Sie wird einen klaren Blick haben für das Viele, was gewiß schlecht, das Wenige, was vielleicht gut darin ist. Ich erwarte sehr viel von ihrer geistigen Unterstützung.«
Gräfin Leontine läßt den Brief in ihren Schoß sinken.
»Nun, was sagt ihr dazu?« stöhnt sie.
»Ich sage,« ruft Graf Max energisch, »daß, wenn ich die Aussicht hätte, eine so herrliche Frau wie Marie Rheinsberg zur Nachbarin zu gewinnen, ich an etwas anderes denken würde als daran, mir meine verpfuschte politische Broschüre von ihr zurechtschneidern zu lassen!«
»Max, du hast Hans nie zu würdigen gewußt! – Aber darum handelt es sich nicht,« ereifert sich Gräfin Leontine, »in diesem Fall kann ich Hans nicht freisprechen. Es ist albern – geradezu albern von ihm, sich mit seinen politischen Bedenken, an eine fremde Frau zu wenden, eine Person, die beinahe eine Ausländerin ist – wenn man doch in seiner Familie Kapazitäten hat ... die ... Aber davon wollen wir nicht reden. Die Hauptsache ... das Aergste ist ... daß ... daß diese geistigen Beziehungen ja doch nur der Anfang sein werden vom Ende!«
»Und das Ende wäre ... ?« fragt Graf Max etwas scharf.
»Daß er sie heiratet!« erklärt Gräfin Leontine, und dabei legt sie den Brief des Bruders weg, um sich die Thränen aus den Augen zu wischen.
»Nun, das wäre nicht das Aergste, sondern das Beste, was deinem Bruder widerfahren könnte!« ruft der Graf. »Er braucht eine Frau, die ihn am Zügel hält – er braucht eine Frau, die in seinem konfusen Schädel aufräumt, wie man in einem verwahrlosten Wäscheschrank Ordnung macht – er braucht – mit einem Wort: er braucht eine Frau, die gescheiter ist als er!«
»Max!«
Aber Graf Max ist ins Feuer geraten, und das läßt sich so leicht nicht löschen. »Sie ist reizend, nicht nur grundgescheit, sondern vernünftig – amüsant, liebenswürdig – eine sehr anziehende Erscheinung! Ich habe sie nicht nur als Mädchen gekannt, ich habe sie in Paris wiedergesehen und voriges Jahr in Rom! ... Ich sage dir, ein Segen wär's für Hans – ein Segen!«
»Ein Segen ... !« wiederholt Gräfin Leontine und faltet die Hände in Verzweiflung, »ein Segen! Eine Frau, die um fünf Jahre älter ist als er – eine Frau, von der ich überzeugt bin, ja überzeugt, daß er ein Verhältnis mit ihr gehabt hat!«
»Wie du das nur glauben kannst ...« Plötzlich verstummt der Graf. Gräfin Klotilde, welche dem Wortwechsel bis dahin mit dem gleichgültigsten Phlegma zugehört hat, macht: »Pst!« und deutet nach der Thür. Gleich darauf hört man leichte Schritte und Kleiderrauschen.
Graf Miroslaw öffnet die Thür, erblickt jedoch nur noch den äußersten Zipfel eines dunklen Kleides.
»Nixa hat gehorcht,« sagt er trocken.
»Unsinn! So etwas ist Nixa nicht im stande – es wird eines von den Stubenmädchen gewesen sein oder die Kammerjungfer Klotildes,« ereifert sich die Gräfin Leontine.
Aber der Umstand, daß ganz knapp darauf eine Etüde von Kramer, kräftig gespielt, aus dem Oberstockwerk ertönt, dürfte die Vermutung des Grafen bestätigen.
Ihm ist's übrigens gleichgültig, ob Nixa gehorcht hat oder nicht. Die neue Nachbarschaft Hans Ronskys und deren mögliche Folgen interessieren ihn viel zu sehr, als daß er sich lange bei Nixa und ihren Unarten aufhalten möchte.
»Ich begreife gar nicht, daß du dich nicht freust, rasend freust für Hans!« ruft er. »Was hast denn du an Marie auszusetzen, außer den fünf Jahren Altersüberschuß?«
»Alles ... alles!« ruft Gräfin Leontine. »Sie ist eine Intrigantin, eine Poseuse, sie will alles besser wissen, ... sie wird meinen Bruder regieren wie einen Schulbuben, jeden vernünftigen Einfluß von ihm fernhalten ... mit einem Wort ... sie paßt mir nicht!«
»Das ist allerdings ausschlaggebend,« murmelt der Graf. »Es käme vielleicht auch ein wenig darauf an, ob sie Hans paßt ... aber das ist wohl nebensächlich!« Das murmelt er ganz leise, nur zu seiner eigenen Genugthuung.
Gräfin Leontine legt die Seiden-, Silber- und Goldrollen zusammen, stellt den Stickrahmen gegen die Wand und zieht sich zurück, um mit Nixa zu musizieren oder an ihren Bruder zu schreiben.
So wenig Hans Ronskys regierungssüchtige Schwester es glauben mochte, Maries Rückkehr in die Heimat hatte mit Hans Ronsky nichts zu thun.
Sie hatte keine Ahnung, daß er ihr nächster Nachbar sein würde, nicht einmal, daß er aus der Carriere getreten war, ahnte sie.
Im Briefwechsel hatte sie nie mit ihm gestanden, und als sie nach einem mit ihrem Gatten im Süden verbrachten Winter nach Berlin zurückgekehrt, war er inzwischen nach Japan versetzt worden. Von da an hatte sie nichts mehr über ihn gehört. Das erste Mal, daß sie nach seiner Adresse hätte fragen mögen, war nach dem Tode ihres Gatten gewesen, als es geheißen hatte, ihm eine Todesanzeige zu senden.
Aber gerade damals hatte irgend ein besonderes Zartgefühl sie daran gehindert, sich nach ihm zu erkundigen. Ja, sie hatte es sogar unterlassen, ihm die Todesanzeige persönlich zu senden.
Vielleicht hatte sie im Grunde ihres Herzens erwartet, er würde seiner Teilnahme trotz dieses Umstandes Ausdruck geben. Das aber war nicht geschehen, und daraufhin hatte sie gemeint, daß sie wohl aufgehört habe, ihm wichtig zu sein, und versuchte es nicht ohne Erfolg, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen.
Sie hatte so manches hinzunehmen gelernt, was ihr früher als unerträglich erschienen wäre.
Zu ihrer Reise nach Böhmen hatte folgendes die Anregung gegeben: Ihr österreichischer Rechtsfreund hatte vor kurzem an sie ein Schreiben gesandt, in welchem er, ihr den verwahrlosten Zustand des verlassenen Schlößchens treulich schildernd, die Frage an sie richtete, ob es nicht besser wäre, das kleine, mit den weitläufigen Räumlichkeiten und dem endlosen Park belastete Gut zu verkaufen.
Schnell entschlossen, hatte sie sofort dem Rechtsfreund zurückgeschrieben, alles vorläufig in der Schwebe zu lassen, da sie sich selbst von dem Zustande des alten Heims überzeugen und zusehen wollte, ob es nicht mit Hilfe ausgiebiger Reparaturen erhalten werden könnte. Dann hatte sie den in Sanssouci hausenden Förster davon benachrichtigen lassen, daß sie an dem und dem Tage in Zdibitz, der Bahnstation für Sanssouci, eintreffen würde und er demzufolge für Wagen an der Bahn, ebenso für ihre Unterkunft im Schloß zu sorgen habe, worauf sie dann – und zwar zwei Tage nach der Aufregung Leontine Woronitzkys – frisch und wohlgemut in den Schnellzug gestiegen war, der Berlin mit dem Herzen der österreichischen Monarchie verbindet.
Bis über die böhmische Grenze hinüber hatte Marie nichts Besonderes empfunden – die Eisenbahnfahrt hatte für sie nicht mehr bedeutet als hundert andere Eisenbahnfahrten auch. Seit sie aber die Grenze hinter sich hatte, stieg ihre Aufregung von Minute zu Minute. Ihr Herz klopfte immer stärker, während sie den Blick auf das Fenster heftete, an dem die Landschaft in rasender Eile vorüber wirbelte.
Der Wagen schwankte, das Coupé roch nach Rauch und heißem Eisen. Marie wurde ungeduldig. Wenn sie nur schon da wäre! Wie sie sich auf das Ankommen freute ... auf das Ankommen zu Hause!
Auf was freute sie sich? ... Vor allem ... nun, vor allem auf die Luft! Auf die süße, reine Luft, die aus den Wäldern den Duft gestohlen hatte, mit dem sie das Schlößchen und den Park umschmeichelte, dann ... auf den Sonnenschein, den grünlich schimmernden, sanften, weichen Sonnenschein von Sanssouci, der durch die zarten, noch nicht voll entwickelten Blättchen des Frühlingslaubes sickernd, alle unschönen Unbarmherzigkeiten grelleren Lichtes umgehend, das Schöne verklärte und das Häßliche verschleierte; auf die Aussicht aus ihrem Fenster, die, abwechselnd von Schatten durchdüstert, von goldenen Lichtbächen durchschimmert, die lockendsten Wunder andeutete, ohne die Phantasie durch fest umrissene Formen zu stören; auf die aus grauen Träumen aufwachende Sieghaftigkeit der Sonnenaufgänge, mit ihrer Begleitung von jauchzendem Vogelgezwitscher und sich dem Morgentau öffnenden Blumenkelchen, und auf die schöne Schwermut des allabendlichen Sonnenabschieds, bei dem man es so lange kupfrigrot hinter dem schwarzen Kieferngezweig glühen sah, eh die Sonne wirklich unterging, und dann, wenn die Sonne verschwunden war und die Vögel schwiegen und die Blumen ihre Kelche geschlossen hatten, auf das leise Schauern und Flüstern der Büsche und Bäume in dem dichter und dichter herabsinkenden taugekühlten Dunkel der Nacht; auf den ganzen singenden, rauschenden, jubelnden, klagenden Duft- und Waldzauber, der ihre Jugend umschattet und beschirmt hatte – ihre arme, ungenossene, fern – fern zurückliegende Jugend!
Näher – immer näher ... den Kirchhof kennt sie und den Eichenwald. Die Eichen sind noch braun, tragen das vertrocknete Blätterkleid vom Vorjahr – aber zwischen ihnen lacht die leicht auf silbernem Stamm schwebende Grazie einer grünlich umschleierten Birke. Jetzt ragt aus der flachen Landschaft der malerische, langgezogene Umriß des durch unheimlichen Gespensterspuk verödeten Schlosses Zdibitz empor.
Erst der Schaffner, dann die Kammerjungfer, hinter dieser der Kammerdiener zeigen sich an der Thür des Coupés, treten ein, um die verschiedenen Polster und Sächelchen zu sammeln, mit denen sich die verwöhnte Frau beim Reisen zu umgeben pflegt.
Es hat sich nicht viel verändert auf der Station. Die Veranda hat ein breiteres Dach bekommen und die Wirtin eine breitere Taille – das ist alles.
Selbst der Stationschef ist noch derselbe. Nach einem kurzen überlegenden Augenblinzeln erkennt er Marie, vielleicht teilweise, weil er auf ihre Ankunft vorbereitet war, und geleitet sie mit vielen Bücklingen bis zu den für sie bereitstehenden Wagen – einer für sie, einer für die Dienerschaft, einer fürs Gepäck.
Marie streift den Kutscher flüchtig mit einem Blick ... sein breites, rotes Gesicht strahlt vor Freude, und die Hand, die er an den Hut gelegt hat, zittert.
»Joseph!« ruft sie.
»Ich bitt', ich – Excellenz, küß die Hand, gräfliche Gnaden!«
Es ist derselbe, eilig vom Stallbuben zum Kutscher beförderte Bursche, der sie zwei Stunden nach ihrer Trauung heruntergefahren hat mit ihrem grauhaarigen Gatten auf die Station.
Damals war er ein hübscher, schlanker Junge, der dem blonden Wäschermädel den Hof machte. Jetzt hat er das Wäschermädel geheiratet, ist dick geworden und hat fünf Kinder. Marie erfährt das alles im Laufe der Fahrt. Sie redet böhmisch mit dem Kutscher; es freut sie, ihre vaterländischen Laute von neuem zu vernehmen. Nach den korrekten Domestiken, die sie die vielen Jahre lang gewöhnt war, heimelt sie der slawische Diener mit seiner hündischen Treue und naiven Zutraulichkeit sonderbar an.
Humpeltipum ... die Straßen sind schlecht, nichtsdestoweniger laufen die flinken Fiakergäule, ausgemusterte Dragonerpferde, tüchtig drauf zu.
»Sind zwar nur Fiakerrösser, aber ich fahr' Excellenz wie mit dem Postzug,« hat Joseph ihr angekündigt, und er hält sein Wort.
Zwischen grünen Getreidefeldern eilen sie vorbei, an weißknospenden Pflaumenbäumen, dann durch ein Dorf, ein lang hingestrecktes, gemütliches Dorf mit smaragdgrünem Moos auf schwarzen Strohdächern, mit grell blinkenden Sonnenlichtern auf tief eingesetzten, kleinen Fenstern, mit watschelnden, gelbflaumigen jungen Gänsen überall. Jetzt ein kleines Stück durch einen alten Fichtenwald, der dem Frühling zu Ehren neue grüne Kerzchen an alle seine schwarzen Zweige aufgesteckt hat – noch einmal in die sonnenüberglänzte Straße hinaus – dann durch ein weit aufgerissenes Thor zwischen zwei halbverfallenen Pfeilern in den Park von Sanssouci hinein, eine vernachlässigte Straße hinauf, die unregelmäßig von alten Linden und Kastanien eingefaßt ist. Und jetzt liegt es vor ihr, von einer niedrigen Terrasse blickt es auf sie herab, lang und ebenerdig, mit einem Kuppeldach in der Mitte, das alte Jagdschlößchen, welches das Ziel ihrer Reise bildet.
Die Thüren sind offen. Auf den Stufen der Terrasse steht der Förster und eilt ihr voll ehrfurchtsvoller Willkommensfreude entgegen.
Sie ist daheim. – –
Jetzt sind mehrere Stunden seit ihrer Rückkehr in die Heimat verflossen. Die Sonne senkt sich – die Schatten fangen an lang zu werden.
Sie hat die für sie vorbereitete Mahlzeit eingenommen in dem geräumigen Saal, in den man geradeswegs von der Terrasse hereintritt. Er ist mit altväterischen Fresken gemalt, und von der hohen Kuppel herab hängt ein Kronleuchter von geschliffenem venetianischem Glas. Die Thüren und Fensternischen sind aus geschnitztem altem Eichenholz. Das Parkett ist schadhaft, und quer durch die Fresken ziehen sich klaffende Risse; bei der Einrichtung mischen sich gebogene Thonetsche Sessel zwischen Sessel und Sofas mit beschmutzten, an den Ecken zerfaserten Cretonneüberzügen in abgeschabten weißen, teilweise auch vergoldeten Gestellen.
Zwischen zwei der vornehm geschnitzten Eichenthüren breitet sich ein Büffett aus von außergewöhnlicher Häßlichkeit, schwarz poliert mit fürchterlichen Messingbeschlägen. Marie erinnert sich noch ganz gut, daß mit einem Teil der Louis XVI.-Möbel manchmal geheizt worden ist, und daß ihr Vater das entsetzliche schwarze Büffett hinter dem Rücken der Mutter bei einem Dorftischler bestellt hat.
Ein eigentümliches unruhiges Gefühl hat sich ihrer bemächtigt. Die Freude an der Heimat wächst von Minute zu Minute, zugleich aber auch das drückende Bewußtsein der Einsamkeit. Ihr ist's, als sähe sie heute zum erstenmal den Frühling wieder, seit sie Sanssouci verlassen, und deutlich ist sie sich dessen bewußt, daß der Frühling auch in ihr treibt und blüht. Es ist ein Anachronismus, aber er ist da, und sie kann ihn nicht bannen. – –
Möchte sie's?
Sie tritt in die offene Thür des Saales, wandert in den Park hinaus. Ja, die Schatten werden lang, die Sonne steht tief, der ganze Park ist ein Gemisch von zartem Grün und Goldschimmer. Das Laub noch so durchsichtig, daß die Sonne durchscheint – ja, an den alten Linden merkt man das Laub noch kaum.
Aber wie schön! ... Gott, wie schön! ... Was ist denn das für ein abscheuliches, undankbares Gefühl, das sich in ihr regt? Das Gefühl, als ob sie, aus langer Kerkerhaft entlassen, in die Freiheit hinausträte!
Das ist die Freiheit, das Rauschen in den alten Bäumen und jungen Büschen, das Rauschen, das neues Leben bringt! Wie verliebt die Vögel in den Zweigen zwitschern, wie weich die taufeuchte, nach Quendel und Harz duftende Luft an Maries Wange vorüberstreicht! –
Von ihrem Spaziergang durch den schönen, wilden Park zurückgekehrt, bemerkt sie in dem Saal ihr altes Klavier – denselben Bösendorfer, welcher der Vertraute aller Auf- und Abschwankungen in ihrer jungen Seele war – daneben einen Stoß nach Moder und Kampfer riechender Noten. Ganz obenauf die Trios von Schumann. Sie öffnet das Klavier – der Schlüssel steckt. ... Nach den ersten Accorden, die sie hineingreift, bemerkt sie, daß es ihr zu Ehren gestimmt worden ist. Sie greift nach den Trios von Schumann, sie erinnert sich, daß der erste Satz des ersten Trios ihr Lieblingsstück in ihrer jungen Mädchenzeit war, daß sie an dem Abend vor ihrer Hochzeit bis tief in die Nacht noch gerade diesen ersten Satz gespielt, ohne die Violin- und Cellostimme. Es fehlte ihr irgend etwas dabei, da sie ihn spielte, aber dennoch mußte sie ihn immer wieder und wieder spielen.
Sie hebt an. Aus den Saiten des alten Flügels tönt's wie das Wogen und Beben in einem jungen Herzen, an das der Frühling pocht.
Plötzlich zuckt sie zusammen. Ihre Hände gleiten von den Tasten. Mit der quendeldurchwürzten Frühlingsluft dringt durch die offene Thür des Saales der Klang rasch rollender Wagenräder, die vor der Terrasse stehen bleiben.
Dann ... sie traut ihren Augen kaum ... in die Saalthür tritt eine hohe, schlanke Gestalt ... und die Gestalt bleibt nicht in der Saalthür stehen, sondern kommt auf sie zu.
»Marie! Marie! Wie wunderschön, daß Sie hier sind! Wenn Sie wüßten, wie ich mich über unsre Nachbarschaft freue!«
»Hans! Sie hier? –– Auf nichts in der Welt war ich weniger gefaßt ... als Sie hier zu sehen!« Mit diesen Worten erhebt sie sich von ihrem Sitz vor dem Klavier, langsam, mit den fast unbeholfenen Bewegungen einer plötzlich aus dem Schlaf Geweckten. Dabei behält sie die Finger auf den Tasten, wie um sich zu stützen.
Der junge Mann sieht sie groß an. »Wollen Sie mir damit bedeuten, Sie hätten es passender gefunden, daß ich meinen nachbarlichen Willkommensgruß auf morgen verschoben hätte?« fragt er.
»Ihren nachbarlichen Willkommensgruß? ... Haben Sie vielleicht die kleine Tinka Liebenstein geheiratet, daß Sie jetzt in Natek seßhaft sind?« fragt Marie und schaudert leicht, mitten in der weichen, lauen Frühlingsluft.
»Ich bin nicht verheiratet, Marie!« erklärt er mit einem energischen Kopfschütteln, und ganz unnötigerweise setzt er hinzu: »Gott bewahre mich!«
»Also?«
»Ist es Ihre Absicht, mich schlecht zu behandeln?« fragt halb empfindlich, halb mutwillig der junge Mann.
»Wieso?«
»Weil Sie mir bis jetzt noch nicht die Hand gereicht haben. Selbst Prinzessinnen von Geblüt reichen ihren Unterthanen die Hand zum Kuß.«
»Ihren Unterthanen ... ?« Sie lächelt träumerisch, indem sie, das Versäumte nachholend, ihm die Rechte entgegenstreckt.
»Ich fühle mich noch immer als Ihr Unterthan – ich erkenne Sie mithin als meine Souveränin an und leiste Ihnen den Eid der Treue.« Bei diesen Worten streift er ihre Hand mit seinen Lippen.
Sie tritt mit ihm hinaus auf die Terrasse, weil ihr zu Mute ist, als ob sie sich draußen wohler fühlen, die große Beklommenheit, welche über sie gekommen ist, leichter abstreifen würde.
»Und jetzt setzen Sie sich,« fordert sie ihn freundlich auf, indem sie selber auf einer der weißen Gartenbänke Platz nimmt, »setzen Sie sich und erzählen Sie mir, wie Sie nach Natek kommen. Meiner Zeit gehörte es Liebensteins.«
»Sie scheinen sich im Ausland wenig um unsere österreichischen Verhältnisse bekümmert zu haben,« bemerkt der junge Mann fast ein wenig verdrießlich, »sonst müßten Sie wissen, daß Natek bereits vor zwei Jahren exekutiv geworden ist, nachdem sich der letzte Liebenstein erschossen hatte. Damals hat es mein Vater erworben, und nach meines Vaters Tode ist es mit seinen anderen verschiedenen Besitztümern an mich gelangt. Da ich es arg heruntergewirtschaftet und die Bevölkerung verwildert fand, so habe ich seit einem halben Jahre meinen Wohnsitz in dem alten Nateker Schlosse aufgeschlagen.«
»Und hausen nun dort teilweise als Missionar,« schaltet Marie halb lachend ein. –-
»Ja, teilweise als Missionar,« gibt er ebenfalls lachend zurück.
»Hm! ... Sind Sie immer noch gentleman socialist?« fragt sie.
»Marie, wollen Sie mich verspotten mit dieser Titulatur?« fragt er halb empfindlich. Sie hat das Gefühl, als ob er jetzt überhaupt stark zur Empfindlichkeit neige. Ein wenig empfindlich war er immer, aber nicht in diesem Grade.
»Es fällt mir gar nicht ein,« beeilt sie sich ihm zu antworten. »Ich wollte Ihnen im Gegenteil etwas Freundliches sagen. Mir gefällt die Zusammenstellung ausnehmend, und ich möchte wahrhaftig wünschen, daß sich die beiden Begriffe öfter zusammenfänden. Einer mäßigt und veredelt den andern. In meinen Augen kann man kein echter Gentleman sein, ohne ein wenig ins Sozialistische hinüberzugravitieren – und kein anständiger Sozialist, ohne zugleich ein Gentleman zu sein.«
»Sie treffen immer den Nagel auf den Kopf, Sie sind noch immer die geistreichste Frau des Jahrhunderts,« erklärt er, indem er den Hut sehr tief vor ihr abzieht. Es ist eine Uebertriebenheit in seinen Worten, ja selbst in seinen Gesten, die ihr auffällt; sie fühlt sich ein klein wenig verletzt, hat aber weder Zeit noch Lust, sich bei seinen Unzulänglichkeiten aufzuhalten.
»Lassen Sie meinen Geist aus dem Spiel – der hat augenblicklich für keinen Menschen Interesse, nicht einmal für mich. Erzählen Sie mir lieber, was Sie alles Menschen- und Weltverbesserndes vorhaben.«
»Menschen- und Weltverbesserndes ...« murmelt er mit einer gewissen Bitterkeit, die bald da, bald dort aus seinem Wesen hervorbricht. »Ich halte mich vorläufig in bescheidenen Grenzen. Ich trachte, der Bevölkerung einen gewissen Grad von Bildung zuzuführen, ich habe ein paar Professoren angestellt, die am Sonntag und Donnerstag deutsche und böhmische Vorträge halten in einem Saal, den ich zu diesem Zwecke habe erbauen lassen; jeden zweiten Sonntag halt' ich selbst einen Vortrag, einmal in böhmischer, einmal in deutscher Sprache.«
Marie schweigt. Sie hat einen kleinen Scherz auf der Zunge; sie möchte ihm sagen, daß er sich, wenn er so fortfährt, bald herrlich für den Romanhelden einer gewissen sentimental und konfus angelegten demokratischen Schule eignen werde, aber eine heillose Angst, ihn einzuschüchtern, hält sie zurück. Statt dessen bemerkt sie nur nachdenklich: »Stürmen Sie nicht vielleicht zu rasch vorwärts mit der Bildung des Volkes?«
»Kann man zu rasch vorwärts stürmen?« fragt er.
Sie seufzt nachdenklich, »Die Bildung ist ein schweres Gericht,« antwortet sie, »ein Gericht, von dem man schwachen Magen nur sehr kleine und besonders zubereitete Portionen Vorsetzen darf. So sehr die Bildung zur Verschönerung des Lebens beiträgt, wenn sie, gut verdaut, den Menschen ins Blut übergegangen ist, so sehr trägt sie auch zur Verbitterung und Verzerrung der Existenzen bei, wenn sie unverdaut im Magen liegen bleibt oder, schlecht verdaut, zu allerhand erhitzenden Krankheiten führt, als da sind: Selbstüberhebung, unreife Zweifelsucht und allgemeine Unzufriedenheit. In modernen Zeiten sind alle Revolutionen auf ungesunde Bildung und Unzufriedenheit zurückzuführen. Gesetzlich erzwungene Bildung und gesetzlich geschürte Unzufriedenheit!«
»Ja, aber Revolutionen sind notwendig – sie sind nur die stürmischen Läuterungsprozesse der modernen Kultur!« ruft Hans.
»Und glauben Sie nicht, daß es vielleicht zweckentsprechender wäre, diese Läuterungsprozesse etwas allmählicher und weniger stürmisch herbeizuführen?« fragt Marie.
»Das ist Ansichtssache,« erwidert er.
»Vor etwa hundert Jahren,« beginnt Marie von neuem, »soll sich ein von mißglückter Philanthropie müder Volkstribun geäußert haben: Lasst mich in Ruh mit eurer Bildung und Aufklärung! Das Volk braucht Seife und einen Gott! ... und mein Mann, der doch immerhin zu den schärfsten Köpfen seiner Zeit zählte, behauptete, dieser Ausspruch sei bisher weder an epigrammatischer Kürze noch an Weisheit übertroffen morden.« Kaum hat Marie den Namen ihres Mannes ausgesprochen, so bereut sie's. Die Erinnerung paßt nicht hierher – sie muß störend wirken zwischen ihr und Hans.
»Nun, Graf Rheinsberg war ja in der That sehr gescheit,« meint Ronsky, »dennoch begreif' ich nicht, wie er finden konnte, daß der berühmte Ausspruch Dantons die modernen Volksbedürfnisse in sich zusammenfaßt.«
»Nun, er meinte, daß die gewissen modernen Volksbeglücker ihre philanthropischen Experimente beim unrechten Zipfel anfassen, daß das Volk nicht von vornherein der Wissenschaft, sondern vor allem der Kultur bedarf, man infolgedessen vor allem dafür zu sorgen hat, daß seine materiellen Lebensbedingungen besser gesichert, angenehmer, hygieinischer, sittlicher gestaltet werden!«
»Und einen idealen Gehalt wollen Sie dem Leben des Volkes nicht gönnen?« ruft aufgeregt Hans.
»Das von Ihnen als nicht umfassend bezeichnete Wort Dantons lautet: ›Seife und einen Gott!‹« entgegnet Marie lustig.
»Ich wundere mich, daß Graf Rheinsberg diesen Ausspruch so bewundert hat,« meint Hans. »Er war ja so sehr gegen die Religion eingenommen!«
»Fiel ihm gar nicht ein... das sagte er nur so –-« lacht Marie – »aus Widerspruchsgeist. Er schätzte die Religion sehr hoch – er hatte nur eine Abneigung gegen volltönende Phrasen.«
Hans biß sich auf die Lippen und wurde blaß. Marie bereute ihre Uebereilung und hätte alles thun mögen, um sie ungeschehen zu machen und auszulöschen.
Nach einer Weile begann Hans von neuem: »Das Einzige, was mir im Lauf unseres Gesprächs ganz klar geworden, ist, daß ich nicht mehr den Mut finden werde, Sie zu bitten, meiner Sonntag über acht Tage stattfindenden Vorlesung beizuwohnen.«
»Ich werde gewiß kommen,« versichert ihm Marie rasch.
»Ich bitte Sie ausdrücklich, es nicht zu thun!« entgegnet er, »Sie bringen mich vollkommen um das bißchen Selbstvertrauen, das jeder Mensch nötig hat, um irgend etwas unternehmen zu können,«
»Hans!« ruft Marie vorwurfsvoll. Ihr Herz klopft stürmisch. Es thut ihr entsetzlich leid, daß ihr erstes Wiedersehen durch seine Empfindlichkeit getrübt werden sollte, und nach Frauenart zeigt sie sich ganz bereit, den Fehler in sich zu suchen – sich ganz klein zu machen neben ihm. »Hans! Ich muß mich gewiß falsch ausgedrückt haben,« sagt sie, »nichts lag mir ferner, als Sie in Ihren schönen, edlen Bestrebungen zu entmutigen.«
Wie warm ihre Stimme ist, wie ihr schöner, ruhiger Blick ihm zu Herzen dringt!