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Was ist eigentlich der »Geist«? Das sollte man doch notwendig wissen, ehe man über den Geisteskampf redet, der sein besonderes Gepräge doch eben von dem Geiste bekommt!
Aber so notwendig wir vor allem Weiteren das bestimmen sollten, was der Geist ist, so werde ich es doch nicht sagen: aus dem einfachen, aber völlig genügenden Grunde, weil er überhaupt nie ist, immer erst wird. Von allem Werdenden aber gilt: »man weiss nicht, was noch werden mag«. Wer will dann von dem immer nur Werdenden sagen, was es ist? was einmal sich daraus entpuppen wird? was jetzt schon als Kern und wahres Wesen darin verborgen liegt?
Wenigstens für uns Menschen gibt es nur den werdenden Geist. Denn das sind wir selbst: werdender oder – vergehender Geist. Sodann glauben wir allerdings vielleicht zu einem Leben zu gelangen, da wir vollendete Geister wären; wir glauben vielleicht an einen »Gott«, der Geist ist. Aber sobald wir versuchen, den Inhalt des ruhenden Geisteslebens auszudenken, wie »Gott« es lebt, wie wir es zu gewinnen hoffen: so versagt unser – Geist, Denn für ihn, den werdenden, ist sein eigenes Sein schon jenseits der Grenze – der oberen Grenze – seines Bereichs. Als Geist ruhend zu sein, was doch unser Ziel ist, übersteigt unsere Vorstellungskraft.
Einen Inhalt kann darum der Begriff des Geistes für uns nur dadurch gewinnen, dass wir die Bewegungen beschreiben, wodurch wir uns der oberen Grenze unserer Existenzweise – dem Geist-sein – zu nähern glauben. Denn die ruhende Existenz, in der diese Bewegungen untergehen wollen und sollen, muss doch noch in sich bergen, was in ihnen auf wirkliches Sein angelegt war. Anders können wir ja nicht über uns hinausdenken, als indem wir die Richtungslinien unserer Entwicklung wenigstens in der dichtenden Phantasie bis zu ihrem etwaigen Schnittpunkte zu verfolgen suchen. Möglich ist es freilich, dass sie sich erst im Unendlichen, ja im Imaginären treffen – und das könnte gerade bei jenen Richtungslinien unseres Lebens der Fall sein, die vereinigt das ruhende Sein des Geistes bestimmen würden.
Das bleibe dahingestellt. Wir wenden uns jetzt der Aufgabe zu: die Bewegungen zu beschreiben, wodurch wir uns der oberen Grenze unserer Existenz, dem Geist- sein, zu nähern glauben, worin wir also, innerhalb der Grenzen unserer Erfahrung, allein den Geist erleben oder leben.
Es scheinen mir etwa folgende zu sein:
Wir kommen immer wieder zum Bewusstsein unserer selbst. – Das ist offenbar eine Bewegung nach oben. Auch entspricht es dem Sprachgebrauch, dass das Erwachen zum Bewusstsein einen Schritt zur Vergeistigung bedeutet. Doch ist das ruhende Bewusst sein für uns eine ganz leere Vorstellung. Aus wirklicher Erfahrung kennen wir nur das Bewusst werden. Unser Leben ist ein beständiges, merkliches Wiederaufwachen nach einem stets wiederholten, unmerklichen Einschlummern. Das volle Wachen ist vielleicht (wenn es je erreicht wird) immer nur ein Augenblick; dagegen nimmt der Schlummer einen längeren oder kürzeren Zeit raum ein. Auch das Denken vollzieht sich ja nicht in der Helle des Bewusstseins; wir werden uns vielmehr in den Augenblicken wirklichen Bewusstseins nur der Gedanken bewusst, die wir zuvor, mehr oder weniger »in Gedanken verloren«, gehabt, empfangen haben. Ebenso werden wir uns der Beziehung unserer Gedanken auf uns selbst immer nur in einzelnen Augenblicken des Erwachens bewusst. Wie oft gleichen wir bei unserem Nachdenken über Gut und Böse jenem Schreiber, der ohne es zu merken sein eigenes Todesurteil ausfertigte! Plötzlich überfällt uns das Bewusstsein davon, dass unser Gedanke uns selbst treffe – und dann wollen wir ihn nicht gelten lassen! Selbst wenn wir geflissentlich über uns selbst nachdenken, denken wir nur in einzelnen Augenblicken wirklich uns selbst mit. In der Tätigkeit der Selbstprüfung werden wir (wer hätte das nicht schon erfahren?) sofort wieder »objektiv«, denken an uns, als ob wir uns nichts angingen, also wie an einen anderen, fallen also von der Höhe des Selbstbewusstseins wieder herab. Hält man die wissenschaftliche Objektivität des Denkens für schwer durchführbar: die persönliche Subjektivität desselben ist es noch mehr! Der Fortschritt der Vergeistigung besteht, wie mir scheint, nur darin, dass die diskreten (abgerissenen) Momente des Bewusstseins nach immer kürzeren Pausen aufeinander folgen; ob sie je zu einem stetigen Zeitraum zusammenfliessen, ist mir äusserst fraglich. Das Geistesleben innerhalb der Grenzen unserer Erfahrung ist nicht Bewusst-sein, sondern ein immer erneutes Erwachen zum Bewusstsein.
Mit dem Bewusstwerden verbindet sich unwillkürlich der Eindruck eines gewissen Werts oder Unwerts des bewusst gewordenen Lebens. Unser Leben gefällt uns oder missfällt uns; oder besser: wir gefallen uns so, wie wir uns sehen, oder wir missfallen uns. Auch dies ist offenbar eine Bewegung gegen die obere Grenze unserer Existenz; aus dem Eintreten oder Ausbleiben dieser unwillkürlichen Wertung seiner selbst schliessen wir auf Geist oder Geistlosigkeit. Schmerz, Freude, Ehre, Scham, Reue, Stolz sind Kundgebungen des Geistes; eine dumpfe und stumpfe Gleichgültigkeit lässt uns bezweifeln, ob wir es wirklich mit einem Geistwesen zu tun haben. Aber dieses wertende Selbstbewusstsein ist gleich dem bloss inne werdenden nie ein stetiges Sein, nur ein immer neu erwachendes Erstaunen oder Erschrecken über sich selbst. Gefühlt, im strengen Sinn, wird schon der physische Schmerz nur momentan – und allerdings vielleicht in einer sehr raschen Folge der diskreten Momente; ähnlich ist es mit der physischen Lust, von der man mit Recht sagt, dass sie in uns »pulsiert«: die seelische Bewegung in der Lust geschieht stossweise. Noch deutlicher zeigen diesen Charakter die höheren Regungen der Ehre und Scham, des Stolzes und der Reue. Das Bewusstsein unserer Schande oder unserer Ehre überfällt uns oft mit unwiderstehlicher Klarheit und Kraft; aber das sind nur Augenblicke; dann glaubt man die Sache nicht so tragisch nehmen, ihr keine so entscheidende Bedeutung beilegen zu dürfen – bis man wieder jäh von dem Gedanken erfasst wird: du spielst, du kämpfst um das Recht deiner Existenz. Stetigkeit haben gerade die Hochgefühle nicht; und je höher ihre Spannung steigt, desto jäher treten sie auf und brechen sie ab. In den Pausen sind wir selbst darauf angewiesen, an uns zu glauben, – und vermögen leider gerade den besten Regungen des Geistes in uns oft nicht mehr zu glauben!
Als eine dritte Bewegung gegen die obere Grenze unserer Existenz erkennen wir es, dass unsere dichtende Einbildungskraft aus dem Material des erlebten, seinem Wert nach gemischten und zweideutigen Lebens das Bild eines Lebens von höherem, ungemischtem, unzweifelhaftem Werte herausarbeitet, das uns fortan als leitendes Ziel vor Augen schwebt. Bloss in den Tag hineinzuleben, ohne den Drang, Form und Gehalt seines Lebens, soweit möglich, selbst zu bestimmen: das ist ja eine fast untermenschliche Existenzweise; das verrät den schlimmsten Mangel an Selbst, an Geist. Die Produktion von Idealen ist also ein Schritt zur Vergeistigung. Aber auch in dieser Aeusserung seines Lebens erweist sich der Geist als immer nur werdender Geist. Denn das Ideal ist seiner Natur nach nie fertig. Es ist nicht an dem, dass wir uns ein Ideal bildeten, um dann, nach Abschluss dieser Tätigkeit, es zu verwirklichen. Weder der Einzelne, noch die Menschheit geht so vor. Vielmehr ist das Ideal immer nur Entwurf, Schema; seine Verwirklichung ist immer zugleich eine Aus- und Umdichtung desselben. Zudem gewinnen wir ja das Material für den idealen Aufbau eines erwünschten Lebens nur aus dem erlebten Leben; wir können nie frei dichten, was wir erleben möchten, nur umdichten, was wir erlebt haben. Und soll das Ideal kein blosses Luftschloss werden, so muss es an die realen Verhältnisse sich als reale Möglichkeit anschliessen. Das ist nur ein Märchenideal, dass der Bettler die Prinzessin bekomme; dagegen darf und soll jeder Mann das Ideal haben, mit einer Frau, wie er sie haben kann, eine richtige Ehe zu verwirklichen. Somit muss das wirkliche Ideal des Menschen allen Wandlungen folgen, die mit seiner Wirklichkeit vor sich gehen. Und darum kann die dichtende Produktion des Ideals nie abschliessen: weil wir eben das Leben nur allmählich erleben, die Wirklichkeit, in die wir unser Ideal einwirken müssen, nur allmählich entdecken. Die fertigen Ideale, des Einzelnen wie der Gemeinschaft, sind immer zugleich abstrakte, leere und recht wertlose Phantome. So auch das Ideal der Liebe, so gut wie das des Uebermenschen und wie sie sonst heissen mögen. Wert hat es nur, dass einer eine Verkörperung der Liebe oder des Uebermenschen vor Augen hat, die sich ihm als mögliche Umwandlung, Erweiterung, Vertiefung der eigenen Persönlichkeit erweist. Dieses konkrete Ideal aber kann kein anderer für ihn dichten, das kann er nur selbst schaffen; und mit der Produktion dieses Ideals wird er so wenig fertig wie mit dessen Verwirklichung.
Wir kennen den Geist nur als endlos wiederholtes Erwachen zum Bewusstsein; nur als fortdauerndes und stets sich verschiebendes Erleben eines Lebens von verschiedenem Werte; nur als endloses, unruhiges Dichten von Idealen – aber nicht als ruhendes Bewusstsein, nicht als ruhendes Selbstgefühl, nicht als ruhenden Besitz angeborener Ideen. Wir kennen den Geist nur als werdenden.
Alles Werden aber ist ein Kampf. Der Geist, wie wir ihn kennen, ist stets im Kampf. Es gibt keinen besonderen Geisteskampf, sondern das Geistesleben ist, innerhalb der Grenzen unserer Erfahrung, überhaupt Kampf.
Ich will das für die einzelnen Funktionen des Geisteslebens gesondert ausführen, obgleich sie sich in der Wirklichkeit nicht sondern lassen.
Das Bewusstwerden ist ein Kampf gegen ein Hindernis – sagen wir: gegen den Schlaf. Sehen wir ganz davon ab, wessen wir, zum Bewusstsein erwachend, in uns inne werden: schon das ist eine Anstrengung, die eigentümliche Wendung gegen sich selbst vorzunehmen, die wir Bewusstsein nennen. Die natürliche Richtung des menschlichen Auges geht auswärts; nur einem schmerzlichen Zwange gehorchend, nimmt es die entgegengesetzte Richtung ein. Aber es gibt ja Mittel, diesem Zwange auszuweichen – Betäubungsmittel, Schlafmittel. Instinktiv greift die Natur nach ihnen; instinktiv nimmt der Mensch immer wieder die Richtung auf das Objekt, bohrt er sich in dem Objekt fest, zerstreut er sich, um die Aufforderung, subjektiv zu werden, nicht zu hören. Wie ich schon oben bemerkte: sogar bei der Selbstprüfung vergessen wir immer wieder, dass wir es mit uns zu tun haben, und werden »objektiv«. Der Geist ist der beständige Kampf gegen die willkommene Uebermacht des Objekts, das den Menschen zu seiner Beruhigung hindert, die Wendung in, gegen sich selbst zu nehmen; er ist der beständige Kampf gegen die instinktive Hinterlist des Menschen, sogar sich selbst als Objekt zu behandeln, das ihn eigentlich nichts angehe.
Dieser Kampf wird dadurch verschärft, dass das wertende Selbstbewusstsein in dem bewusst gewordenen Leben leider nur zu viel Unwertes festzustellen findet. Um so willkommener muss ja die Betäubung, der Schlaf sein – um so härter wird der Kampf um die Subjektivität. Dazu kommt noch ein besonderer, instinktiver Kunstgriff des Menschen, dem unangenehmen Eindruck seiner selbst auszuweichen: er dichtet sich um. Die Sache ist einfach: man verlegt sein eigentliches wesentliches Sein in seine guten, schönen, hohen Phantasien und Wünsche, und erkennt in seiner wirklichen Minderwertigkeit nur die Wirkung zufälliger Ungunst der Verhältnisse. So kann der jämmerlichste Schwächling sich als eigentlichen Helden, der rücksichtsloseste Egoist sich als selbstlosen Menschenfreund fühlen – nur die Verhältnisse hindern ihn, die innere Vortrefflichkeit seines Wesens zur restlosen äusseren Darstellung zu bringen. Und das ist schliesslich gar kein so unangenehmes Gefühl: das Opfer der Umstände zu sein. Noch einfacher ist es, nicht auf das Werturteil zu horchen, das unser Leben ungewollt begleitet, sondern sich selbst frei seinen Wert zuzusprechen. Man sagt sich selbst so oft vor, dass man, wie man ist, recht ist – bis man's selbst glaubt. Ich rede hier natürlich nicht von schlimmen Kniffen etlicher Helden des Lasters, sondern von den Versuchungen, denen der Mensch als solcher ausgesetzt ist. Deshalb meine ich auch, dass es jeden einen Kampf kostet, der Verfälschung seines Wertbewusstseins durch sich selbst entgegenzuarbeiten. Wie das zu geschehen hat, ist eine Frage für sich; die Notwendigkeit dieses Kampfes wird jeder zugeben, der schon in der Lage war, sich selbst den Wert absprechen zu müssen; also – hoffentlich, und leider! – jeder.
Endlich ist auch die Produktion des Ideals ein Kampf um das Ideal. Und zwar nach zwei Richtungen: gegen die Neigung, die Grenze des Durchführbaren zu überfliegen, und gegen die Neigung, das Ziel nicht bis an die Grenze des Erreichbaren hinauszurücken. Jenes pflegt man »Idealismus« zu heissen, dieses »Realismus«; beides ist eine instinktive Hinterlist des Menschen, sich der Erschwerung des Lebens, die das konkrete Ideal mit sich bringt, zu entziehen. Dass der »Realismus« unter dieses Urteil fällt, ist leicht zu sehen: ein nahes Ziel spart die Kräfte und gewährt den Triumph, es auch wirklich erreichen zu können. Und wer einmal so rechnen gelernt hat, wird bald das nächste Ziel noch fern genug finden. Aber auch in dem »Idealismus« verbirgt sich eine ähnliche Tücke: denn das zu ferne Ziel nicht erreicht zu haben, bringt keine Schande; und: in magnis voluisse sat est – zu deutsch: ein frommer Wunsch, wo sichs doch um Unmögliches handelt, ist auch was. Wer aber so rechnen gelernt hat, wird bald das höchste Ideal nicht mehr hoch genug finden – es kann ja, je höher es ist, desto weniger wirklich verbinden. Auch das sind allgemeine Kniffe des Genus »homo sapiens«. Sich ein konkretes Ideal zu bilden, kostet darum jeden einen Kampf: gegen die Phantasie und für die Wahrscheinlichkeitsrechnung; für die Phantasie und gegen die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die goldene Mitte ist in diesem Fall gerade nicht der breite, sondern der schmale Weg.
Kurz: der Geist setzt sich in jeder Beziehung nur mittelst Kampfes durch; für ihn als werdenden ist der Kampf die normale Situation.
Aber ich habe den Geisteskampf bis jetzt in einer unwahren Abstraktion dargestellt – als ob der Einzelgeist sich rein aus sich und für sich entwickelte und darum auch nur mit sich zu kämpfen hätte; während der Geist, innerhalb der Grenzen unserer Erfahrung, doch nur im Zusammenleben der Menschen entsteht und daher der Kampf des Geistes um seine Existenz (eigentlich: sein Werden) immer zum Kampf der Menschen gegeneinander wird. Indem ich das in seinen einzelnen Beziehungen entwickle, steige ich diesmal die Leiter der Begriffe von oben nach unten.
Da der Einzelne nur als Glied einer Gemeinschaft von Menschen existieren kann, so kann er sich auch kein Privatideal erdenken; denn das erwünschte höchste Leben besteht jedenfalls auch in gewissen wertvollen Beziehungen zu andern Menschen und ist mitbedingt durch deren Auffassung und Betrieb des Lebens. Auch wenn der Einzelne nur gestimmt ist an sich selbst zu denken, für sich selbst zu sorgen, muss sein Ideal doch das Ideal eines gemeinsamen Lebens, eines Gesellschaftszustandes, einer Menschheit sein. Wie soll es aber verwirklicht werden, wenn nicht alle es wollen? – Diese Erwägungen scheinen nun allerdings gar nicht auf einen Kampf hinzudrängen; ihr Endziel ist ja die Vereinigung aller in der Begeisterung für ein gemeinsames Ideal. Aber seltsam: gerade die Notwendigkeit des gemeinsamen Ideals entfacht den Kampf um das Ideal. Denn sein wirkliches Ideal produziert doch jeder nur aus sich heraus. Und an dieses eigene Ideal ist jeder, als an das für ihn allein verständliche und überzeugende, innerlich gebunden. Somit ist es gar keine so einfache Sache, dass die verschiedenen Ideale sich zu einem gemeinsamen verschmelzen, dass die geringeren in einem höchsten aufgehen, dass die falschen sich gegenüber dem wahren aufgeben. Denn das Besondere an seinem Ideal ist für jeden das Wertvollste – und nicht mit Unrecht: das abstrakte Ideal hat ja überhaupt keine wirkliche Kraft, nur das konkrete; so hat an dem Ideal auch das Allgemeine weniger wirkliche Bedeutung als das Besondere. Wenn eine Kirche, ein Volk, eine Partei ihr Ideal nur in so allgemeinen Begriffen aussprechen können wie Pietät, Fortschritt, Nationalität, Freiheit, Brüderlichkeit, so ist das ein Zeichen der Altersschwäche. Kann also das allgemeine Ideal nicht auf dem scheinbar nächsten Wege der Verallgemeinerung unserer besonderen Ideale erreicht werden, so bleibt keine Wahl: es muss jeder versuchen, sein Ideal im Gegensatz zu denen anderer zur allgemeinen Geltung zu bringen, es den anderen aufzunötigen, sie von dem Werte seines Ideals zu überzeugen. Das Wort »überzeugen« klingt friedlich und ist kriegerisch: es ist stets zugleich ein Ueberwältigen; warum kostete es sonst eine wirkliche Selbstüberwindung, sich überzeugen zu lassen? – Auf dem Gebiete des Geistes gilt es unbedingt, dass der Friede nur durch den Krieg erreicht wird. Geistig betrachtet ist der normale Zustand der Menschheit jedenfalls ein »Krieg aller gegen alle«. –
Aber schon das wertende Selbstbewusstsein des Menschen bildet sich nur im Kampf des Einzelnen gegen die andern. Es besteht ja nicht in abstrakten Werturteilen, sondern ist das Innewerden des eigenen Seins als eines wertvollen oder wertlosen. Diese Schätzung unserer selbst vollziehen wir aber nie in isolierter Selbständigkeit, sondern in steter Wechselwirkung mit dem Urteil anderer über uns. Es dient uns zur Bekräftigung der eigenen Wertung, dass andere sie teilen; von anderen missachtet zu werden, erregt in uns Zweifel an uns selbst. Allerdings kann einer auch (nach dem Sprichwort: »viel Feind', viel Ehr«) aus der Anfeindung Selbstgewissheit schöpfen; und ein Phokion fragte: ob er denn etwas Thörichtes gesagt habe – da ihm die Athener zum Wunder Beifall spendeten. Aber hierin offenbart sich dieselbe Wechselwirkung der Selbstschätzung mit der Schätzung durch andere, nur in paradoxer Umkehrung. Da es nun seltsam zuginge, wenn immer mir an mir für mich das Wertvollste (und Wertloseste) wäre, was auch andern an mir für sie als das Wertvollste (Wertloseste) erscheint: so ergibt sich als die normale Aeusserung jener Wechselwirkung eine Spannung zwischen der Selbstschätzung und der Schätzung durch andere, und daraus als die normale Lage des Menschen, dass er sein Selbstgefühl sich im Kampf erringen und behaupten und berichtigen muss. Und zwar handelt es sich da gar nicht bloss um einen Kampf gegen die Unterschätzung – ein nicht minder gefährlicher Feind ist die Ueberschätzung; die Bewunderung bedroht das gesunde, haltbare Selbstgefühl noch schlimmer als der Neid. »Gott bewahre mich vor meinen Freunden; vor meinen Feinden will ich mich selbst schon schützen.« Im Geistesleben ist das eine der wichtigsten, traurigsten Wahrheiten. Denn das Echte hat ein deutliches Gefühl seines eigenen Wertes; wer aber hat so feine Ohren, dass ihm das Bravo oberflächlicher, missverstehender Bewunderer die leise Stimme der Wahrheit nicht übertönte!
Endlich kostet auch, so seltsam es klingt, die blosse Behauptung des formalen Selbstbewusstseins einen Kampf gegen den »Nächsten«. Die allgemeine Sucht nachzuahmen, nachzureden, in einer Masse von Menschen womöglich spurlos aufzugehen, lässt erkennen, dass der Mensch das Selbstbewusstsein – im strengeren Sinn, wonach es die Doppelbewegung in sich schliesst, dass ich mich gegen die andern als Selbst fühle und zugleich verstehe, dass diese sich gegen mich und unter sich auch je als Selbst fühlen – als eine Unbequemlichkeit, ja fast als Sünde empfindet. Dieses Nachahmen und Nachreden, dieses Aufgehen-wollen in der Masse ist ja keineswegs ein freier Entschluss, sondern vielmehr ein unwillkürliches Zusammenfliessen des Denkens und Empfindens, eine Unfähigkeit, die Unterscheidung der Persönlichkeiten aufrecht zu erhalten. Deshalb sind für das Selbst die Massenversammlungen der Menschen besonders gefährlich, worin man weder die Leiter noch die Teilnehmer als besondere, scharf umrissene Persönlichkeiten mehr kennen kann. Wie soll man da gegen die üblichen, ebenso geschmacklosen, wie gewalttätigen Aeusserungen des Gemein-»geistes« sich das Bewusstsein bewahren, dass man eine Person ist, die nicht mit anderen Personen zusammenfliessen, sondern nur mit ihnen in Wechselwirkung treten soll? Uebrigens offenbart sich in der Leidenschaft des Widerspruchs dieselbe Abneigung gegen das Selbst: man will dem andern nicht zugestehen, dass er sich als besonderes, aus und für sich denkendes, eigene Ziele verfolgendes Selbst von uns unterscheide. Zur Strafe verliert man in der Unfreiheit des Widerspruchs sein Selbst ebenso leicht an den anderen, wie in der Unfreiheit der Nachahmung. Geist aber bin ich doch nur in den Augenblicken meines Lebens, da ich zugleich mich selbst und jeden »Nächsten«, mit dem ich zusammenstosse, als gesondertes, mit seinem guten Recht aus und für sich lebendes Selbst erfasse. So aber Geist zu sein, wird uns durch das blosse Zusammensein mit anderen unmittelbar erschwert, wird uns von anderen auch nicht gerne gestattet. Geist in diesem Sinne sind wir immer nur im geheimen oder offenen Kampfe mit dem »Nächsten«.
Doch, ich höre den Einwand, dass ich von dem wirklichen Geisteskampfe noch gar nicht geredet habe. Denn was ich bisher beschrieb, war immer nur eines werdenden Geistes Kampf um sein eigenes Werden; war immer eines Menschen Kampf darum, dass er geistig leben dürfe. Aber ist der wahre Geisteskampf nicht etwas viel Höheres als diese selbstsüchtige Selbstdurchsetzung des Geistes? Nämlich uninteressierter Kampf um die Geltung eines Gedankens, einer Idee, eines Glaubens? Oder nur in Liebe interessierter Kampf für das Glück – etwa das wahre Glück anderer? Haben nicht alle grossen Geisteskämpfer der Geschichte sich eben durch dies ausgezeichnet: durch die selbst lose Hingabe an eine Idee? Durch den selbst losen Eifer für das Heil anderer? Ist es nicht eine gefährliche Verkehrung des richtigen Sachverhalts, das seiner selbst bewusst gewordene, dadurch zu immer stärkerer Glut entflammte Ringen um sich selbst Geisteskampf zu nennen?
Dieser Einwand tönt mir aus mir selbst entgegen; denn halb denke ich – dachte ich selbst so. Ich meinte einst, dass die Religion der Entschuldigung bedürfe, wenn sie ihre Rechnung auf die Sehnsucht nach seligem Leben – natürlich eigenem seligem Leben! – stelle. Ich leitete einst die Berechtigung zu meinem Eintreten in den Geisteskampf daraus ab, das es mir wenigstens auch um die Herrschaft einer guten Idee, um das Heil anderer zu tun sei, nicht bloss um die Möglichkeit einer eigenen geistigen Existenz. Denn hätte mich die blosse Sorge um mein Selbst berechtigt, die Kreise anderer zu stören, Unruhe zu stiften, »Aergernis« zu geben? Gibt es dazu überhaupt ein Recht, so kann es nur in dem selbstlosesten Eifer für eine reine Idee, für die Seele des Nächsten liegen!
Aber ich musste zu meinem Schrecken entdecken, dass ich in dem Kampf, den ich unternommen, viel mehr für mich selbst kämpfte, als ich bei der Vorbereitung auf den Kampf gedacht hatte. Denn als der Streit heftiger wurde, war doch dies die lauteste Stimme in meinem Innern: » Ich will diese elende, verlogene Existenz nicht, in die man mich durch Vorspiegelung allerhöchster Ideale hineingelockt hat! Ich will mir eine klarere und wahrere, den wirklichen Idealen besser entsprechende Existenz erringen! Ich will nicht als der Abgefallene dastehen, da ich doch gerade den Sinn der Autoritäten, an die man mich verweist, ernsthafter, reiner erfasst habe!« – Aber war das nicht Selbstsucht, unverhüllbare Leidenschaft für das eigene Ich – ja die eigene Ehre?
Es war kein geringer Schrecken, als sich mir die eigentliche Triebfeder meines Kämpfens in der Unfähigkeit, der Unwilligkeit enthüllte, mich aufzugeben!
Aber es war ja nichts zu machen, und ich musste mich mit dem Tatbestand abfinden. Als ich mich jedoch etwas beruhigt hatte, als ich auch einige Geisteskämpfer, die ich verehrte, genauer ins Auge gefasst hatte – da kam mir sogar der Gedanke, ob mein reales Sein, das sich mir jetzt enthüllte, nicht gesünder, besser, wahrer gewesen war als mein ideales Denken, auf das ich zuvor den grössten Wert gelegt hatte.
Liegt denn darin nicht auch ein Stück Selbstsucht, nämlich eine nicht so kleine Anmassung, dass einer wesentlich – oder nur vorwiegend – für das Heil anderer bekümmert sein will? dass er gar das Heil der Idee – das Heil Gottes auf dem Herzen tragen will? Muss man, um so zu denken, nicht schon ein bischen Tugend- oder Glaubensprotz sein? Ist es nicht auch Bescheidenheit – also Selbstlosigkeit, jedenfalls die Fürsorge für die allgemeine Durchsetzung der göttlichen Weltordnung Gott selbst zu überlassen, sodann aber auch dem Nächsten zuzumuten, dass er die Sorge für seine Seligkeit selbst übernehme – da ich sie ja doch nicht tragen kann, weil ich an der Sorge für meine Seele schon genug habe! da ich sie doch nicht an mich reissen darf, da ich ja nicht er bin, also auch nicht beurteilen kann, worin und wie sein Ich ein Maximum des Werts erreichen wird?
Ueberhaupt: welche wirkliche Bedeutung kann ich denn eigentlich für den Sieg des Geistes im allgemeinen, für die Geistesentwicklung meines einzelnen Nebenmenschen haben? Was kann ich denn dafür Wirkliches tun? Das Ergebnis meiner Erfahrung ist sehr ernüchternd: tun kann ich für den Sieg des Geistes – im allgemeinen, wie im einzelnen Menschen – überhaupt nichts; dagegen kann ich für den einzelnen Menschen, und dadurch auch für das allgemeine Geistesleben, vielleicht etwas sein. Ich kann hoffen, dass ich mich zu einem immer geistigeren Leben durchkämpfe; sodann kann ich hoffen, durch diesen Geisteskampf mittelbar auch anderen den Anstoss zu geben, dass sie denselben Kampf für den eigenen Geist aufnehmen. Damit ist aber der Geisteskämpfer bereits an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gekommen – wie sich schon aus der einfachen Erwägung ergibt, dass der Mensch erst dann ein Selbst ist, wenn er von selbst denkt und will. Was soll ich aber direkt dafür tun, dass ein anderer von selbst denkt und will? Und das Höchste, was ich indirekt für ihn tun kann, ist eben dies: dass ich selbst vor seinen Augen den Antrieben folge, von mir selbst aus zu denken, zu wollen, zu handeln.
Endlich lässt sich einsehen, dass diese Einrichtung der Geisteswelt – man verzeihe den Ausdruck! – ganz raffiniert gescheit ist. Sie scheint darauf berechnet zu sein, jeden Einzelnen immer wieder auf sich selbst zurückzuwerfen, damit er seine innere Spannkraft aufs Höchste steigere und keinen anderen daran hindere, dasselbe zu tun. Wer hat sich in seinem eigenen Fortschritt nicht schon ganz ernsthaft durch den Wahn bedroht gesehen, dass er den und jenen mitschleppen sollte – den er doch zu der Existenz als Selbst nicht ziehen konnte, da man sich diese nur selbst anmassen kann? Und wer hat sich nicht schon dadurch gehemmt gefunden, dass ihn ein guter Freund durchaus auf seinem Rücken zum seligen Leben tragen wollte? Kann aber jeder nur für sich selbst direkt sorgen, und für den anderen nur etwa indirekt etwas sein, so scheint durch diese Anlage des Daseins ein Maximum individuellen, konkreten Geistes beabsichtigt zu sein. Zugleich scheint Sorge dafür getroffen zu sein, dass jeder, der nicht selbst zu sein wagt, allmählich sich verflüchtigt, sogar unter Gefühlen, die ihm selbst eine Befriedigung gewähren. Denn wer befände sich behaglicher als der Geistlose? Er hat also immer zugleich seine Strafe und seine Entschädigung. Indem aber das Selbst nur unter schmerzlichen Kämpfen wird und immer wieder wird, bezahlt es zugleich die Strafe für die Anmassung, sich als Selbstzweck zu fühlen und zu wollen. Und so kommt, wie es in einer wirklichen Welt ordnung sein soll, bei dieser Einrichtung des Daseins doch wohl jeder in jeder Beziehung zu dem Seinen.
Doch, es bedeute das nun einen Auf- oder Abstieg: ich habe mich von dem vermeintlich selbstlosen Geisteskampf dem selbstsüchtigen zugewendet: dem Kampfe um das eigene Selbst. Wenn ich nur schon so weit in der Selbstsucht fortgeschritten wäre, dass ich mich unbedingt nur bei einem unbedingt befriedigenden Dasein beruhigen wollte! Dieser Geisteskampf ist jedenfalls des Menschen normale Situation: der Kampf um den eigenen Geist. Einen anderen, meinetwegen höheren, uninteressierten Kampf um den Geist könnte und sollte doch erst ein Geist führen wollen, der den Kampf um die eigene Existenz siegreich beendet hat. Der Mensch als werdender Geist begnüge sich mit seiner menschlichen, ihn auch vollauf beschäftigenden Aufgabe: dem Geiste in ihm selbst zum Durchbruch zu verhelfen.