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Dass ich auch ein »Philosophisches Taschenbuch« liefern soll, habe ich nur insofern verschuldet, als ich mich dagegen nicht energisch genug sträubte. Dass ich aber diesen Beitrag selbst durch meinen Nekrolog einführen soll, das habe ich auch mir selbst zuzuschreiben. Denn als der Herr Verleger mich in seine Verlegenheit einweihte, jemanden zu finden, der mich dem philosophisch interessierten Publikum vorstelle, entfuhr es dem Zaun meiner Zähne: »das könnte ich selbst am besten besorgen.« Bei Gott, es war nicht ernst gemeint! Wenn es nun aber der Herr Verleger ernst nimmt, so geschieht mir das ganz recht.
Ich sollte also wohl erzählen, wie ich Philosoph wurde; sollte wohl auch andeuten, welche Art von Philosophie ich habe und vertrete. Aber darf ich mir denn überhaupt den Titel eines Philosophen beilegen? Zwar das philosophische Vorexamen habe ich bestanden, indem ich Doktor der Philosophie wurde. Aber das beweist bekanntermassen für Philosophie nicht viel. Auch in dem ersten Dienstexamen der Philosophie ist es mir noch gut gegangen, indem ich als Privatdozent für Philosophie an der Technischen Hochschule zu Stuttgart zugelassen wurde. Dagegen bin ich in dem philosophischen Hauptexamen kläglich durchgefallen. Denn es kam meines Wissens niemals in Frage, dass eine philosophische Fakultät mich als Philosophen kooptiert hätte. Freilich habe ich auch meine Tätigkeit als Privatdozent in sträflichem Leichtsinn dazu missbraucht, Gedanken, die mir wichtig waren und nützlich erschienen, vorzutragen, ohne mich viel darum zu bekümmern, ob das denn auch »Philosophie« sei. Zum patentierten Philosophen habe ich es also nicht gebracht. Also kann ich auch nicht erzählen, wie ich Philosoph wurde, sondern nur, wie ich zum Denken kam; und kann auch nicht andeuten, welche Art von Philosophie ich habe und vertrete, sondern nur etwa, wie ich denke. Will man das, mit dem Herrn Verleger der Philosophischen Taschenbücherei, als Philosophie gelten lassen: um so besser.
Die allererste Ursache, dass ich auf mein Leben ungewöhnlich viel Nachdenken verwenden musste und mir also auch viele Gedanken über das Leben machen musste, liegt darin, dass ich in der Wahl meiner Eltern sehr unvorsichtig gewesen bin. Dass sie bei meiner Geburt (ich bin geboren zu Besigheim, den 28. April 1860) nicht bloss nichts, sondern weniger als nichts besassen, war das geringste Unglück, das ich mir dadurch zuzog. Aber ich habe mir zum Vater eine problematische Natur gewählt: er ist dann auch an seiner Problematik, wie man so sagt, zugrunde gegangen, nachdem er der Frau und den Kindern das Leben nach Kräften (die Kräfte waren nicht gering) erschwert hatte. Ihm verdanke ich, dass ich selbst eine problematische Natur wurde, die sich selbst und andern sehr unangenehm werden kann. Der Mutter aber verdanke ich das sehr notwendige Gegengewicht: wodurch mir zwar ermöglicht, aber doch auch erschwert wurde, mit mir selbst zurechtzukommen.
Ich habe also keine sonnige Kindheit gehabt. Darum ist mir auch das Heimweh nach dem Paradies der Kindheit fremd geblieben. Und deshalb vielleicht auch jegliche romantische Sehnsucht nach irgend welcher idealen Vergangenheit.
Ich bin recht bescheiden, um nicht zu sagen ärmlich auferzogen worden. Das hat mich manchmal gedrückt, doch nicht eben sehr. Schlimmer war, dass ich bald erfuhr, meine Mutter sei mit uns drei Kindern von ihrem Bruder aus Gnaden aufgenommen worden. Eine Folge davon ist wohl, dass ich alle »Gnade« hasse: nicht bloss der Menschen, sondern sogar Gottes. Ich will keinen »gnädigen« Gott! Uebrigens war ich bei meinem Onkel sehr in Gnaden: denn er (ein Volksschullehrer) hatte die Leidenschaft zu lehren, und ich lernte sehr gern und leicht. Er hat mich aufrichtig und leider auch sehr offen bewundert, als ich mit etwa 12 Jahren ihn in der Algebra überholt hatte und mit zufällig sich bietender, spärlicher Beihilfe (sie durfte nichts kosten) mir auch einige Kenntnisse in Französisch, Latein und sogar Griechisch erwarb.
Seine Erziehung beschränkte sich darauf, dass er mich zum Lernen antrieb. Das war wohl ziemlich überflüssig, denn ich konnte mir selbst nie genug lernen. Zweimal hat er mich bestraft – und ich empfand es beidemal als ein Unrecht. Aber ich habe es ihm nicht nachgetragen.
Auch meine Mutter hatte nicht die Leidenschaft des Erziehens. Sie lehrte mich beten und auf Gott vertrauen. Sie sprach mit mir über das Unglück der Familie, und warnte mich, nicht die Wege meines Vaters zu gehen. Und dann gab sie mir einige gute Lehren, deren Tragweite sie nicht übersah. »Wenn du nicht Nein sagen lernst, Christoph, so wird nichts aus dir!« Wie gefährlich es ist, Nein sagen zu lernen, ahnte sie nicht. Sie sagte mir, ich dürfe mir nicht erlauben, was die andern Kinder des Dorfs sich erlauben: denn »was bei diesen Lebhaftigkeit heisst, das heisst bei euch Unart«. Ich riskierte ja, dass man in mir das Kind meines Vaters entdecke! Mit dieser sehr guten und sehr bösen, vielleicht sogar überflüssigen Belehrung hat sie es verhindert, dass ich mich mit meinen Kameraden naiv in ein Wir zusammengefasst hätte; und dieser Fehler (wenn es einer ist) hat sich nicht wieder gut machen lassen. Natürlich kam mir das damals nicht zu Bewusstsein.
Und so habe ich auch ahnungslos, aber mit sehr empfänglichem Gemüt, eine böse Weltweisheit in mich aufgenommen, die mein Onkel höchst unvorsichtig vor uns Kindern auszusprechen liebte. Ich habe als 10-, 11jähriger Knabe schon gewusst, dass man den »grossen Hunden« aus dem Wege gehen muss; dass das Gesetz »eine wächserne Nase hat«; dass es »keine Gerechtigkeit auf Erden gibt«; – und ob es überhaupt Gerechtigkeit gebe, wurde mir durch den Ausruf, den ich heute noch hören kann, in ein sehr bedenkliches Licht gestellt: » wenn ein gerechter Gott im Himmel ist!« Doch hat sich mir das nur eingeprägt, ohne dass ich eigentlich darüber nachgedacht hätte. Ich war und blieb ein frommes Kind, das sich zu sündhaftem Zweifel gar nicht versucht fühlte. Was ich in Redenbachers Weltgeschichte über ungläubige Philosophen las, erregte in mir mehr eine sympathetische Antipathie als eine antipathetische Sympathie. Es gruselte mir dabei; und dieses Gruseln war mir allerdings nicht bloss unangenehm.
Natürlich hätte ich gerne studiert; aber daran war der Kosten wegen nicht zu denken. Andererseits erschien ich aus verschiedenen Gründen für ein Handwerk unbrauchbar. So war es fast selbstverständlich, dass ich Volksschullehrer werden solle, wie mein Onkel. Der geringeren Kosten wegen sollte ich mich dazu in dem Privatseminar Tempelhof vorbereiten. Und da diese Anstalt nur alle zwei Jahre Zöglinge aufnahm, wurde die Erlaubnis erbeten, dass ich schon mit 13 Jahren eintrete.
Die vier Jahre, die ich dort zubrachte, haben mich nur in der Richtung gefördert, in der ich schon war. Ich lernte leicht und mit Lust alles, was ich zu lernen hatte, und einer der Lehrer half mir auch in Latein und Griechisch weiter. Die Enge, in der wir gehalten wurden, empfand ich kaum, fühlte mich also auch nicht zur Auflehnung versucht. Auf die Art von Frömmigkeit, die dort gepflegt wurde, ging ich nicht sowohl willig, als vielmehr selbstverständlich ein. Vielleicht bin ich dort von einem naiven zu einem doktrinären Bibelglauben übergegangen. Ich erinnere mich nicht, dass mir irgend etwas in der Bibel Bedenken erregt hätte. Ich dachte nur in den biblischen Gedanken; über die Bibel nachzudenken kam mir nicht in den Sinn.
Das ging mit erhöhtem Ernst und Eifer so weiter, als ich, 17jährig, Lehrer an einer Privatschule zu Stuttgart wurde. Es verstand sich für mich von selbst, dass ich nicht bloss die Kirche, sondern auch die »Stunde« besuchte. Und selbstverständlich begann und schloss ich jeden Tag mit Gebet und Erbauung aus Bibel und Gesangbuch. Die Vergnügungen, die die Residenzstadt gewähren konnte, genoss ich nicht und vermisste ich auch nicht. Vor den gröberen hatte ich einen Abscheu; ich besuchte aber auch kein Theater, kein Museum und kaum ein »weltliches« Konzert. Das hatte freilich auch den Grund, dass ich auf Anregung eines früheren Lehrers erst im Gymnasium hospitierte, dann als regulärer Schüler in die Oberprima des Gymnasiums eintrat, um womöglich noch in das Tübinger »Stift« zu kommen, und mir nebenher noch durch Privatunterricht das nötige Geld erwerben musste. Da arbeitete ich manchen Tag von morgens 5 Uhr bis abends 11 Uhr – mit blosser Unterbrechung durch einen Spaziergang in der Mittagspause und die Gänge von einer Schule in die andere, von einer Privatstunde in die andere. Es war eine schöne Zeit! Auch deshalb, weil ich über dem Lernen noch nicht zum Denken kam.
Und doch bereitete sich in dieser Zeit eine schwere Krisis vor.
Der freiere Geist in dem Gymnasium hatte daran den geringsten Anteil. Denn ich fühlte mich verpflichtet, jeden offenen Widerspruch gegen meinen Bibelglauben als Versuchung zum Unglauben a priori abzulehnen. Gefährlicher wurden mir meine frommen Freunde; und die tiefste Ursache der heraufziehenden Krisis lag in meinem Glauben selbst.
Ich entdeckte die Willkür in der allegorischen Erklärung der Bibel, die in der »Stunde« hie und da gepflegt wurde. Auch eine amerikanische Art von Missionseifer, die damals in die pietistischen Kreise Stuttgarts eindrang, stiess mich ab. Dass noch halbe Kinder erwachsene Leute bekehren wollten, war mir denn doch des Guten zu viel.
Sodann aber hatte ich Bitten an Gott zu richten, die er nach meiner frommen Meinung erhören musste; und er erhörte sie nicht.
Endlich habe ich allerdings, gegen den Rat frommer Freunde, als Gymnasiast auch an weltlicher Literatur genippt. Der erste Dichter, der mir einen tiefen Eindruck machte, war Lenau. Er löste Stimmungen in mir aus, die sich mit meinem Glauben nicht vertrugen und mir schwer zu schaffen machten, und sich durch Gebet und Bibellesen nicht bannen Hessen.
Doch blieb es zunächst bei Stimmungen. Auch aus der Wirkungslosigkeit meines Betens zog ich die Konsequenz noch nicht.
So kam ich 19jährig in das Tübinger Stift, um Theologie, also zuerst Philosophie zu studieren.
Wie es nun eigentlich zuging, weiss ich selbst nicht mehr. Ich erinnere mich keines kritischen Momentes mehr, da ein Lehrer, ein Buch, ein Kommilitone mir über meinen »Glauben« die Augen geöffnet hätte. Ich studierte mit Eifer, was ich nach der Stiftsordnung zu studieren hatte – und im Verlauf von vier Jahren war ich von der äussersten Rechten auf die äusserste Linke hinübergeglitten.
Wenn ich jetzt aus weiter Ferne auf meine Bekehrung zum »Unglauben« zurückblicke, so kann ich in ihr die grosse, wesentliche Veränderung, als die ich sie damals erlebte, nicht mehr erkennen. Es war keine Revolution, nur eine Evolution. Deshalb ist mir auch kein einzelner, kritischer Augenblick des Vorgangs als entscheidend in der Erinnerung geblieben. Und ich habe sonst für Entscheidungen ein gutes Gedächtnis.
Allerdings, die Bibel wurde mir aus Gotteswort Menschenwort; das Dogma aus einer geoffenbarten Wahrheit eine fragliche Meinung. Aber meine bibelgläubige Mutter hatte mir doch nicht gesagt, ich solle dies tun und jenes meiden, mich nicht auf Menschen, sondern auf Gott verlassen – weil Gott das in seinem Wort gelehrt, geboten habe. Sie hatte bessere Gründe dafür. So änderte sich tatsächlich nur meine Auffassung von Bibel und Dogma, nicht der Glaube, in dem und von dem ich bisher gelebt hatte.
Mit diesem meinem wirklichen Glauben ging nur die Veränderung vor sich, dass er aus einem gewissen Glauben ein ungewisser Glaube wurde. Aber die Glaubensgewissheit, deren ich mich früher erfreut hatte, war doch bloss ein Schein gewesen, den ich nur künstlich aufrecht erhalten hatte. Denn die Vergeblichkeit meines Betens hatte mir, wie ich erzählte, schon in meinen gläubigsten Zeiten schwer zu schaffen gemacht. Das heisst: die Liebe Gottes stand mir schon vorher nicht fest. Die Bitte: »ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben« war mir nicht neu. Und ich gab sie auch noch lange nicht auf – bis ich sie, viel später, als widersinnig erkannte. Meine tatsächliche innere Unsicherheit wurde mir jetzt nur so deutlich offenbar, dass ich sie mir offen eingestehen musste. Das wurde mir dadurch erleichtert, dass ich die »Anfechtung« als den normalen Zustand sogar des Gläubigsten (z. B. Luthers) zu erkennen glaubte. Es war eine von meinen wichtigsten Entdeckungen, dass sich durch die berühmte unerschütterliche Glaubensgewissheit hauptsächlich die Christen auszeichnen, die ihren Glauben im Ernst gar nicht brauchen. Der Glaube, in dem der Mensch lebt, ist immer, wie das Württembergische Konfirmationsbüchlein richtig sagt, »bald gross und stark voll Zuversicht und Freudigkeit, bald klein und schwach, da viel Zweifel, Furcht und Kleinmütigkeit mit unterläuft«. Die certitudo salutis ist ein Symptom geistigen Todes oder doch Schlafs.
Ferner: indem ich die Gewissheit des Glaubens (also nach vulgärer Ansicht: den Glauben) verlor, hat sich mein Sinn nicht geändert. Es ist mir wohl nicht bloss anerzogen, sondern angeboren, dass ich leichter an das ewige Leben glaube als an das zeitliche Leben. Auch als ich noch an das »tausendjährige Reich« glaubte, war es mir gleichgültig. Ich habe natürlich immer wieder auf dieses und jenes »Glück« gehofft – ohne je recht zu glauben, dass es mich glücklich machen werde; wie ich denn auch schon sehr frühe und immer wieder zu erfahren bekam, dass die Erfüllung niemals der Erwartung entspricht. So habe ich auch niemals geglaubt, dass der Fortschritt der Kultur den Menschen ein Leben schaffen werde, das mich befriedigen würde. Gibt es überhaupt ein Glück, das mich wirklich, restlos befriedigen könnte, so habe ich es nur von einem »Jenseits« zu erwarten. Die Diesseitsmenschen finde ich nur in ihrer Verzweiflung verständlich, in ihrem Glück sehr bescheiden und in ihrem Hoffen sehr leichtgläubig.
Deshalb hat sich mit dem Verlust der Gewissheit des Glaubens auch nur meine Stimmung verschlechtert, nicht aber die Praxis meines Lebens geändert. Als mir das ewige Leben eine sehr zweifelhafte Sache wurde, fühlte ich mich doch nicht versucht, nun mit gesteigerter Energie in den Wettbewerb oder Kampf um die Herrlichkeiten dieses Lebens einzutreten. Ob ich Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, weiss ich nicht (ich bezweifle es); aber mich lockten die Schätze, die Fortuna in ihrer Kramkiste hat, nicht. Gerade in jener Zeit wurde mir zum Stichwort meines Lebens: »I tanz jo net.«
Da ich mich doch als Philosophen vorstellen soll, will ich nicht übergehen, dass ich zum Abschluss meines akademischen Studiums (1884) eine Preisaufgabe über die Grundlage der Ethik dazu benützt habe, mir selbst zu verdeutlichen, wie ich jetzt eigentlich stehe. Meine Arbeit ist mir abhanden gekommen; doch erinnere und freue ich mich noch einiger herber Thesen, in denen ich mich wiederfinde: die Ethik (deren Grundlage nur hinterher aufzufinden oder gar unterzubauen wäre) gibt es nicht; es gibt nicht bloss ein irrendes, sondern ein verirrtes, ratloses Gewissen (also ist die Pflicht eine offene Frage!); es steht keine Pflicht im Leben fest, so lange nicht die Pflicht zu leben festgestellt ist (und die ist nicht festzustellen!); der kategorische Imperativ Kants ist revolutionär (womit ich Kant etwas ernster nahm, als er sich selbst nahm). Meinen Standpunkt, vielmehr meinen Weg wählte ich mir mit der These: Sokrates muss bei Jesus in die Lehre gehen (der Unwissende bei dem Wissenden). – Auf diese Gedanken hatte schon Sören Kierkegaard einigen Einfluss; Nietzsche kannte ich noch nicht. –
So gestimmt und gesinnt in den Kirchendienst einzutreten: das ging eigentlich nicht. Aber den Beruf wieder zu wechseln, Mathematik oder alte Philologie zu studieren, dazu hatte ich das Geld nicht. Ich hätte gerne die akademische Laufbahn betreten. Und ich hätte ja auch wohl als Repetent am Stift philosophische oder theologische Vorlesungen halten können, hätte suchen können, mir durch Schriften einen wissenschaftlichen Ruf zu erwerben – und hätte dann eben abwarten müssen, ob ich einen Ruf bekomme. Aber auf eine so unsichere Sache konnte ich mich nicht einlassen, da ich mich inzwischen auch verliebt und verlobt hatte. Also blieb mir nichts andres übrig, als eben doch in den Kirchendienst einzutreten. Mein Gewissen liess ich mir überflüssiger- und unnützerweise durch einen Vertreter des Kirchenregiments beschwichtigen, dem ich meine Bedenken offen vortrug. Im Herbst 1886 war ich Pfarrer.
Ich habe gerne gepredigt und auf der Kanzel meine besten Stunden gehabt. Auch die Kranken habe ich gerne besucht, wenn aus dem Besuch mehr werden konnte als eine christlich gefärbte Visite. Weniger angenehm waren mir die Reden bei Beerdigungen und Hochzeiten; am beschwerlichsten Taufe und Konfirmation – des Bekenntnisses wegen, das dabei vorschriftsmässig abgelegt werden musste. Denn »bekennen« – nein, das konnte ich eigentlich nicht.
Doch machte mir auch die Predigt, namentlich an Weihnachten, Ostern und Pfingsten, grosse und immer grössere Schwierigkeiten. Denn auch da war ein »Bekenntnis« fast nicht zu vermeiden.
Es ging eben doch nicht. Ein Versuch, eine Verwendung zu finden, in der ich mich freier hätte bewegen können, schlug fehl. Gutwillig wollte ich auch nicht gehen: ich wollte mich nicht drücken. Auch glaubte ich nicht bloss mich schuldig, sondern auch, und noch mehr, die Kirche. Und endlich: ich war überzeugt, dass ich gegen die Kirche auch die Sache Jesu zu vertreten habe. Die wollte ich nicht verraten.
Ein Konflikt war unvermeidlich. Also bereitete ich mich auf den Konflikt vor. Dazu glaubte ich mir die nötige Zeit nehmen zu dürfen.
Sollte der Konflikt richtig durchgefochten werden, so durfte ich nicht als ertappter Verbrecher dastehen. Also trug ich in Predigt und Katechese meine ketzerischen Ansichten so offen vor, dass ich bei jeder Anklage hätte sagen können, ich habe sie ja selbst provoziert. Das war übrigens ganz ungefährlich. Man kann von der Kanzel jede Ketzerei predigen: wenn man nur nicht selbst sagt, das sei Ketzerei, was man predige. Was verstehen denn die Gläubigen von Rechtgläubigkeit? Sie sind ja selbst zumeist auch Ketzer, Geistliche und Laien. Sie haben nur den guten Willen, für rechtgläubig zu gelten; und den hatte ich böser Mensch boshafterweise nicht mehr. Ich offenbarte aber auch meinen Unglauben einem pietistischen Pfarrgemeinderat; ohne von ihm Schweigen zu verlangen. Der gute Mann schwieg doch. Er war selbst auch Ketzer, wie sichs fast von selbst versteht. Nur wusste er's nicht.
Sodann studierte ich zur Vorbereitung auf den Konflikt die kirchlichen Bekenntnisse. Und ich studierte insbesondere Sören Kierkegaard.
Er hatte mich zuerst angezogen durch sein Evangelium von dem »Glauben kraft des Absurden« – den ich sehr notwendig hätte bekommen sollen. Aber dieser Glaube kraft des Absurden stellte sich nicht ein; oder ich vermochte es nicht, kraft des Absurden den Sprung des Glaubens zu vollziehen. Jetzt erkenne ich in dem Glauben kraft des Absurden ein Irrlicht, das mich nur noch tiefer hinein in den Sumpf locken wollte. Dann wurde Kierkegaards wichtigere Aufgabe, mir das Gewissen zu schärfen. Ich konnte das brauchen und liess es mir gefallen. Nur seine Deklamationen gegen die historische Betrachtung der Bibel und des Dogmas machten mir keinen Eindruck mehr. Zur Hauptsache wurde endlich, dass ich unter seiner Leitung die Taktik des Geisteskampfes studierte. Ich konnte seine Methode nicht einfach übernehmen (weil ich nicht den Rückhalt des »Wortes Gottes« hatte), musste mir also meine eigene Methode erfinden.
Ich erkannte, dass ich zunächst den Kampf allein aufnehmen müsse. Denn dass ich gegen den Feind standhalte, das konnte ich mir noch zutrauen; ob ich auch gegen die Bedenken und den guten Rat von Genossen fest bleiben würde, war mir zweifelhaft. Ich erkannte ferner, dass ich nicht mit Vorstellungen und Bitten beginnen dürfe, sondern den Kampf mit einer Tat eröffnen müsse. Denn für Verhandlungen fühlte ich mich zu schwach; dass ich, zum Angriff vorgegangen, nicht mehr zurückgehen werde, durfte ich mir eher zutrauen. Immerhin musste ich, vorsichtshalber, den ersten Schritt so gross nehmen, dass ich ihn schanden- und ehrenhalber nicht zurücknehmen konnte. Das geschah, wenn ich gegen meine Amtspflicht das Apostolikum, das ich nicht bekennen konnte, bei der Taufe auch nicht als Bekenntnis verwendete, mich selbst denunzierte und zugleich erklärte, ich werde es immer so halten. Wurde der Konflikt sodann, was nicht zu vermeiden war, öffentlich bekannt, so wurden dadurch die Kollegen, die sich in gleicher Verdammnis befanden, vor die Frage gestellt, ob sie nicht ebenfalls sich selbst denunzieren und erklären wollten, dass sie das Apostolikum nicht mehr verwenden werden. Und die Universitätstheologen waren dann vor die Frage gestellt, ob sie noch ferner die verächtliche Rolle weiter spielen wollen, junge Männer für ein Amt vorzubereiten, worin sie die von ihnen übernommene Wissenschaft verhehlen und verleugnen mussten. Und dann konnte auch das Kirchenregiment, Konsistorium und Synode, die freilich sehr heikle Pfarrersfrage nicht mehr ignorieren und vertuschen. Dann war der Stein ins Rollen gebracht.
Ich tat also meinen Schritt.
Nun wäre ich in grosse Verlegenheit gekommen, wenn das Konsistorium, zugleich klug und ehrlich, mir geantwortet hätte, ich solle ohne Apostolikum taufen, so lange die Gemeinde sich nicht beschwere. Denn das Konsistorium – vielmehr: jeder Konsistorialrat wusste wohl so gut wie ich, dass das in Württemberg keine ganz ungewöhnliche Praxis war. Die Gemeinde aber hatte das Verbrechen, das ich vor ihren gläubigen Ohren beging, nicht bemerkt. Sie hätte auch seine Wiederholung nie bemerkt.
Doch das Konsistorium ging zum Glück in die Falle. Es verbot mir, ohne Apostolikum zu taufen. Nun musste die Sache bei der nächsten Taufe der Gemeinde bekannt werden. Natürlich gab ich dieser bei der nächsten Taufe selbst die nötige Aufklärung; und natürlich von der Kanzel aus. Damit war auch das nötige öffentliche Aergernis da, das meine Auflehnung gegen die Kirchenordnung zu einem ernsten »Fall« machte.
Das Kirchenregiment hat sodann meinen Fall mit bureaukratischer Gewissenhaftigkeit und christlicher Gewissenlosigkeit korrekt erledigt: ich wurde erst suspendiert, dann abgesetzt.
Die Kollegen versagten nach einem matten Anlauf. Sie gingen nicht einzeln vor (wenn nacheinander nur 12, nur 6 Pfarrer wegen des Verbrechens der Wahrhaftigkeit hätten abgesetzt werden müssen, wäre die Schlacht gewonnen gewesen), sondern liessen sich mit vereinten Kräften beschwichtigen. Ein einziger (Friedrich Steudel) trieb es bis zur Absetzung.
Noch kläglicher versagten die Universitätstheologen. Sie entdeckten nicht, dass sie ihre Ehre zu wahren hätten, und fanden sich durch den »Fall Schrempf« nur zu ebenso gründlichen wie überflüssigen Untersuchungen über Alter und Wert des Apostolikums veranlasst.
Und das evangelische Volk? Nun, es handelte sich ja nicht um die Besoldung des Pfarrers, nicht um kirchliche Wahlen und Steuern, nicht um den Kampf gegen den Ultramontanismus und derartige wichtige Bagatellen. Es handelte sich nur um die Seele des Pfarrers. Was geht aber die Seele des Pfarrers das christliche Volk an? Wenn ihm der Pfarrer ein paar zerstreute Fettaugen auf die magere Suppe seines christlichen Lebens besorgt … Was die Seele des Pfarrers betrifft, so ruft das christliche Volk (Kirchenregiment und Universitätstheologen eingeschlossen) unisono dem Pfarrer zu: »da siehe du zu!«
Ich hatte den Kampf nicht bloss für mich aufgenommen, sondern auch für andere; vielleicht darf ich sogar sagen: weniger für mich, als für andre. Denn für mich allein hätte sich wohl auch eine bequemere Lösung der Schwierigkeit finden lassen. Doch entsprach nur diese Art von dem Kirchendienst wegzukommen der Art, wie ich in den Kirchendienst hineingekommen war. Was dabei von mir und dem Kirchenregiment gefehlt worden war, hatte sich nun an mir und dem Kirchenregiment gerächt. Und an mir wenigsten zu meinem Heil. –
Ich will nicht mein Leben erzählen, sondern wie ich Philosoph wurde – wenn ich anders Philosoph wurde. Doch kann ich auch für diesen Zweck nicht entbehren, dass ich andeute, wie sich mein Leben fernerhin gestaltete.
Ich war nun frei; aber ich hatte auch den festen Boden unter den Füssen verloren: nicht bloss für meine äussere, sondern auch für meine innere Existenz. Ich war ins Meer hinausgestossen worden. Erst trieb ich mich noch längere Zeit an der Küste umher; dann wurde ich immer weiter vom festen Lande abgetrieben, bis ich es endlich ganz aus dem Gesicht verlor. Hier, auf dem offenen Meer, hatte ich bald ruhige Fahrt, meist stark bewegte See; auch habe ich einige richtige Wirbelstürme durchgemacht. Ich wurde von der Woge in die Tiefe gezogen und wieder in die Höhe getragen, habe immer mehr oder weniger stark an Seekrankheit gelitten, auch viel Salzwasser geschluckt und wieder ausgespieen. Doch habe ich bis jetzt alle Fährlichkeit glücklich überstanden und bin also immer noch da. Dieses Leben machte mich zum Philosophen – wenn ich anders ein Philosoph bin.
Als ich nun keinen Grund mehr hatte, mir für die Wirkung auf andre eine Gewissheit der Ueberzeugung einzureden, die meinem wirklichen geistigen Zustand nicht entsprach, verwandelte sich mir was ich bisher noch geglaubt hatte (das heisst: zu glauben geglaubt hatte) mehr und mehr in eine offene Frage. Daraus entsprang eine Angst vor Autosuggestion (zu deutsch: Selbstbetrug), die mich gegen jeden »positiven« Gedanken misstrauisch machte. Andrerseits war ich ebenso misstrauisch gegen den Reiz der Verneinung, dem ich in meinem Kampf gegen die Kirche natürlich stark ausgesetzt war. Freilich konnte und wollte ich auch nicht vergessen, dass sich unter den Gläubigen, von denen ich mich jetzt geschieden hatte, auch gescheite und gute Personen befanden (z. B. meine eigene Mutter); und ich konnte und wollte meine fromme Vergangenheit, deren ich mich nicht schämte, weder verleugnen noch beschimpfen. Endlich: nachdem ich der Autorität des Glaubens den Gehorsam gekündigt hatte, wollte ich mich nicht der Autorität einer Wissenschaft unterwerfen, die ich grösstenteils (z. B. als Naturwissenschaft) doch auch nur autoritätsgläubig hätte hinnehmen müssen. In späterer Zeit wurde mir in der Tat die Intoleranz des Unglaubens so lästig wie früher die Intoleranz des Glaubens. Ich hielt mich also geflissentlich in der schwebenden Stimmung der Frage; was in praxi darauf hinauslief, dass ich mich, je nachdem mir gerade zu Mute war, bald »positiver«, bald »negativer« äusserte, ohne mich an eine einmal ausgesprochene Meinung zu binden. Ich bilde mir ein, damit den richtigen Weg zur wirklichen Freiheit eingeschlagen zu haben. Die Freiheit der entschiedenen Freigeister imponiert mir nicht mehr als der Glaube der entschieden Gläubigen. –
Indem ich mir die Freiheit des Denkens, die ich grundsätzlich für mich in Anspruch nahm, in zähem Kleinkrieg mit den Vorurteilen des »Glaubens« und des »Unglaubens« nun auch wirklich zu erwerben suchte, bereitete sich der schwerere Kampf vor um die Freiheit des Lebens, nach der ich eigentlich kaum ein Bedürfnis hatte.
Ich war in mehr ängstlicher als strenger Achtung vor der Sitte auferzogen worden; und sogar mit grossem Erfolg. Allerdings lag mir die Neigung zur Empörung auch im Blut; und hatte man mich achten gelehrt, was »man« für recht hält, so hatte man mich auch verachten gelehrt, wie »man« es treibt. Zudem wurde mir ja frühe zum Bewusstsein gebracht, dass ich quasi ausserhalb der Gesellschaft stehe, deren Sitte ich respektieren musste. Doch habe ich nie unter dem Gelüste »hinauszuschlagen« gelitten; lag es in mir, so ist es durch meine Erziehung unterdrückt worden. Ich wäre auch nie in der Lage gewesen, ihm Genüge zu tun.
Sodann war mir eingeprägt worden, dass die höchste Pflicht sei, Liebe zu üben. Das leuchtete mir durchaus ein, denn es entsprach dem mütterlichen Erbteil, das ich überkommen hatte. Ich war als Kind wohl jähzornig, aber nicht selbstsüchtig. Gegen alles Konkurrieren habe ich eine instinktive Abneigung. Ich bin nicht aufs Herrschen angelegt, sondern aufs Dienen – nur freilich nicht aufs Gehorchen. Zum Gehorsam bin ich eigentlich auch nicht erzogen worden. Die grössten Torheiten meines Lebens habe ich nicht aus Selbstsucht gemacht, eher in der Selbstvergessenheit, in der ich mich auch am besten befinde. Ich habe denn auch nie im Ernste daran gezweifelt, dass das einzig lebenswerte Leben ein Leben selbstvergessener Güte wäre.
Dagegen war ich schon als Student, dann später als Pfarrer darauf aufmerksam geworden, dass in der »Pflicht« der »Liebe« eine Schwierigkeit stecke. Während meines Prozesses hatte ich alsdann Proben christlicher »Liebe« zu geniessen bekommen, die mir sehr schlecht schmeckten. Und als ich nun hinaus verschlagen ward in die Welt; wurde meine moralische Lage kritisch. Ich entdeckte, dass mir meine überkommene und übernommene Sittlichkeit ein unbefangenes Urteil über die Menschen nicht erlaubte. Ich hätte Menschen verurteilen müssen, die besser waren als ich. Und ich kam in die böse Lage, dass ich um einer übernommenen Pflicht willen eine richtige Lieblosigkeit hätte begehen müssen. Dazu konnte und wollte ich mich nicht entschliessen. Und doch war ich »verpflichtet« (innerlich; wie sich von selbst versteht): etwa, wie man durch eine Impfung, die vor einer Krankheit bewahren sollte und auch wirklich bewahrt, vergiftet sein kann.
Dieses Gift musste ausgestossen werden; und das geschah (wie es nicht anders möglich war) in einer langen, beschwerlichen und gefährlichen Krankheit. Und diese Krankheit verlief in endlosen, peinlichen Reflexionen unter einer unsicheren, schwankenden Praxis des Lebens.
Die Entgiftung von der Verpflichtung vollzog sich nicht direkt dadurch, dass ich gegen die Pflicht das gute Gewissen der Liebe gewonnen hätte. Es musste erst ein anderes Gift ausgeschieden werden: der stolze Wahn freier Selbstbestimmung.
Ich war in meine böse Lage, deren wesentliche Bedeutung für meine ganze Entwicklung mir bald klar und immer klarer wurde, hineingekommen, ich wusste selbst nicht wie. Natürlich durch diese und jene freie Entscheidung hindurch, in der ich nur nie gewusst hatte, wofür ich mich eigentlich entschied. Und war dies nicht die allgemeine Form meines Lebens? Ich hatte in dessen wichtigsten Entscheidungen mit gewissenhafter Ueberlegung (das konnte ich mir bezeugen) regelmässig einen Weg als den richtigen, einzig möglichen gewählt – von dem ich nur nie wusste, wohin er führte. So war ich zum Studieren gekommen; so war ich Pfarrer geworden; so hatte ich meine Absetzung provoziert. Und auch sonst überall, im Kleinsten und im Grössten, im »Guten« und im »Bösen« wiederholte sich dasselbe Spiel. Ich hatte mich immer frei entscheiden müssen; und die Freiheit der Entscheidung erwies sich nachträglich immer als blosser Schein. Eine freie Entscheidung, worin ich nicht weiss, wofür ich mich entscheide, ist doch keine freie Entscheidung. Dabei ist es ganz gleichgültig, wie sichs psychologisch und metaphysisch mit der Freiheit des Willens verhält.
So kam ich zu der Erkenntnis, die ich in »Menschenlos« ausgesprochen habe: »Ich lebe nicht; ich werde gelebt« – eine Erkenntnis, die durch das kirchliche Dogma von der Unfreiheit des Menschen zum Guten vorbereitet war. Aber nun musste ich tun, was weder Luther noch Augustin noch Paulus und Johannes getan haben: ich musste von dieser Erkenntnis aus mein ganzes Urteil über die Menschen, meine ganze Deutung des Lebens umarbeiten. Und zwar nicht bloss in der Theorie, sondern für die Praxis des Lebens – meines Lebens.
Und so ging ich denn an diese böse, halsbrecherische Arbeit, mit der ich noch nicht fertig bin. Ich wurde darin gefördert durch Luther: durch den ich mich doch nicht wieder zum Gehorsam des Glaubens verführen liess; und insbesondere durch Nietzsche: der mich doch mit seiner Kulturschwärmerei nicht anzustecken vermochte. Kierkegaard liess mich hier im Stich, da für ihn die freie Selbstbestimmung der Angelpunkt nicht bloss seiner Theorie, sondern auch der Praxis geblieben ist.
Ist die freie Entscheidung eine unausweichliche Illusion, aber doch eine blosse Illusion (wie die Bewegung der Sonne um die Erde für uns eine unausweichliche Sinnestäuschung, und doch eine unzweifelhafte Sinnestäuschung ist): so muss aus der Beurteilung des Menschen (anderer und auch seiner selbst) alles ausgeschieden werden, was aus diesem Wahn entspringt. Damit verliert Schuld, Vergeltung, Sühne allen Sinn: es gibt keine Schuld; und es ist nichts zu vergelten, nichts zu sühnen. Was in Wirklichkeit vor sich geht, wenn einen Menschen reut, was er getan hat, ist erst festzustellen: es kann sehr Verschiedenes sein. Ebenso ist erst festzustellen, in welchem Sinn ich einen Menschen verpflichten und zur Verantwortung ziehen kann, wenn ich keinen Unsinn machen will. Das übliche pathetische Gerede von der Pflicht und der Verantwortung ist ja lächerlich. Und aus dem allem ergibt sich dann erst, in welchem Sinn ich, wenn ich eben keinen Unsinn machen will, gute und böse, gute und schlechte Menschen unterscheiden kann. Es ist unglaublich, wie gründlich man umdenken muss, wenn man auf diesem Gebiet einmal zu denken begonnen hat. Nietzsche hat sich das Umdenken zum guten Teil dadurch erleichtert, dass er das vulgäre Christentum auf den Kopf stellt.
Denkt man dann aber nicht bloss im theoretischen Interesse, sondern für das Leben (also: für sein eigenes Leben), so wird die Arbeit, wie gesagt, nicht bloss sehr beschwerlich, sondern halsbrecherisch. Für mich wurde die Gefahr vermindert: durch den schweren Druck meines Lebens; durch die Achtung vor mancher »sittlichen« Persönlichkeit, die auch ich noch »gut« fand, obgleich mir ihre »Sittlichkeit« so wenig mehr imponierte wie ihr »Glaube«; durch meine Verachtung für einen leichtfertigen Immoralismus (in dem ich noch die »Moral« witterte); und durch meine Abneigung gegen alle Propaganda. Getragen aber wurde ich in diesem Zustand eines bodenlosen Zweifels durch den unzerstörbaren Glauben an einen Sinn des Lebens (also meines Lebens), der vielleicht noch eine Nachwirkung meiner christlichen Erziehung war, vielleicht auch mehr. –
Werde ich gelebt und will ich leben, so muss ich mich eben leben lassen. Das ist denn auch das letzte Wort von »homo sum« in »Menschenlos«: »Ich lasse mich leben.« Doch entspricht ein blosses Sich-leben-lassen meiner Natur durchaus nicht. Ich musste und muss also eine mir entsprechende Form aktiven Lebens finden. Dies ist die wichtigste Arbeit, in der ich noch stehe.
Nun wird durch die Entgiftung von der Verpflichtung das Interesse frei: das Interesse für die Erkenntnis und das Interesse für den Menschen (um nur die Interessen zu nennen, die mir am nächsten liegen). Und so wird durch den Verlust der »freien Selbstbestimmung« die Aktivität entbunden und gesteigert. Und der aktive, denkende und liebende Mensch sucht und findet auch Gelegenheit zur Aktivität. Die Verlegenheit liegt vielmehr in der Wahl zwischen den sich bietenden Möglichkeiten der Betätigung.
Das ist nun eine Sache, die jeder für sich abzumachen hat – wie sich für mich daraus ergibt, dass ich selbst sie mir durch niemand abnehmen lassen will und kann. Für mich nun kann sie nicht bestimmt sein durch ein Ziel, das ich mir stecke: denn es ist nicht bloss ungewiss, ob ich es erreichen werde; ich bin auch dessen nicht sicher, ob mir morgen noch Ziel ist, was ich mir heute als Ziel stecke. (In der Kurve meines Lebens fortschreitend sehe ich mein Ziel in der Richtung der Tangente, die doch nur die augenblickliche Richtung meiner Bewegung angibt.) Aber ich habe auch gar nicht die Freiheit, mir ein Ziel zu stecken: denn die Entscheidung über die Fortsetzung meines Lebens kann nur darin bestehen, dass ich das richtige Fazit aus dessen bisherigem Verlauf ziehe. Oder vielmehr: das ist es, was ich dazu beitragen kann, dass mein Leben eine Geschichte wird. Der andre Faktor in der Bildung meiner Geschichte ist der Zufall. Den muss ich hinnehmen, wie er eben kommt. Er mag aber bringen, was er will: ich will nichts umsonst erlebt haben; will also kein Erlebnis fahren lassen, ehe ich es innerlich verarbeitet habe; will kein Verhältnis mit einem Menschen aufgeben (so weit es an mir liegt), ehe ich es vollständig ausgeschöpft habe. Natürlich kann ich, wenn ich das will, die Frage, ob mir die Sache angenehm oder unangenehm ist, nicht in Betracht ziehen. Ich kann ja auch nicht zum voraus wissen, ob sie mir weiterhin angenehm oder unangenehm werden wird.
Das kann ich, mit Sinn, dazu tun, dass mein Leben eine zusammenhängende Geschichte wird, nicht eine zusammenhangslose, bloss zeitliche Folge von Erlebnissen und Entschliessungen. Indem ich aber dies von mir aus tue, stellt sich heraus (oder: scheint sich mir herauszustellen), dass auch in dem anscheinend gesetzlosen Zufall ein Zusammenhang ist. Er kommt meinem Willen, mein Erleben zu einer Geschichte auszudichten (natürlich nicht bloss in der Phantasie, sondern in der Wirklichkeit, also durch meine Tat), zuvor und entgegen: freundlich freilich nur insofern, als er diesem Willen in die Hand arbeitet; während er auf meine Wünsche keine Rücksicht nimmt. Wie das zugeht, verstehe ich natürlich nicht; aber ich riskiere es, damit als mit einer Tatsache zu rechnen. Riskiert ist dabei doch eigentlich nichts: denn ich kann und will überhaupt nicht anders leben als so: dass ich von mir aus versuche, in mein Leben den Zusammenhang einer Geschichte zu bringen.
Sofern aber doch der Zufall diesem meinem Willen zuvorkommt, diesen meinen Willen selbst herausfordert, diesem meinem Willen das Material darreicht, komme ich allerdings doch wieder auf die Formel zurück: »Ich lasse mich leben.« –
Diese meine »Philosophie« habe ich in der Schrift »Vom öffentlichen Geheimnis des Lebens« etwas breiter ausgeführt; in genauerem Anschluss an das Erlebnis, durch das sie mir aufgedrängt wurde, und auch in offener und versteckter Auseinandersetzung mit den Irrtümern, durch die hindurch ich zu ihr gekommen bin. Indem ich den Leser, der sich für meine »Philosophie« interessiert, darauf hinweise, bitte ich ihn, von den dort vorgetragenen Gedanken als für mich wesentlich doch nur zu betrachten, was ich hier nun freier entwickelt habe. Was ich darüber hinaus gesagt habe, braucht darum nicht unrichtig zu sein: nur wesentlich ist es für mich nicht.
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Die Aufsätze »Zur Theorie des Geisteskampfes« entstammen einer Zeit, da ich mich noch auf Küstenschifffahrt beschränkte und also mit den Bewohnern des Festlands noch mehr Verkehr und Fühlung hatte. Deshalb habe ich das Verhältnis zum andern Geisteskämpfer darin noch wichtiger genommen, als ich es jetzt nehme. Und deshalb stellt sich der Geisteskampf darin noch harmloser dar, als er in Wirklichkeit ist. Doch finde ich jetzt, nach 25 Jahren, nichts darin, das ich nicht gesagt haben möchte und zurücknehmen müsste. Und ich kann sie auch wieder abdrucken lassen, da ich sie immer noch lesenswert glaube.
Im Februar 1922.
Christoph Schrempf.