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11.

Ans Vaterland, je mehr die Stürme grollen,
Je mehr auf List der Erbfeind sinnt und sann,
Je ungestümer rings die Wogen rollen,
Ans Vaterland, ans teure, schließt euch an!

Lasst nur die Stürme sausen!
Lasst nur die Wogen brausen!
Auch unser Lied ersaust und brauset drein:
Ein einig Volk von Brüdern lasst uns sein!

In Schröders Wohnung sitzen sie alle Drei wie gewöhnlich in ein und demselben Zimmer, ohne einander gegenseitig zu stören oder zu irren. Frau Schröder bessert an schadhaft gewordener Wäsche herum, Fräulein Lotte sitzt an ihrem gewöhnlichen Platze in der Fensternische und strickt und malt in ihrem Sinnen und in ihren Gedanken die ihr fremde Außenwelt auf ihre Weise und glührot auf schwarz und sinnt an dem und jenem, und Michel sitzt an seinem Arbeitstische und vergleicht Studien halber Goethes Erlkönig mit Walter Scotts Gedicht »the Erl-King«.

Oh! Who rides by night through the woodland so wild?
It is the fond father embracing his child;
And close the boy nestles within his loved arm,
From the blast of the tempest so keep himself warm.

Wie einfach und schön klingt dagegen der Goethische Text, wie natürlich und schön!

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist ein Vater mit seinem Kind …

Wozu dieses ganz und gar überflüssige Oh gleich zu allem Anfange? Des Versmaßes wegen vielleicht? Und das woodland scheint ebenfalls ganz entbehrlich zu sein. Aber freilich: Jede Sprache hat ihre Eigenheiten, und in jeder Sprache muss der Mensch anders denken lernen und denken. Und eine Übersetzung eines Meisterstückes in deutscher Sprache ist vollends ein gar eigenartig Ding, selbst wenn sie Walter Scott gemacht. Die Schönheiten und Feinheiten einer Sprache lassen sich eben nicht so ohne Weiteres in einer andern wiedergeben, tut einer, wie er will.

So sinnt, grübelt und vergleicht er dahin und macht Anmerkungen und Notizen, um diese Gedanken gelegentlich in der den Prüfungen vorausgehenden, eigentlich schon ein Teil derselben bildenden und immer näher rückenden sogenannten Hausarbeit zu verwenden und zu verwerten.

Über lauter Sinnen und Studieren geht ihm die Pfeife aus, und er steht auf, um sie in den Kohlenkasten auszuklopfen.

Daran merkt Fräulein Lotte, dass der Bruder nun nicht studiert, und sie fängt zu reden an. Ihre Gedanken haben sich soeben mit Ritter beschäftigt gehabt, der immer so lieb und freundlich mit ihr gewesen und der nun schon geraume Zeit nimmer zu ihnen gekommen.

»Hast Du Dich vielleicht mit Ritter überworfen?« fragt sie den Bruder.

»Mit Ritter? Wie kommst Du auf diese Idee?« gegenfragt Schröder verwundert.

»Ich dachte halt, weil … er schon lange nimmer zu uns kommt.«

»Ja so. Es ist wahr, er war schon geraume Zeit nimmer da. Vielleicht hat er nicht Zeit. Der Mensch dichtert nun.«

»Dichtet?«

»Allen Ernstes und mit Erfolg. Unlängst ist im »Hausfreund« ein ganz nettes Poem gestanden. Er hat Talent … Ja, sonst wüsste ich überhaupt keinen Grund, warum er nicht wie gewöhnlich zu uns kommen sollte. Übrigens kann ich ihn ja bei Gelegenheit einmal darüber interpellieren.«

»Hast Du vielleicht das Blatt?«

»Den >Hausfreund?< Nein. Aber wenn Du Dich dafür interessierst, kann ich ja das Blatt einmal mit heim nehmen oder aber das Gedicht abschreiben.«

»Sei so gut.«

»Aber selbstverständlich, Lotte. Du weißt ja doch, dass ich Dir jeden Wunsch erfülle, wenn es mir möglich ist … Warte mal! Ich geh gleich hinüber in die Germania und besorge die Sache.«

»Aber nein … Ich habe nur so gemeint …«

»Ich habe auch sonst etwas zu besorgen, und da geht es unter einem Gange. In einer halben Stunde bin ich wieder da.«

Er zieht sich an und hastet davon.

»Es wird öd und langweilig werden, wenn Michel einmal seinen Professor gemacht hat und die Studenten nimmer zu uns kommen werden«, seufzt Lotte. »Ich meine, damit geht die Jugendzeit zu Ende.«

Frau Schröder betrachtet das arme Kind ein Weilchen mit traurigen Blicken, und in ihren Augen zeigt sich ein feuchter Schimmer. Was weiß diese Ärmste von einer Jugendzeit? Was sie als solche ansieht, ist lediglich dunkel dämmernder Wahn, und doch bangt ihr um diese Zeit.

»I, woher denn?« widerspricht und tröstet sie. »Du bist noch so jung, Lotte, so jung, und wenn Michel auch seinen Professor macht und irgendwo hinauskommt in eine kleinere Stadt und wir mit ihm, es wird auch dort Leute geben, die bei uns verkehren. Vielleicht findest Du Freundinnen …«

Ein Weilchen ist es mäuschenstill in dem Zimmer, und nur das Aneinanderticken der Stricknadeln ist zu hören und der Gang der Pendeluhr. Dann aber wirft Lotte plötzlich den schönen Kopf trotzig zurück.

»Ach was!« macht sie es mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Weißt Du, Mutter: Ich brauche auch gar keine Freundinnen. Sie würden mich am Ende doch nur heimlich auslachen oder meiner spotten. Ich habe ja Dich noch …«

Ein tiefer Seufzer entringt sich Frau Schröders Brust, und sie steht auf und geht hinaus. Lotte aber legt das Strickzeug weg und geht so sicher zu dem unter dem Spiegel stehenden Flügel hin, dass ein Fremdes, das nicht um ihr Unglück wüsste, mit keinem Gedanken darauf verfallen würde, dass ihr das Augenlicht fehle. Sie weiß und kennt eben in der ganzen Wohnung jeden Schritt und Tritt und jedes Stückchen des Hausrates.

Langsam öffnet sie das Instrument, und ihre Finger gleiten spielend über die Tasten. Wie kostbare Perlen auf ein Silberplättchen kollern, so perlen die Töne unter ihren Fingern hervor und verbinden sich zur melodiereichen Phantasie.

Bald darauf kommt Schröder zurück.

»Hast Du das Gedicht, Michel?« fragt sie hastig.

»Ja.«

»Geh', lies!«

Und er liest ihr's vor, und sie stützt den Kopf in die Hand und prägt sich Wort um Wort ein in ihr Gedächtnis und unterlegt jedem Worte die Deutung, die sie in ihrem Gedankenleben für die richtige hält … Zu den Sternen schaut dein Auge, wenn es hoffet, wenn es sehnt … Was sie zeitlebens gesonnen und gefühlt, wähnt sie in diesen wenigen Worten des Gedichtes wiedergegeben und widergespiegelt, und eine eigentümliche, schwermütige Stimmung überkommt sie. Michel muss das Gedicht noch einmal lesen, und dann haftet jedes Wort stahlfest in ihrem Gedächtnis.

»Studierst Du wieder?« fragt sie.

»Warum? Nein. Ich werde ein wenig lesen. Ich habe mir die »Narodni listi« gekauft, in denen heute ein Artikel gegen die deutsche Studentenschaft stehen soll.«

»Gut, dann spiele ich noch ein Zeitlein. Ich möchte nämlich eine passende Melodie finden zu diesem prächtigen Gedicht.«

»Also spiele nur!«

Und sie sucht und fahndet nach Tönen und nach einer Weise, die ihr Empfinden widerspiegeln und annähernd wiedergeben könnten, und dabei kommen die prächtigsten musikalischen Gedanken zum Vorschein.

»Bravo!« ruft Schröder einmal während des eifrigsten Lesens, als wieder so ein Prachtakkord durchs Zimmer und durch die Stille hallt, aber sie lässt sich nicht irre machen, bis er einmal aus einem andern Tone zu reden anfängt.

»Teufel!« brummt er halblaut vor sich hin, aber sie hört es doch. »Da scheint eine scheußliche Absicht dahinter zu stecken. Man will wieder etwas anzetteln.«

»Steht da in der Zeitung?« fragt sie dazwischen.

»Aber natürlich. Diesem schauderhaften Hetzblatt sollte doch einmal von Amts wegen das Handwerk gelegt werden. Wer weiß dann, wer da wieder schürt und bläst? Aber das ist sicher, dass es jemand mit Absicht tut.«

»Wird ja doch nicht wieder so ein Rummel entstehen wollen wie vor sieben Jahren …«

»Wer weiß, was man im Schilde führt, aber Sache der Behörden wäre es, rechtzeitig vorzubeugen. Glaubst Du, Lotte, mich ekelt die ganze Wäsche übereinander schon an, und ich wäre froh, wenn ich die Prüfungen hätte und wir hinaus kämen aus diesem schauderhaften Neste. In einer kleineren Stadt würden wir viel ruhiger leben.«

»Mische Dich nur Du in nichts!« rät Lotte eindringlich. »Wenn Dir etwas geschähe, schau, was täten Mutter und ich?«

»Es wird ja doch nicht gleich zu Mord und Tod kommen«, lacht er hell auf ob ihrer Besorgnis. »Wir leben ja doch nicht in der Türkei, in Russland oder in ähnlichen Paradiesen …«

»Aber in Böhmen.« Sie hat von den bei ihnen verkehrenden Studenten gar manches von der böhmischen und österreichischen Gerechtigkeit reden und erzählen hören und deshalb ein sehr schwaches Zutrauen zu dieser Institution.

»Närrchen! … Spiele nur weiter und lasse Dir keine grauen Haare wachsen! … Es wird nie etwa so heiß gegessen, als es gekocht wird, selbst wenn man tüchtig schürt und bläst …«

So denkt man auch im Bannkreise der Alma mater und der Studentenschaft und misst dem Gebelfe eines derartigen Blattes weiter keine besondere Bedeutung bei, aber trotzdem liegt etwas in der würzigherben Frühlingsluft, das jeder merkt und spürt, von dem er aber doch nicht so recht mit Bestimmtheit sagen kann, was es eigentlich ist. Eine eigenartige Schwüle beginnt sich über dem Gassengewirre der Stadt und über den Gemütern zu lagern, in die Häuser und in die Herzen der zunächst Beteiligten zu schleichen und wider nach außen zu strömen. Wie wenn sich im Märzen 1904. ein Gewitter zusammenziehen wollte, so ist es.

Das bekannte tschechische Hetzblatt »Narodni listy« aber bringt Tag für Tag Artikel um Artikel, in denen es darauf hinweist, dass »Zlata Praha« Das goldene Prag. eine ganz und gar tschechische Stadt sei, dass es von Tschechen gegründet und groß gemacht worden und dass lediglich die Tschechen das Recht hätten, darinnen zu leben und zu hausen. Es wäre eine Frechheit sondergleichen, dass sich dieses Gezüche der Deutschen erkühnte, in dieser Stadt deutsche Schulen zu haben und darin pangermanischen Chauvinismus zu lehren. Zlata Praha sei eine durch und durch tschechische Stadt, aber käme ein Fremder nach Prag, so könne er solches ohne vorhergehende Erläuterungen mit bestem Willen nicht so ohne Weiteres wahrnehmen, denn gerade der Graben, die Perle der Stadt, die jeder Fremde zuerst aufsuchte, würde geradezu von den Deutschen beherrscht und terrorisiert. So ziemlich alles dort Hin- und Herwandelnde spräche notgedrungenermaßen die verhasste deutsche Sprache, aus Furcht, von den buntbekappten Burschenschaften, den »Burschaken« insultiert oder gar misshandelt zu werden. Und in Bezug auf Unduldsamkeit und Roheit seien diese deutschen Studenten mit ihrem Dienstmännermützen geradezu unerreichbar. Das arme, von allen Seiten be- und gedrückte tschechische Volk wäre nicht einmal in seinem eigenen Hause, in der goldenen Hauptstadt seines schönen Landes, vor Zurücksetzungen, vor Terrorismus und ähnlichem sicher, und es müsse endlich einmal etwas geschehen, um der Sache eine andere Wendung zu geben und um dem so gedrückten und geknechteten Volke zu seinem guten Rechte zu verhelfen.

So geht es Tag für Tag, und es kommt keine molligere Tonart in diese wutschnaubende Gekreische.

»Merkt mal auf: Jetzt kommt wieder was Geschmalzenes!« weissagt auch Träger eines Abends, da sie bis auf einige Wenige, die sich Kneipenurlaub genommen, auf der Bude der Asgardia sitzen. »Man braucht ein Krawällchen und wird es zu arrangieren wissen.«

»Da bin ich wirklich neugierig«, schmunzelt Hacker. »Es tät' mich ärgern, wenn ich eigens nach Prag gekommen wäre und könnte keine Deutschenhetze sehen.«

»Na, Deinetwegen sollen sie vielleicht so einen Trieb veranstalten?« entrüstet sich Färber schier.

»Gute Unterhaltung, Bajuware!« lacht Werner. »Ein Spezielles Dir und Deinem Verlangen! Nur eine feste Faust gemacht, wenn es losgehen sollte!«

»Wird sich nichts fehlen«, verspricht der.

»Künzlein, Du könntest bei der Gelegenheit als Leib- und Hofbarde der Asgardia sogleich Deinen flammenden Schlachtengesang anbrechen!« rät Köhler. »Wirst ja wissen, wie es die Barden, unserer Vorfahren gemacht haben. Nur wacker in die Saiten gegriffen!«

»Wird sich auch nichts fehlen«, ahmt Ritter die Mundart Hackers nach. »Alles zu seiner Zeit. Vielleicht schreibe ich dann gleich einen Hymnus auf den Exodus der deutschen Studentenschaft … wie anno dazumal, meine ich. Es wäre wahrhaftig schon das Vernünftigere. Eine Zeitlang findet man ja Gefallen an dem trotzenden Widerstande, den man einer halbasiatischen Nomadenbande leistet, aber schließlich wird die Sache abgeschmackt.«

»Sei so freundlich und ziehe andere Register!« braust Werner auf. »Wir weichen nicht, und wir dürfen nicht weichen. Verstanden? Beweis schon hundertmal geliefert.«

»Es ist doch Unsinn.«

»Er steigt hinein!«

»Pro poena eine Ganze!«

Und er steigt hinein.

»Die Welt ist das reinste Pimperlspiel«, brummt Winter und stärkt sich mit tüchtigem Schlucke. »Man scheint ein heidenmäßiges Interesse daran zu haben, alles zu verhetzen und über Ecks zu bringen, und man erreicht dies wunderbar. Ich fordere den Scharfsinn aller Juristen der Asgardia in die Schranken: Besteht ein Recht, ein halbes Schock Völkerschaften zu einem modernen Babylon oder einem … Pickelsteiner zusammenzumengen? Ich meine nicht. Wer ist denn der Staat? Doch wohl die contribuens plebs oder plebs contribuens«, verbessert er sich. »Und kann sich die ihr eigenes Haus nicht einrichten, wie sie will und es für sie am besten ist? Muss sie sich gefallen lassen, mit wem sie zusammengekoppelt und von wem und wie sie beherrscht und regiert wird? Warum lässt man die Bildung nationaler Staaten nicht zu? Da würden der Reibflächen gleich ein halbes Dutzend weniger.«

»Hör' auf!« wehrt Köhler hastig ab. »Wir wähnen uns weise, aber nach einem bekannten Sprichworte können auch die überfragt werden.«

»Eine Antwort auf diese Frage könnte uns schön in die Brühe setzen«, lächelt Kaltenberger.

»Warum?«

»Vergisst Du vielleicht schon, dass wir – in Österreich leben?«

»Politisch Ding, ein garstig Ding«, mischt sich Schröder in die Debatte, um den Reden eine andere Wendung zu geben, aber Winter kehrt sich nicht daran.

»Ganz recht; aber müssen wir uns gefallen lassen, dass man systematisch hetzt und schürt gegen uns, dass man uns allenthalben schädigen darf nach Kräften und dass man sogar gegen uns regiert? Müssen wir uns gefallen lassen, dass man von oben her tschechisiert? Haben wir in diesem Falle zur Wahrung unseres Volkstumes und zur Erhaltung unserer höchsten Güter nicht ein unveräußerliches Recht, das Recht …«

»Es steige ein Cantus!« schlägt Breit vor, um den vielleicht zu weit gehenden Erörterungen über österreichische Staats- und Regierungskunst ein Ende zu machen, und bald darauf steigt ein echter Scheffelscher Rodensteiner.

Tags darauf politisiert und kannegiesert im Lesezimmer der Germania alles und jegliches, und jeder betrachtet die bange Schwüle von der Seite, die ihm die nächstliegende ist; mancher malt tiefschwarz, mancher grau in grau, und mancher sieht dem höchstwahrscheinlich kommenden Rummel als einer willkommenen Abwechslung entgegen, und mancher wieder hofft von der noch in unergründliches Dunkel gehüllten Zeit eine neuerliche Stählung des Ringes, der die deutsche Studentenschaft umspannt wie ein fester Reifen die eichenen Dauben eines gewaltigen Fasses. Jeder aber rät zu doppelter Vorsicht, dem lauernden Erbfeinde ja keine Handhabe zu bieten, um nicht beschuldigt werden zu können, die Verwicklungen mutwilliger Weise heraufbeschwören und veranlasst zu haben.

Ruhig Blut in allen Lagen!

Einige Tage vergehen, und es ändert sich nichts an der drückenden Schwüle, die über den Gassen der Stadt und über den feindlichen Gemütern brütet.

Maier liest in diesen Tagen wider all seine Gewohnheit fast dien Dutzend Zeitungen, wo er sich bislang immer nur mit dem flüchtigen Überfliegen seine Leibblattes begnügt und wo er hinkommt und wo jemand kannegießert, dort politisiert er mit. Die Sache hat für ihn, den in Wiener Spießbürgerverhältnissen großgewordenen und die Wiener Verständnis- und Teilnahmslosigkeit in nationalen Fragen gewohnten Menschen, volgo Sumser, den Reiz der Neuheit, und dann interessiert ihn auch der Krieg.

Im fernen Osten sind der russische, landgierige Koloss und das kühn aufstrebende, ein Zeitalter mongolischer Weltherrschaft erträumende Japanervolk hart aufeinander geprallt. Die Zeitungen melden von blutigen Kämpfen und vielversprechenden Siegen, und jede Nachricht bringt die Kunde, dass der Koloss wieder ein paar Hiebe mehr bekommen.

Der Koloss? Gar keine Rede! Die Leute, die im günstigsten Falle dahin gemordet werden, haben nicht das geringste Interesse an der ganzen Verwicklung. Was kümmert sie die Mandschurei oder das Gelüste des Großfürsten Sergius, dortselbst riesigen Grundbesitz »erwerben« zu wollen? Aber sie müssen sich auf den Kriegsschauplatz schaffen lassen, sie müssen gegen Leute losgehen, die sie gar nicht kennen und die ihnen zeitlebens noch gar kein Wässerchen getrübt. Ein Interesse an der ganzen Sache haben lediglich der Kaiser, die Großfürsten und die Berater. Aber warum machen sich die nicht selbst die Sache aus und setzen ihr Leben für ihre Angelegenheit aufs Spiel?

Ungefähr so redet einmal ein Prager deutscher Kaufmann, den er im Gastzimmer des deutschen Handwerkervereinsheimes trifft und mit dem er an ein und denselben Tisch zu sitzen kommt.

»Warum? …«

»Ich begreife nur nicht, wie sich die Tschechen für solche Verhältnisse begeistern können?« wundert Maier.

»Nichts einfacher als das. Sie sind vom panslavistischen Traume umfangen, sehen in Russland die Macht, die allenfalls den Traum in Wirklichkeit umsetzen sollte und könnte, und schwärmen daher für diese Brüder »Befreier« … Ich bin nur neugierig, wohin dieses Verhetzen und Aufstacheln der Massen wieder führen mag.«

»Vielleicht wird gar nichts Besonderes daraus.«

»Glauben Sie nur das nicht! Ich bin lange genug in Prag, um solche Wetterzeichen zu kennen. Wie war es denn Siebenundneunzig? … Eine förmliche Revolution, sage ich Ihnen. Unser Geschäft mussten wir tagelang gesperrt haben, und das Personal war Tag und Nacht draußen bei uns in unserer Villa, um einem allenfallsigen Überfalle entgegentreten zu können. Wir mussten fast eine ganze Rüstkammer voll Waffen im Hause halten.«

»Gelesen habe ich davon; aber die Wiener haben nur so gelächelt dazu.«

»Ja, diese Wiener mit ihrem ewigen Betonen des deutschen Charakters der Reichshauptstadt! Und dabei wird diese von Jahr zu Jahr tschechischer. Sie kennen ja doch Favoriten?«

»Nahezu alles tschechisch … Eine wahre Schande! Aber man sieht nichts, man will und darf davon nichts sehen … »Lasst mir meine Böhm in Ruh! sagt Lueger, der Obergott.«

So wird hier geredet, und so wird dort politisiert und gesprochen, man kommt über jedes Verhältnis, das im Bereiche der gegebenen Situation liegt, man mutmaßt und prophezeit, aber schließlich scheint die Sache doch wieder im Sande verlaufen zu wollen. Trotz allen Hetzens und Schürens scheint der tschechische Pöbel doch so viel Einsicht zu haben, dass ein gewaltsam vom Zaune gebrochener Aufruhr und Rummel ein Unsinn wäre, wenn nicht mehr.

Da geschieht es, dass ein nationaler Freja-Saxone und ein liberaler Alemanne einer Geringfügigkeit halber auf dem Graben aneinander geraten und sich gegenseitig durchprügeln wie – zwei Abgeordnete.

Das bringt das dumpf brütende Wetter zum Losbruche

»Jetzt wird' losgehen«, mutmaßt Werner in kampffroher Stimmung. »Tausendmal besser eine offene Fehde und ein lustiges Gekrache denn dies unleidliche und unheimliche Schwüle.«

»Ein abscheulicher Unsinn!« tadelt Maier den Vorfall. »Es ist schon das Ärgste, wenn sich nicht einmal die Deutschen selbst unter einander vertragen und vertragen können und noch dazu in einem Neste, wo sie schon von wegen der gemeinsamen Interessen einig sein sollten.«

»Eine Schande!« rügt auch Winter. »Wenn zwei Gassenjungen zu raufen kommen auf offener Straße, denkt man sich ein Teil, aber wenn zwei Leute, die an der Hochschule studieren und zur Blüte des Volkes gezählt werden und gezählt werden sollen … Was soll man dazu sagen?«

»Schön ist der Handel auf keinen Fall«, urteilt auch Kaltenberger. »Wenn einer den andern anrempelt, wie das ja mit bestem Willen vorkommen kann, gut: Wir sehen uns! Aber … Nein, damit hört Verschiedenes auf.«

Und Werner hat Recht mit seiner Mutmaßung: es will losgehen.

Die Narodni listy sehen in dem sie nicht das Mindeste angehenden Falle ein gefundenes Fressen für sich und ihre Hintermänner und schroten den Vorfall gleich in langmächtigen Leitartikeln aus, deren Grundton immer ein und derselbe ist: Die Burschaci dürfen im Weichbilde der Stadt Prag nimmer geduldet werden, das die dem Ansehen derselben vor aller Welt gewaltigen Abbruch tun, und in vierzehn Tagen soll und darf man keine der verhassten farbigen Kappen mehr zu Gesicht bekommen.

So, da hast es!

Sogar im Stadtrate kommt die Prügelei zur Sprache.

Träger lacht im Lesezimmer der Germania hell auf, als er die im Brusttone tiefster Entrüstung eingebrachte Interpellation in der Zeitung liest.

»Du verzwirnter Pratzenschuster! Jetzt wird uns aber doch alle samt und sonders der Leibhaftige holen und aus Prag wegschleppen.«

»Was ist's?« fragt ein Ghibelline.

»Der Handschuster Brzesnowsky hat wegen der Keilerei am Graben den hochweisen Stadtrat interpelliert, und dieser ist auch höchlichst entrüstet und wünscht uns ins Pfefferland oder in dessen Nachbarstaaten.«

»Nicht schlecht.«

»Hört nur!« Und er liest den Artikel vor.

»Es handelt sich den Herrn lediglich um unser weiteres Fortkommen«, scherzt Maier. »Ergo …«

»So gehen wir halt«, redet auch Ritter. »Wo man einen nicht gern sieht, dort hat er nichts zu suchen …«

Einige lachen, einige schimpfen, und einige machen ihre Randglossen zu der pharisäischen Hetzrede des putzigen Handschuhmachers, aber alle sind sie darüber einig, dass in den nächsten Stunden vielleicht schon der erste Donnerschlag des losbrechenden Wetters folgen könne.

Vorsicht ist daher dringend geboten.

Da fällt den Prager Tschechen einmal ein, in der russischen Kirche in der Altstadt einen Bittgottesdienst um den Sieg der russischen Waffen abzuhalten, beziehungsweise einem solchen beizuwohnen, und am Sonntage finden sich auch an die Zehntausend dort ein.

Wenn ein deutscher katholischer Christ einem Gottesdienste in einer protestantischen Kirche und zu einem ähnlichen Zwecke beiwohne würde, schriee gleich die ganze tschechische Geistlichkeit im Lande Zeter und Mordjo, aber tschechischer Katholiken tut ein bissel nationaler Chauvinismus an der ewigen Seligkeit keinen Abbruch, und man betrachtet solches als etwas ganz und gar Selbstverständliches.

Der Bittgottesdienst findet statt, und die auf dem Altstädter Ring versammelte Menge schimpft und lästert nach Gebühr über die verdammten Deutschen, die in Prag zu leben sich erdreisten, das Ansehen der Stadt schädigen und es dennoch mehr minder offenkundig mit den Japanern halten.

Plötzlich fällt der Ruf: »do pøikop – zum Graben!« Wer ihn ausgestoßen, ist gleichgültig, und wie ein züngelnd Lauffeuer huscht es durch die Menge: Zum Graben!

Alles setzt sich in Bewegung. »Nieder mit den Deutschen! … Nieder mit den preußischen Hunden! … Haut sie!«

Durch die Zeltnergasse hinauf wälzt sich der Menschenstrom, durch jedes Gässchen zwängen sich die Massen, und alle beseelt nur ein Wunsch, und alle haben nur ein Ziel: Zum Graben!

Dort bummeln etwa dreihundert deutsche Studenten auf und ab, die sich aber in dunkler Vorahnung kommender oder bevorstehender Anrempelungen schon eng aneinander geschlossen.

Ein Bote kommt vom Altstädter Ringe den daher ziehenden Massen voraus und meldet, was im Anzuge ist.

Sie kommen! Jetzt gibt's etwas.

In Österreich ist vieles möglich, was anderwärts nicht so glatt vor sich gehen kann, in Böhmen ist noch etwas mehr möglich, und in Prag …

Es geht gegen die Deutschen! Wer hätte da Ursache, die Horden aufzuhalten oder zu zerstreuen? Wozu sollte man eingreifen, ehe man noch weiß, was geschehen wird? Freilich, die Deutschen, wenn sie es wagen würden, gegen die vielgeliebten »Böhm« – wie man sich duftig auszudrücken beliebt – loszugehen, Säbel und Mordinstrumente würden aufgefahren werden und … Ah, was!

»Jetzt kann's ein Späßchen geben«, mutmaßt Köhler und schlägt mit seinem handfesten Stocke eine schwirrende Quart in die Luft.

»Und haust Du her – So hau' ich hin …« summt er gleich darauf in seiner Weise, und im nächsten Augenblicke schimpft er schon wieder über das Philisterpack, das sich in unverkennbarer Hast ins Deutsche Haus zu verkriechen sucht und sich dort vor dem Tore drängt und drückt wie die Bienen vor dem Flugloche des Stockes, wenn ein Gewitter im Anzuge ist.

»Nicht den geringsten Anlass geben!« rät und mahnt Briet. »Für uns ist das Pack vollständig Luft, und uns darf man keine Schuld zuschanzen können, wenn etwas schief gerät.«

»Der Gescheitere gibt nach«, rät ein Frankone. »Was richten wir gegen den wütend gewordenen Mob?«

»Ausharren!« So einer vom Egerländer Landtag. »Wir lassen uns unser Recht nicht schmälern und nicht nehmen. Wir sind berechtigt, Farbe zu tragen, weil die Satzungen unserer Verbindungen von der Statthalterei bewilligt worden sind und der Bummel am Graben ein alter Brauch.«

»In Ruh' und Ordnung abziehen!« hallt es von der andern Seite herüber. »Es wäre Torheit, und mit der Rasselbande in ein Rencontre einzulassen. Kein Mensch wird es uns in dieser Lage verdenken, und wir vergeben uns deshalb keinen Deut.«

»Abwarten … Ausharren … Hier steh ich.«

Gleich dem Brausen des nahenden Wettersturmes kommt es näher und näher. Die sonst gar nicht üble Weise des »Kde domov muj« ist zum wilden Gröhlen und Schreien geworden, und dann schallt das tschechische Hetz- und Kampflied »Hrom a peklo« in abscheulichem Durcheinander.

Man macht Halt und wartet kampfbereit der Dinge, die da höchst wahrscheinlich kommen werden. nur die Ferdinanden und die Alben setzen ihre Bummel fort, als wäre um sie her nichts als der ins Land ziehende Lenz und eitel Frohzeit und Lerchengesang.

»Heil Albia! … Heil Ferdinandea!«

»Ah! die Ferdinanden!« macht es ein Thessale und deutet nach diesen, die in stattlicher Zahl ihrer Wege ziehen. »Schaut! Die Kerle haben noch Schneid im Leibe, trotzdem sie prinzipiell nicht schlagen. Wir tun ihnen Unrecht, wenn wir sie deswegen feig nennen.«

»Meine unverbrüchliche Hochachtung!« brummt ein arg bemoostes Haus der Karolen.

»Huu!« macht es Färber. »Jetzt kommt die Täubchennatur der Herrn Tschechen allmählich zu vollem Durchbruche. Hört ihr's, wie die Horde schreit und brüllt: »Maète ho – haut sie! Èepite dolu – Kappen herunter! … So, jetzt geht's los! Bums! Sitzt schon.«

»Kruzitürken! Jetzt kann ich mich nimmer halten«, braust Maier auf. »Wir stehen hier müßig und schauen, und die kriegen Hiebe … Gebunden sind! Los!«

»Mir ist fein auch schon so«, hastet Hacker heraus und dreht seinen Stock ganz verdächtig hin und wider. »Da wären wir die Feiglinge.«

»Nur ruhig Blut!«

»Die Alben ziehen sich ins Kaffee Continental zurück.«

»Die andern halten Stand.«

»Heil Ferdinanden! … Ich komm' auch eins.«

»Jetzt müssen die auch der Übermacht weichen … Fechtend ziehen sie sich zurück. Bums! Teufel! Der sitzt … Hast Du es gesehen, wie ein fausthoher Ferdinande einem Tschechen eine über die Larve gelegt? … Jetzt schlagen sie … Heil ihnen.«

»Höllteufel schon!« schimpft Hacker. »Was nutzt es, wenn wir hundertmal Heil! schreien, und die andern werden elendiglich gehaut.«

»Wir lassen sie nicht im Stiche. Auf! Los!« Also Maier, und er und Hacker drängen sich vor und hinüber.

Und die andern folgen.

Enggeschlossen drängt man durch, und Hiebe und Püffe fallen hier und da. Man holt die Ferdinanden wieder heraus und schließt sie dem Ganzen an, und schlagend und geschlagen werdend, hält man die rohe Übermacht in der mutigsten Weise auf, bis … endlich einmal die Polizei auf dem Platze erscheint.

Spät kommt sie zwar, aber – sie kommt. Und das ist ja manchmal die Hauptsache. Und gleich darauf erscheint auch Militär und sperrt die benachbarten Straßen ab.

»Jetzt werden wir endlich Luft kriegen«, mutmaßt ein Alemanne.

»Meinen Sie?« lacht ein Egerländer hell auf, und es ist allerhand herauszuhören aus diesem Lachen. »Wenn wir nicht in Prag wären, dann vielleicht.«

»Wir weichen nicht.«

»Nein.«

Da tritt der Anführer der Polizeimannschaft an die Studenten heran und tut denen seinen Willen und Befehl kund und zu wissen, und zwar im schönsten »Amtsdeutsch«.

»Ich fordere die Herrn im Namen des Gesetzes auf, sie in deutsches Haus zu gehen.«

»Haste gesehen!«

»Was tun?«

Ja, was tun? Einige Augenblicke ist es mäuschenstille unter den Studenten. Im Namen des Gesetzes! Warum werden die Ruhestörer und Angreifer nicht im Namen des Gesetzes von Platze geschafft? … Sollen sie dem Befehle gehorchen?

»Also: Im Namen des Gesetzes!« lacht Winter in seiner trockenen Art heraus uns setzt sich in Bewegung. »Vorwärts! Marsch!«

Man lacht teils mit, und teils wird gemurrt und gegreint, aber man fügt sich und geht ins Deutsche Haus.

»Pilsner!« fordert einer in kampffrohem Übermute, und die andern schreien dasselbe nach: »Pilsner! Pilsner!«

Der Kellner schwarzbefrackte Schar schafft in aller Hast und Eile Pilsner herbei, und die Studentenschaft setzt sich nach und nach zu dem Suffe, zu dem man im Namen des Gesetzes beordnet worden. Fragen schwirren durch die Enge des Raumes, Lachen und Fluchen, Heilrufe und Verwünschungen, und hier und dort wird ein Blutiger oder eine Beule konstatiert und wieder mit lebhaften Heilrufen begrüßt.

Draußen aber macht der gebildete und ungebildete Mob der Pragerstadt die stimmungsvolle Musik dazu.

Gegen zwölf Uhr endlich gelingt es der Polizei, die an dem zufälligen Krawällchen unschuldigen und allweg ruhigen und bedrückten Herrn Tschechen vom Graben wegzudrängen.

Die Luft ist nun so weit rein, und ewig kann man nicht im Deutschen Hause sitzen bleiben. Man macht sich daher nach und nach auf den Heimweg, und wer halbwegs kann, vertauscht seine Kappe gegen eine unauffälligere Kopfbedeckung, denn diesen Leuten ist mit größter Sicherheit zuzutrauen, dass sie irgendwo in Neben- und Seitengassen warten, bis sich einer oder der andere zeigt. Dann dürfte halt nachgetragen werden, woran man zufällig gehindert worden.

Die Asgarden und noch einige stärkere Verbindungen aber ziehen geschlossen und mit Kappen nach ihren Buden. Komme, was eben kommen möge; es wird dann halt wieder zugehaut.

»Wie gefällt Dir der Anfang?« fragt Werner Hackern.

»O, ganz gut«, nickt der. »Und ich meine, es wird sich noch besser machen.«

»Den Anschein hat es.«

»Weil nur Dir geholfen ist«, brummt Köhler. »Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen … Was werden wir nachmittags anfangen?«

»Kommt zu uns!« lädt Schröder ein. »Übrigens, Ritter, habe ich im Namen meiner Schwester eine kleine Interpellation an Dich zu richten. Warum lässt Du Dich schon lange nimmer bei uns sehen? Lotte meinte, ich hätte mich mir Dir überworfen.«

»Man hat nicht immer Zeit«, drückt der etwas verlegen heraus.

»Unlängst hat sie Dein Poem vertont. Wunderbar, sage ich Dir.«

»Mir scheint, die Herrschaften werfen uns allerlei Schmeicheleine an den Kopf«, mutmaßt Kaltenberger und deutet nach einem Rudel jüngerer Leute, der hinter und neben der inmitten der Gasse ihres Weges ziehenden Verbindung herläuft und beständig lacht und schreit. »Schröder, Du verstehst doch dieses Idiom. »Was sagt man denn?«

»Das ist nicht so leicht hergenannt«, lächelt der. »Man sagt Verschiedenes, aber es ist durchaus nichts Schönes.«

Zwei Polypen schreiten in einiger Entfernung hinter den Asgarden her und haben die ernstesten Dienstmienen aufgesteckt, und deswegen dürften es die Leute auch wohl nur beim Schimpfen bewenden lassen.

Der angenehmste Gang ist' jedoch auf gar keinen Fall.

Man hat's eben nicht leicht …


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