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Kleiner Garten. Links ein einfaches, weißes, längliches Parterrehäuschen, die Fenster von Blumen umrankt. Neben der Tür, ans Haus gerückt, eine Bank. Vorne rechts im Garten, unter einem Nußbaum, ein weißer Tisch und weiße Sessel. In der Mitte des Gartens Blumenbeete und blühende Rosensträuche. Der Garten ist hinten durch einen nicht zu niedern Zaun abgeschlossen. In der Mitte des Zauns eine Türe. Längs dieses Zauns läuft ein schmaler Weg. An den Weg grenzt eine weite Wiese, die allmählich ansteigt. Hinten Wald, Hügellandschaft. Auf dem bewaldeten Hügel im Hintergrund eine Lichtung, die den Blick auf hohe Berge frei läßt. Rechts hinten rückt der Wald nahe an den Garten. Maimorgen. Stiller blauer Himmel, Sonne.
Zuweilen laufen Kinder über die Wiese, spielen wohl auch eine Weile am Waldesrand.
Der Arzt und der Adjunkt treten aus dem Hause in den Garten.
Der Adjunkt. Weder Frau Richter noch Marie sind daheim, wie Sie sehn. Ich dachte mir's. Frau Richter wird wohl in der Kirche sein.
Der Arzt. Sie glauben?
Der Adjunkt. Seit Katharina verschwunden ist, soll sie halbe Tage dort verbringen, wie ich höre.
Der Arzt. Und betet wohl zum Himmel um ihrer Tochter Wiederkehr.
Der Adjunkt. Ob sie das wünschen sollte . . .? Sie sind beide tiefer in den Garten getreten.
Der Arzt. Diese Gegend hier ist schön. Welch ein Frieden über der Landschaft. Wie reich die Felder stehn.
Der Adjunkt. Es ist ein gesegneter Strich Landes.
Der Arzt. Dort, wo Sie jetzt hinkommen, sieht es wohl wilder aus?
Der Adjunkt. Düsterer gewiß. Höhere Berge, ragende Felsen, die Wälder schwärzer als hier. Pause
Der Arzt setzt sich nieder. Glauben Sie, daß Marie mit ihrer Tante in der Kirche ist?
Der Adjunkt. Möglich. Ich weiß übrigens gar nichts von ihr. Ich habe sie nicht gesehn, seit sie mit Frau Richter zurückgekommen ist.
Der Arzt. Nicht einmal gesehn? Nur nicht gesprochen, dacht' ich.
Der Adjunkt. Auch nicht gesehn. Ich bin heute das erste Mal seit meiner Rückkehr aus der Einsamkeit meines Forsthauses ins Dorf herabgestiegen.
Der Arzt. Sie sprachen aber schon mit Frau Richter?
Der Adjunkt. Ja. Frau Richter hat mich nämlich noch am Tage ihrer Ankunft aufgesucht.
Der Arzt. Sie war bei Ihnen?
Der Adjunkt hat sich auch gesetzt. Ja. Ich sollte ihr sagen, wo Katharina wäre. Sie bildete sich mit einem Male ein, ich müßte es wissen . . . Aber seither habe ich sie nicht wieder gesehn.
Der Arzt. Das sind nun beinahe drei Wochen her.
Der Adjunkt. Ja. Sie sprach damals auch von Ihnen und zwar mit vieler Dankbarkeit. Sie seien ihr so hilfreich zur Seite gestanden in jenen schweren Tagen.
Der Arzt. Hilfreich –! Es war nicht sonderlich viel, was ich für sie tun konnte.
Der Adjunkt. Sie sind mit ihr dem Sarge des alten Moser gefolgt . . . ?
Der Arzt. Ja. Das hab' ich getan.
Der Adjunkt. Nur Sie und Frau Richter nahmen an dem Begräbnis teil?
Der Arzt. Ja. Er hatte keine Freunde, die seinen Tod beweinten. Nur wir beide standen an seinem Grabe.
Der Adjunkt. Und Marie?
Der Arzt. Marie hatte ich es geradezu verbieten müssen, auf den Friedhof mitzugehn. Sie war vollkommen darnieder. Ich fand sie morgens am Totenbett ihres Vaters sitzen, der in der Nacht gestorben war, wie eine . . . ja wahrlich, als hätten sie nicht allein ihres Körpers Kräfte verlassen. Bedenken Sie nur, Herr Adjunkt, die Monate, die Jahre, die sie als Krankenwärterin dieses alten, bösen Mannes durchzumachen hatte!
Der Adjunkt hat ihn aufmerksam betrachtet. Ja die mögen furchtbar genug gewesen sein. Pause. Und auch wegen der verschwundenen Katharina haben Sie sich bemüht, sagte mir Frau Richter.
Der Arzt. Bemüht? Ich habe die Anzeige erstattet, das war alles. Was konnt' ich andres tun?
Der Adjunkt. Die Anzeige? Will man sie durch die Polizei zurückholen?
Der Arzt. Das könnten Sie der Mutter nicht verdenken. Aber natürlich hat die Behörde in diesen Zeitläuften wichtigeres zu tun, als sich um ein verschwundenes Mädchen zu kümmern . . .
Der Adjunkt. Das glaub' ich. Es kommen schlimme Nachrichten von der Grenze.
Der Arzt. Die Erregung bei uns in der Stadt wächst ins Ungeheure, zugleich Teilnahme und Opfermut. Erst auf dem Weg hierher sah ich einen Zug von freiwilligen barmherzigen Pflegerinnen, der sich zum Heere begibt.
Der Adjunkt. Der Feind soll tiefer ins Land gerückt sein. Und Gefechte gibt's Tag für Tag, die keine Entscheidung bringen.
Der Arzt. Es hat sich viel ereignet in der Welt, seit wir die blauen Kürassiere von jenem Fenster aus vorbeireiten sahen.
Der Adjunkt. Ob ihnen schon Gelegenheit geboten war, ihren Todesschwur zu halten –?
Der Arzt. Wenn es geschehen ist, so wird man bald davon hören.
Glockenschläge vom Kirchturm.
Der Arzt. Wann müssen wir aufbrechen?
Der Adjunkt. Es eilt nicht eben. Unser Gepäck hab' ich nach Hasbach voraussenden lassen, das kaum drei Stunden von hier entfernt ist. Dies hier ist das letzte Haus im Dorfe. Gleich von hier aus können wir unsere Wanderung antreten.
Der Arzt nach einer kleinen Pause, herzlich. Nun will ich Ihnen doch sagen, lieber Freund, daß Sie mein Herkommen nicht etwa als . . . Zwang auffassen dürfen.
Der Adjunkt. Warum sollt' ich?
Der Arzt. Es hat sich manches verändert, auch in unserer kleinen Welt, seit dem Tag, da wir unsere gemeinschaftliche Wanderung verabredet haben.
Der Adjunkt. Und wenn auch . . .
Der Arzt. Sie werden vielleicht doch vorziehn, hierzubleiben.
Der Adjunkt. Hierzubleiben?
Der Arzt. Solange es Ihnen eben möglich ist – und dann auf dem kürzesten Weg in Ihr neues Revier abzureisen.
Der Adjunkt. Hierbleiben? Was sollt' ich hier?
Der Arzt. Vielleicht, daß doch von Katharina irgend eine Nachricht eintrifft, oder daß sie selbst . . .
Der Adjunkt. Und wenn sie wieder käme . . . ich glaub' es ja nicht . . . aber wenn sie wirklich wiederkäme . . . heute, morgen, irgendwann – was könnte das mir bedeuten? Menschen, die man einmal verloren hat, mit oder ohne Schuld, kehren doch nur als Gespenster wieder; wenn auch ihre Wangen von Leben glühn.
Der Arzt. Das mag wahr sein.
Der Adjunkt. Nein, lieber Freund, mich hält hier nichts zurück. Sie können mir's glauben. Nichts hält mich hier. Es treibt mich eher fort. Auch wenn es nicht mein Amt wäre, das mich anderswohin riefe, diesen Ort verließe ich auf jeden Fall. Ich will es Ihnen gestehen, kaum hielt es mich noch Ihre Ankunft abzuwarten. Als Sie heute morgens das Forsthaus betraten, das ich nun nie mehr wiedersehen werde, war ich sehr froh. Wie dank' ich Ihnen, daß Sie Ihr Wort gehalten haben, daß Sie mit mir über die Berge wandern wollen in meine neue Heimat. Wie lange währt Ihr Urlaub?
Der Arzt. Nicht länger als unsere Wanderung dauern wird. Aber auch ich kehre nicht wieder in die Stadt zurück, wenigstens in der nächsten Zeit. Und sobald ich Sie verlassen habe, setze ich meine Reise an die Grenze fort. Ich habe Dienste in der Armee genommen.
Der Adjunkt. Wie?
Der Arzt. Ja, ich rücke ein, als Arzt selbstverständlich. Aber auch in dieser Eigenschaft denk' ich, kann man allerlei erleben. Ja, sehen Sie, auf meine alten Tage überfällt mich eine ganz seltsame Sehnsucht nach Abenteuern.
Der Adjunkt. Das wär' es –?
Der Arzt. Und solch eine Gelegenheit kommt nicht so bald wieder. Glauben Sie nicht, daß es für mich die höchste Zeit ist, jung zu werden? Ich bin es nie gewesen. Man soll doch das auch einmal versuchen, eh' es zu spät ist. Glauben Sie nicht?
Der Adjunkt sieht ihn lange an. Sie haben Marie geliebt?
Der Arzt. Geliebt? Wir haben immer nur die paar Worte. Zugedacht von jener höhern Macht, die wir vielleicht auch nicht gerade mit Namen nennen müssen, war sie doch wohl Ihnen.
Der Adjunkt. Das hab' ich auch einmal geglaubt. Nun aber ist sie mir entrückter als irgend ein andres Wesen in der Welt. Fremder als Menschen, die ich nie gekannt habe, als Menschen, die ich niemals kennen werde. Vergeblich horch' ich in meine eigne Seele, einmal noch den Wohllaut ihrer Stimme zu vernehmen, wie er früher mir so milde entgegenklang. Vergeblich müh' ich mich, ihre Gestalt so wiederzusehn, wie sie einst im Frieden dieser Landschaft mir entgegentrat, Ernst und Reinheit auf der Stirn, Helle und Sicherheit in den Augen. Wenn ich jetzt ihrer denke, erscheint mir ihr Antlitz von der Qual wilder Wünsche jammervoll verzerrt, und ihre Stimme gellt mir in der Erinnerung wie die einer Wahnsinnigen im Ohr.
Der Arzt, der Adjunkt. Die Tante kommt auf dem Weg längs des Zaunes.
Die Tante noch draußen. Wer ist's denn? Sie, Herr Doktor, Sie? Herein, sehr erregt. Von der Kath'rin! . . . Bringen Sie mir eine Nachricht von der Kath'rin?
Der Arzt. Von Katharina habe ich leider nichts in Erfahrung gebracht, Frau Richter.
Die Tante. Nichts! Nichts!! Sie wollen mir's nur nicht sagen. Sie wissen was! . . . Herr Doktor, reden Sie . . . Sie können mir alles sagen . . .
Der Arzt. Ich versichere Sie, Frau Richter daß ich nicht mehr weiß als Sie.
Die Tante. So . . . So . . . Ja warum sind Sie denn hergekommen?
Der Arzt. Erinnern Sie sich denn nicht, liebe Frau Richter? Ich hab' Ihnen ja schon in der Stadt gesagt, daß ich den Herrn Adjunkten hier abholen und bei dieser Gelegenheit Sie und Fräulein Marie besuchen würde.
Kinder auf der Wiese, die nach einiger Zeit wieder verschwinden.
Die Tante sich erinnernd. Ja, ja . . . sein Sie mir nicht bös', Herr Doktor. Freilich, freilich . . . Sie haben's mir ja versprochen. Das ist ja sehr schön von Ihnen, daß Sie Ihr Wort halten. Die Marie wird sich sehr freuen . . . Sie wird wohl bald da sein. Sie ist spazieren gegangen. Wollen Sie sich nicht niedersetzen, Herr Doktor? Und auch Sie, Herr Adjunkt? Setzt sich.
Der Arzt setzt sich. Wie schön Ihr Haus hier im Grünen liegt, Frau Richter. So abgeschieden und frei.
Die Tante. Im Markt drin könnt ich nicht wohnen, es ist mir zu laut. Immer gibt's was, an Sonntagen gar, wenn sie aus den Dörfern hereinkommen zu uns. Jetzt, wie ich von der Kirche über den Platz gegangen bin, sind die Leute wieder zusammen gestanden und haben Neuigkeiten vom Krieg erzählt.
Der Arzt. So? Haben Sie etwas näheres gehört, Frau Richter?
Die Tante. Bei Haindorf hat's was gegeben; und viele hundert oder gar tausend sollen gefallen sein. Die Wahrheit zu sagen, ich hab' nicht recht zugehört. Bin auch nicht lang genug dort stehen geblieben.
Der Adjunkt ist stehn geblieben. Da will ich doch noch, eh' wir fortgehn, mich selbst erkundigen. Wenn Sie erlauben, Frau Richter, komm' ich hierher zurück, um den Doktor abzuholen und mich von Ihnen zu verabschieden.
Die Tante ihn ansehend. Also fort, Herr Adjunkt? Auf immer?
Der Adjunkt. Es wird wohl so werden.
Die Tante. Wie lang mag's denn nun her sein, daß Sie in unsere Gegend gekommen sind, Herr Adjunkt?
Der Adjunkt. Im Herbst . . . wären es dreizehn Jahre geworden.
Die Tante. Dreizehn Jahre – ja – wird schon stimmen. Dreizehn Jahre! Die Katharina war ein ganz kleines Kind, wie Sie ins Forsthaus gezogen sind . . . die Brigitte und die Anna haben noch gelebt und waren frisch und gesund beide . . . Dreizehn Jahre! Und jetzt sind sie alle fort. Drei Mädeln – eine nach der andern. Also ich wünsch' Ihnen glückliche Reise, Herr Adjunkt, und ein glückliches Leben, wenn's möglich ist. Es war wohl Gottes Wille, daß alles so gekommen ist mit der Katharina. Aber verstehn tu ich's nicht. Nein, wahrhaftig . . . Mein Hirn zermarter' ich mir, aber ich kann's nicht verstehn! . . . Daß sie fort ist . . . ach Gott, das begreif ich ja . . . Aber warum denn nicht einmal von der Mutter Abschied nehmen . . . warum nicht? Sie hätt' ja von mir aus hin dürfen, wohin sie will – nur wissen, wissen hätt' ich was von ihr mögen . . . Alles, alles könnt' ich ihr verzeihn . . . sicherlich alles! Nur eins nicht: wenn sie draußen wo sterben müßt', ohne daß ich sie noch einmal gesehen habe.
Pause.
Der Adjunkt zum Arzt. Sehen Sie den Weg, der jenseits der Wiese den Hügel hinabsteigt? Das ist der unsre. Auf Wiedersehn. Ab.
Der Arzt, die Tante.
Die Tante, die dem Adjunkten nachgesehen hat. Aus unserm Markt stehen auch sieben oder acht junge Burschen im Feld. Was geht's mich an. Wenn man seine eigenen Schmerzen hat, was kümmern einen dann die von den andern!? Hätt' ich die eine nur da, Herr Doktor, nur für eine Stunde die eine, für ihre letzte Stunde die Eine – tausend, hunderttausend, das Land und der Kaiser, alles könnt' meinethalben zugrunde gehn. Sie schaun mich an, Herr Doktor . . . Ja, das Unglück macht schlecht.
Der Arzt. Schlecht? Auf Sie trifft das doch nicht zu, Frau Richter. Sie tragen ja mit Ergebung, was über Sie verhängt ist . . . gehn wohl auch zur Kirche, wie früher.
Die Tante. In die Kirche geh' ich wohl, und manchmal sitz' ich stundenlang dort . . . ja, ja . . . aber glauben Sie, daß ich beten kann – oder will? O nein. Da red' ich ganz andre Worte, als im Betbüchl stehn . . . Ganz andre . . . So still für mich hin red' ich gar mancherlei . . . ganz still. Und wenn er's auch hört . . . der da droben. Er soll's hören, er soll's – ich fürcht' mich nicht.
Der Arzt ergriffen. Ich glaube sogar, – er würde Ihnen verzeihen . . . Und doch, Frau Richter, erscheint's Ihnen nicht in all dem Unglück beinahe wie eine Fügung . . . als eine höhere Fügung, wie man zu sagen pflegt, daß Sie nicht ganz allein geblieben sind? Daß gerade in diesen Tagen ein junges Wesen bei Ihnen im Hause weilt . . . und Ihnen Gesellschaft leistet?
Die Tante. Meinen Sie die Marie? Von der hab ich meiner Seel' nicht viel. In aller Früh', wenn ich aufsteh', ist sie schon fort, geht im Wald herum oder weiß Gott wo. Und reden tut sie beinah kein Wort den ganzen Tag. Und wenn sie dasitzt bei mir und hinausschaut über die Felder und Wiesen, und redt kein Wort, da könnt' einem schier Angst werden. Ich versteh's ja gar nicht, daß sie so ist. Gott verzeih' mir die Sund' – aber es war doch eher eine Erlösung für sie, daß . . . der Vater gestorben ist.
Der Arzt. Das darf man wohl sagen.
Die Tante. Ich denk' mir sogar manchmal, es muß einen andern Grund haben, daß sie so sonderbar ist.
Der Arzt. Was vermuten Sie, Frau Richter?
Die Tante. Vielleicht ist es was mit dem Adjunkten. Die ganze Zeit hat er sich nicht hier blicken lassen. Heut das erste Mal. Vielleicht hat's zwischen ihnen was gegeben, wie das so zwischen jungen Leuten vorkommt.
Der Arzt nickt.
Die Tante. Wissen Sie, Herr Doktor, was ich mir oft denk' . . . ob das Jungsein nicht überhaupt eine Art von Krankheit ist.
Der Arzt. Da hätt' man jedenfalls nicht viel Anlaß, sich aufs Gesundwerden zu freun. Pause.
Die Tante. Da kommt sie.
Der Arzt steht auf. Ja.
Die Tante. Ich werde Sie mit ihr allein lassen, Herr Doktor. Es ist gescheiter, glauben Sie nicht? Vielleicht spricht sie sich zu Ihnen aus.
Der Arzt. Das wäre möglich . . .
Marie war seit einigen Sekunden sichtbar, kommt langsam vom Walde her, ohne Hut, sehr blaß, mit Feldblumen in der Hand.
Der Arzt und die Tante erwarten sie schweigend.
Die Tante ihr entgegen zur Tür. Schau', Marie, wer da ist. Der Doktor. Er wartet schon eine ganze Weile auf dich. Sie geht über den Feldweg ab.
Marie tritt in den Garten.
Der Arzt, Marie.
Sie sehen einander lange an.
Der Arzt. Guten Tag, Marie. Er reicht ihr die Hand hin. Pause.
Marie ruhig und einfach. Sind Sie gekommen, sich Ihren Dank zu holen?
Der Arzt. Meinen Dank zu holen? Ich versteh' Sie nicht, Marie.
Marie. Den Dank für Ihr Geschenk.
Der Arzt. Für mein Geschenk?
Marie. Ja. Meine Freiheit, mein Dasein in dieser schönen Welt. Es ist ja doch nichts andres als Ihr Geschenk. Aber ich dank' Ihnen nicht. Ich kann Ihnen nicht danken. Verzeihen Sie . . . aber ich weiß mit Ihrem Geschenk nichts anzufangen.
Der Arzt. Haben Sie mich wirklich so seltsam mißverstanden? Das kann ich nicht glauben, Marie. Ich wollt' Ihnen doch nichts schenken, was Sie wegwerfen konnten, sobald es Ihnen beliebte. Nur Unsinniges wollt' ich verhüten –
Marie. Unsinniges?
Der Arzt. Ja. Unsinnig wäre es gewesen, wenn Sie sich vor Gericht hätten verantworten, Rechenschaft ablegen müssen, dort, wo für tausendfältig verschiedene Tat doch immer nur ein Wort gilt. Unsinnig, wenn Buße über Sie verhängt worden wäre, die niemandem nützt, nicht Toten und nicht Lebendigen. Davor wollt' ich Sie bewahren. Blieb das Verlangen nach Sühne in Ihnen wach, so konnte in ruhigerer Stunde Gelegenheit zu klügerer und edlerer sich bieten. Darum hab' ich an jenem Morgen in Ihrem Hause gewartet, an der Leiche Ihres Vaters, bis Sie gekommen sind – darum Sie davor zurückgehalten, sich selbst dem Gericht zu stellen. Darum hab' ich den Leuten erzählt, daß ich mit eigenen Augen den alten Mann sterben sah; die andern hätten sich ja doch nicht darum gekümmert, daß der, dem Sie den Tod gaben, ein Verlorener war und Erlösung fand, wenn auch gegen seinen Willen.
Marie. Und hätten die andern nicht recht gehabt? Sie wissen, Herr Doktor, daß ich's nicht tat, um ihn zu erlösen. Nur für mich, für mich allein hab' ich's getan. Auch wenn er zu retten gewesen wäre, in jener Nacht hätt' ich's getan.
Der Arzt. Sind Sie dessen ganz sicher –? –
Marie. Ja, ich hätt's getan. Bitter. Denn mir war, als hörte ich draußen vor der Türe das Leben selbst, das ersehnte, das herrliche nach mir rufen. Und als wartete es nur in dieser einen Nacht und niemals wieder.
Der Arzt. Wenn Sie's gefunden haben, das Leben, das Sie rief, dann wird es wohl auch seinen Preis wert gewesen sein.
Marie. Ob ich's gefunden . . .? Ich weiß es nicht mehr! Doch hab' ich in dieser einen Nacht erfahren, was andre Frauen nicht in tausend Tagen und Nächten. Ich habe gesehn, wie Frauen betrügen, locken, ehrlich sind und sterben, habe gesehn, wie Männer zittern, spielen, höhnen und töten. Und was ich sah, war nur ein armes Vorspiel zu meinem Schicksal. Dann erst erlebte ich eigene Seligkeit, wie ich sie nie erträumt, eigne Verzweiflung, wie kein Mensch sie fassen kann. Was hab' ich auf Erden noch zu tun –? Warum ließen Sie mich meinen Weg nicht zu Ende gehn, damals, als ich bereit war?
Der Arzt. Damals, als Sie bereit waren! Sie sagen es selbst. Heute sind Sie's nicht mehr. Heut pflücken Sie Blumen am Waldesrand und geben Ihre Stirn den Sommerlüften hin . . .
Marie. Damals aber war ich bereit . . . Gemordet hatt' ich für einen – und er wollte nicht mit mir leben – nicht einmal sterben mit mir! Und wie fleht' ich ihn darum an! – Aus meinen Armen ist er wieder fort – nicht ins Dasein hinaus – nicht in einen edeln Tod – – nein, er ist gegangen, sich umbringen, kläglich, für eine andre, die ihm so wenig bedeutet hat als ich. – Und in den Auen, wo er mich verlassen hatte, bin ich umhergeirrt und habe den Mut nicht gefunden, hinabzutauchen, wo die ewige Stille ist. Aber dann, als die Sonne aufstieg, hat es mich nach Hause gejagt – denn war ich auch zu feig, selbst es zu enden – so war ich doch bereit, auf mich zu nehmen, was mir von den Menschen bestimmt war, gegen deren Gesetze ich mich versündigt. Und da fand ich Sie an meines Vaters Leichnam – die Zeichen meiner Tat waren verwischt, – und was mir nichts mehr nützen konnte, was freiwillig hinwegzuwerfen ich zu elend war – das Recht, frei unter Lebendigen weiterzuwandeln, aus Ihren Händen, eine Ohnmächtige, nahm ich's entgegen! . . .
Der Arzt. Und heute morgen pflückten Sie Blumen am Waldesrand . . .
Der Arzt, Marie. Der Adjunkt rasch durch die Gartentür.
Der Adjunkt bleibt, wie er Marie erblickt, stehn, neigt sich leicht.
Marie neigt sich unmerklich und setzt sich dann.
Der Arzt. Sie kommen zum Aufbruch mahnen?
Der Adjunkt. Es wird bald Zeit sein.
Der Arzt. Also was haben Sie im Markt gehört?
Der Adjunkt. Es hat seine Richtigkeit: Vor drei Tagen hat bei Haindorf eine große Schlacht stattgefunden. Viele hunderte der Unsern sind gefallen und noch mehr sind gefangen . . . die blauen Kürassiere sind auch dabei gewesen. Von ihnen ist keiner mit dem Leben davongekommen.
Der Arzt. Sie haben ihren Schwur gehalten!
Der Adjunkt. Ja. Nur daß all das Heldentum vergeblich war. Die Schlacht ist verloren.
Der Arzt. Vielleicht ist es nicht gerade das, worauf es ankommt. Es ist doch ein herrlicher Geist, der sich in solchen Menschen wirksam zeigt.
Der Adjunkt. Aber all die Helden, die vor dem Feind gefallen sind, erscheinen mir nicht so bewundernswert als ein junger Offizier, der als einziger, man weiß nicht durch welchen Zufall, dem Gemetzel entging und sich abends nach der Schlacht, in einer Scheune glaub' ich, erschossen hat. Man nannte mir seinen Namen: Albrecht von Holzwarth.
Der Arzt. Er wird vielleicht der einzige von allen sein, dessen Name bleiben wird, weil er nicht nur ein Held, sondern auch eine Art von Narr gewesen ist. Solche Launen hat der Ruhm. Und dabei wäre es wohl möglich, daß auch diese Geschichte nichts ist als eine Legende von der wunderlichen Art, wie sie in solchen Zeiten sich zu bilden pflegen.
Der Adjunkt. Warum sollte das eine Legende sein?
Der Arzt. Wie manches andre vielleicht.
Der Adjunkt. Woran denken Sie?
Der Arzt. Sie haben doch gewiß auch davon gehört, daß in der Nacht vor dem Abmarsch des Regiments ein junger Offizier die Frau des Obersten und dann sich selbst erschoß.
Der Adjunkt. Davon hab' ich gehört.
Der Arzt. Nun wird diese Geschichte schon in einer seltsam romanhaften Weise gedeutet und herumgetragen. Dem Obersten, der sein eheliches Unglück längst geahnt – so sagen die Leute – wäre es keineswegs darauf angekommen, die Fahne des Regiments zu entsühnen, sondern aus Verzweiflung über die Untreue seiner Frau hätte er den Schwur getan, sich und die Seinen in den Tod zu führen.
Der Adjunkt. Und die alte Schuld der blauen Kürassiere . . . auch das wäre nur eine Fabel?
Der Arzt. Damit hat's jedenfalls eine besondere Bewandtnis. Sicher ist, daß von dieser Schuld in keiner Geschichte des damaligen Krieges ein Wort zu lesen steht.
Der Adjunkt. Seltsam.
Marie. Und doch bestand diese Schuld!
Der Arzt. Wie –?
Der Adjunkt. Woher wissen Sie, Marie?
Marie. Von meinem Vater selbst.
Der Adjunkt. Von Ihrem Vater –?
Der Arzt. Wann hat er's Ihnen erzählt?
Marie. In der Stunde . . .
Der Arzt. In der Stunde . . .?
Marie. Eh' . . . er . . . starb.
Der Adjunkt, der Arzt, Marie. Katharina über die Wiese her.
Der Adjunkt sieht sie selbst. Katharina!
Marie. Katharina!
Katharina im lichten Kleid, ohne Hut mit aufgelöstem Haar, am Zaun, lächelnd. Ist die Mutter daheim?
Der Adjunkt. Katharina –
Katharina. Nun ja, ich bin's. Wundert ihr euch? – Ist die Mutter daheim?
Der Adjunkt. Katharina!
Katharina sieht ihn an; wie sich erinnernd. Eduard – lächelnd.
Marie. Komm doch herein! Wie siehst du denn aus?
Katharina herein. Ich bin nur für ein Stündchen hier. – Wie, der Doktor auch?
Marie und der Arzt bei ihr.
Katharina. Ihr dürft nicht glauben, daß ich bleibe. Nur ein Stündchen will ich ausruhn, dann geht es weiter. Sie sinkt beinah.
Marie und der Arzt stützen sie, führen sie zur Bank am Hause.
Der Adjunkt. Katharina, was ist Ihnen?
Marie. Was ist dir, Katharina?
Katharina. O, mir geht es wohl. So wohl ist mir nie gewesen. – Ist die Mutter daheim? Ich komm' nur auf ein Stündchen, ihr sagen, sie soll sich um mich nicht sorgen. Ich führe ein vergnügtes, ein prächtiges Leben. Mein Wagen steht außer dem Dorf; ich wollte kein Aufsehn machen, drum ging ich lieber den Feldweg . . . Die Leute haben gleich was zu reden, und das war' der Mutter nicht recht. Der Wagen wartet draußen auf der Straße am Muttergottesbild. Er wartet eine Stunde – Zeit genug, der Mutter, der Base und den guten Freunden von einst guten Tag zu wünschen . . .
Der Adjunkt zum Arzt. Was ist ihr?
Der Arzt. Suchen Sie die Mutter . . . und bringen sie so rasch als möglich her.
Der Adjunkt ab.
Katharina, Marie, der Arzt.
Marie. Woher kommst du denn, Katharina?
Katharina. Das darf ich nicht sagen . . . Und wenn ihr den Kutscher fragen wollt, der wird euch auch nichts verraten . . . Der ist stumm und hat einen roten Hut und rote Gamaschen und fährt wie der Teufel . . . Sind auch sechs Schimmel vorgespannt. Zieht Marie zu sich. – Weißt du noch, Marie, was ich dir von dem Garten erzählt hab' . . . dem Garten mit den verschlungenen Wegen? . . . Weißt du noch . . . damals, als mein Haar von Blüten duftete . . . Wann kommt denn die Mutter? . . . Ich hab' nicht lange Zeit . . . Das Leben ist so kurz.
Marie. Du bist ja ganz bestaubt . . . Deine Schuhe sind zerrissen, Katharina.
Katharina. Wie schön die Sonne bei euch scheint! Und wie stille die Wiesen ruhn! – Was macht denn der Wirt vom goldenen Löwen, der immer so lustig war? . . . Und die Walpurga, die dumme? . . . O, wenn ich mehr Zeit hätte, ging ich hin und besuchte den Wirt, die Walpurga . . . und auch den Pfarrer besucht' ich . . . Und in den Wald ging ich auch. Und auf die Wiese . . . Ja, auf die Wiese . . . weißt du, Marie, wo ich einmal geweint hab' . . . weil dir jemand seinen Mantel unterbreitete . . . Aber dazu ist heute nicht Zeit, das lass' ich auf ein andermal! – – Wenn die Mutter nur bald da wär'! Wißt ihr, sie soll mir nur einen Kuß auf die Stirn geben, dann will ich wieder fort . . . Du bist schön worden, Marie! Aber warum trägst du denn schwarz?
Marie. Der Vater ist tot.
Katharina. Sieh, ich geh' immer ganz weiß – und manchmal hab' ich rote Schleifen im Haar, manchmal blaue. Wenn man jung ist, soll man sich nicht schwarz kleiden, auch wenn Vater, Mutter und Bräutigam sterben. Legt man sich nicht selber ins Grab, so ist doch alle Trauer Lüge . . . Ach, Marie, warum kannst du nicht fröhlich sein wie ich? . . . Gib acht, gib acht, daß es nicht zu spät wird. Sieh, ich könnt' es mir nicht verzeihn, wenn ich hier länger bliebe als eine Stunde. Zieht Marie zu sich. Es wartet einer auf mich . . . sie dürfen's nicht wissen, Marie! . . . Einer mit dunkelrotem Mund und zornigen Augen und einer leuchtenden Stirn . . . Und ein andrer hat mich im Wagen hergeleitet. Aber dem hab' ich auf der Landstraße gesagt: »Fort, ich hab' dich satt! Was willst du? Sieben Nächte bist du bei mir gewesen, ist das nicht genug?« Und da küßte er mir die Hand: »Danke, schönstes Fräulein,« und sprang aus dem Wagen und lief übers Feld. – Aber der mit den zornigen Augen reitet mir nach.
Der Arzt, Marie, Katharina, die Tante und der Adjunkt.
Die Tante. Katharina? Katharina! Mein Kind! . . . Jetzt bleibst du aber da!
Katharina. Mutter! Will aufstehn, kann aber nicht. Eine Stunde . . . du sollst mich nur einmal auf die Stirne küssen, dann muß ich wieder fort.
Die Tante. Um Himmels willen, wie siehst du denn aus! Was ist dir denn? . . . Im weißen Kleide, wie vom Ball, kommst du gelaufen . . . Und wie deine Wangen brennen! . . . Katharina! Katharina! Komm doch, komm!
Katharina. Was wollt ihr denn? Ich muß ja gleich wieder fort.
Der Arzt. Sie sollen sich nur mit der Mutter für ein Weilchen zu Tische setzen, etwas essen und trinken. Unbewirtet wird Ihre Mutter Sie doch nicht wieder ziehn lassen.
Katharina sieht sich um. Wieder zu Hause . . . Ja Mutter, Mutter . . . Wie schön die Sonne bei euch scheint . . . Es ist doch schade, daß ich so bald wieder fort muß. Aber das Leben ist kurz. Die Tante und Katharina ab.
Der Adjunkt. Was ist ihr? Was bedeutet das?
Der Arzt. Muß ich's Ihnen sagen, lieber Freund? Es geht zu Ende. Er geht ins Haus.
Marie will ihm folgen.
Der Adjunkt hält sie an der Tür zurück.
Der Adjunkt, Marie.
Der Adjunkt. Marie, eh' wir zusammen an das Bett dieser Sterbenden treten –
Marie. Was . . . wollen Sie?
Der Adjunkt. Lassen Sie mich endlich wissen . . . wer Sie sind.
Marie. Ich hätte Ihnen auch zu anderer Stunde die Antwort nicht geweigert.
Der Adjunkt. So sprechen Sie. Die Wahrheit, Marie! Die Wahrheit!
Marie. Ahnen Sie sie nicht längst, Herr Adjunkt?
Der Adjunkt. Marie . . . Mit steigender Angst. Marie . . . Sie haben Ihren Vater . . .
Marie. Ja. Ich habe meinem Vater einen Schlaftrunk gegeben, der für tausend Nächte reichte.
Der Adjunkt. Marie!
Marie, der Adjunkt. Der Arzt aus dem Hause.
Marie fragend auf den Arzt zu.
Der Arzt hält sie durch eine Handbewegung zurück. Sie schlummert ein wenig.
Marie. Sie werden uns jetzt nicht verlassen, Herr Doktor.
Der Arzt. Nein. Aber Sie, Herr Adjunkt, Sie werden gut tun, nicht länger hier zu bleiben.
Der Adjunkt. Wie?
Der Arzt. Um der Mutter willen, Herr Adjunkt, bitte ich Sie darum. Sie redet harte Worte über Sie. Ihnen gibt sie nun alle Schuld.
Der Adjunkt. Mir – alle Schuld?
Der Arzt. Ja. Alte Frauen sind nun einmal so. Andre Menschen wohl auch.
Der Adjunkt in tiefer Bewegung. Ja, es ist meine Schuld. Meine . . . meine Schuld. Und diese war jung. Und ich hab' sie einmal geliebt. Und das hab' ich aus ihr gemacht.
Der Arzt. Nicht Sie, Herr Adjunkt, haben das aus ihr gemacht. Ist denn je ein Mensch eines andern Schicksal? Er ist immer nur das Mittel, dessen das Schicksal sich bedient. Katharina war bestimmt, zu werden, was sie ward. Sie waren zur Hand, das ist alles. Aber nun verweilen Sie hier nicht länger, lieber Freund. Wandern Sie mir voraus, ich folge Ihnen bald.
Der Adjunkt. Bald . . .?
Der Arzt. Heute abend noch.
Der Adjunkt versteht. Auf Wiedersehn . . . Heut Abend . . .! – Reicht ihm die Hand. Marie, – leben Sie wohl. Da sie ihn befremdet ansieht. Ihre Stimme klingt mir wieder – wie vor langer Zeit . . . Und Ihre Stirn ist licht, wie sie einstmals war . . . Wie eine, die von sehr weit wieder heimgekehrt ist, erscheinen Sie mir, nun ich von Ihren eigenen Lippen weiß, was Sie getan.
Marie. Doch wenn Sie alles wüßten . . .
Der Adjunkt. Was kann nach solcher Tat andres bedeuten, das jene Nacht noch in sich bergen mochte. Auch bin ich nicht bestellt, über Sie zu richten. Leben Sie wohl, Marie, in Frieden scheid' ich von Ihnen. Er geht.
Der Arzt, Marie.
Marie. In Frieden . . . er von mir . . .?!
Der Arzt. Sie dürfen's glauben, Marie! Vor einer, deren Seele in wilden Wünschen dahinträumte, ist er einst geflohn, nun ist alles durchlebt – und die Schauer verwehn.
Marie. Verwehn . . .? Andern mögen sie verwehn. Mir nicht. Wie mein eigenes Gespenst schleich' ich durch die Welt und mir graut vor mir selbst. Wie darf ich denn . . . wie darf ich unter andern Menschen herumgehen, einsaugen den Duft des Waldes, auf blühender Wiese liegen und in den Himmel schaun? . . . Wie darf ich denn? . . . Leben und nicht darandenken, woher ich komme, vergessen, ja vergessen, das Ungeheure, als wär' es nie gewesen . . . auf Minuten nur, aber vergessen doch, wie darf ich?! . . Und steigt es dann wieder empor – wie Schatten zuerst – wie wankende Bilder toller Träume, – gewinnt allmählich Umriß und Gestalt – starrt mich an mit lebendigen Augen – ist wieder da mit des Gelebten, des unwider-bringlich Gelebten klammernder Macht, da schreit's mir in die Seele: Wenn du's vermagst, empor zum Himmel zu schaun, gleich andern, ohne daß er sich dir verfinstert – wenn du den Duft der Wiesen und Wälder eintrinkst und er fault dir nicht auf den Lippen – wenn du dich in den Frieden von Himmel und Erde stiehlst, die dich nicht mehr haben wollen – wenn du es wagst, weiter zu leben, gleich Menschen, die ohne Schuld sich wissen, – was war denn dies alles?! – Was bist du für ein Wesen, das aus einem solchen Schicksal wieder emportaucht wie aus einem wilden Traum? – Und wacht – und lebt? und wie vor sich selbst staunend – sich sehnt zu leben –?
Der Arzt. Sie leben, Marie . . . und es war . . . Auch seit jener Nacht und seit jenem Morgen fließen die Tage und Nächte weiter für Sie hin. Auch daß Sie über Feld und Wiesen spazieren, daß Sie Blumen pflücken, daß einer versöhnt von Ihnen Abschied nahm, daß hinter diesem Fenster eine Freundin Ihnen für ewig entschwindet, daß Sie hier mit mir reden unter dem leuchtenden Mittagshimmel, ist Leben. Nicht minder als es jene Nacht gewesen ist, da es Sie aus verstörter Jugend nach dunkeln Abenteuern lockte, die Ihnen heute noch als Ihres Daseins letzter Sinn erscheinen. Und wer weiß, ob Ihnen nicht später – viel später einmal – aus einem Tag wie der heutige der Ruf des Lebens viel reiner und tiefer in der Seele klingen wird als an jenem andern, an dem Sie Dinge erlebt haben, die so furchtbare und glühende Namen tragen wie Mord und Liebe.
Marie sieht ihn lange an. Ihre Züge, ihre Haltung beginnen siel zu lösen.
Der Arzt, Marie, die Tante.
Die Tante aus dem Haus. Mir ist so angst! . . . Ich bitte Sie, bester Herr Doktor! Sie ist vom Divan aufgestanden, läßt sich nicht halten, weint und lacht. Zu Marie. Ich will nur rasch zum Pfarrer laufen, eh' es zu spät ist! Rasch ab.
Der Arzt, Marie. Katharina aus der Tür.
Katharina. Ins Freie! . . . Drin ist's so dumpf! . . . Weiter! Weiter . . .
Marie. Wohin denn, Katharina? Wohin denn?
Katharina. Dorthin! . . . Ich weiß eine Wiese . . . Laßt mich, laßt mich doch! . . . Sieh, dort, Marie! Er geht mir ja voraus.
Der Adjunkt erscheint sehr fern in der Waldlichtung auf dem Hügel und verschwindet bald wieder.
Katharina. Ja, was ist denn? . . . Wo ist denn die Sonne hin? . . . Sie sinkt neben dem Gitter nieder.
Der Arzt beugt sich zu ihr hinab, zu Marie. Wo ist die Mutter?
Marie. Sie ist um den Pfarrer gegangen.
Der Arzt. So. – Nun, immerhin. Er wird zu spät kommen.
Marie sehr bewegt, kniet neben ihr. Katharina! . . .
Der Arzt. Stille . . . Marie . . . In schönen Träumen geht sie hinüber.
Marie. Und ich . . . bin da –! – Warum? Wofür? . . .
Der Arzt nach kurzem Besinnen. Heute morgens erst sah ich einen Zug weltlicher Schwestern, der eben Rast hielt auf dem Weg an die Grenze, zu unserm Heer. Mühen und Gefahren mancher Art stehen ihnen bevor. Und nicht alle werden wiederkehren.
Marie erhebt sich mit der Geste des Entschlusses, dann reicht sie ihm die Hand. Sie sind gut.
Der Arzt. Gut? . . . Ich? – Ja! So wie Sie eine Verbrecherin sind. Und wie diese Entschwundene eine Sünderin gewesen . . . Worte! – – Ihnen scheint die Sonne noch, und mir – und denen . . . Weist auf die Kinder, die eben über die Wiese laufen. Der da nicht mehr. Ich weiß nichts andres auf Erden, das gewiß wäre.
Kinder lachen, laufen und verschwinden im Wald.
Vorhang,