Arthur Schnitzler
Der Ruf des Lebens
Arthur Schnitzler

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Erster Akt

Einfaches, beinah ärmliches Zimmer im zweiten Stock eines alten Hauses der inneren Stadt. Blau gemalte Wände, zum Teil schadhaft. Rechts vorn Eingangstüre, eine zweite Türe links hinten. Im Hintergrund zwei Fenster mit ausgebauchtem Glas. Am Fenster rechts ein Sessel. Zwischen den Fenstern Kommode, darüber ein Spiegel in braunem Holzrahmen. Auf der Kommode stehen einige einfach gerahmte Familienbilder. Hinten links in der Ecke Ofen. Links seitlich großer Schrank. Weiter vorne an dir Wand ein länglicher Tisch, darauf einiges Hausgeräte: Kaffeemaschine, Flasche, Lampe usw. Vorne links ein Krankensessel, daneben ein ganz kleines Tischchen. Auf dem Tischchen zwei Medizinflaschen, kleine Zinntasse mit einem Teller, Löffel usw. Vorne rechts alter Tisch mit grünlicher verschlissener Decke. Alter Divan mit schwarzem Leder; ein Fauteuil gleicher Garnitur, zwei Holzsessel. Auf dem Tisch eine Tasse mit Photographieen und zwei Bücher mit schadhaftem Einband. An der Wand rechts neben dem Eingang ein Schlafdivan, darüber eine kleine Etagere mit wenigen Büchern. Weiter hinten rechts ein altes Pianino. An den Wänden hängen einige Familienporträts in alten Rahmen und zwei alte gebräunte Stahlstiche; diese letzteren vorn über dem Tische links. Auf dem Ofen eine Gipsfigur. Neben der Eingangstüre vorne rechts ein Kleiderständer mit einem Mantel, einem weichen Filzhut und einem Umhängtuch.

Erste Szene

Der Vater, Marie.

Der Vater auf dem Krankensessel halb ausgestreckt, in braunem Schlafrock, die Füße mit einem Plaid bedeckt. Er ist hager, hat einen kurzgeschnittenen Vollbart von grünlich-braungrauer Farbe, wie einstmals gefärbt; die dünnen Kopfhaare über den Scheitel gekämmt, das Gesicht böse, faltig, verwüstet. Er scheint zu schlafen.

Marie sitzt auf einem der Sessel rechts, den sie etwas näher zum Vater hingerückt hat. Sie ist schlank, hat eine hohe Stirn, dunkelblondes glattes Haar, einfaches, ziemlich helles blaues Kleid. Sie liest laut aus einer Zeitung vor. »Und mit einem Mal lodert im Süden unseres Reichs die Kriegsfackel in dunkelrotem Glanze auf. In der Nähe des Dorfes Feldberg, also auf österreichischem Boden, etwa drei Meilen von der Grenze hat das erste Gefecht stattgefunden, über dessen Verlauf verbürgte Nachrichten noch nicht in die Hauptstadt gelangt sind. Dies aber steht fest: daß gestern zum erstenmal wieder seit mehr als dreißig Jahren der Boden unseres Vaterlands das Blut unserer tapferen Soldaten getrunken hat . . .« Sie hält inne.

Der Vater wie aus dem Schlaf. Lies weiter.

Marie blättert. »Gestern haben die Infanterieregimenter Nr. 7 und Nr. 24 die Stadt verlassen, um in Eilmärschen die Grenze zu erreichen. Abends ist das Ulanenregiment Fürst von Bologna abgegangen. Heute rückt das Infanterieregiment Nr. 17 Herzog von Anhalt und das Kürassierregiment Nr. 11, die sogenannten »blauen Kürassiere« . . . Sie hält inne.

Der Vater schläft.

Marie legt die Zeitung auf den Tisch, steht auf, geht zum Fenster rechts, sieht durch die Scheiben hinaus.

Man hört das Vorbeimarschieren von Truppen und lautes Rufen, das manchmal beträchtlich anschwillt.

Der Vater erwacht. Marie! Wo bist du? Wendet mühselig den Kopf. Marie!

Marie auf dem Weg zurück. Hier bin ich.

Der Vater. Wo bist du?

Marie. Am Fenster stand ich.

Der Vater lauscht. Was ist das?

Marie. Soldaten ziehen vorbei.

Der Vater. Wie lang bist du am Fenster gestanden?

Marie. Kaum zwanzig Sekunden. Ich las dir eben erst aus dem Zeitungsblatt vor.

Der Vater. Zwanzig Sekunden? . . . Mir war doch, ich hätte geschlafen.

Marie. Nicht länger als eine halbe Minute.

Der Vater. Mir war, als hätte ich eine Stunde geschlafen. Es wird wohl auch eine Stunde gewesen sein . . .

Marie. Nein.

Der Vater. Eine halbe . . .

Marie. Wie ich sagte: Keine halbe Minute lang.

Der Vater. Keine halbe Minute . . . und so tief in die Nacht gesunken. – Wie spät ist's?

Marie. Es ist bald sieben Uhr.

Der Vater. Daß der Doktor noch nicht hier war . . .

Marie. Er muß bald da sein.

Der Vater. Was spracht ihr miteinander gestern abend? . . . Nun? . . . Was sagte er über meinen Zustand? . . . Was sagte er überhaupt? Rede!

Marie. Der Frühling wird dir wohltun, meint der Doktor.

Der Vater. Und sonst sagte er nichts?

Marie. Sonst nichts.

Der Vater. Es ist nicht wahr! Du standest ja gestern ich weiß nicht wie lange mit ihm im Stiegenhaus – hast ihn wohl mancherlei gefragt! . . . Nun, wie lange wird es noch währen? Wie lange noch wirst du dein junges Dasein vertrauern müssen an deines alten Vaters Krankenbett?

Marie. Du sollst bald aufs Land, meint der Doktor.

Der Vater. Aufs Land . . . wahrhaftig! . . . So?

Marie. Hat er dir's gestern nicht selbst geraten?  . . . Aber nicht wieder so spät wie voriges Jahr, meint der Doktor, nicht im August erst, sondern gleich, – die schönen Tage nützen jetzt im Mai.

Der Vater. Aufs Land – in die Grünau – zur Tante Toni wieder?

Marie. Ich denke wohl.

Der Vater. Weht der Wind daher? . . . Hoho! Zur Tante Toni! Und wieder herumgelaufen im Wald und auf der Wiese mit der Base Katharina und dem Herrn Adjunkten, der uns ja auch zu Weihnachten die Ehre hat erwiesen – oder gar mit dem Adjunkten allein . . .

Marie sehr ruhig. Ich dachte nicht an ihn.

Lärm draußen wie früher.

Der Vater. Dachtest nicht an ihn? . . . Schreibt er dir nicht alle Tage?

Marie. Kaum jede Woche einmal. Und ich antworte ihm selten.

Der Vater. Verlobt seid ihr!

Marie. Nein. Du weißt es doch. – Nein.

Der Vater. Nun, was braucht's Verlöbnis! Eines Tages ist man auf und davon, verlobt oder nicht, vermählt oder nicht, und läßt den Vater hier verderben, verkommen, verdursten – ersticken, wie mir's in der Nacht beinahe passiert wäre, in der Febernacht, als sie dich auf den Ball holten, Tante Toni und Base Katharina, und du dort herumflogst mit jungen Offizieren . . .

Marie. Was willst du, Vater? Ein einziges Mal in dem ganzen langen Winter. Und du hattest mir's erlaubt.

Der Vater. Einmal – o einmal nur! In dem ganzen langen Winter nur einmal! Wie alt bist du denn . . . wie alt?

Marie. Sechsundzwanzig.

Der Vater. Sechsundzwanzig. Zeit genug . . . Zeit genug. Sechsundzwanzig und jung und schön und ein Frauenzimmer mit weißer Haut und mit runden Armen! . . . Nichts für dich verloren, nur Geduld! Und wenn ich neunzig werde, dann bist du siebenunddreißig – immer noch Zeit genug . . . Zeit genug zu allerlei Kurzweil, nach der dich's gelüstet. Nein, ich bedaure dich nicht!

Marie. Hab' ich verlangt, daß du mich bedauerst?

Der Vater. Verlangt! Müssen es Worte sein? Du bist wie deine Mutter, ganz wie deine Mutter!

Marie. Vier Jahre lang ist sie tot. Laß sie in Frieden ruhn. Nie klagte sie – laß sie ruhn.

Der Vater. Nie klagte sie . . . mit Worten nicht . . . mir ins Gesicht nicht . . . ganz wie du. O ihr, ihr . . . Doch wenn ich nach Hause kam und fand euch dort zusammen auf dem Divan sitzen, aneinander gedrängt wie böse Katzen – oder ich wartete eurer am Fenster, abends, bis ihr von eurem Spaziergang auf den Basteien zurückkamt . . . da habt ihr auch nicht geklagt?  . . . Nicht über euer verpfuschtes Leben gesprochen? . . . Nicht über mich, dem ihr die Schuld daran gabt? Verschworen wart ihr gegen mich, stumm verschworen – ich weiß es wohl! Nichts war euch recht: Zu armselig die Wohnung, das Essen schmeckte nicht und ich war euch nicht lustig genug. Was, ich hätte wohl Späße treiben sollen, wenn ich müde von meiner Schreiberei nach Hause kam aus dem Amt, wo ich mich geplagt hatte um die lumpigen paar Gulden für euch  . . . für euch, weil die Pension nicht reichte? Mir hätte sie gereicht – mir allein wohl! Und ihr habt mich verflucht! Meinst du, ich weiß es nicht? Meinst du, ich habe deine Mutter nicht gekannt und ich kenne dich nicht? . . . Stundenlang sitzest du stumm neben mir, sprichst nur, wenn ich dich frage, aber dein Blick . . . dein Blick, wenn du dich fortschleichst von mir, zum Fenster hin . . . Denkst du, ich weiß nicht, was sich da in dir rührt, – was für Wünsche, was für Klagen? Meinst du, ich weiß es nicht? . . . Aber wünsche du und klage, wie du willst, – keine Minute mehr lass' ich dich von meiner Seite. Ich will nicht allein sein! Habe Geduld, habe Geduld! Du bist jung. Vielleicht werde ich nicht neunzig, vielleicht nur fünfundachtzig – oder am Ende dauert's gar nur mehr drei, zwei Jahre, dann bist du frei, kannst deinen Adjunkten haben – oder den Doktor – oder beide und noch andere dazu . . . wenn's dir lieber ist, dich ans Fenster stellen und hübschen jungen Leuten winken.

Marie auf. Vater! Vater!

Der Vater. Marie! . . . Marie! In plötzlicher Angst. Nimm's mir nicht übel. Ich bin krank . . . ich bin alt . . . und ich hab' Angst – verstehst du? Angst! . . . Nein, du verstehst es nicht! . . . Wer versteht denn das, so lang er jung ist und sich rühren kann, was das heißt, nutzlose Angst und ohnmächtiger Zorn?  . . . Wasser! Mir sind die Lippen trocken!

Marie entfernt sich.

Der Vater. Wohin gehst du?

Marie. Der Krug mit dem frischen Wasser steht in der Küche.

Der Vater. Laß die Türe offen.

Marie rechts hinaus. Von unten das Geräusch trabender Pferde.

Marie bringt das Wasser, bleibt stehen, lauscht.

Der Vater. Gib . . . gib!

Marie rasch zu ihm, reicht ihm das Wasser, schnell zum Fenster und öffnet es. Entsprechende Verstärkung des Geräusches.

Der Vater. Was tust du? Bist du toll? Ich kann den Tod davon haben!

Marie. Die Luft ist warm; auch sagt der Doktor immer, daß es zu dumpf hier innen ist.

Der Vater. Zu dumpf! Darum reißest du das Fenster auf mit einem Male? Zu dumpf! Meinst du, ich weiß nicht, wonach dir der Sinn steht? Vor sich hin. Ja, da reiten sie, stramm, jung, gesund . . . heut noch gesund und jung! . . . Nun, beklagst du dich, daß die Aussicht von unseren Fenstern nicht schön ist? Ho! Mitten in der Stadt haben wir unsere Wohnung – nur ein Blick um die Ecke – und das Leben treibt vorbei . . . Marie!

Marie. Vater?

Der Vater. Ich will zum Fenster!

Marie. Du willst –?

Der Vater. Her zu mir! Führ' mich hin . . . es wird schon gehn . . . Ich will sie auch sehen, die da unten vorüberreiten und vielleicht nicht einmal neunundsiebzig alt werden. Den Mantel her!

Marie nimmt den Mantel vom Kleiderständer, breitet ihn um den Vater und führt diesen zum Fenster rechts.

Der Vater höhnisch. O es ist eine Plage! Armes Kind! Aber nein, sie klagt nicht! Am Fenster, wo er gleich auf den Sessel sinkt; er hält sich mit beiden Händen ans Fensterbrett und beugt sich vor. Manche von denen . . . alle vielleicht . . . wer weiß – – – und sind nicht einmal neunundsiebzig.

Marie etwas mühsam. Vater, man kennt die Farben nicht recht . . . sind es die Schwarzen oder die Blauen?

Der Vater. O, mein Töchterchen läßt sich herab zu fragen! Sollt' ich bessere Augen haben als du? . . . Ja, es sind die blauen Kürassiere.

Marie. Ist es nicht dein Regiment gewesen, Vater?

Der Vater. Was geht's dich an? – Wo ist die Zeit?! . . . Gefallen sie dir?  . . . Was siehst du von ihnen? Doch nichts als ihr Wiegen auf den trabenden Pferden, und der Geruch ihrer Jugend steigt dir von der Straße empor in die Nase. Sollte man denken, daß ich einmal geradeso aussah, geradeso wie die? . . . Mein Regiment – ja. Schöne Jungen, wie? Stramm, stramm! . . . Ho, wird der künftige Gatte sich freuen – ob Adjunkt oder Doktor – daß du dafür so regen Sinn hast! . . . Es klopft leise. Klopft es nicht?

Marie. Ich hörte nichts. Es klopft nochmals.

Der Vater. Herein

 
Zweite Szene

Der Vater, Marie. Der Forstadjunkt tritt ein.

Der Adjunkt im grünen Jagdrock, kaum dreißig, sieht etwas älter aus; er scheint ernster, als es seinen Jahren zukommt. – An der Türe. Guten Abend.

Marie leise. Guten Abend.

Der Vater. Der Herr Adjunkt! Grüßt mit der Hand.

Der Adjunkt zum Fenster. Guten Abend, Fräulein Marie.

Marie. Man hat Sie lange nicht gesehen, Herr Adjunkt.

Der Adjunkt. Seit Weihnachten war ich nicht hier. – Ich freue mich, Herr Rittmeister, Sie so wohl zu finden.

Der Vater. Was geht es Sie an, daß ich Rittmeister war? Moser heiße ich.

Der Adjunkt. Sie befinden sich besser? . . . Sie sind auf, und gar am Fenster.

Der Vater. Ja, Herr Adjunkt, man will eben auch noch seinen Teil vom Dasein haben. Er fällt beinah vom Sessel. Halte mich doch! Führ' mich zurück.

Marie führt ihn.

Der Adjunkt ist ihr behilflich.

Der Vater. Danke, Herr Adjunkt, danke. Wie muß ich das Schicksal preisen, daß Sie gekommen sind! Ich hätte am Ende dort am Fenster übernachten können – auf dem Fußboden.

Der Adjunkt und Marie führen ihn zu seinem Sessel, wo er sich wieder hinstreckt.

Marie vermeidet den Blick des Adjunkten. Nehmen Sie Platz, Herr Adjunkt.

Der Adjunkt bleibt stehen. Ich mußte einen weiten Umweg nehmen, um hierher zu kommen – Freyung, Hof, Tiefer Graben . . . alles ist voll Menschen.

Marie. Wie kommt es nur, Herr Adjunkt, daß es jetzt so stille ist?

Der Adjunkt. Stille?

Marie. Ja. Ich meine, wie es kommt, daß die Leute nicht rufen. Früher schrieen sie Hurra, als die Soldaten vorüberzogen, und nun hört man nichts als das Traben, immer das Traben.

Der Adjunkt. Wahrhaftig, es ist seltsam. Ich weiß den Anlaß nicht, warum sie jetzt nicht Hurra schreien. Vielleicht haben sich schlimme Nachrichten von der Grenze verbreitet. Aber mir ist nichts bekannt; ich kam vor einer Stunde erst in Wien an.

Der Vater. Wir dürfen wohl höchlich geschmeichelt sein, daß Ihr erster Besuch uns gilt.

Marie. Wie lange bleiben Sie?

Der Adjunkt. Kaum länger als bis morgen abend. Ich habe hier kein anderes Geschäft, als mich im kaiserlichen Oberforstamt zu melden. Ich habe nämlich meine Ernennung zum Oberförster in der Steiermark erhalten. Blick auf Marie.

Marie. In der Steiermark?

Der Adjunkt. Ja. In Tauplitz, zu Füßen der weißen Wand liegt das Forsthaus, in dem ich wohnen werde. Vor drei Jahren erst wurde es aufgebaut, behaglich, licht und geräumig. Seine Majestät selbst haben vorigen Sommer eine Nacht dort geschlafen.

Marie. Es ist kaiserliches Revier?

Der Adjunkt. Ja. Aber es wird selten von den höchsten Herrschaften aufgesucht. Es liegt an einem dunkelgrünen See, der die trefflichsten Forellen hat. Hinter dem Hause steigen die Tannen an und breiten sich hoch bis zu den Schutthalden des Toten Gebirges. Rings um den See stehen Buchen und Birken. Das nächste Dorf liegt zwei Stunden weit, auf einem schmalen Weg durch Jungholz steigt man hinab. Es ist eine einsam stille schöne Gegend. Ich freue mich hin.

Der Vater. Das kommt ja ziemlich unerwartet.

Der Adjunkt. Das wohl. Die Stelle ist erst vor kurzem frei worden. Der Förster dort starb plötzlich; er war noch jung, kaum vierzig.

Der Vater. Vierzig Jahre! . . . Jawohl, Herr Adjunkt, vierzig Jahr! So treibt's der da oben – und so gleicht er's aus. Leute mit neunundsiebzig leben fort, können sich leidlich erhalten – bis achtzig, fünfundachtzig, neunzig – bei guter Pflege, in sorglicher Hut – – verstehen Sie mich, Herr Adjunkt? . . . Und ich gratuliere zum Oberforstmeister, Herr Adjunkt, aber die Marie lass' ich nicht fort – verstehen Sie?

Marie. Der Herr Adjunkt hat ja nicht – –

 
Dritte Szene

Der Vater, Marie, Der Adjunkt. Doktor Schindler, der Arzt, tritt ein.

Der Arzt ist in mittleren Jahren, leicht angegraut. Guten Abend. – Guten Abend, Fräulein Marie. Wie blaß Sie wieder sind.

Der Vater wirft einen zornigen Blick auf ihn.

Der Arzt. Wie – der Herr Adjunkt? Wahrhaftig! Wie freu' ich mich, Sie wiederzusehen! Er drückt ihm herzlich die Hand.

Der Vater. Woher kennen die Herren einander so gut?

Der Adjunkt. Zu Weihnachten in eben dieser Stube sah ich den Herrn Doktor zum erstenmal.

Der Vater Und gingen zusammen fort –?

Der Arzt. Wir erlaubten uns. Ja. Und machten einen wunderschönen Spaziergang durch die Winternacht.

Der Adjunkt. Es gibt wenig Stunden, deren ich mich so gern erinnere.

Der Vater. Wem, Herr Doktor, gilt Ihr werter Besuch: dem blassen Fräulein Tochter, dem liebenswürdigen Herrn Adjunkten oder mir kranken Manne?

Der Arzt. Gott sei Dank, Ihnen. – Es war übrigens keine leichte Sache, in Ihre Gasse zu gelangen. Das Gedränge ist groß.

Traben unten.

Marie. Wie kommt es nur, Herr Doktor, daß man nur die Hufschläge hört, daß es sonst so stille ist, daß die Leute nicht rufen wie früher?

Der Arzt. Es sind die blauen Kürassiere, die jetzt vorbeiziehen.

Marie. Nun ja – –

Der Arzt. Wissen Sie denn nicht? Die reiten in den Tod.

Der Adjunkt. Das tun wohl viele in diesen Tagen.

Der Arzt. In den sichern Tod . . . die in den sichern. Zu allen. Wissen Sie denn nichts davon?

Der Adjunkt sich erinnernd. Ah, ist dies das todgeweihte Regiment?

Der Arzt. Ja.

Marie mühsam, aber stark. Das todgeweihte –?

Der Arzt. Ja. Das, von dem keiner zurückkommen wird und darf.

Der Adjunkt. Ich hörte davon. Ist es denn wahr? Am Fenster.

Der Vater. Keiner darf –? Gierig. Keiner darf –?

Der Arzt. Es ist nämlich das Regiment, durch dessen Schuld, wie es heißt, vor dreißig Jahren die Schlacht bei Lindach verloren ward.

Der Vater. Wer sagt das?

Der Arzt. Sie können heut überall davon reden hören. Man sagt, daß dieses Regiment in einem Augenblicke wich, da es hätte standhalten müssen und können, daß diese Flucht die übrigen mitriß und damit Schlacht und Feldzug zu unseres Landes Unglück entschied. All das war beinahe in Vergessenheit geraten – vielleicht ist es auch niemals recht wahr gewesen –, nun aber, da dieser neue Krieg ausbrach, erinnerten sich die Offiziere des Regiments, von denen damals natürlich noch keiner mitgefochten hat, der alten Schmach, und sie haben vom Kaiser die Gnade erbeten, mit dem eigenen Blute zu sühnen, was das Regiment vor dreißig Jahren verschuldet haben soll. Sie haben verlangt, dorthin gestellt zu werden, wo sie wohl den andern von Nutzen sein können, wo aber ihr eigenes Verderben unabwendbar ist, und haben einander zugeschworen, daß keiner von ihnen die Heimat wiedersehen wird.

Marie. Woher wissen Sie das?

Der Arzt. Wie ich schon sagte: überall hört man heute davon reden.

Der Adjunkt kopfschüttelnd. Und dabei steht das Vergehen des Regiments nicht einmal unwidersprechlich fest.

Der Arzt. Was liegt daran? Mögen sie auch Betrogene oder Narren sein, ihr Entschluß ist groß, und so wird die Menschheit wahrscheinlich ihren Vorteil davon haben.

Der Adjunkt. Darum also ist die Menge so stumm, während die vorüberziehen . . .

Der Vater. Und manche sind kaum zwanzig – –

Pause.

Der Arzt. Nun also, Herr Moser, wie steht's? Ich dachte Sie schon zu Bette zu finden. Es ist acht Uhr, Sie sollten schlafen.

Der Vater. Schlafen? . . . Ich bin nicht gelaunt, Vorschüsse an den Tod auszuzahlen.

Der Arzt. Jede Stunde Schlafs ist Gewinn für Sie; Sie hätten weniger Schmerzen, wären ruhiger. Nimmt ein Fläschchen zur Hand, das auf dem kleinen Tisch neben dem Krankensessel steht. Und Sie haben nicht einmal Ihre Tropfen genommen . . . wie? . . . Noch nicht einmal das Fläschchen geöffnet!

Der Vater. Ich will nicht . . . will nicht schlafen!

Der Arzt. Sie müssen. Sie sind dazu verpflichtet. Nicht nur sich selbst gegenüber. Das Fräulein sieht wahrhaftig übel aus. Es geht nicht weiter so. Morgen früh schicke ich Ihnen eine barmherzige Schwester her, die Ihre Pflege übernehmen wird.

Der Vater. Wie können Sie sich erlauben, in dieser Weise über mich zu verfügen? Ich habe kein Geld für eine Schwester.

Der Arzt. Was das anbelangt, überlassen Sie es – –

Der Vater. Sie wollen mir was schenken? Was wagen Sie!

Der Arzt. Es handelt sich um kein Geschenk. Sie werden mir das Geld zurückzahlen, sobald – –

Der Vater. Und wenn ich Hunderttausende hätte – eine fremde Person kommt mir nicht über die Schwelle! Ich weiß Geschichten von Wärterinnen, die ihren Kranken Gift statt des Heiltranks ins Wasser gießen, nur um rascher anderswohin zu kommen, wo sie ein paar Groschen mehr kriegen . . . Und andere gibt es, die tun, als richteten sie die Polster gerade, als glätteten sie die Linnen – dabei zwicken sie, stechen mit Nadeln und lachen dazu . . . Und die am gutmütigsten sind, die denken auch noch lange nicht, daß da ein Mensch liegt, der einmal jung war, – einer, der sich hat rühren können . . . nichts fühlen sie, wenn er jammert, und wenn er stirbt, gehen sie aus dem einen Haus in das andere. – Nein, nein, ich will nicht! .Ich habe eine Tochter, für die ich mich geplagt habe, dreißig Jahre lang, die es mir verdankt, daß sie auf der Welt ist . . . Wozu zöge man Kinder auf, wenn sie in der schwersten Stunde sich davonstehlen dürften? . . . Sie ist jung, sie kann warten . . . es währt ja nicht ewig; dann ist sie frei, dann mag sie tun, was sie will!

Der Adjunkt. Warum sprechen Sie in solcher Weise von Ihrer Tochter, Herr Moser, die sich für Sie aufopfert?

Der Vater. Ich danke für die freundliche Zurechtweisung. Haben Sie schon ein Recht? . . . Sie sollte wohl fort mit Ihnen, Herr Adjunkt? . . . Aber warum gerade mit Ihnen? Sind Sie so sicher, daß es sie gerade nach Ihrem grünen Rock verlangt?

Marie. Was soll das, Vater?

Der Vater. Geben Sie acht, Herr Adjunkt, es ist ein Frauenzimmer! Meinen Sie, ich vergesse daran, weil es meine Tochter ist? . . . Ein Frauenzimmer, jung, heiß und durstig.

Der Adjunkt. Was kommt Sie an, Herr Rittmeister?

Der Arzt. Stille!

Marie. Vater, schweig!

Der Vater. Schweigen . . . ich? Ich will nicht! Ich will reden. Was mir durch den Sinn fährt, will ich reden. Denkst du, ich will mir's durch süße Worte erkaufen, daß du an meinem Bett sitzest, mich an- und auskleidest, mir zu trinken und zu essen reichst und deine Kindespflicht erfüllst? Du hast deinen Lohn dahin, du bist jung! Du bleibst bei mir!

Der Arzt. Wozu die großen Worte? Es handelt sich doch vorläufig um nichts anderes, als daß das Fräulein manchmal auf ein bis zwei Stunden ins Freie gehen sollte. Und das wird sie.

Der Vater. Das wird sie nicht! Geht sie noch einmal von mir fort, so kommt sie nicht mehr zurück.

Der Arzt. Was fällt Ihnen denn ein?

Der Vater zu Marie. Denkst du, ich weiß nicht?

Der Adjunkt blickt mit einer Art von Angst Marie an.

Der Vater. Sie wissen ja nichts, Herr Adjunkt – Von dem Ball heuer im Feber, wo sie mit den blauen Kürassieren tanzte, ist sie um sieben Uhr morgens zurückgekommen. Ich bin auf dem Boden gelegen, verdurstet und erstickt beinah . . . Und wie ist sie nach Hause gekommen? Mit glänzenden Augen, durch die Spitzen schimmerte die Brust, die Arme waren nackt . . . gerade so sah sie aus wie ihre Mutter, als ich sie zum erstenmal sah . . . auch auf einem Balle.

Marie. Laß die Mutter in Frieden ruhn – laß sie ruhn.

Der Arzt. Bitte kommen Sie mit mir auf Ihr Zimmer, Herr Rittmeister. Ich habe nicht mehr viel Zeit und möchte heute eine gründliche Untersuchung vornehmen.

Der Adjunkt. Guten Abend, Herr Moser.

Der Vater. Leben Sie wohl, Herr Adjunkt. Sie werden sich also gütigst noch gedulden.

Der Adjunkt leise zu Marie. Ich muß Sie sprechen, Marie, – ich bin in einer Viertelstunde wieder hier.

 
Vierte Szene

Der Vater, Marie, der Adjunkt, der Arzt. Frau Toni Richter kommt.

Tante Toni. Guten Abend. – O, der Herr Adjunkt!

Der Adjunkt gibt ihr die Hand und geht ab.

Der Vater. Die gute Tante Toni!

Der Arzt und Marie stützen ihn, um ihn ins Nebenzimmer zu führen.

Die Tante. Wie geht's, Schwager Christian? – Wir sind nur auf zwei Tage in der Stadt, Katharina und ich, kleine Einkäufe zu besorgen . . . Ist Katharina noch nicht da? oder ist sie gar wieder fortgegangen?

Marie. Sie war noch nicht hier.

Der Vater. Ihr werdet sie mir nicht noch einmal von der Seite reißen. Auch du nicht, alte Kupplerin!

Die Tante. Daß der gute Schwager die Scherze nicht lassen kann! . . . Macht nur, ich setze mich indessen stille hier hin, ich habe meine Arbeit mit.

Der Vater gestützt auf den Arzt und Marie, ins Nebenzimmer.

Auf der Straße Marschieren und Hurrarufe.

Die Tante nimmt ihr Häkelzeug und setzt sich ans Fenster.

Marie kommt wieder.

 
Fünfte Szene

Die Tante, Marie.

Marie. Ich will Licht machen. Sie nimmt die Lampe, zündet sie an, stellt sie auf den Tisch rechts.

Die Tante. Nun, er scheint ja wieder in böser Laune?

Marie langsam zum Fenster, nickt.

Die Tante. Ich will hier für alle Fälle warten, bis Katharina kommt. Sie sollte schon hier sein. Früh morgens fuhr sie in die Stadt, ich schlief noch. Sie konnte sich nicht gedulden – ohne mich fuhr sie davon. Aber ich getraue mich nicht, ihr ein böses Wort zu sagen, seit ich weiß, daß ich sie nicht lange mehr behalten werde.

Marie. Ist es denn wahr?

Die Tante. Es ist wahr, gute Marie. Es ist wahr. Keine Hilfe. Aber sie ahnt es nicht. Im Winter sind die Rosen auf ihren Wangen aufgeblüht – so wie bei ihren Schwestern. Da gibt es keine Hilfe, gute Marie. Mein seliger Mann, der fuhr auf der See herum und mußte doch sterben, und Brigitte und Anne rührten sich von meiner Seite nicht fort, waren gut und brav, atmeten die reine Luft unseres Tannenwaldes, und liegen nun doch beide draußen unterm Rasen. Wenn es Gott einmal so beschlossen hat . . . Ich habe allerlei besorgt in der Stadt. Sieh, diese Wolle ist nirgends zu bekommen als beim »türkischen Sultan«. Es soll ein Kissen werden für den Divan, der im Gartenzimmer steht, wo wir im Sommer immer den Kaffee tranken. . . .Wer mir's damals prophezeit hätte –! Sah sie nicht aus wie das Leben selbst? . . . Wahrhaftig, Kind, auch du schaust nicht sonderlich aus. Nun ja, du hast genug durchgemacht in diesen letzten Jahren. Ein böser Mensch, mein Schwager, ich muß es selbst sagen.

Marie den Knäuel in der Hand. Ja, es fühlt sich fein an.

Die Tante. Nicht wahr, wie Seide?

Marie. Wie Seide.

Pause.

Die Tante. Nun Marie, ich denke – warum soll man nicht davon sprechen – –

Marie. Was meinst du, Tante?

Die Tante. Es wird doch nicht mehr bis zum Sommer währen mit deinem Vater. Seit ich ihn zuletzt sah – wann war es nur? . . . Ja, es war an dem Tag, da wir dich auf den Ball abholten . . . seither hat er sich gar sehr verändert. Auf seiner Stirn sitzt der Tod. Gott verzeih' ihm alles, was er an meiner Schwester und an dir gesündigt. Ihr hattet kein gutes Leben. Zuerst hat er sie gequält, bis sie ihn endlich nahm – hätt' sie's doch lieber nie getan! Ein verabschiedeter Offizier und bald fünfzig –, dann hat er sie gepeinigt, weil sie sich nehmen ließ . . . Wahrhaftig, ihr wart zu gut – beide. Der Vater schreit im Nebenzimmer. Was für ein Mensch! Ich sehe es kommen, daß auch der gute Doktor sich nicht mehr um ihn kümmern wird. – Marie, höre doch!

Marie am Fenster. Ich höre.

Die Tante. Du mußt dich wahrlich mit wenig genug bescheiden, wenn das der ganze Frühling ist, den du genießen darfst. Da haben wir's auf dem Lande schon besser. Pfirsich und Kirsche sind abgeblüht und nun riecht der Flieder aus allen Gärten. – Höre, Marie, ich denke, wenn es hier vorüber ist, laß alles stehen, wie es steht, und komm nur rasch zu uns in die Grünau. Dein Zimmer ist bereit.

Marie. Davon wollen wir heute noch nicht reden.

Die Tante. Dein Zimmer ist bereit, Kind. Ich denke ja, gar zu lang wirst du es nicht bewohnen. Aber immerhin, die Trauerzeit muß doch wohl verstreichen, ehe Hochzeit gemacht wird.

Marie. Wer macht Hochzeit?

Die Tante. Du brauchst mir's nicht Wort zu haben. Jeder nach seiner Weise; – deine Art ist zu schweigen. Der Adjunkt ist ein vortrefflicher Mann; ich achte ihn nicht geringer, weil er seinen Sinn geändert hat, – das ist nun einmal menschlich. Auch hat sich Katharina bald getröstet . . . ach Gott, ich glaube, allzu bald und allzu gut! Mag sie's mit dem lieben Gott ausmachen, der sie so bald zu sich nehmen wird. Ich weiß nichts, ich frage nicht, was sie allwöchentlich in der Stadt treibt, seit wir zusammen auf dem Balle waren, wo ihr mit den Offizieren tanztet. Nachts schlief sie wohl immer hier, denk' ich . . . ? – Nun, du hast jetzt den Sinn nicht darauf. Mag auch sein, daß sie sich früh davonschlich, ohne dich aufzuwecken, und du dachtest, sie sei schon abgereist.

Der Vater von drin. Marie!

 
Sechste Szene

Die Tante, Marie, der Arzt.

Der Arzt zu Marie, die schon bereit war, hineinzugehen. Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen reden. – Wollen Sie etwa so freundlich sein, Frau Richter, und sich für eine Weile hineinbemühen?

Die Tante. Freilich. Er wird mich nicht gleich totschlagen.

Der Arzt. Er wünschte, daß das Fräulein ihm wieder aus der Zeitung vorliest. Das können Sie wohl auch, Frau Richter?

Die Tante. Nun ja, ich will das Blatt nah zur Kerze halten, da wird es schon gehen. Ab links.


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